Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905-005/1905)

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  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
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  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905-005/1905). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1905-005__1905.xml
§ 1

Bruchstück einer Hysterie-Analyse.

§ 2

Von

§ 3

Prof. Dr. SIGM. FREUD

§ 4

in Wien.

§ 5

Vorwort.

§ 6

Wenn ich nach längerer Pause daran gehe, meine in den Jahren 1895 und 1896 aufgestellten Behauptungen über die Pathogenese hysterischer Symptome und die psychischen Vorgänge bei der Hysterie durch ausführliche Mitteilung einer Kranken- und Behandlungsgeschichte zu erhärten, so kann ich mir dieses Vorwort nicht ersparen, welches mein Tun einerseits nach verschiedenen Richtungen rechtfertigen, anderseits die Erwartungen, die es empfangen werden, auf ein billiges Maß zurückführen soll.

§ 7

Es war sicherlich misslich, dass ich Forschungsergebnisse, und zwar solche von überraschender und wenig einschmeichelnder Art, veröffentlichen musste, denen die Nachprüfung von Seiten der Fachgenossen notwendiger Weise versagt blieb. Es ist aber kaum weniger misslich, wenn ich jetzt beginne, etwas von dem Material dem allgemeinen Urteil zugänglich zu machen, aus dem ich jene Ergebnisse gewonnen hatte. Ich werde dem Vorwurfe nicht entgehen. Hatte er damals gelautet, dass ich nichts von meinen Kranken mitgeteilt, so wird er nun lauten, dass ich von meinen Kranken mitgeteilt, was man nicht mitteilen soll. Ich hoffe, es werden die nämlichen Personen sein, welche in solcher Art den Vorwand für ihren Vorwurf wechseln werden, und gebe es von vornherein auf, diesen Kritikern jemals ihren Vorwurf zu entreissen.

§ 8

Die Veröffentlichung meiner Krankengeschichten bleibt für mich eine schwer zu lösende Aufgabe, auch wenn ich mich um jene einsichtslosen Uebelwollenden weiter nicht bekümmere. Die Schwierigkeiten sind zum Teil technischer Natur, zum anderen Teil gehen sie aus dem Wesen der Verhältnisse selbst hervor. Wenn es richtig ist, dass die Verursachung der hysterischen Erkrankungen in den Intimitäten des psycho-sexuellen Lebens der Kranken gefunden wird, und dass die hysterischen Symptome der Ausdruck ihrer geheimsten verdrängten Wünsche sind, so kann die Klarlegung eines Falles von Hysterie nicht anders, als diese Intimitäten aufdecken und diese Geheimnisse verraten. Es ist gewiss, dass die Kranken nie gesprochen hätten, wenn ihnen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Verwertung ihrerGeständnisse in den Sinn gekommen wäre, und ebenso gewiss, dass es ganz vergeblich bliebe, wollte man die Erlaubnis zur Veröffentlichung von ihnen selbst erbitten. Zartfühlende, wohl auch zaghafte, Personen würden unter diesen Umständen die Pflicht der ärztlichen Diskretion in den Vordergrund stellen und bedauern, der Wissenschaft hierin keine Aufklärungsdienste leisten zu können. Allein ich meine, der Arzt hat nicht nur Pflichten gegen den einzelnen Kranken, sondern auch gegen die Wissenschaft auf sich genommen. Gegen die Wissenschaft, das heisst im Grunde nichts anderes als gegen die vielen anderen Kranken, die an dem Gleichen leiden oder noch leiden werden. Die öffentliche Mitteilung dessen, was man über die Verursachung und das Gefüge der Hysterie zu wissen glaubt, wird zur Pflicht, die Unterlassung zur schimpflichen Feigheit, wenn man nur die direkte persönliche Schädigung des einen Kranken vermeiden kann. Ich glaube, ich habe alles getan, um eine solche Schädigung für meine Patientin auszuschliessen. lch habe eine Person ausgesucht, deren Schicksale nicht in Wien, sondern in einer fernab gelegenen Kleinstadt spielten, deren persönliche Verhältnisse in Wien also so gut wie unbekannt sein müssen; ich habe das Geheimnis der Behandlung so sorgfältig von Anfang an gehütet, dass nur ein einziger vollkommen vertrauenswürdiger Kollege darum wissen kann, das Mädchen sei meine Patientin gewesen; ich habe nach Abschluss der Behandlung noch vier Jahre lang mit der Publikation gewartet, bis ich von einer Aenderung in dem Leben der Patientin hörte, die mich annehmen liess, ihr eigenes Interesse an den hier erzählten Begebenheiten und seelischen Vorgängen könnte nun verblasst sein. Es ist selbstverständlich, dass kein Name stehen geblieben ist, der einen Leser aus Laienkreisen auf die Spur führen könnte; die Publikation in einem streng wissenschaftlichen Fachjournal sollte übrigens ein Schutz gegen solche unbefugte Leser sein. Ich kann es natürlich nicht verhindern, dass die Patientin selbst eine peinliche Empfindung verspüre, wenn ihr die eigene Krankengeschichte durch einen Zufall in die Hände gespielt wird. Sie erfährt aber nichts aus ihr, was sie nicht schon weiss, und mag sich die Frage vorlegen, wer anders daraus erfahren kann, dass es sich um ihre Person handelt.

§ 9

Ich weiss, dass es — in dieser Stadt wenigstens — viele Aerzte gibt, die — ekelhaft genug — eine solche Krankengeschichte nicht als einen Beitrag zur Psychopathologie der Neurose, sondern als einen zu ihrer Belustigung bestimmten Schlüsselroman lesen wollen. Dieser Gattung von Lesern gebe ich die Versicherung, dass alle meine etwa später mitzuteilenden Krankengeschichten durch ähnliche Garantien des Geheimnisses vor ihrem Scharfsinn behütet sein werden, obwohl meine Verfügung über mein Material durch diesen Vorsatz eine ganz ausserordentliche Einschränkung erfahren muss.

§ 10

In dieser einen Krankengeschichte, die ich bisher den Einschränkungen der ärztlichen Diskretion und der Ungunst der Verhältnisse abringen konnte, werden nun sexuelle Beziehungen mit aller Freimütigkeit erörtert, die Organe und Funktionen des Geschlechtslebens bei ihren richtigen Namen genannt, und der keusche Leser kann sich aus meiner Darstellung die Ueberzeugung holen, dass ich mich nicht gescheut habe, mit einer jugendlichen weiblichen Person über solche Themata in solcher Sprache zu verhandeln. Ich soll mich nun wohl auch gegen diesen Vorwurf verteidigen? Ich nehme einfach die Rechte des Gynäkologen — oder vielmehr sehr viel bescheidenere als diese — für mich in Anspruch und erkläre es als Anzeichen einer perversen und fremdartigen Lüsternheit, wenn jemand vermuten sollte, solche Gespräche seien ein gutes Mittel zur Aufreizung oder zur Befriedigung sexueller Gelüste. Im übrigen verspüre ich die Neigung, meinem Urteil hierüber in einigen entlehnten Worten Ausdruck zu geben.

§ 11

„Es ist jämmerlich, solchen Verwahrungen und Beteuerungen einen Platz in einem wissenschaftlichen Werke einräumen zu müssen, aber man mache mir darob keine Vorwürfe, sondern klage den Zeitgeist an, durch den wir glücklich dahin gekommen sind, dass kein ernstes Buch mehr seines Lebens sicher ist.“1)1)

§ 12

Ich werde nun mitteilen, auf welche Weise ich für diese Krankengeschichte die technischen Schwierigkeiten der Berichterstattung überwunden habe. Diese Schwierigkeiten sind sehr erhebliche für den Arzt, der sechs oder acht solcher psychotherapeutischer Behandlungen täglich durchzuführen hat und während der Sitzung mit dem Kranken selbst Notizen nicht machen darf, weil er das Misstrauen des Kranken erwecken und sich in der Erfassung des aufzunehmenden Materials stören würde. Es ist auch ein für mich noch ungelöstes Problem, wie ich eine Behandlungsgeschichte von langer Dauer für die Mitteilung fixieren könnte. In dem hier vorliegenden Falle kamen mir zwei Umstände zu Hilfe: erstens, dass die Dauer der Behandlung sich nicht über drei Monate erstreckte, zweitens, dass die Aufklärungen sich um zwei — in der Mitte und am Schlusse der Kur erzählte — Träume gruppierten, deren Wortlaut unmittelbar nach der Sitzung festgelegt wurde und die einen sicheren Anhalt für das anschliessende Gespinnst von Deutungen und Erinnerungen abgeben konnten. Die Krankengeschichte selbst habe ich erst nach Abschluss der Kur aus meinem Gedächtnis niedergeschrieben, so lange meine Erinnerung noch frisch und durch das Interesse an der Publikation gehoben war. Die Niederschrift ist demnach nicht absolut — phonographisch — getreu, aber sie darf auf einen hohen Grad von Verlässlichkeit Anspruch machen. Es ist nichts anderes, was wesentlich wäre,in ihr verändert, als etwa an manchen Stellen die Reihenfolge der Aufklärungen, was ich dem Zusammenhange zu Liebe tat.

