Die Freud’sche psychoanalytische Methode (1904-002/1904)

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Freud, Sigmund: Die Freud’sche psychoanalytische Methode (1904-002/1904). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1904-002__1904.xml
§ 1

Die Freud’sche psychoanalytische Methode. (Mitteilung des Autors).

§ 2

„Die eigentümliche Methode der Psychotherapie, die Freud ausübt und als Psycho-Analyse bezeichnet, ist aus dem sogenannten kathartischen Verfahren hervorgegangen, über welches er seinerzeit in den „Studien über Hysterie“ 1895 in Gemeinschaft mit J. Breuer berichtet hat. Die kathartische Therapie war eine Erfindung Breuer’s, der mit ihrer Hilfe zuerst etwa ein Dezennium vorher eine hysterische Kranke hergestellt und dabei Einsicht in die Pathogenese ihrer Symptome gewonnen hatte. Infolge einer persönlichen Anregung Breuer’s nahm dann Freud das Verfahren wieder auf und erprobte es an einer grösseren Anzahl von Kranken.

§ 3

Das kathartische Verfahren setzte voraus, dass der Patient hypnotisierbar sei und beruhte auf der Erweiterung des Bewusstseins, die in der Hypnose eintritt. Er setzte sich die Beseitigung der Krankheitssymptome zum Ziele und erreichte dies, indem er den Patienten sich in den psychischen Zustand zurückversetzen liess, in welchem das Symptom zum erstenmale aufgetreten war. Es tauchten dann bei dem hypnotisierten Kranken Erinnerungen, Gedanken und Impulse auf, die in seinem Bewusstsein bisher ausgefallen waren, und wenn er diese seine seelischen Vorgänge unter intensiven Affektäusserungen dem Arzte mitgeteilt hatte, war das Symptom überwunden, die Wiederkehr desselben aufgehoben. Diese regelmässig zu wiederholende Erfahrung erläuterten die beiden Autoren in ihrer gemeinsamen Arbeit dahin, dass das Symptom an Stelle von unterdrückten und nicht zum Bewusstsein gelangten psychischen Vorgängen stehe, also eine Umwandlung („Konversion“) der letzteren darstelle. Die therapeutische Wirksamkeit ihres Verfahrens erklärten sie sich aus der Abfuhr des bis dahin gleichsam „eingeklemmten“ Affektes, der an den unterdrückten seelischen Aktionen gehaftet hatte („Abreagieren“). Das einfache Schema des therapeutischen Eingriffs komplizierte sich aber nahezu alle Male, indem sich zeigte, dass nicht ein einzelner („traumatischer“) Eindruck, sondern meist eine schwer zu übersehende Reihe von solchen an der Entstehung des Symptoms beteiligt sei.

§ 4

Der Hauptcharakter der kathartischen Methode, der sie in Gegensatz zu allen anderen Verfahren der Psychotherapie setzt, liegt also darin, dass bei ihr die therapeutische Wirksamkeit nicht einem suggestiven Verbot des Arztes übertragen wird. Sie erwartet vielmehr, dass die Symptome von selbst verschwinden werden, wenn es dem Eingriff, der sich auf gewisse Voraussetzungen über den psychischen Mechanismus beruft, gelungen ist, seelische Vorgänge zu einem anderen als dem bisherigen Verlauf zu bringen, der in die Symptombildung eingemündet hat.

§ 5

Die Abänderungen, welche Freud an dem kathartischen Verfahren Breuer’s vornahm, waren zunächst Änderungen der Technik; diese brachten aber neue Ergebnisse und haben in weiterer Folge zu einer andersartigen, wiewohl der früheren nicht widersprechenden Auffassung der therapeutischen Arbeit genötigt.

§ 6

Hatte die kathartische Methode bereits auf die Suggestion verzichtet, so unternahm Freud den weiteren Schritt, auch die Hypnose aufzugeben. Er behandelt gegenwärtig seine Kranken, indem er sie ohne andersartige Beeinflussung eine bequeme Rückenlage auf einem Ruhebett einnehmen lässt, während er selbst ihrem Anblick entzogen auf einem Stuhle hinter ihnen sitzt. Auch den Verschluss der Augen fordert er von ihnen nicht und vermeidet jede Berührung sowie jede andere Prozedur, die an Hypnose mahnen könnte. Eine solche Sitzung verläuft also wie ein Gespräch zwischen zwei gleich wachen Personen, von denen die eine sich jede Muskelanstrengung und jeden ablenkenden Sinneseindruck erspart, die sie in der Kon zentration ihrer Aufmerksamkeit auf ihre eigene seelische Tätigkeit stören könnten.

