DIE TRAUMDEUTUNG
§ 2§ 3
„Die Traumdeutung" erschien 1900 im Vzrhgz Franz Dzutü‘ke, Leipzig
und Wien, und ist mit dessen Genehmigung in diese Gemmtau:gabe auf— genommen werden. Die weit: Aufk1ge erschien 1909, die dritte 1911, die uizrtz 1914, die fünfte 1919, die sechste 1921, die siebenzz 1922, Bis ein sehließlirh eur fünften wiesen alle Nzuauflagzn Zusätze und Ergänzungen auf, du stehst; und siesz wzl'dlzn mm der fünften nicht ab. (Nur das Literaturuerzeichnir ist in der sechsth Auflage bis auf den Stand von 1920 weitergtfiillrt werden.) § 4Eine znglischz Üherseteung der „Traurndeutung“ (von Dr. A. A. Brill,
New York) erschien 191; in Landan. Im gleiehen Jahre erschien auch eine russi1che in Moskau. Die spßnischz mersezzung (von Luis Lopez Ballesrems y de Torres) bikini die Bände VI und VII der „Dhras Complezas“. § 5In Ilm vorliegenden Band der Gesamtausgabe gehngt der Ten der
ersten Auflage der „Traumdeumng“ (1900) zum Abdruck, Ergänzungen und Zusätze, die auch übzr den Inhalt der letztzn Auflage hir-ausgehen, wzrdzn in demfalgenden Barul (Bd. III) enthalten sein. Di: in den Text des vorliegan Bandes eingeschalteten Zeichen [51 usw. und lutlzlzlrnpitll A usw.] verweisen auf solche im folgenden Band untergebracht: Erweiterungen. § 6§ 7
VORBEMERKUNG
§ 8Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche, glaube ich
den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben. Denn der Traum erweist sich bei der psychologischen Prüfung als das erste Glied in der Reihe abnormer psychischer Gebilde, von deren weiteren Gliedern die hysterische Phobie, die Zwangs- und die Wahnvorstellung den Arzt aus praktischen Gründen beschäftigen müssen. Auf eine ähnliche Prak tische Bedeutung kann der Traum — wie sich zeigen wird — Anspruch nicht erheben; um so größer ist aber sein theoretischer Wert als Paradigma, und wer sich die Entstehung der Traumbilder nicht zu erklären weiß, wird sich auch um das Verständnis der Phobien, Zwangs- und Wahn ideen, eventuell um deren therapeutische Beeinflussung, vergeblich bemühen. § 9Derselbe Zusammenhang aber, dem unser Thema seine Wichtigkeit ver
dankt, ist auch für die Mängel der vorliegenden Arbeit verantwortlich zu machen. Die Bruchflächen, welche man in dieser Darstellung so reichlich finden wird, entsprechen ebenso vielen Kontaktstellen, an denen das Problem der Traumbildung in umfassendere Probleme der Psychopathologie eingreift, die hier nicht behandelt werden konnten, und denen, wenn Zeit und Kraft ausreichen und weiteres Material sich einstellt, spätere Bearbeitungen ge widmet werden sollen, § 10Eigentümlichkeiten des Materials, an dem ich die Traumdeutung erläutere,
haben mir auch diese Veröffentlichung schwer gemacht. Es wird sich aus der Arbeit selbst ergeben, warum alle in der Literatur erzählten oder von Unbekannten zu sammelnden Träume für meine Zwecke unbrauchbar sein mußten; ich hatte nur die Wahl zwischen den eigenen Träumen und denen meiner, in psychoanalytischer Behandlung stehenden Patienten. Die Verwendung des letzteren Materials wurde mir durch den Umstand ver wehrt, daß hier die Traumvorgänge einer unerwünschten Komplikation durch die Einmengung neurotischer Charaktere unterlagen. Mit der Mit Teilung meiner eigenen Träume aber erwies sich als untrennbar verbunden, daß ich von den Intimitäten meines psychischen Lebens fremden Ein blicken mehr eröffnete, als mir Leib sein konnte und als sonst einem Autor, der nicht Poet sondern Naturforscher ist, zur Aufgabe fällt. Das war peinlich aber unvermeidlich; ich habe mich also darein gefügt, im nicht auf die Beweisführung für meine psychologischen Ergebnisse über haupt