1) Richard Schmidt, Beiträge zur indischen Erotik. 1902. (Im Vorwort.) § 13

Ich gehe daran, hervorzuheben, was man in diesem Bericht finden, und was man in ihm vermissen wird. Die Arbeit führte ursprünglich den Namen „Traum und Hysterie“, weil sie mir ganz besonders geeignet schien, zu zeigen, wie sich die Traumdeutung in die Behandlungsgeschichte einflicht und wie mit deren Hülfe die Ausfüllung der Amnesien und die Aufklärung der Symptome gewonnen werden kann. Ich habe nicht ohne gute Gründe im Jahre 1900 eine mühselige und tief eindringende Studie über den Traum meinen beabsichtigten Publikationen zur Psychologie der Neurosen vorausgeschickt1)1), allerdings auch aus deren Aufnahme ersehen können, ein wie unzureichendes Verständnis derzeit noch die Fachgenossen solchen Bemühungen entgegenbringen. In diesem Falle war auch der Einwand nicht stichhaltig, dass meine Aufstellungen wegen Zurückhaltung des Materiales eine auf Nachprüfung gegründete Ueberzeugung nicht gewinnen lassen, denn seine eigenen Träume kann jedermann zur analytischen Untersuchung heranziehen, und die Technik der Traumdeutung ist nach den von mir gegebenen Anweisungen und Beispielen leicht zu erlernen. Ich muss heute wie damals behaupten, dass die Vertiefung in die Probleme des Traumes eine unerlässliche Vorbedingung für das Verständnis der psychischen Vorgänge bei der Hysterie und den anderen Psychoneurosen ist, und dass niemand Aussicht hat, auf diesem Gebiete auch nur einige Schritte weit vorzudringen, der sich jene vorbereitende Arbeit ersparen will. Da also diese Krankengeschichte die Kenntnis der Traumdeutung voraussetzt, wird ihre Lektüre für jedermann höchst unbefriedigend ausfallen, bei dem solche Voraussetzung nicht zutrifft. Er wird nur Befremden anstatt der gesuchten Aufklärung in ihr finden und gewiss geneigt sein, die Ursache dieses Befremdens auf den für phantastisch erklärten Autor zu projizieren. In Wirklichkeit haftet solches Befremden an den Erscheinungen der Neurose selbst; es wird dort nur durch unsere ärztliche Gewöhnung verdeckt und kommt beim Erklärungsversuch wider zum Vorschein. Gänzlich zu bannen wäre es ja nur, wenn es gelänge, die Neurose restlos von Momenten, die uns bereits bekannt geworden sind, abzuleiten. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass wir im Gegenteile aus dem Studium der Neurose den Antrieb empfangen werden, sehr vieles Neue anzunehmen, was dann allmählich Gegenstand sicherer Erkenntnis werden kann. Das Neue hat aber immer Befremden und Widerstand erregt.

§ 14

Irrtümlich wäre es, wenn jemand glauben würde, dass Träume und deren Deutung in allen Psychoanalysen eine so hervorragende Stellung einnehmen wie in diesem Beispiel.

§ 15

Erscheint die vorliegende Krankengeschichte betreffs derVerwertung der Träume bevorzugt, so ist sie dafür in anderen Punkten armseliger ausgefallen, als ich es gewünscht hätte. Ihre Mängel hängen aber gerade mit jenen Verhältnissen zusammen, denen die Möglichkeit, sie zu publizieren, zu verdanken ist. Ich sagte schon, dass ich das Material einer Behandlungsgeschichte, die sich etwa über ein Jahr erstreckt, nicht zu bewältigen wüsste. Diese bloss dreimonatliche Geschichte liess sich übersehen und erinnern; ihre Ergebnisse sind aber in mehr als einer Hinsicht unvollständig geblieben. Die Behandlung wurde nicht bis zum vorgesetzten Ziele fortgeführt, sondern durch den Willen der Patientin unterbrochen, als ein gewisser Punkt erreicht war. Zu dieser Zeit waren einige Rätsel des Krankheitsfalles noch gar nicht in Angriff genommen, andere erst unvollkommen aufgehellt, während die Fortsetzung der Arbeit gewiss an allen Punkten bis zur letzten möglichen Aufklärung vorgedrungen wäre. Ich kann also hier nur ein Fragment einer Analyse bieten.

1) Die Traumdeutung. Wien, Fr. Deuticke. 1900. § 16

Vielleicht wird ein Leser, der mit der in den „Studien über Hysterie“ dargelegten Technik der Analyse vertraut ist, sich darüber verwundern, dass sich in drei Monaten nicht die Möglichkeit fand, wenigstens die in Angriff genommenen Symptome zu ihrer letzten Lösung zu bringen. Dies wird aber verständlich, wenn ich mitteile, dass seit den „Studien“ die psychoanalytische Technik eine gründliche Umwälzung erfahren hat. Damals ging die Arbeit von den Symptomen aus und setzte sich die Auflösung derselben der Reihe nach zum Ziel. Ich habe diese Technik seither aufgegeben, weil ich sie der feineren Struktur der Neurose völlig unangemessen fand. Ich lasse nun den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit bestimmen und gehe also von der jeweiligen Oberfläche aus, welche das Unbewusste in ihm seiner Aufmerksamkeit entgegenbringt. Dann erhalte ich aber, was zu einer Symptomlösung zusammengehört, zerstückelt, in verschiedene Zusammenhänge verflochten und auf weit auseinanderliegende Zeiten verteilt. Trotz dieses scheinbaren Nachteils ist die neue Technik der alten weit überlegen, ohne Widerspruch die einzig mögliche.

§ 17

Angesichts der Unvollständigkeit meiner analytischen Ergebnisse blieb mir nichts übrig, als dem Beispiel jener Forscher zu folgen, welche so glücklich sind, die unschätzbaren, wenn auch verstümmelten, Reste des Altertums aus langer Begrabenheit an den Tag zu bringen. Ich habe das Unvollständige nach den besten mir von anderen Analysen her bekannten Mustern ergänzt, aber ebensowenig wie ein gewissenhafter Archäologe in jedem Falle anzugeben versäumt, wo meine Konstruktion an das Authentische ansetzt.

§ 18

Eine andere Art von Unvollständigkeit habe ich selbst mit Absicht herbeigeführt. Ich habe nähmlich die Deutungsarbeit, die an den Einfällen und Mitteilungen der Kranken zu vollziehen war, im allgemeinen nicht dargestellt, sondern bloss die Ergebnisse derselben. Die Technik der analytischen Arbeit ist also, abgesehen von den Träumen, nur an einigen wenigen Stellen enthüllt worden. Es lag mir in dieser Krankengeschichte daran, die Determinierung der Symptome und den intimen Aufbau der neurotischen Erkrankung aufzuzeigen; es hätte nur unauflösbare Verwirrung erzeugt, wenn ich gleichzeitig versucht hätte, auch die andere Aufgabe zu erfüllen. Zur Begründung der technischen, zumeist empirisch gefundenen Regeln müsste man wohl das Material aus vielen Behandlungsgeschichten zusammentragen. Indes möge man sich die Verkürzung durch die Zurückhaltung der Technik für diesen Fall nicht besonders gross vorstellen. Gerade das schwierigste Stück der technischen Arbeit ist bei der Kranken nicht in Frage gekommen, da das Moment der „Uebertragung“, von dem zu Ende der Krankengeschichte die Rede ist, während der kurzen Behandlung nicht zur Entfaltung gelangte.

§ 19

An einer dritten Art von Unvollständigkeit dieses Berichts tragen weder die Kranke noch der Autor die Schuld. Es ist vielmehr selbstverständlich, dass eine einzige Krankengeschichte, selbst wenn sie vollständig und keiner Anzweiflung ausgesetzt wäre, nicht Antwort auf alle Fragen geben kann, die sich aus dem Hysterieproblem erheben. Sie kann nicht alle Typen der Erkrankung, nicht alle Gestaltungen der inneren Struktur der Neurose, nicht alle bei der Hysterie möglichen Arten des Zusammenhanges zwischen Psychischem und Somatischem kennen lehren. Man darf billiger Weise von dem einen Fall nicht mehr fordern, als er zu gewähren vermag. Auch wird, wer bisher nicht an die allgemeine und ausnahmslose Gültigkeit der psychosexuellen Aetiologie für die Hysterie glauben wollte, diese Ueberzeugung durch die Kenntnisnahme einer Krankengeschichte kaum gewinnen, sondern am besten sein Urteil aufschieben, bis er sich durch eigene Arbeit ein Recht auf eine Ueberzeugung erworben hat.

§ 20

I.

§ 21

Nachdem ich in meiner 1900 veröffentlichten „Traumdeutung“ nachgewiesen habe, dass Träume im allgemeinen deutbar sind, und dass sie nach vollendeter Deutungsarbeit sich durch tadellos gebildete, an bekannter Stelle in den seelischen Zusammenhang einfügbare Gedanken ersetzen lassen, möchte ich auf den nachfolgenden Seiten ein Beispiel von jener einzigen praktischen Verwendung geben, welche die Kunst des Traumdeutens zuzulassen scheint. Ich habe schon in meinem Buche1)1) erwähnt, auf welche Weise ich an die Traumprobleme geraten bin. Ich fand sie auf meinem Wege, während ich Psychoneurosen durch ein besonderes Verfahren der Psychotherapie zu heilen bemüht war, indem mir die Kranken unter anderen Vorfällen aus ihrem Seelenleben auch Träume berichteten, welche nach Einreihung in den lange ausgesponnenen Zusammenhang zwischen Leidenssymptom und pathogener Idee zu verlangen schienen. Ich erlernte damals, wie man aus der Sprache des Traumes in die ohne weitere Nachhülfe verständliche Ausdrucksweise unserer Denksprache übersetzen muss. Diese Kenntnis, darf ich behaupten, ist für den Psychoanalytiker unentbehrlich, denn der Traum stellt einen der Wege dar, wie dasjenige psychische Material zum Bewusstsein gelangen kann, welches kraft des Widerstrebens, das sein Inhalt rege macht, vom Bewusstsein abgesperrt, verdrängt und somit pathogen geworden ist. Der Traum ist, kürzer gesagt, einer der Umwege zur Umgehung der Verdrängung, eines der Hauptmittel der sogen. indirekten Darstellungsweise im Psychischen. Wie die Traumdeutung in die Arbeit der Analyse eingreift, soll nun das vorliegende Bruchstück aus der Behandlungsgeschichte eines hysterischen Mädchens dartun. Es soll mir gleichzeitig Anlass bieten, von meinen Ansichten über die psychischen Vorgänge und über die organischen Bedingungen der Hysterie zum ersten Male in nicht mehr missverständlicher Breite einen Anteil öffentlich zu vertreten. Der Breite wegen brauche ich mich wohl nicht mehr zu entschuldigen, seitdem es zugegeben wird, dass man nur durch liebevollste Vertiefung, aber nicht durch vornehmtuende Geringschätzung den grossen Ansprüchen nachkommen kann, welche die Hysterie an den Arzt und Forscher stellt. Freilich:„Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein!“