§ 7

Da das Hypnotisirtwerden, trotz aller Geschicklichkeit des Arztes bekanntlich in der Willkür des Patienten liegt und eine grosse Anzahl neurotischer Personen durch kein Verfahren in Hypnose zu versetzen ist, so war durch den Verzicht auf die Hypnose die Anwendbarkeit des Verfahrens auf eine uneingeschränkte Anzahl von Kranken gesichert. Andererseits fiel die Erweiterung des Bewusstseins weg, welche dem Arzt gerade jenes psychische Material an Erinnerungen und Vorstellungen geliefert hatte, mit dessen Hilfe sich die Umsetzung der Symptome und die Befreiung der Affekte vollziehen liess. Wenn für diesen Ausfall kein Ersatz zu schaffen war, konnte auch von einer therapeutischen Einwirkung keine Rede sein.

§ 8

Einen solchen völlig ausreichenden Ersatz fand nun Freud in den Einfällen der Kranken, d. h. in den ungewollten, meist als störend empfundenen und darum unter gewöhnlichen Verhältnissen beseitigten Gedanken, die den Zusammenhang einer beabsichtigten Darstellung zu durchkreuzen pflegen. Um sich dieser Einfälle zu bemächtigen, fordert er die Kranken auf, sich in ihren Mitteilungen gehen zu lassen „wie man es etwa in einem Gespräch tut, bei welchem man aus dem Hundertsten in das Tausendste gerät“. Er schärft ihnen, ehe er sie zur detaillierten Erzählung ihrer Krankengeschichte auffordert, ein, alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch den Kopf geht, auch wenn sie meinen, es sei unwichtig, oder es gehöre nicht dazu, oder es sei unsinnig. Mit besonderem Nachdruck aber wird von ihnen verlangt, dass sie keinen Gedanken oder Einfall darum von der Mitteilung ausschliessen, weil ihnen diese Mitteilung beschämend oder peinlich ist. Bei den Bemühungen, dieses Material an sonst vernachlässigten Einfällen zu sammeln, machte nun Freud die Beobachtungen, die für seine ganze Auffassung bestimmend geworden sind. Schon bei der Erzählung der Krankengeschichte stellen sich bei den Kranken Lücken der Erinnerung heraus, sei es, dass tatsächliche Vorgänge vergessen worden, sei es, dass zeitliche Beziehungen verwirrt oder Kausalzusammenhänge zerrissen worden sind, so dass sich unbegreifliche Effekte ergeben. Ohne Amnesie irgend einer Art gibt es keine neurotische Krankengeschichte. Drängt man den Erzählenden, diese Lücken seines Gedächtnisses durch angestrengte Arbeit der Aufmerksamkeit auszufüllen, so merkt man, dass die hierzu sich einstellenden Einfälle von ihm mit allen Mitteln der Kritik zurückgedrängt werden, bis er endlich das direkte Unbehagen verspürt, wenn sich die Erinnerung wirklich eingestellt hat. Aus dieser Erfahrung schliesst Freud, dass die Amnesien das Ergebnis eines Vorgangs sind, den er Verdrängung heisst und als dessen Motiv er Unlustgefühle erkennt. Die psychischen Kräfte, welche diese Verdrängung herbeigeführt haben, meint er in dem Widerstand, der sich gegen die Wiederherstellung erhebt, zu verspüren.

§ 9

Das Moment des Widerstandes ist eines der Fundamente seiner Theorie geworden. Die sonst unter allerlei Vorwänden (wie sie die obige Anzahl aufzählt) beseitigten Einfälle betrachtet er aber als Abkömmlinge der verdrängten psychischen Gebilde (Gedanken und Regungen) als Entstellungen derselben infolge des gegen ihre Reproduktion bestehenden Widerstandes.

§ 10

Je grösser der Widerstand, desto ausgiebiger diese Entstellung. In dieser Beziehung der unbeabsichtigten Einfälle zum verdrängten psychischen Material ruht nun ihr Wert für die therapeutische Technik. Wenn man ein Verfahren besitzt, welches ermöglicht, von den Einfällen aus zu dem Verdrängten, von den Entstellungen zum Entstellten zu gelangen, so kann man auch ohne Hypnose das früher unbewusste im Seelenleben dem Bewusstsein zugänglich machen.