verzichten zu müssen. Natürlich habe ich doch der Versuchung nicht widerstehen können, durch Auslassungen und Ersetzungen manchen Indiskretionen die Spitze abzubrechen; so oft dies geschah, gereichte es dem Werte der von mir verwendeten Beispielen zum entschiedensten Nach teile. Ich kann nur die Erwartung aussprechen, daß die Leser dieser Arbeit sich in meine schwierige Lage versetzen werden, um Nachsicht mit mir zu üben, und ferner, daß alle Personen, die sich in den mitgeteilten Träumen irgendwie betroffen finden, wenigstens dem Traumleben Ge dankenfreiheit nicht werden versagen wollen. § 111
§ 12DIE WISSENSCHAFTLICHE LITERATUR
DER TRAUMPROBLEME § 13Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen,
daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist. Ich werde ferner versuchen, die Vorgänge klarzulegen, von denen die Fremdartigkeit und Unkenntlichkeit des Traumes her— rührt, und aus ihnen einen Rückschluß auf die Natur der psy chischen Kräfte ziehen, aus deren Zusammen— oder Gegeneinander— wirken der Traum hervor-geht. So weit gelangt, wird meine Dar stellung abbrechen, denn sie wird den Punkt erreicht haben, wo das Problem des Träumens in umfassendere Probleme einmündet, deren Lösung an anderem Material in Angriff genommen werden muß. § 14Eine Übersicht über die Leistungen früherer Autoren sowie
über den gegenwärtigen Stand der Traumprobleme in der Wissen? schaft stelle ich voran, weil ich im Verlaufe der Abhandlung nicht häufig Anlaß haben werde, darauf zurückzukommen. Das wissen—, schaftliche Verständnis des Traumes ist, nämlich trotz mehrtausend— jähriger Bemühung sehr wenig weit gediehen. Dies wird von den § 15§ 16
6 I. Die wissenxchafiliche Literatur der Traumprobleme
§ 17Autoren so allgemein zugegeben, daß es überflüssig scheint, ein
zelne Stimmen anzuführen. In den Schriften, deren Verzeichnis ich zum Schlusse meiner Arbeit anfüge, finden sich viele an regende Bemerkungen und reichlich interessantes Material zu unserem Thema, aber nichts oder wenig, was das Wesen des Traumes träfe oder eines seiner Rätsel endgültig löste. Noch weniger ist natürlich in das Wissen der gebildeten Laien über gegangen. [E 1] § 18Die erste Schrift, in welcher der Traum als ein Objekt der
Psychologie abgehandelt wird, scheint die des Aristoteles (Über Träume und Traumdeutung) zu sein. Aristoteles erklärt, der Traum sei zwar dämonischer Natur, aber nicht göttlicher, was wohl einen tiefen Sinn enthüllt, wenn man davon die richtige ' Übersetzung triift. [E 2] Er kennt einige der Charaktere des Traum lebens, z. B. daß der Traum kleine, während des Schlafes ein— tretende Reize ins Große u.mdeutet („man glaubt, durch ein Feuer zu gehen und heiß zu werden, wenn nur eine ganz unbedeutende Erwärmung dieses oder jenes Gliedes stattfindet“), und zieht aus diesem Verhalten den Schluß, daß die Träume sehr wohl die ersten bei Tag nicht bemerkten Anzeichen einer beginnenden Veränderung im Körper dem Arzt verraten könnten. Zu einem tieferen Verständnis der aristotelischen Abhandlung vorzudringen, ist mir, bei nicht ausreichender Vorbildung und ohne kundige Hilfe, nicht möglich geworden, § 19Die Alten vor Aristoteles haben den Traum bekanntlich nicht
für ein Erzeugnis der träumenden Seele gehalten, sondern für eine Eingebung von göttlicher Seite, und die beiden gegensätzlichen Strömungen, die wir in der Schätzung des Traumlebens als jeder zeit vorhanden auffinden werden, machten sich bereits bei ihnen geltend. Man unterschied wahrhafte und wertvolle Träume, dem Schläfer gesandt, um ihn zu warnen oder ihm die Zukunft zu ver künden, von eiteln, trügerischen und nichtigen, deren Absicht es war, ihn in die Irre zu führen oder ins Verderben zu stürzen. [E s] § 20§ 21
