Libidotheorie (1923-001/1923)

Über das Werk

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  • Diercks, Christine
  • Rohrwasser, Michael
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  • Blatow, Arkadi
  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
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  • Andorfer, Peter
  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Libidotheorie (1923-001/1923). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1923-001__1923.xml
§ 1

Libidotheorie. Libido ist ein Terminus aus der Trieblehre, zur Bezeichnung des dynamischen Ausdrucks der Sexualität schon von A. Moll in diesem Sinne gebraucht (Untersuchungen über die Libido sexualis 1898), von Freud in die Psychoanalyse (s. d.) eingeführt. Im folgenden soll nur dargestellt werden, welche Entwicklungen, die noch nicht abgeschlossen sind, die Trieblehre in der Psychoanalyse erfahren hat.

§ 2

Gegensatz von Sexualtrieben und Ichtrieben. Die Psychoanalyse, die bald erkannte, daß sie alles seelische Geschehen über dem Kräftespiel der elementaren Triebe aufbauen müsse, sah sich in der übelsten Lage, da es in der Psychologie eine Trieblehre nicht gab und ihr niemand sagen konnte, was ein Trieb eigentlich ist. Es herrschte vollste Willkür, jeder Psychologe pflegte solche und soviele Triebe anzunehmen, als ihm beliebte. Das erste Erscheinungsgebiet, welches die Psychoanalyse studierte, waren die sog. Übertragungsneurosen (Hysterie und Zwangsneurosen). Die Symptome derselben entstanden dadurch, daß sexuelle Triebregungen von der Persönlichkeit (dem Ich) abgewiesen (verdrängt) worden waren und sich auf Umwegen durch das Unbewußte einen Ausdruck verschafft hatten. Somit konnte man zurechtkommen, wenn man den Sexualtrieben Ichtriebe (Selbsterhaltungstriebe) entgegenstellte, und befand sich dann in Übereinstimmung mit der populär gewordenen Aussage des Dichters, der das Weltgetriebe „durch Hunger und durch Liebe“ erhalten werden läßt. Die Libido war in gleichem Sinne die Kraftäußerung der Liebe wie der Hunger des Selbsterhaltungstriebes. Die Natur der lchtriebe blieb dabei zunächst unbestimmt und der Analyse unzugänglich wie alle anderen Charaktere des Ichs. Ob und welche qualitativen Unterschiede zwischen beiden Triebarten anzunehmen sind, war nicht anzugeben.

§ 3

Die Urlibido. Diese Dunkelheit versuchte C. G. Jung auf spekulativem Wege zu überwinden, indem er nur eine einzige Urlibido annahm, die sexualisiert und desexualisiert werden konnte, und also im Wesen mit der seelischen Energie überhaupt zusammenfiel Diese Neuerung war methodisch anfechtbar, sie stiftete viel Verwirrung, setzte den Terminus Libido zu einem

§ 4

überflüssigen Synonym herab und mußte in der Praxis doch immer zwischen sexueller und asexueller Libido unterscheiden. Der Unterschied zwischen den Sexualtrieben und den Trieben mit anderen Zielen war eben auf dem Wege einer neuen Definition nicht aufzuheben.

§ 5

Die Sublimierung. Das bedächtige Studium der allein analytisch zugänglichen Sexualstrebungen hatte unterdes bemerkenswerte Einzeleinsichten ergeben. Was man den Sexualtrieb nannte, war hoch zusammengesetzt und konnte wieder in seine Partialtriebe zerfallen. Jeder Partialtrieb war unabänderlich charakterisiert durch seine Quelle, nämlich die Körperregion oder Zone, aus welcher er seine Erregung bezog. Außerdem war an ihm ein Objekt und ein Ziel zu unterscheiden. Das Ziel war immer die Befriedigungsabfuhr, es konnte aber eine Wandlung von der Aktivität zur Passivität erfahren. Das Objekt hing dem Trieb minder fest an, als man zunächst gemeint hatte, es wurde leicht gegen ein anderes eingetauscht, auch konnte der Trieb, der ein äußeres Objekt gehabt hatte, gegen die eigene Person gewendet werden. Die einzelnen Triebe konnten unabhängig voneinander bleiben oder — in noch unvorstellbarer Weise — sich kombinieren, zur gemeinsamen Arbeit verschmelzen. Sie konnten auch füreinander eintreten, einander ihre Libidobesetzung übertragen, so daß die Befriedigung des einen an Stelle der Befriedigung der anderen trat. Am bedeutsamsten erschien das Triebschicksal der Sublimierung, bei dem Objekt und Ziel gewechselt werden, so daß der ursprünglich sexuelle Trieb nun in einer nicht mehr sexuellen, sozial oder ethisch höher gewerteten Leistung Befriedigung findet. Alles dies sind Züge, welche sich noch zu keinem Gesamtbild zusammensetzen.