§ 11

Freud hat darauf eine Deutungskunst ausgebildet, welcher diese Leistung zufällt, die gleichsam aus den Erzen der unbeabsichtigten Einfälle den Metallgehalt an verdrängten Gedanken darstellen soll. Objekt dieser Deutungsarbeit sind nicht allein die Einfälle des Kranken, sondern auch seine Träume, die den direktesten Zugang zur Kenntnis des Unbewussten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie planlosen Handlungen (Symptomhandlungen) und die Irrungen seiner Leistungen im Alltagsleben Versprechen, Vergreifen u. dergl.). Die Details dieser Deutungs- oder Übersetzungstechnik sind von Freud noch nicht veröffentlicht worden. Es sind nach seinen Andeutungen eine Reihe von empirisch gewonnenen Regeln, wie aus den Einfällen das unbewusste Material zu konstruieren ist, Anweisungen, wie man es zu verstehen habe, wenn die Einfälle des Patienten versagen, und Erfahrungen über die richtigsten typischen Widerstände, die sich im Laufe einer solchen Behandlung einstellen Ein umfangreiches Buch über die „Traumdeutung“ 1900 von Freud publiziert, ist als Vorläufer einer solchen Einführung in die Technik anzusehen.

§ 12

Man könnte aus diesen Andeutungen über die Technik der psychoanalytischen Methode schliessen, dass deren Erfinder sich überflüssige Mühe verursacht und Unrecht getan hat, das wenig komplizierte hypnotische Verfahren zu verlassen. Aber einerseits ist die Technik der, Psychoanalyse viel leichter auszuüben, wenn man sie einmal erlernt hat, als es bei einer Beschreibung den Anschein hat, andererseits führt kein anderer Weg zum Ziele und darum ist der mühselige Weg noch der kürzeste. Der Hypnose ist vorzuwerfen, dass sie den Widerstand verdeckt und dadurch dem Arzt den Einblick in das Spiel der psychischen Kräfte verwehrt hat. Sie räumt aber mit dem Widerstande nicht auf, sondern weicht ihm nur aus und ergibt dagegen nur unvollständige Auskünfte und nur vorübergehende Erfolge.

§ 13

Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Methode zu lösen bestrebt ist, lässt sich in verschiedenen Formeln ausdrücken, die aber ihrem Wesen nach äquivalent sind. Man kann sagen: Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn alle Erinnerungslücken ausgefüllt sind, alle rätselhaften Effekte des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fortbestand, ja eine Neubildung des Leidens unmöglich gemacht. Man kann die Bedingung anders fassen: es seien alle Verdrängungen rückgängig zu machen; der psychische Zustand ist dann derselbe, in dem alle Amnesien ausgefüllt sind. Weittragender ist eine andere Fassung: es handle sich darum das Unbewusste dem Bewusstsein zugänglich zu machen, was durch Überwindung der Widerstände geschieht. Man darf aber dabei nicht vergessen, dass ein solcher Wachzustand auch beim normalen Menschen nicht besteht und dass man nur selten in die Lage kommen kann, die Behandlung annähernd so weit zu treiben. So wie Gesundheit und Krankheit nicht prinzipiell geschieden, sondern nur durch eine praktisch bestimmbare Summationsgrenze gesondert sind, so wird man sich auch nie etwas anderes zum Ziel der Behandlung setzen als die praktische Genesung des Kranken, die Herstellung seiner Leistungs- und Genussfähigkeit. Bei unvollständiger Kur oder unvollkommenem Erfolg derselben erreicht man vor allem eine bedeutende Hebung des psychischen Allgemeinzustandes, während die Symptome, aber mit geminderter Bedeutung für den Kranken fortbestehen können, ohne ihn zu einem Kranken zu stempeln.

§ 14

Das therapeutische Verfahren bleibt von geringen Modifikationen abgesehen das nämliche für alle Symptombilder der vielgestaltigen Hysterie und ebenso für alle Ausbildungen der Zwangsneurose. Von einer unbeschränkten Anwendbarkeit desselben ist aber keine Rede. Die Natur der psycho-analytischen Methode schafft Indikationen und Gegenanzeigen sowohl von Seiten der zu behandelnden Personen, als auch mit Rücksicht auf das Krankheitsbild. Am günstigsten für die Psychoanalyse sind die chronischen Fälle von Psychoneurosen mit wenig stürmischen oder gefahrdrohenden Symptomen, also zunächst alle Arten der Zwangsneurose, Zwangsdenken und Zwangshandeln, und Fälle von Hysterie, in denen Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen, weiterhin aber auch alle somatischen Ausprägungen der Hysterie, insofern nicht wie bei der Anorexie rasche Beseitigung der Symptome zur Hauptaufgabe des Arztes wird. Bei akuten Fällen von Hysterie wird man den Eintritt eines ruhigeren Stadiums abzuwarten haben; in allen Fällen, bei denen die nervöse Erschöpfung obenan steht, wird man ein Verfahren vermeiden, welches selbst Anstrengung erfordert, nur langsame Fortschritte zeitigt, und auf die Fortdauer der Symptome eine Zeitlang keine Rücksicht nehmen kann.