1) Die Traumdeutung. 1900. Fr. Deuticke, Leipzig und Wien. p. 68. § 22

Eine lückenlose und abgerundete Krankengeschichte voranschicken, hiesse den Leser von vornherein unter ganz andere Bedingungen versetzen, als die des ärztlichen Beobachters waren. Was die Angehörigen des Kranken — in meinem Falle der Vater des 18jährigen Mädchens — berichten, gibt zumeist ein sehr unkenntliches Bild des Krankheitsverlaufes. Ich beginne dann zwar die Behandlung mit der Aufforderung, mir die ganze Lebensund Krankheitsgeschichte zu erzählen, aber was ich darauf zu hören bekomme, ist zur Orientierung noch immer nicht genügend. Diese erste Erzählung ist einem nicht schiffbaren Strom vergleichbar, dessen Bett bald durch Felsmassen verlegt, bald durch Sandbänke zerteilt und untief gemacht wird. Ich kann mich nur verwundern, wie die glatten und exakten Krankengeschichten Hysterischer bei den Autoren entstanden sind. In Wirklichkeit sind die Kranken unfähig, derartige Berichte über sich zu geben. Sie können zwar über diese oder jene Lebenszeit den Arzt ausreichend und zusammenhängend informieren, dann folgt aber eine andere Periode, in der ihre Auskünfte seicht werden, Lücken und Rätsel lassen, und ein andermal steht man wieder vor ganz dunklen, durch keine brauchbare Mitteilung erhellten Zeiten. Die Zusammenhänge, auch die scheinbaren, sind meist zerrissen, die Aufeinanderfolge verschiedener Begebenheiten unsicher; während der Erzählung selbst korrigiert die Kranke wiederholt eine Angabe, ein Datum, um dann nach längerem Schwanken etwa wieder aufdie erste Aussage zurückzugreifen. Die Unfähigkeit der Kranken zur geordneten Darstellung ihrer Lebensgeschichte, soweit sie mit der Krankheitsgeschichte zusammenfällt, ist nicht nur charakteristisch für die Neurose1)1), sie entbehrt auch nicht einer grossen theoretischen Bedeutsamkeit. Dieser Mangel hat nämlich folgende Begründungen: Erstens hält die Kranke einen Teil dessen, was ihr wohlbekannt ist und was sie erzählen sollte, bewusst und absichtlich aus den noch nicht überwundenen Motiven der Scheu und Scham (Diskretion, wenn andere Personen in Betracht kommen) zurück; dies wäre der Anteil der bewussten Unaufrichtigkeit. Zweitens bleibt ein Teil ihres anamnestischen Wissens, über welchen die Kranke sonst verfügt, während dieser Erzählung aus, ohne dass die Kranke einen Vorsatz auf diese Zurückhaltung verwendet: Anteil der unbewussten Unaufrichtigkeit. Drittens fehlt es nie an wirklichen Amnesien, Gedächtnislücken, in welche nicht nur alte, sondern selbst ganz rezente Erinnerungen hineingeraten sind, und an Erinnerungstäuschungen, welche sekundär zur Ausfüllung dieser Lücken gebildet wurden2)2). Wo die Begebenheiten selbst dem Gedächtnis erhalten geblieben, da wird die den Amnesien zugrunde liegende Absicht ebenso sicher durch Aufhebung eines Zusammenhanges erreicht, und der Zusammenhang wird am sichersten zerrissen, wenn die Zeitfolge der Begebenheiten verändert wird. Letztere erweist sich auch stets als der vulnerabelste, der Verdrängung am ehesten unterliegende Bestandteil des Erinnerungsschatzes. Manche Erinnerungen trifft man sozusagen in einem ersten Stadium der Verdrängung, sie zeigen sich mit Zweifel behaftet. Eine gewisse Zeit später wäre dieser Zweifel durch Vergessen oder Fehlerinnern ersetzt3)3).

§ 23

Ein solcher Zustand der auf die Krankheitsgeschichte bezüglichen Erinnerungen ist das notwendige, theoretisch geforderte Korrelat der Krankheitssymptome. Im Verlaufe der Behandlung trägt dann der Kranke nach, was er zurückgehalten oder was ihm nicht eingefallen ist, obwohl er es immer gewusst hat. DieErinnerungstäuschungen erweisen sich als unhaltbar, die Lücken der Erinnerung werden ausgefüllt. Gegen Ende der Behandlung erst kann man eine in sich konsequente, verständliche und lückenlose Krankengeschichte überblicken. Wenn das praktische Ziel der Behandlung dahin geht, alle möglichen Symptome aufzuheben und durch bewusste Gedanken zu ersetzen, so kann man als ein anderes, theoretisches Ziel die Aufgabe aufstellen, alle Gedächtnisschäden des Kranken zu heilen. Die beiden Ziele fallen zusammen; wenn das eine erreicht ist, ist auch das andere gewonnen; der nämliche Weg führt zu beiden.

1) Einst übergab mir ein Kollege seine Schwester zur psychotherapeutischen Behandlung, die, wie er sagte, seit Jahren erfolglos wegen Hysterie (Schmerzen und Gangstörung) behandelt worden sei. Die kurze Information schien mit der Diagnose gut vereinbar; ich liess mir in einer ersten Stunde von der Kranken selbst ihre Geschichte erzāhlen. Als diese Erzählung trotz der merkwürdigen Begebenheiten, auf die sie anspielte, vollkommen klar und ordentlich ausfiel, sagte ich mir, der Fall könne keine Hysterie sein, und stellte unmittelbar darauf eine sorgfältige körperliche Untersuchung an. Das Ergebnis war die Diagnose einer mässig vorgeschrittenen Tabes, die dann auch durch Hg-Injektionen (Ol. cinereum, von Prof. Lang ausgeführt) eine erhebliche Besserung erfuhr. 2) Amnesien und Erinnerungstäuschungen stehen im komplimentären Verhältnis zu einander. Wo sich grosse Erinnerungslücken ergeben, wird man auf wenig Erinnerungstäuschungen stossen. Umgekehrt können letztere das Vorhandensein von Amnesien für den ersten Anschein völlig verdecken. 3) Bei zweifelnder Darstellung, lehrt eine durch Erfahrung gewonnene Regel, sehe man von dieser Urteilsäusserung des Erzählers völlig ab. Bei zwischen zwei Gestaltungen schwankender Darstellung halte man eher die erst geäusserte für richtig, die zweite für ein Produkt der Verdrängung. § 24

Aus der Natur der Dinge, welche das Material der Psychoanalyse bilden, folgt, dass wir in unseren Krankengeschichten den rein menschlichen und sozialen Verhältnissen der Kranken ebensoviel Aufmerksamkeit schuldig sind wie den somatischen Daten und den Krankheitssymptomen. Vor allem anderen wird sich unser Interesse den Familienverhältnissen der Kranken zuwenden, und zwar, wie sich ergeben wird, auch anderer Beziehungen wegen als nur mit Rücksicht auf die zu erforschende Heredität.

§ 25

Der Familienkreis der 18j. Patientin umfasste ausser ihrer Person das Elternpaar und einen um 1½ Jahre älteren Bruder. Die dominierende Person war der Vater, sowohl durch seine Intelligenz und Charaktereigenschaften wie durch seine Lebensumstände, welche das Gerüst für die Kindheits- und Krankengeschichte der Patientin abgeben. Er war zur Zeit, als ich das Mädchen in Behandlung nahm, ein Mann in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre, von nicht ganz gewöhnlicher Rührigkeit und Begabung, Grossindustrieller in sehr behäbiger materieller Situation. Die Tochter hing an ihm mit besonderer Zärtlichkeit, und ihre frühzeitig erwachte Kritik nahm um so stärkeren Anstoss an manchen seiner Handlungen und Eigentümlichkeiten.

§ 26

Diese Zärtlichkeit war überdies durch die vielen und schweren Erkrankungen gesteigert worden, denen der Vater seit ihrem 6. Lebensjahr unterlegen war. Damals wurde seine Erkrankung an Tuberkulose der Anlass zur Uebersiedelung der Familie in eine kleine, klimatisch begünstigte Stadt unserer südlichen Provinzen; das Lungenleiden besserte sich daselbst rasch, doch blieb der für nötig gehaltenen Schonung zu Liebe dieser Ort, den ich mit B. bezeichnen werde, für die nächsten zehn Jahre ungefähr der vorwiegende Aufenthalt sowohl der Eltern wie auch der Kinder. Der Vater war, wenn es ihm gut ging, zeitweilig abwesend, um seine Fabriken zu besuchen; im Hochsommer wurde ein Höhenkurort aufgesucht.

§ 27

Als das Mädchen etwa 10 Jahre alt war, machte eine Netzhautablösung beim Vater eine Dunkelkur notwendig. Bleibende Einschränkung des Sehvermögens war die Folge dieses Krankheitszufalles. Die ernsteste Erkrankung ereignete sich etwa 2 Jahre später; sie bestand in einem Anfalle von Verworrenheit, an den sich Lähmungserscheinungen und leichte psychische Störungen anschlossen. Ein Freund des Kranken, dessen Rolleuns noch später beschäftigen wird, bewog damals den nur wenig Gebesserten, mit seinem Arzte nach Wien zu reisen, um meinen Rat einzuholen. Ich schwankte eine Weile, ob ich nicht bei ihm eine Taboparalyse annehmen sollte, entschloss mich aber dann zur Diagnose diffuser vaskulärer Affektion und liess, nachdem eine spezifische Infektion vor der Ehe vom Kranken zugestanden war, eine energische antiluetische Kur vornehmen, infolge deren sich alle noch vorhandenen Störungen zurückbildeten. Diesem glücklichen Eingreifen verdanke ich wohl, dass mir der Vater 4 Jahre später seine deutlich neurotisch gewordene Tochter vorstellte und nach weiteren 2 Jahren zur psychotherapeutischen Behandlung übergab.

§ 28

Ich hatte unterdes auch eine wenig ältere Schwester des Patienten in Wien kennen gelernt, bei der man eine schwere Form von Psychoneurose ohne charakteristisch-hysterische Symptome anerkennen musste. Diese Frau starb nach einem von einer unglücklichen Ehe erfüllten Leben unter den eigentlich nicht voll aufgeklärten Erscheinungen eines rapid fortschreitenden Marasmus.

§ 29

Ein älterer Bruder des Patienten, den ich gelegentlich zu Gesichte bekam, war ein hypochondrischer Junggeselle.