§ 6

Der Narzißmus. Ein entscheidender Fortschritt erfolgte, als man sich an die Analyse der Dementia praecox und anderer psychotischer Affektionen heranwagte und somit das Ich selbst zu studieren begann, das man bisher nur als verdrängende und widerstehende lnstanz gekannt hatte. Man erkannte als den pathogenen Vorgang bei der Demenz, daß die Libido von den Objekten abgezogen und ins Ich eingeführt wird, während die lärmenden Krankheitserscheinungen von dem vergeblichen Bestreben der Libido herrühren, den Rückweg zu den Objekten zu finden. Es war also möglich, daß sich Objektlibido in Ichbesetzung umwandelte, und umgekehrt. Weitere Erwägungen zeigten daß dieser Vorgang im größten Ausmaß anzunehmen sei, daß das Ich vielmehr als ein großes Libidoreservoir angesehen werden mußte, aus dem die Libido auf die Objekte entsandt wird, und das immer bereit sei, die von den Objekten rückströmende Libido aufzunehmen. Die Selbsterhaltungstriebe waren also auch libidinöser Natur, es waren Sexualtriebe, die anstatt der äußeren Objekte das eigene Ich zum Objekt genommen hatten. Man kannte aus der klinischen Erfahrung Personen, die sich in auffälliger Weise so benahmen, als wären sie in sich selbst verliebt, und hatte diese Perversion Narzißmus genannt. Nun hieß man die Libido der Selbsterhaltungstriebe narzißtische Libido und anerkannte ein hohes Maß von solcher Selbstliebe als den primären und normalen Zustand. Die frühere Formel für die Übertragungsneurosen bedurfte jetzt zwar nicht einer Korrektur, aber doch einer Modifikation; anstatt von einem Konflikt zwischen Sexualtrieben und lchtrieben sprach man besser vom Konflikt zwischen Objektlibido und Ichlibido, oder, da die Natur der Triebe dieselbe war, zwischen den Objektbesetzungen und dem Ich.

§ 7

Scheinbare Annäherung an die Jungsche Auffassung. Auf solche Art gewann es den Anschein, als ob auch die langsame psychoanalytische Forschung der Jungschen Spekulation von der Urlibido nachgekommen wäre, besonders da mit der Umwandlung der Objektlibido in Narzißmus eine gewisse Desexualisierung, ein Aufgeben der speziellen Sexualziele, unvermeidlich verbunden ist. indes drängt sich die Erwägung auf, daß, wenn die Selbsterhaltungstriebe des lchs als libidinös anerkannt sind, damit noch nicht bewiesen ist, daß im Ich keine anderen Triebe wirken.

§ 8

Der Herdentrieb. Von vielen Seiten wird behauptet, daß es einen besonderen angeborenen und nicht weiter auflösbaren „Herdentrieb“ gibt, der das soziale Verhalten der Menschen bestimmt, die Einzelnen zur Vereinigung in größeren Gemeinschaften drängt. Die Psychoanalyse muß dieser Aufstellung widersprechen. Wenn der soziale Trieb auch angeboren sein mag, so ist er doch ohne Schwierigkeit auf ursprünglich libidinöse Objektbesetzungen zurückzuführen und entwickelt sich beim kindlichen Individuum als Reaktionsbildung auf feindselige Rivalitätseinstellungen. Er beruht auf einer besonderen Art von Identifizierung mit dem Anderen.

§ 9

Zielgehemmte Sexualstrebungen. Die sozialen Triebe gehören zu einer Klasse von Triebregungen, die man noch nicht sublimierte zu nennen braucht, wenngleich sie diesen nahe stehen. Sie haben ihre direkt sexuellen Ziele nicht aufgegeben, werden aber von der Erreichung derselben durch innere Widerstände abgehalten, begnügen sich mit gewissen Annäherungen an die Befriedigung und stellen gerade darum besonders feste und dauerhafte Bindungen unter den Menschen her. Von dieser Art sind insbesondere die ursprünglich vollsexuellen Zärtlichkeitsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern, die Gefühle der Freundschaft und die aus sexueller Anziehung hervorgegangenen Gefühlsbindungen in der Ehe.

§ 10

Anerkennung zweier Triebarten im Seelenleben. Während die psychoanalytische Arbeit sonst bestrebt ist, ihre Lehren möglichst unabhängig von denen anderer Wissenschaften zu entwickeln, sieht sie sich doch genötigt, für die Trieblehre Anlehnung bei der Biologie zu suchen. Auf Grund weitläufiger Erwägungen über die Vorgänge, die das Leben ausmachen und die zum Tode führen, wird es wahrscheinlich, daß man zwei Triebarten anzuerkennen hat, entsprechend der entgegengesetzten Prozesse vom Aufbau und Abbau im Organismus. Die einen Triebe, die im Grunde geräuschlos arbeiten, verfolgten das Ziel, das lebende Wesen zum Tode zu führen, verdienten darum den Namen der „Todestriebe“ und würden, durch das Zusammenwirken der vielen zelligen Elementarorganismen nach außen gewendet, als Destruktions- oder Aggressionstendenzen zum Vorschein kommen. Die anderen wären die uns analytisch besser bekannten libidinösen Sexual- oder Lebenstriebe, am besten als Eros zusammengefaßt, deren Absicht es wäre, aus der lebenden Substanz immer größere Einheiten zu gestalten, somit die Fortdauer des Lebens zu erhalten und es zu höheren Entwicklungen zu führen. In den Lebewesen wären die erotischen und die Todestriebe regelmäßige Vermischungen, Legierungen, eingegangen, es wären aber auch Entmischungen derselben möglich; das Leben bestünde in den Äußerungen des Konflikts oder der lnterferenz beider Triebarten und brächte dem lndividuum den Sieg der Destruktionstriebe durch den Tod, aber auch den Sieg des Eros durch die Fortpflanzung.

§ 11

Die Natur der Triebe. Auf dem Boden dieser Auffassung läßt sich für die Triebe die Charakteristik geben, sie seien der lebenden Substanz innewohnende Tendenzen zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, also historisch bedingt, konservativer Natur, und gleichsam der Ausdruck einer Trägheit oder Elastizität des Organischen. Beide Triebarten, der Eros wie der Todestrieb, würden von der ersten Entstehung des Lebens an wirken und gegeneinander arbeiten.

§ 12

S. auch die Artikel: „Erotischer Trieb“; „Psychoanalyse“.

§ 13

Literatur s. ebenfalls dort und bei „Geschlechtstrieb“. S. Freud.

§ 14