§ 15

An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse unterziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie muss erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein; in Zeiten der Verworrenheit oder melancholischer Depression ist auch bei einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf ferner ein gewisses Maass natürlicher Intelligenz und ethischer Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen lässt den Arzt bald das Interesse im Stiche, welches ihn zur Vertiefung in das Seelenleben des Kranken befähigt. Ausgeprägte Charakterverbildungen, Züge von wirklich degenerativer Konstitution äussern sich bei der Kur als Quelle von kaum zu überwindenden Widerständen. Insoweit setzt überhaupt die Konstitution eine Grenze für die Heilbarkeit durch Psychotherapie. Auch eine Altersstufe in der Nähe des fünften Dezenniums schafft ungünstige Bedingungen für die Psychoanalyse. Die Masse des psychischen Materials ist dann nicht mehr zu bewältigen, die zur Herstellung erforderliche Zeit wird zu lang und die Fähigkeit, psychische Vorgänge rückgängig zu machen, beginnt zu erlahmen.

§ 16

Trotz aller dieser Einschränkungen ist die Anzahl der für die Psychoanalyse geeigneten Personen eine ausserordentlich grosse und die Erweiterung unseres therapeutischen Könnens durch dieses Verfahren nach den Behauptungen Freud’s eine sehr beträchtliche. Freud beansprucht lange Zeiträume, ½ Jahr bis 3 Jahre für eine wirksame Behandlung; er gibt aber die Auskunft, dass er bisher infolge verschiedener leicht zu erratender Umstände meist nur in die Lage gekommen ist, seine Behandlung an sehr schweren Fällen zu erproben, Personen mit vieljähriger Krankheitsdauer und völliger Leistungsunfähigkeit, die durch alle Behandlungen getäuscht, gleichsam eine letzte Zuflucht bei seinem neuen und viel angezweifelten Verfahren gesucht haben. In Fällen leichterer Erkrankung dürfte sich die Behandlungsdauer sehr verkürzen und ein ausserordentlicher Gewinn an Vorbeugung für die Zukunft erzielen lassen“.

§ 17

Die vorstehenden Darlegungen meines hochverehrten Wiener Kollegen veranlassen mich zum Schlusse zu einer vergleichenden Würdigung der Hypnotherapie und des psycho-analytischen Verfahrens in ihrer Bedeutung für die Behandlung von Zwansgserscheinungen.

§ 18

Die hypnotische Suggestivtherapie bildet, wie wir schon andeuteten, kein Radikalmittel gegen Zwangszustände; sie entspricht nicht der Indicatio causalis, sondern nur der Indicatio symptomatica. Sie wendet sich gegen die einzelnen Zwangsphänomene, indem sie in das psychische Leben einen Faktor einführt, welcher ein Gegengewicht gegen diese bildet, sie mehr und mehr unterdrückt und schliesslich (im günstigen Falle) auch völlig beseitigt.

§ 19

Das Freud’sche Verfahren bildet dagegen gewissermaassen eine Radikalkur; es wendet sich gegen die im Unterbewussten liegenden Wurzeln des Zwangsvorstellungsleidens und sucht diese zu beseitigen. Trotz dieser auffälligen Verschiedenartigkeit des Wirkungsmodus beider Verfahren entfernen sich die Heilerfolge derselben, soweit man dies derzeit beurteilen kann, nicht sehr wesentlich von einander. Was Freud als Ziel seiner Behandlung betrachtet, die praktische Genesung, i. e. der Wiederherstellung der Leistungs- und Genussfähigkeit, lässt sich zweifellos auch durch Hypnotherapie erreichen. In einer Anzahl von Fällen meiner Beobachtung wurde die verloren gegangene Arbeitsfähigkeit durch die hypnotische Behandlung wieder hergestellt. Ich verweise zum Belege auf die Beobachtungen 73 u. 78. Hierbei handelte es sich nicht lediglich um transitorische Besserungen.1)1)