§ 30

Das Mädchen, das im Alter von 18 Jahren meine Patientin wurde, hatte von jeher mit seinen Sympathien auf Seite der väterlichen Familie gestanden und, seitdem sie erkrankt war, ihr Vorbild in der erwähnten Tante gesehen. Es war auch mir nicht zweifelhaft, dass sie sowohl mit ihrer Begabung und intellektuellen Frühreife als auch mit ihrer Krankheitsveranlagung dieser Familie angehörte. Die Mutter habe ich nicht kennen gelernt. Nach den Mitteilungen des Vaters und des Mädchens musste ich mir die Vorstellung machen, sie sei eine wenig gebildete, vor allem aber unkluge Frau, die besonders seit der Erkrankung und der ihr folgenden Entfremdung ihres Mannes alle ihre Interessen auf die Hauswirtschaft konzentriere und so das Bild dessen biete, was man die „Hausfrauenpsychose“ nennen kann. Ohne Verständnis für die regeren Interessen ihrer Kinder, war sie den ganzen Tag mit Reinmachen und Reinhalten der Wohnung, Möbel und Gerätschaften in einem Maasse beschäftigt, welches Gebrauch und Genuss derselben fast unmöglich machte. Man kann nicht umhin, diesen Zustand, von dem sich Andeutungen häufig genug bei normalen Hausfrauen finden, den Formen von Wasch- und anderem Reinlichkeitszwang an die Seite zu stellen; doch fehlt es bei solchen Frauen, wie auch bei der Mutter unserer Patientin, völlig an der Krankheitserkenntnis und somit an einem wesentlichen Merkmal der „Zwangsneurose“. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war seit Jahren ein sehr unfreundliches. Die Tochter übersah die Mutter, kritisierte sie hart und hatte sich ihrem Einfluss völlig entzogen1)1).

1) Ich stehe zwar nicht auf dem Standpunkte: Die einzige Aetiologie der Hysterie sei die Heredität, möchte aber gerade mit Hinblick auf einige frühere Publikationen (L’hérédité et l’étiologie des névroses. Revue neurologique, IV, 1896, No. 6), in denen ich den obigen Satz bekämpfe, nicht den Anschein erwecken, als unterschätzte ich die Heredität in der Aetiologie der Hysterie oder hielte sie überhaupt für entbehrlich. Für den Fall unserer Patientin ergibt sich eine genügende Krankheitsbelastung aus dem über den Vater und dessen Geschwister Mitgeteilten; ja, wer der Anschauung ist, dass auch Krankheitszustände wie der der Mutter ohne hereditäre Disposition unmöglich sind, wird die Heredität dieses Falles für eine konvergente erklären können. Mir erscheint für die hereditäre oder besser konstitutionelle Disposition des Mädchens ein anderes Moment bedeutsamer. Ich habe erwähnt, dass der Vater vor der Ehe Syphilis überstanden hatte. Nun stammt ein auffällig grosser Prozentsatz meiner psycho-analytisch behandelten Kranken von Vätern ab, die an Tabes oder an Paralyse gelitten haben. Infolge der Neuheit meines therapeutischen Verfahrens fallen mir nur die schwersten Fälle zu, die bereits Jahre lang ohne jeglichen Erfolg behandelt worden sind. Tabes oder Paralyse des Erzeugers darf man als Anhänger der Erb-Fournierschen Lehre als Hinweise auf eine stattgehabte luetische Infektion aufnehmen, welche in einer Anzahl von Fällen bei diesen Vätern auch von mir direkt festgestellt worden ist. In der letzten Diskussion über die Nachkommenschaft Syphilitischer (XIII. Internat. mediz. Kongress zu Paris, 2.—9. August 1900, Referate von Finger, Tarnowsky, Jullien u. A.) vermisse ich die Erwähnung der Tatsache, zu deren Anerkennung mich meine Erfahrung als Neuropathologe drängt, dass Syphilis der Erzeuger als Aetiologie für die neuropathische Konstitution der Kinder sehr wohl in Betracht kommt. § 31

Der einzige, um 1½ Jahr ältere Bruder des Mädchens war ihr in früheren Jahren das Vorbild gewesen, dem ihr Ehrgeiz nachgestrebt hatte. Die Beziehungen der beiden Geschwister hatten sich in den letzten Jahren gelockert. Der junge Mann suchte sich den Familienwirren möglichst zu entziehen; wo er Partei nehmen musste, stand er auf Seiten der Mutter. So hatte die gewöhnliche sexuelle Attraktion Vater und Tochter einerseits, Mutter und Sohn anderseits einander näher gebracht.

§ 32

Unsere Patientin, der ich fortan ihren Namen Dora geben will, zeigte schon im Alter von 8 Jahren nervöse Symptome. Sie erkrankte damals an permanenter, anfallsweise sehr gesteigerter Atemnot, die zuerst nach einer kleinen Bergpartie auftrat und darum auf Ueberanstrengung bezogen wurde. Der Zustand klang im Laufe eines halben Jahres langsam unter der ihr aufgenötigten Ruhe und Schonung ab. Der Hausarzt der Familie scheint bei der Diagnose einer rein nervösen Störung und beim Ausschluss einer organischen Verursachung der Dyspnoe keinen Moment geschwankt zu haben, aber er hielt offenbar solche Diagnose für vereinbar mit der Aetiologie der Ueberanstrengung2)2).

§ 33

Die Kleine machte die gewöhnlichen Kinderinfektionskrankheiten ohne bleibende Schädigung durch. Wie sie (in symbolisierender Absicht!) erzählte, machte gewöhnlich der Bruder den Anfang mit der Erkrankung, die er im leichten Grade hatte, worauf sie mit schweren Erscheinungen nachfolgte. Gegen das Alter von 12 Jahren traten migräneartige halbseitige Kopfschmerzen und Anfälle von nervösem Husten bei ihr auf, anfangs jedesmal mit einander, bis sich die beiden Symptome von einander lösten, um eine verschiedene Entwicklung zu erfahren. Die Migräne wurde seltener und war mit 16 Jahren überwunden. Die Anfälle von Tussis nervosa, zu denen ein gemeiner Katarrh wohl den Anstoss gegeben hatte, hielten die ganze Zeit über an. Als sie mit 18 Jahren in meine Behandlung kam, hustete sie neuerdings in charakteristischer Weise. Die Anzahl dieser Anfälle war nicht festzustellen, die Dauer derselben betrug 3 bis 5 Wochen, einmal auch mehrere Monate. In der ersten Hälfte eines solchen Anfalles war wenigstens in den letzten Jahren komplete Stimmlosigkeit das lästigste Symptom gewesen. Die Diagnose, dass es sich wieder um Nervosität handle, stand längst fest; die mannigfachen gebräuchlichen Behandlungen, auch Hydrotherapie und lokale Elektrisierung, blieben ohne Erfolg. Das unter diesen Zuständen zum reifen, im Urteil sehr selbständigen Mädchen herangewachsene Kind gewöhnte sich daran, der Bemühungen der Aerzte zu spotten und zuletzt auf ärztliche Hilfe zu verzichten. Sie hatte sich übrigens von jeher gesträubt, den Arzt zu Rate zu ziehen, obwohl sie gegen die Person ihres Hausarztes keine Abneigung hatte. Jeder Vorschlag, einen neuen Arzt zu konsultieren, erregte ihren Widerstand, und auch zu mir trieb sie erst das Machtwort des Vaters.

2) Ueber den wahrscheinlichen Anlass dieser ersten Erkrankung siehe weiter unten. § 34

Ich sah sie zuerst im Frühsommer ihres 16. Jahres mit Husten und Heiserkeit behaftet und schlug schon damals eine psychische Kur vor, von der dann Abstand genommen wurde, als auch dieser länger dauernde Anfall spontan verging. Im Winter des nächsten Jahres war sie nach dem Tode ihrer geliebten Tante in Wien im Hause des Onkels und dessen Töchter und erkrankte hier fieberhaft an einem Zustand, der damals als Blinddarmentzündung diagnostiziert wurde1)1). In dem darauffolgenden Herbst verliess die Familie endgiltig den Kurort B., da die Gesundheit des Vaters dies zu gestatten schien, nahm zuerst in dem Orte, wo sich die Fabrik des Vaters befand, und kaum ein Jahr später in Wien dauernden Aufenthalt.

§ 35

Dora war unterdes zu einem blühenden Mädchen von intelligenten und gefälligen Gesichtszügen herangewachsen, das ihren Eltern aber schwere Sorge bereitete. Das Hauptzeichen ihres Krankseins war Verstimmung und Charakterveränderung geworden. Sie war offenbar weder mit sich noch mit den ihrigen zufrieden, begegnete ihrem Vater unfreundlich und vertrug sich gar nicht mehr mit ihrer Mutter, die sie durchaus zur Teilnahme an der Wirtschaft heranziehen wollte. Verkehr suchte sie zu vermeiden; soweit die Müdigkeit und Zerstreutheit, über die sie klagte, es zuliessen, beschäftigte sie sich mit dem Anhören von Vorträgen für Damen und trieb ernstere Studien. Eines Tages wurden die Eltern in Schreck versetzt durch einen Brief, den sie auf oder in dem Schreibtisch des Mädchens fanden, in dem sie Abschiedvon ihnen nahm, weil sie das Leben nicht mehr ertragen könne1)1). Die nicht geringe Einsicht des Vaters liess ihn zwar annehmen, dass kein ernsthafter Selbstmordvorsatz das Mädchen beherrsche, aber er blieb erschüttert, und als sich eines Tages nach einem geringfügigen Wortwechsel zwischen Vater und Tochter bei letzterer ein erster Anfall von Bewusstlosigkeit2)2) einstellte, für den dann auch Amnesie bestand, wurde trotz ihres Sträubens bestimmt, dass sie in meine Behandlung treten solle.

1) Vgl. über denselben die Analyse des zweiten Traumes. § 36

Die Krankengeschichte, die ich bisher skizziert, erscheint wohl im ganzen nicht mitteilenswert. „Petite hystérie“ mit den allergewöhnlichsten somatischen und psychischen Symptomen: Dyspnoe, Tussis nervosa, Aphonie, etwa noch Migränen, dazu Verstimmung, hysterische Unverträglichkeit und ein wahrscheinlich nicht ernst gemeintes Taedium vitae. Es sind gewiss interessantere Krankengeschichten von Hysterischen veröffentlicht worden und sehr oft sorgfältiger aufgenommene, denn auch von Stigmen der Hautempfindlichkeit, Gesichtsfeldeinschränkung und dgl. wird man in der Fortsetzung nichts finden. Ich gestatte mir bloss die Bemerkung, dass uns alle Sammlungen von seltsamen und erstaunlichen Phänomenen bei Hysterie in der Erkenntnis dieser noch immer rätselhaften Erkrankung um nicht vieles gefördert haben. Was uns not tut, ist gerade die Aufklärung der allergewöhnlichsten Fälle und der allerhäufigsten, der typischen Symptome bei ihnen. Ich wäre zufrieden, wenn mir die Verhältnisse gestattet hätten, für diesen Fall kleiner Hysterie die Aufklärung vollständig zu geben. Nach meinen Erfahrungen an anderen Kranken zweifle ich nicht daran, dass meine analytischen Mittel dafür ausgereicht hätten.

§ 37

Kurz nach der Veröffentlichung meiner „Studien über Hysterie“ mit Dr. J. Breuer im Jahre 1895 bat ich einen hervorragenden Fachgenossen um sein Urteil über die darin vertretene psychische Theorie der Hysterie. Er antwortete unumwunden, er halte sie für eine unberechtigte Verallgemeinerung von Schlüssen, die für einige wenige Fälle richtig sein mögen. Seither habe ich reichlich Fälle von Hysterie gesehen, habe mich einige Tage, Wochen oder Jahre mit jedem Falle beschäftigt, und in keinem einzigen Falle habe ich jene psychischen Bedingungen vermisst, welche die„Studien“ postulieren, das psychische Trauma, den Konflikt der Affekte und, wie ich in späteren Publikationen hinzugefügt habe, die Ergriffenheit der Sexualsphäre. Man darf bei Dingen, welche durch ihr Bestreben, sich zu verbergen, pathogen geworden sind, freilich nicht erwarten, dass die Kranken sie dem Arzt entgegentragen werden, oder darf sich nicht bei dem ersten „Nein“, das sich der Forschung entgegensetzt, bescheiden1)1).

1) Diese Kur und somit meine Einsicht in die Verkettungen der Krankengeschichte ist, wie ich bereits mitgeteilt habe, ein Bruchstück geblieben. Ich kann darum über manche Punkte keinen Aufschluss geben oder nur Andeutungen und Vermutungen verwerten. Als dieser Brief in einer Sitzung zur Sprache kam, fragte das Mädchen wie erstaunt: „Wie haben sie den Brief nur gefunden? Er war doch in meinem Schreibtisch eingeschlossen.“ Da sie aber wusste, dass die Eltern diesen Entwurf zu einem Abschiedsbrief gelesen hatten, so schliesse ich, dass sie ihnen denselben selbst in die Hände gespielt. 2) Ich glaube, dass in diesem Anfalle auch Krämpfe und Delirien zu beobachten waren. Da aber die Analyse auch zu diesem Ereignis nicht vorgedrungen ist, verfüge ich über keine gesicherte Erinnerung hierüber. § 38

Bei meiner Patientin Dora dankte ich es dem schon mehrmals hervorgehobenen Verständnis des Vaters, dass ich nicht selbst nach der Lebensanknüpfung, wenigstens für die letzte Gestaltung der Krankheit, zu suchen brauchte. Der Vater berichtete mir, dass er wie seine Familie in B. intime Freundschaft mit einem Ehepaar geschlossen hätten, welches seit mehreren Jahren dort ansässig war. Frau K. habe ihn während seiner grossen Krankheit gepflegt und sich dadurch einen unvergänglichen Anspruch auf seine Dankbarkeit erworben. Herr K. sei stets sehr liebenswürdig gegen seine Tochter Dora gewesen, habe Spaziergänge mit ihr unternommen, wenn er anwesend war, ihr kleine Geschenke gemacht, doch hätte niemand etwas Arges daran gefunden. Dora habe die zwei kleinen Kinder des Ehepaares K. in der sorgsamsten Weise betreut, gleichsam Mutterstelle an ihnen vertreten. Als Vater und Tochter mich im Sommer vor 2 Jahren aufsuchten, waren sie eben auf der Reise zu Herrn und Frau K. begriffen, die Sommeraufenthalt an einem unserer Alpenseen genommen hatten. Dora sollte mehrere Wochen im Hause K. bleiben, der Vater wollte nach wenigen Tagen zurückreisen. Herr K. war in diesen Tagen auch anwesend. Als der Vater aber zur Abreise rüstete, erklärte das Mädchen plötzlich mit grösster Entschiedenheit, sie reise mit, und sie hatte es auch so durchgesetzt. Einige Tage später gab sie erst die Aufklärung für ihr auffälliges Benehmen, indem sie der Mutter zur Weiterbeförderung an den Vater erzählte, Herr K. habe auf einem Spaziergang nach einer Seefahrt gewagt, ihr einen Liebesantrag zu machen. Der Beschuldigte,beim nächsten Zusammentreffen von Vater und Onkel zur Rede gestellt, leugnete aufs Nachdrücklichste jeden Schritt seinerseits, der solche Auslegung verdient hätte, und begann das Mädchen zu verdächtigen, das nach der Mitteilung der Frau K. nur für sexuelle Dinge Interesse zeige und in ihrem Haus am See selbst Mantegazzas „Physiologie der Liebe“ und ähnliche Bücher gelesen habe. Wahrscheinlich habe sie, durch solche Lektüre erhitzt, sich die ganze Szene, von der sie erzählt, „eingebildet“.

1) Hier ein Beispiel fürs letztere. Einer meiner Wiener Kollegen, dessen Ueberzeugung von der Belanglosigkeit sexueller Momente für die Hysterie durch solche Erfahrungen wahrscheinlich sehr gefestigt worden ist, entschloss sich, bei einem 14jährigen Mädchen mit bedrohlichem hysterischen Erbrechen zur peinlichen Frage, ob sie vielleicht gar eine Liebesbeziehung gehabt hätte. Das Kind antwortete: Nein, wahrscheinlich mit gut gespieltem Erstaunen, und erzählte in seiner respektlosen Weise der Mutter: Denk’ Dir, der dumme Kerl hat mich gar gefragt, ob ich verliebt bin. Es kam dann in meine Behandlung und enthüllte sich — freilich nicht gleich bei der ersten Unterredung — als eine langjährige Masturbantin mit starkem Fluor albus (der viel Bezug auf das Erbrechen hatte), die sich endlich selbst entwöhnt hatte, in der Abstinenz aber von dem heftigsten Schuldgefühl gepeinigt wurde, so dass sie alle Unfälle, welche die Familie betrafen, als göttliche Strafe für ihre Versündigung ansah. Ausserdem stand sie unter dem Einfluss des Romans ihrer Tante, deren uneheliche Gravidität (mit zweiter Determination für das Erbrechen) ihr angeblich glücklich verheimlicht worden war. Sie galt als ein „ganzes Kind“, erwies sich aber als eingeweiht in alles Wesentliche der sexuellen Beziehungen. § 39

„Ich bezweifle nicht, sagte der Vater, dass dieser Vorfall die Schuld an Doras Verstimmung, Gereiztheit und Selbstmordideen trägt. Sie verlangt von mir, dass ich den Verkehr mit Herrn und besonders mit Frau K., die sie früher geradezu verehrt hat, abbreche. Ich kann das aber nicht, denn erstens halte ich selbst die Erzählung Doras von der unsittlichen Zumutung des Mannes für eine Phantasie, die sich ihr aufgedrängt hat, zweitens bin ich an Frau K. durch ehrliche Freundschaft gebunden und mag ihr nicht wehe tun. Die arme Frau ist sehr unglücklich mit ihrem Manne, von dem ich übrigens nicht die beste Meinung habe; sie war selbst sehr nervenleidend und hat an mir den einzigen Anhalt. Bei meinem Gesundheitszustand brauche ich Ihnen wohl nicht zu versichern, dass hinter diesem Verhältnis nichts Unerlaubtes steckt. Wir sind zwei arme Menschen, die einander, so gut es geht, durch freundschaftliche Teilnahme trösten. Dass ich nichts an meiner eigenen Frau habe, ist Ihnen bekannt. Dora aber, die meinen harten Kopf hat, ist von ihrem Hass gegen die K. nicht abzubringen. Ihr letzter Anfall war nach einem Gespräch, in dem sie wiederum dieselbe Forderung an mich stellte. Suchen Sie sie jetzt auf bessere Wege zu bringen.“

§ 40

Nicht ganz im Einklang mit diesen Eröffnungen stand es, dass der Vater in anderen Reden die Hauptschuld an dem unerträglichen Wesen seiner Tochter auf die Mutter zu schieben suchte, deren Eigenheiten allen das Haus verleideten. Ich hatte mir aber längst vorgenommen, mein Urteil über den wirklichen Sachverhalt aufzuschieben, bis ich auch den anderen Teil gehört hätte.

§ 41

In dem Erlebnis mit Herrn K. — in der Lieberwerbung und der darauffolgenden Ehrenkränkung — wäre also für unsere Patientin Dora das psychische Trauma gegeben, welches seinerzeit Breuer und ich als unerlässliche Vorbedingung für die Entstehung eines hysterischen Krankheitszustandes hingestellt haben. Dieser neue Fall zeigt aber auch alle die Schwierigkeiten, die mich seither veranlasst haben, über diese Theorie hinaus zu gehen1)1),vermehrt durch eine neue Schwierigkeit besonderer Art. Das uns bekannte Trauma der Lebensgeschichte ist nämlich, wie so oft in den hysterischen Krankengeschichten, untauglich, um die Eigenart der Symptome zu erklären, sie zu determinieren; wir würden ebensoviel oder ebensowenig vom Zusammenhange erfassen, wenn andere Symptome als Tussis nervosa, Aphonie, Verstimmung und Taedium vitae der Erfolg des Traumas gewesen wären. Nun kommt aber hinzu, dass ein Teil dieser Symptome — der Husten und die Stimmlosigkeit — schon Jahre vor dem Trauma von der Kranken produziert worden sind und dass die ersten Erscheinungen überhaupt der Kindheit angehören, da sie in das 8. Lebensjahr fallen. Wir müssen also, wenn wir die traumatische Theorie nicht aufgeben wollen, bis auf die Kindheit zurückgreifen, um dort nach Einflüssen oder Eindrücken zu suchen, welche analog einem Trauma wirken können, und dann ist es recht bemerkenswert, dass mich auch die Untersuchung von Fällen, deren erste Symptome nicht bereits in der Kindheit einsetzten, zur Verfolgung der Lebensgeschichte bis in die ersten Kinderjahre angeregt hat1)1).