§ 20

Wie lässt sich dies erklären? Der normal funktionierende psychische Organismus besitzt, wie schon an früherer Stelle hervorgehoben wurde, Kräfte, welche es ihm ermöglichen, Vorstellungen von Zwangscharakter zu überwinden. Je grösser die In- und Extensität des Zwangsvorstellens ist, umsoweniger können sich diese Kräfte, die man als psychische Alexine bezeichnen könnte, geltend machen. Wenn es uns gelingt, durch die hypnotische Suggestion die Zwangsvorstellungen eines Kranken mehr und mehr zu reduzieren, befreien wir denselben nicht nur momentan von einem Teile seiner Beschwerden, wir machen zugleich die seinem psychischen Organismus innewohnenden Schutzkräfte in gewissem Maasse frei, welche ihm die Bekämpfung und Überwindung der Zwangsvorstellungen ermöglichen. Die hypnotisch-suggestive Beseitigung der Zwangsvorstellung hat daher nicht lediglich die Bedeutung einer momentanen Erleichterung, sie schafft mehr und mehr auch einen Status, welcher in gewissem Maasse gegen die Neuproduktion von Zwangsvorstellungen, resp. die Wiederkehr solcher schützt.

§ 21

Wenn die Erfahrungen Freud’s in Betreff der Hypnotherapie ungünstiger sind, so dürfte sich dies daraus erklären, dass er schon seit einer Reihe von Jahren von der Anwendung dieser Methode abgekommen ist und daher auch nicht in der Lage war, die Fortschritte der Hypnotisationstechnik sich nutzbar zu machen; diese ermöglichen es uns heutzutage, auch bei Neurotikern mit ganz geringen Ausnahmen eine Hypnose zu erzielen. Der Vorzug, welchen die psycho-analytische Methode der Hypnotherapie gegenüber besitzt, scheint mir demnach lediglich darin zu liegen, dass erstere in der Verhütung von Rezidiven mehr leistet, als letztere. Diesem Vorzuge stehen jedoch nicht zu unterschätzende Schattenseiten gegenüber, Schattenseiten, die allerdings z. T. nicht für den Autor, sondern nur für die übrigen Ärzte in Betracht kommen. Der Hypnotherapie sind nicht lediglich gewisse, durch einen besonderen Mechanismus verursachte oder im Bereiche einzelner Neurosen vorkommende Zwangserscheinungen zugänglich. Sie kann, wie wir schon erwähnten, bei Hysterie, Neurasthenie, Zwangs- und Angstneurose, sowie Melancholie in gleicher Weise Anwendung finden. Die Domäne des Freud´schen Verfahrens bilden dagegen lediglich die Hysterie und die Zwangsneurose, und auch im Gebiete dieser Neurosen ist dasselbe nach des Autors Erklärung nur in beschränktem Maasse verwertbar. Wenn Freud auch die Zahl der Fälle, welche sich für seine Methode eignen, für sehr gross erachtet, so dürfte diese Ansicht für die Hysterie ungleich mehr zutreffen als für die Zwangszustände.

1) Ähnliche Erfahrungen wurden von anderer Seite, so insbesondere von v. Bechterew (Therapeutische Wochenschrift, No. 2., 1895) mitgeteilt. § 22

Ziehen wir weiter die grossen Schwierigkeiten der Technik des psycho-analytischen Verfahrens in Betracht, die der Autor wohl nur aus Bescheidenheit nicht genügend hervorhebt — eine erfolgreiche Handhabung der Methode dürfte wohl erst nach jahrelanger Einübung zu erwarten sein —, die lange Behandlungszeit, welche in schweren Fällen erforderlich ist und die ausserordentlichen Anforderungen, die dabei an die Zeit und Arbeitskraft des Arztes gestellt werden, so ist es wohl selbstverständlich, dass die Vorteile des Verfahrens nur einem sehr beschränkten Patientenkreise und überdies nur solchen aus der bestsituirten Klasse zu Gute kommen können.

§ 23

Das Verdienst des Autors wird hierdurch in keiner Weise geschmälert; vielleicht gelingt es ihm noch im Laufe der Zeit, sein Verfahren zu vereinfachen und dadurch Ärzten und Patienten zugänglicher zu machen. Zur Zeit sind die Ärzte jedenfalls noch auf die Anwendung der übrigen psychotherapeutischen Methoden angewiesen, und es ist gewiss erfreulich, dass wir auch hiermit recht Erspriessliches zu leisten vermögen.

§ 24

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