1) Ich bin über diese Theorie hinausgegangen, ohne sie aufzugeben, d. h. ich erkläre sie heute nicht für unrichtig, sondern für unvollständig. Aufgegeben habe ich bloss die Betonung des sog. hypnoiden Zustandes, der aus Anlass des Traumas bei der Kranken auftreten und die Begründung für das weitere psychologisch abnorme Geschehen auf sich nehmen soll. Wenn es bei gemeinsamer Arbeit gestattet ist, nachträglich eine Eigentumsscheidung vorzunehmen, so möchte ich hier doch aussagen, dass die Aufstellung der„hypnoiden Zustände“, in welcher dann manche Referenten den Kern unserer Arbeit erkennen wollten, der ausschliesslichen Initiative Breuers entsprungen ist. Ich halte es für überflüssig und irreleitend, die Kontinuität des Problems, worin der psychische Vorgang bei der hysterischen Symptombildung bestehe, durch diese Namengebung zu unterbrechen. § 42

Nachdem die ersten Schwierigkeiten der Kur überwunden waren, machte mir Dora Mitteilung von einem früheren Erlebnisse mit Herrn K., welches sogar besser geeignet war, als sexuelles Trauma zu wirken. Sie war damals 14 Jahre alt. Herr K. hatte mit ihr und seiner Frau verabredet, dass die Damen am Nachmittag in seinen Geschäftsladen auf dem Hauptplatz von B. kommen sollten, um von dort aus eine kirchliche Feierlichkeit mitanzusehen. Er bewog aber seine Frau, zu Hause zu bleiben, entliess die Kommis und war allein, als das Mädchen ins Geschäft trat. Als die Zeit der Prozession herannahte, ersuchte er das Mädchen, ihn bei der Türe, die aus dem Laden zur Treppe ins höhere Stockwerk führte, zu erwarten, während er die Rollbalken herunterliess. Er kam dann zurück, und anstatt durch die offene Türe hinauszugehen, presste er plötzlich das Mädchen an sich und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Das war wohl die Situation, um bei einem vierzehnjährigen, unberührten Mädchen eine deutliche Empfindung sexueller Erregtheit hervorzurufen. Dora empfand aber in diesem Moment einen heftigen Ekel, riss sich los und eilte an dem Manne vorbei zur Treppe und von dort zum Haustor. Der Verkehr mit Herrn K. dauerte nichtsdestoweniger fort; keiner von ihnen tat dieser kleinen Szene je Erwähnung, auch will sie dieselbe bis zur Beichte in der Kur als Geheimnis bewahrt haben. In der nächsten Zeit vermied sie übrigens die Gelegenheit, mitHerrn K. allein zu sein. Das Ehepaar K. hatte damals einen mehrtägigen Ausflug verabredet, an dem auch Dora teilnehmen sollte. Nach dem Kuss im Laden sagte sie ihre Beteiligung ab, ohne Gründe anzugeben1)1).

1) Vgl. meine Abhandlung: Zur Aetiologie der Hysterie. Wiener klin. Rundschau. 1896. No. 22—26. § 43

In dieser, der Reihe nach zweiten, der Zeit nach früheren Szene ist das Benehmen des 14jährigen Kindes bereits ganz und voll hysterisch. Jede Person, bei welcher ein Anlass zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschliesslich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterica halten, ob sie nun somatische Symptome zu erzeugen fähig sei oder nicht. Den Mechanismus dieser Affektverkehrung aufzuklären, bleibt eine der bedeutsamsten, gleichzeitig eine der schwierigsten Aufgaben der Neurosenpsychologie. Nach meinem eigenen Urteil bin ich noch ein gut Stück Weges von diesem Ziel entfernt; im Rahmen dieser Mitteilung werde ich aber auch von dem, was ich weiss, nur einen Teil vorbringen können.

§ 44

Der Fall unserer Patientin Dora ist durch die Hervorhebung der Affektverkehrung noch nicht genügend charakterisiert; man muss ausserdem sagen, hier hat eine Verschiebung der Empfindung stattgefunden. Anstatt der Genitalsensation, die bei einem gesunden Mädchen unter solchen Umständen2)2) gewiss nicht gefehlt hätte, stellt sich bei ihr die Unlustempfindung ein, welche dem Schleimhauttrakt des Eingangs in den Verdauungskanal zugehört, der Ekel. Gewiss hat auf diese Lokalisation die Lippenerregung durch den Kuss Einfluss genommen; ich glaube aber auch noch die Wirkung eines anderen Momentes zu erkennen3)3).

§ 45

Der damals verspürte Ekel ist bei Dora nicht zum bleibenden Symptom geworden, auch zur Zeit der Behandlung war er nur gleichsam potentiell vorhanden. Sie ass schlecht und gestand eine gelinde Abneigung gegen Speisen zu. Dagegen hatte jene Szene eine andere Folge zurückgelassen, eine Empfindungshalluzination, die von Zeit zu Zeit und auch während ihrer Erzählung wieder auftrat. Sie sagte, sie verspüre jetzt noch den Druck auf den Oberkörper von jener Umarmung. Nach gewissen Regeln der Symptombildung, die mir bekannt geworden sind, im Zusammenhalt mit anderen, sonst unerklärlichen Eigentümlichkeiten der Kranken, die z. B. an keinem Manne vorbeigehen wollte, den sie in eifrigem oder zärtlichem Gespräch mit einer Dame stehen sah, habe ich mir von dem Hergang in jener Szene folgende Rekonstruktion geschaffen. Ich denke, sie verspürte in der stürmischen Umarmung nicht bloss den Kuss auf ihren Lippen, sondern auch das Andrängen des erigierten Gliedes gegen ihren Leib.Diese ihr anstössige Wahrnehmung wurde für die Erinnerung beseitigt, verdrängt und durch die harmlosere Sensation des Druckes am Thorax ersetzt, die aus der verdrängten Quelle ihre übergrosse Intensität bezieht. Eine neuerliche Verschiebung also vom Unterkörper auf den Oberkörper1)1). Der Zwang in ihrem Benehmen ist hingegen so gebildet, als ginge er von der unveränderten Erinnerung aus. Sie mag an keinem Manne, den sie in sexueller Erregung glaubt, vorbeigehen, weil sie das somatische Zeichen derselben nicht wieder sehen will.

1) Einen Beitrag zur Motivierung dieser Absage siehe Seite 302. 2) Die Würdigung dieser Umstände wird durch eine spätere Aufklärung erleichtert werden. Siehe Seite 439. 3) Accidentelle Ursachen hatte der Ekel Doras bei diesem Kusse sicherlich nicht, diese wären unfehlbar erinnert und erwähnt worden. Ich kenne zufällig Herrn K.; es ist dieselbe Person, die den Vater der Patientin zu mir begleitet hat, ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Aeussern. § 46

Es ist bemerkenswert, wie hier drei Symptome — der Ekel, die Drucksensation am Oberkörper und die Scheu vor Männern in zärtlichem Gespräch — aus einem Erlebnis hervorgehen, und wie erst die Aufeinanderbeziehung dieser drei Zeichen das Verständnis für den Hergang der Symptombildung ermöglicht. Der Ekel entspricht dem Verdrängungssymptom von der erogenen (durch infantiles Lutschen, wie wir hören werden, verwöhnten) Lippenzone. Das Andrängen des erigierten Gliedes hat wahrscheinlich die analoge Veränderung an dem entsprechenden weiblichen Organ, der Clitoris, zur Folge gehabt, und die Erregung dieser zweiten erogenen Zone ist durch Verschiebung auf die gleichzeitige Drucksensation am Thorax fixiert worden. Die Scheu vor Männern in möglicherweise sexuell erregtem Zustande folgt dem Mechanismus einer Phobie, um sich vor einer neuerlichen Wiederbelebung der verdrängten Wahrnehmung zu sichern.

§ 47

Um die Möglichkeit dieser Ergänzung darzutun, habe ich in der vorsichtigsten Weise bei der Patientin angefragt, ob ihr von körperlichen Zeichen der Erregtheit am Leibe des Mannes etwas bekannt sei. Die Antwort lautete für heute: ja, für damals: sie glaube nicht. Ich habe bei dieser Patientin von Anfang an die grösste Sorgfalt aufgewendet, um ihr keinen neuen Wissensstoff aus dem Gebiete des Geschlechtslebens zuzuführen, und dies nicht aus Gründen der Gewissenhaftigkeit, sondern weil ich meine Voraussetzungen an diesem Falle einer harten Probe unterziehen wollte. Ich nannte ein Ding also erst dann beim Namen, wenn ihre allzu deutlichen Anspielungen die Uebersetzung ins Direkte als ein sehr geringfügiges Wagstück erscheinen liessen. Ihre prompte und ehrliche Antwort ging auch regelmässig dahin, das sei ihr bereits bekannt, aber das Rätsel, woher sie es denn wisse, war durch ihre Erinnerungen nicht zu lösen. Die Herkunft all dieser Kenntnisse hatte sie vergessen2)2).

1) Solche Verschiebungen werden nicht etwa zum Zwecke dieser einen Erklärung angenommen, sondern ergeben sich für eine grosse Reihe von Symptomen als unabweisbare Forderung. Ich habe seither von einer früher zärtlich verliebten Braut, die sich wegen plötzlicher Erkaltung gegen ihren Verlobten, die unter schwerer Verstimmung eintrat, an mich wendete, denselben Schreckeffekt einer Umarmung (ohne Kuss) vernommen. Hier gelang die Zurückführung des Schrecks auf die wahrgenommene, aber fürs Bewusstsein beseitigte Erektion des Mannes ohne weitere Schwierigkeit. 2) Vgl. den zweiten Traum. § 48

Wenn ich mir die Szene des Kusses im Laden so vorstellen darf, so gelange ich zu folgender Ableitung für den Ekel.1)1) Die Ekelempfindung scheint ja ursprünglich die Reaktion auf den Geruch (später auch auf den Anblick) der Exkremente zu sein. An die exkrementellen Funktionen können die Genitalien und speziell das männliche Glied aber erinnern, weil hier das Organ ausser der sexuellen aucli der Funktion der Harnentleerung dient. Ja diese Verrichtung ist die älter bekannte und die in der vorsexuellen Zeit einzig bekannte. So gelangt der Ekel unter die Affektäusserangen des Sexuallebens. Es ist das „inter urinas et faeces nascimur“ des Kirchenvaters, welches dem Sexualleben anhaftet und aller idealisierenden Bemühung zum Trotze von ihm nicht abzulösen ist. Ich will es aber ausdrücklich als meinen Standpunkt hervorheben, dass ich das Problem durch den Nachweis dieses Assoziationsweges nicht für gelöst halte. Wenn diese Assoziation wachgerufen werden kann, so ist damit noch nicht erklärt, dass sie auch wachgerufen wird. Sie wird es nicht unter normalen Verhältnissen. Die Kenntnis der Wege macht die Kenntnis der Kräfte nicht überflüssig, welche diese Wege wandeln.2)2)

§ 49

Im übrigen fand ich es nicht leicht, die Aufmerksamkeit meiner Patientin auf ihren Verkehr mit Herrn K. zu lenken. Sie behauptete, mit dieser Person abgeschlossen zu haben. Die oberste Schicht all ihrer Einfälle in den Sitzungen, alles was ihr leicht bewusst wurde und was sie als bewusst vom Vortag erinnerte, bezog sich immer auf den Vater. Es war ganz richtig, dass sie dem Vater die Fortsetzung des Verkehrs mit Herrn und besonders mit Frau K. nicht verzeihen konnte. Ihre Auffassung dieses Verkehrs war allerdings eine andere, als die der Vater selbst gehegt wissen wollte. Für sie bestand kein Zweifel, dass es ein gewöhnliches Liebesverhältnis sei, das ihren Vater an die junge und schöne Frau knüpfe. Nichts was dazu beitragen konnte, diesen Satz zu erhärten, war ihrer hierin unerbittlich scharfen Wahrnehmung entgangen, hier fand sich keine Lücke in ihrem Gedächtnisse. Die Bekanntschaft mit den K. hatte schon vor der schweren Erkrankung des Vaters begonnen; sie wurde aber erst intim, als sich während dieser Krankheit die junge Frau förmlich zur Pflegerin aufwarf, während die Mutter sich vom Bette des Kranken ferne hielt. In dem ersten Sommeraufenthalte nach der Genesung ereigneten sich Dinge, die jedermann über die wirkliche Natur dieser „Freundschaft“ die Augen öffnen mussten. Die beiden Familien hatten gemeinsam einen Trakt im Hotel gemietet, und da geschah es eines Tages, dass Frau K. erklärte, sie könne das Schlafzimmer nicht beibehalten, welches sie bisher mit einem ihrer Kinder geteilt hatte, und wenige Tage nachher gab ihr Vater sein Schlafzimmer auf, und beide bezogen neue Zimmer, die Endzimmer und nur durch den Korridor getrennt waren, während die aufgegebenen Räume solche Garantie gegen Störung nicht geboten hatten. Wenn sie dem Vater später Vorwürfe wegen der Frau K. machte, so pflegte er zu sagen, er begreife diese Feindschaft nicht, die Kinder hätten vielmehr allen Grund, der Frau K. dankbar zu sein. Die Mama, an welche sie sich dann um Aufklärung dieser dunkeln Rede wandte, teilte ihr mit, der Papa sei damals so unglücklich gewesen, dass er im Walde einen Selbstmord habe verüben wollen; Frau K., die es geahnt, sei ihm aber nachgekommen und habe ihn durch ihr Bitten bestimmt, sich den Seinigen zu erhalten. Sie glaube natürlich nicht daran, man habe wohl die beiden im Walde mitsammen gesehen, und da habe der Papa dies Märchen vom Selbstmord erfunden, um das Rendezvous zu rechtfertigen1)1). Als sie dann nach B. zurückkehrten, war der Papa täglich zu bestimmten Stunden bei Frau K., während der Mann im Geschäft war. Alle Leute hätten darüber gesprochen und sie in bezeichnender Weise danach gefragt. Herr K. selbst habe oft gegen ihre Mama bitter geklagt, sie selbst aber mit Anspielungen auf den Gegenstand verschont, was sie ihm als Zartgefühl anzurechnen schien. Bei gemeinsamen Spaziergängen wussten Papa und Frau K. es regelmässig so einzurichten, dass er mit Frau K. allein blieb. Es war kein Zweifel, dass sie Geld von ihm nahm, denn sie machte Ausgaben, die sie unmöglich aus eigenen Mitteln oder aus denen ihres Mannes bestreiten konnte. Der Papa begann auch, ihr grosse Geschenke zu machen; um diese zu verdecken, wurde er gleichzeitig besonders freigebig gegen die Mutter und gegen sie selbst. Die bis dahin kränkliche Frau, die selbst für Monate eine Nervenheilanstalt aufsuchen musste, weil sie nicht gehen konnte, war seither gesund und lebensfrisch.

1) Hier wie an allen ähnlichen Stellen mache man sich nicht auf einfache, sondern auf mehrfache Begründung, auf Ueberdeterminierung gefasst. 2) An all diesen Erörterungen ist viel Typisches und für Hysterie allgemein Gültiges. Das Thema der Erektion löst einige der interessantesten unter den hysterischen Symptomen. Die weibliche Aufmerksamkeit für die durch die Kleider wahrnehmbaren Umrisse der männlichen Genitalien wird nach ihrer Verdrängung zum Motiv so vieler Fälle von Menschenscheu und Gesellschaftsangst. Die breite Verbindung zwischen dem Sexuellen und dem Exkrementellen, deren pathogene Bedeutung wohl nicht gross genug veranschlagt werden kann, dient einer überaus reichlichen Anzahl von hysterischen Phobien zur Grundlage. § 50

Auch nachdem sie B. verlassen hatten, setzte sich der mehrjährige Verkehr fort, indem der Vater von Zeit zu Zeit erklärte, er vertrage das rauhe Klima nicht, müsse etwas für sich tun, zu husten und zu klagen begann, bis er plötzlich nach B. abgereist war, von wo aus er die heitersten Briefe schrieb. All diese Krankheiten waren nur Vorwände, um seine Freundin wiederzusehen. Dann hiess es eines Tages, sie übersiedelten nach Wien, und sie fing an, einen Zusammenhang zu vermuten. Wirklichwaren sie kaum 3 Wochen in Wien, als sie hörte, K. seien gleichfalls nach Wien übersiedelt. Sie befänden sich auch gegenwärtig hier, und sie träfe den Papa häufig mit Frau K. auf der Strasse. Auch Herrn K. begegne sie öfters, er blicke ihr immer nach, und als er sie einmal alleingehend getroffen, sei er ihr ein grosses Stück weit nachgegangen, um sich zu überzeugen, wohin sie gehe, ob sie nicht etwa ein Rendezvous habe.Dass der Papa unaufrichtig sei, einen Zug von Falschheit in seinem Charakter habe, nur an seine eigene Befriedigung denke und die Gabe besitze, sich die Dinge so zurecht zu legen, wie es ihm am besten passe, solche Kritik bekam ich besonders in den Tagen zu hören, als der Vater wieder einmal seinen Zustand verschlimmert fühlte und für mehrere Wochen nach B. abreiste, worauf die scharfsichtige Dora bald ausgekundschaftet hatte, dass auch Frau K. eine Reise nach demselben Ziel zum Besuch ihrer Verwandten unternommen hatte.

1) Dies die Anknüpfung für ihre eigene Selbstmordkomödie, die also etwa die Sehnsucht nach einer ähnlichen Liebe ausdrückt. § 51

Ich konnte die Charakteristik des Vaters im allgemeinen nicht bestreiten; es war auch leicht zu sehen, mit welchem besonderen Vorwurf Dora im Rechte war. Wenn sie in erbitterter Stimmung war, drängte sich ihr die Auffassung auf, dass sie Herrn K. ausgeliefert worden sei als Preis für seine Duldung gegen die Beziehungen zwischen Doras Vater und seiner Frau, und man konnte hinter ihrer Zärtlichkeit für den Vater die Wut über solche Verwendung ahnen. Zu anderen Zeiten wusste sie wohl, dass sie sich mit solchen Reden einer Uebertreibung schuldig gemacht hatte. Einen förmlichen Pakt, in dem sie als Tauschobjekt behandelt worden, hatten die beiden Männer natürlich niemals geschlossen; der Vater zumal wäre vor einer solchen Zumutung entsetzt zurückgewichen. Aber er gehörte zu jenen Männern, die einem Konflikt dadurch die Spitze abzubrechen verstehen, dass sie ihr Urteil über das eine der zum Gegensatz gekommenen Themata verfälschen. Auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass einem heranwachsenden Mädchen aus dem beständigen und unbeaufsichtigten Verkehr mit dem von seiner Frau unbefriedigten Manne Gefahr erwachsen könne, hätte er sicherlich geantwortet: Auf seine Tochter könne er sich verlassen, der könne ein Mann wie K. nie gefährlich werden, und sein Freund K. selbst sei solcher Absichten unfähig. Oder: Dora sei noch ein Kind und werde von K. als Kind behandelt. Es war aber in Wirklichkeit so gekommen, dass jeder der beiden Männer es vermied, aus dem Benehmen des anderen jene Konsequenz zu ziehen, welche für seine eigenen Bestrebungen unbequem war. Herr K. durfte Dora alle Tage seiner Anwesenheit ein Jahr hindurch Blumen schicken, jede Gelegenheit zu kostbaren Geschenken benutzen und alle seine freie Zeit in ihrer Gesellschaft zubringen, ohne dass ihre Eltern in diesem Benehmen den Charakter der Liebeswerbung erkannt hätten.

§ 52

Wenn in der psychoanalytischen Behandlung eine korrekt begründete und einwandfreie Gedankenreihe auftaucht, so gibtes wohl einen Moment der Verlegenheit für den Arzt, den der Kranke zur Frage ausnützt: „Das ist doch wohl alles wahr und richtig? Was wollen Sie daran ändern, wenn ich’s Ihnen erzählt habe?“ Man merkt dann bald, dass solche für die Analyse unangreifbare Gedanken vom Kranken dazu benutzt worden sind, um andere zu verdecken, die sich der Kritik und dem Bewusstsein entziehen wollen. Eine Reihe von Vorwürfen gegen andere Personen lässt eine Reihe von Selbstvorwürfen des gleichen Inhalts vermuten. Man braucht nur jeden einzelnen Vorwurf auf die eigene Person des Redners zurückzuwenden. Diese Art, sich gegen einen Selbstvorwurf zu verteidigen, indem man den gleichen Vorwurf gegen eine andere Person erhebt, hat etwas unleugbar Automatisches. Sie findet ihr Vorbild in den „Retourkutschen“ der Kinder, die unbedenklich zur Antwort geben: „Du bist ein Lügner“, wenn man sie der Lüge beschuldigt hat. Der Erwachsene würde im Bestreben nach Gegenbeschimpfung nach irgend einer realen Blösse des Gegners ausschauen und nicht den Hauptwert auf die Wiederholung des nämlichen Inhaltes legen. In der Paranoia wird diese Projektion des Vorwurfes auf einen Anderen ohne Inhaltsveränderung und somit ohne Anlehnung an die Realität als wahnbildender Vorgang manifest.

§ 53

Auch die Vorwürfe Doras gegen ihren Vater waren mit Selbstvorwürfen durchwegs des nämlichen Inhaltes „unterfüttert“, „doubliert“, wie wir im einzelnen zeigen werden: Sie hatte recht darin, dass der Vater sich Herrn K.s Benehmen gegen seine Tochter nicht klar machen wollte, um nicht in seinem Verhältnis zu Frau K. gestört zu werden. Aber sie hatte genau das nämliche getan. Sie hatte sich zur Mitschuldigen dieses Verhältnisses gemacht und alle Anzeichen abgewiesen, welche sich für die wahre Natur desselben ergaben. Erst seit dem Abenteuer am See datierte ihre Klarheit darüber und ihre strengen Anforderungen an den Vater. All die Jahre vorher hatte sie dem Verkehr des Vaters mit Frau K. jeden möglichen Vorschub geleistet. Sie ging nie zu Frau K., wenn sie den Vater dort vermutete. Sie wusste, dann würden die Kinder weggeschickt worden sein, richtete ihren Weg so ein, dass sie die Kinder antraf, und ging mit ihnen spazieren. Es hatte eine Person im Hause gegeben, welche ihr frühzeitig die Augen über die Beziehungen des Vaters zur Frau K. öffnen und sie zur Parteinahme gegen diese Frau anreizen wollte. Dies war ihre letzte Gouvernante, ein älteres, sehr belesenes Mädchen von freien Ansichten1)1). Lehrerin und Schülerin standen eine Weile recht gut miteinander, bis Dora sich plötzlich mit ihr verfeindete und auf ihrer Entlassung bestand. So lange das Fräulein Einflussbesass, benutzte sie ihn dazu, gegen Frau K. zu hetzen. Sie setzte der Mama auseinander, dass es mit ihrer Würde unvereinbar sei, solche Intimität ihres Mannes mit einer Fremden zu dulden; sie machte auch Dora auf alles aufmerksam, was an diesem Verkehr auffällig war. Ihre Bemühungen waren aber vergebens, Dora blieb Frau K. zärtlich zugetan und wollte von keinem Anlass wissen, den Verkehr des Vaters mit ihr anstössig zu finden. Sie gab sich anderseits sehr wohl Rechenschaft über die Motive, die ihre Gouvernante bewegten. Blind nach der einen Seite, war sie scharfsichtig genug nach der anderen. Sie merkte, dass das Fräulein in den Papa verliebt sei. Wenn der Papa anwesend war, schien sie eine ganz andere Person, dann konnte sie amüsant und dienstfertig sein. Zur Zeit, als die Familie in der Fabrikstadt weilte und Frau K. ausser dem Horizonte war, hetzte sie gegen die Mama als die jetzt in Betracht kommende Nebenbuhlerin. Das alles nahm ihr Dora noch nicht übel. Erbost wurde sie erst, als sie merkte, dass sie selbst der Gouvernante ganz gleichgiltig sei, und dass die ihr erwiesene Liebe tatsächlich dem Papa gelte. Während der Abwesenheit des Papas von der Fabrikstadt hatte das Fräulein keine Zeit für sie, wollte nicht mit ihr spazieren gehen, interessierte sich nicht für ihre Arbeiten. Kaum dass der Papa von B. zurückgekommen war, zeigte sie sich wieder zu allen Dienst- und Hülfeleistungen bereit. Da liess sie sie fallen.

1) Diese Gouvernante, die alle Bücher über Geschlechtsleben u. dgl. las und mit dem Mädchen darüber sprach, sie aber freimütig bat, alles darauf bezügliche vor den Eltern geheim zu halten, weil man ja nicht wissen könne, auf welchen Standpunkt die sich stellen würden, — in diesem Mädchen suchte ich eine Zeitlang die Quelle für all die geheime Kenntnis Doras, und ich ging vielleicht nicht völlig irre. § 54

Die Arme hatte ihr mit unerwünschter Klarheit ein Stück ihres eigenen Benehmens beleuchtet. Sowie das Fräulein zeitweise gegen Dora, so war Dora gegen die Kinder des Herrn K. gewesen. Sie vertrat Mutterstelle an ihnen, unterrichtete sie, ging mit ihnen aus, schuf ihnen einen vollen Ersatz für das geringe Interesse, das die eigene Mutter ihnen zeigte. Zwischen Herrn und Frau K. war oft von Scheidung die Rede gewesen; sie kam nicht zustande, weil Herr K., der ein zärtlicher Vater war, auf keines der beiden Kinder verzichten wollte. Das gemeinsame Interesse an den Kindern war von Anfang an ein Bindemittel des Verkehrs zwischen Herrn K. und Dora gewesen. Die Beschäftigung mit den Kindern war für Dora, offenbar der Deckmantel, der ihr selbst und Fremden etwas anderes verbergen sollte.

§ 55

Aus ihrem Benehmen gegen die Kinder, wie es durch das Benehmen des Fräuleins gegen sie selbst erläutert wurde, ergab sich dieselbe Folgerung wie aus ihrer stillschweigenden Einwilligung in den Verkehr des Vaters mit Frau K., nämlich dass sie all die Jahre über in Herrn K. verliebt gewesen war. Als ich diese Folgerung aussprach, fand ich keine Zustimmung bei ihr. Sie berichtete zwar sofort, dass auch andere Personen, z. B. eine Cousine, die eine Weile in B. auf Besuch war, ihr gesagt hätten: „Du bist ja ganz vernarrt in den Mann“; sie selbst wollte sich aber an diese Gefühle nicht erinnern. Späterhin, als die Fülle des auftauchenden Materials ein Ableugnen erschwerte, gab sie zu, sie könne Herrn K. in B. geliebt haben, aber seit derSzene am See sei das vorüber1)1). Jedenfalls stand es fest, dass der Vorwurf, sich gegen unabweisliche Pflichten taub gemacht und sich die Dinge so zurecht gelegt zu haben, wie es der eigenen verliebten Regung bequem war, der Vorwurf, den sie gegen den Vater erhob, auf ihre eigene Person zurückfiel2)2)

§ 56

Der andere Vorwurf, dass er seine Krankheiten als Vorwände schaffe und als Mittel benütze, deckte wiederum ein ganzes Stück ihrer eigenen geheimen Geschichte. Sie klagte eines Tages über ein angeblich neues Symptom, schneidende Magenschmerzen, und als ich fragte: „Wen kopieren Sie damit?“ hatte ich es getroffen. Sie hatte am Tage vorher ihre Cousinen, die Töchter der verstorbenen Tante, besucht. Die jüngere war Braut geworden, die ältere war zu diesem Anlass an Magenschmerzen erkrankt und sollte auf den Semmering gebracht werden. Sie meinte, das sei bei der Aelteren nur Neid, die werde immer krank, wenn sie etwas erreichen wolle, und jetzt wolle sie eben vom Hause weg, um das Glück der Schwester nicht mit anzusehen3)3). Ihre eigenen Magenschmerzen sagten aber aus, dass sie sich mit der für eine Simulantin erklärten Cousine identifiziere, sei es, weil sie gleichfalls die Glücklichere um ihre Liebe beneidet oder weil sie im Schicksal der älteren Schwester, der kurz vorher eine Liebesaffäre unglücklich ausgegangen war, das eigene gespiegelt sah4)4). Wie nützlich sich Krankheiten verwenden lassen, hatte sie aber auch durch die Beobachtung der Frau K. erfahren. Herr K. war einen Teil des Jahres auf Reisen; so oft er zurückkam, fand er die Frau leidend, die einen Tag vorher noch, wie Dora wusste, wohlauf gewesen war. Dora verstand, dass die Gegenwart des Mannes krankmachend auf die Frau wirkte, und dass dieser das Kranksein willkommen war, um sich den verhassten ehelichen Pflichten zu entziehen. Eine Bemerkung über ihre eigene Abwechslung von Leiden und Gesundheit während der ersten in B. verbrachten Mädchenjahre, die sich an dieser Stelle plötzlich einfügte, musste mich auf die Vermutung bringen, dass ihre eigenen Zustände in einer ähnlichen Abhängigkeit wie die der Frau K. zu betrachten seien. In der Technik der Psychoanalyse gilt es nämlich als Regel, dass sich ein innerer, aber noch verborgener Zusammenhang durch die Kontiguität, die zeitliche Nachbarschaft der Einfälle kundtut, genau so wie in der Schrift a und b nebeneinander gesetzt bedeutet, dass daraus die Silbe ab gebildet werden soll. Dora hatte eine Unzahl von Anfällen von Husten mit Stimmlosigkeit gezeigt; sollte die Anwesenheit oder Abwesenheit des Geliebten auf dieses Kommen und Schwinden der Krankheitserscheinungen Einfluss geübt haben? Wenn dies der Fall war, so musste sich irgendwo eine verräterische Uebereinstimmung nachweisen lassen. Ich fragte, welches die mittlere Zeitdauer dieser Anfälle gewesen war. Etwa 3—6 Wochen. Wie lange die Abwesenheiten des Herrn K. gedauert hätten? Sie musste zugeben, gleichfalls zwischen 3 und 6 Wochen. Sie demonstrierte also mit ihrem Kranksein ihre Liebe für K. wie dessen Frau ihre Abneigung. Nur durfte man annehmen, dass sie sich umgekehrt wie die Frau benommen hätte, krank gewesen wäre, wenn er abwesend, und gesund, nachdem er zurückgekehrt. Es schien auch wirklich so zu stimmen, wenigstens für eine erste Periode der Anfälle; in späteren Zeiten ergab sich ja wohl eine Nötigung, das Zusammentreffen von Krankheitsanfall und Abwesenheit des heimlich geliebten Mannes zu verwischen, damit das Geheimnis nicht durch die Konstanz desselben verraten würde. Dann blieb wohl die Zeitdauer des Anfalls als Marke seiner ursprünglichen Bedeutung übrig.

1) Vgl. den zweiten Traum. 2) Hier erhebt sich die Frage: Wenn Dora Herrn K. geliebt, wie begründet sich ihre Abweisung in der Szene am See oder wenigstens die brutale, auf Erbitterung deutende Form dieser Abweisung? Wie konnte ein verliebtes Mädchen in der keineswegs plump oder anstössig vorgebrachten Werbung eine Beleidigung sehen? 3) Ein alltägliches Vorkommnis zwischen Schwestern. 4) Welchen weiteren Schluss ich aus den Magenschmerzen zog, wird später zur Sprache kommen. § 57

(Schluss im nächsten Heft.)

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