Aristoteles — Die Traumlehre der Alten 7
§ 22Diese vorwissenschaftliche Traumauffasung der Alten stand sicher
lich im vollsten Einklange mit ihrer gesamten Weltanschauung, welche als Realität in die Außenwelt zu projizieren pflegte, was nur innerhalb des Seelenlebens Realität hatte. Sie trug überdies dem Haupteindruck Rechnung, welchen das Wachleben durch die am Morgen übrigbleibende Erinnerung von dem Traum empfängt, denn in dieser Erinnerung stellt sich der Traum als etwas Frem— des, das gleichsam aus einer anderen Welt herrührt, dem übrigen psychischen Inhalte entgegen. Es wäre übrigens irrig zu meinen, daß die Lehre von der übernatürlichen Herkunft der Träume in unseren Tagen der Anhänger entbehrt; von allen pietistischen und mystischen Schriftstellern abgesehen, — die ja recht daran tun, die Reste des ehemals ausgedehnten Gebietes des Übernatürlichen besetzt zu halten, solange sie nicht durch naturwissenschaftliche Erklärung erobert sind, —— trifft man doch auch auf scharf sinnige und allem Abenteuerlichen abgeneigte Männer, die ihren religiösen Glauben an die Existenz und an das Eingreifen über menschlicher Geisteskräfte gerade auf die Unerklärharkeit der Traumerscheinungen zu stützen versuchen (Haffner). Die Wert schätzung des Traumlebens von seiten mancher Philosophen— schulen, z. B. der Schellingianer, ist ein deutlicher Nach klang der im Altertum unbestrittenen Göttlichkeit des Treur'nes, und auch über die divinaton'sche, die Zukunft verkündende Kraft des Traumes ist die Erörterung nicht abgeschlossen, weil die psychologischen Erklärungsversuche zur Bewältigung des ange sammelten Materials nicht ausreichen, so unzweideutig auch die Sympathien eines jeden, der sich der wissenschaftlichen Denkungs— art ergeben hat, zur Abweisung einer solchen Behauptung hin— neigen mögen. § 23Eine Geschichte unserer wissenschaftliohen Erkenntnis der Traum
probleme zu schreiben, ist darum so schwer, weil in dieser Er kenntnis, so wertvoll sie an einzelnen Stellen geworden sein mag, ein Fortschritt längs gewisser Richtungen nicht zu bemerken ist. § 24§ 25
8 I. Die wissenschaftliche Literatur der Traumprableme
§ 26Es ist nicht zur Bildung eines Unterbaues von gesicherten Resul
taten gekommen, auf dem dann ein nächstfolgender Forscher weitergebaut hätte, sondern jeder neue Autor faßt die nämlichen Probleme von neuem und wie vom Ursprung her wieder an. Wollte ich mich an die Zeitfolge der Autoren halten und von jedem einzelnen im Auszug berichten, welche Ansichten über die Traumprobleme er geäußert, so müßte ich darauf verzichten, ein übersichtliches Gesamtbild vom gegenwärtigen Stande der Traumerkenntnis zu entwerfen; ich habe es darum vorgezogen, die Darstellung an die Themata anstatt an die Autoren an zuknüpfen, und werde bei jedem der Traumprohleme anführen, was an Material zur Lösung desselben in der Literatur nieder gelegt ist. § 27Da es mir aber nicht gelungen ist, die gesamte, so sehr
verstreute und auf anderes übergreifende Literatur des Gegen standes zu bewältigen, so muß ich meine Leser bitten, sich zu bescheiden, wenn nur keine grundlegende Tatsache und kein bedeutsamer Gesichtspunkt in meiner Darstellung verloren ge— gangen ist. § 28Bis vor kurzem haben die meisten Autoren sich veranlaßt ge
sehen, Schlaf und Traum in dem nämlichen Zusammenhange ab— zuhandeln, in der Regel auch die Würdigung analoger Zustände, welche in die Psychopathologie reichen, und traumähnlicher Vor— kommnisse (wie der Halluzinationen, Visionen usw.) anzuschließen. Dagegen zeigt sich in den jüngsten Arbeiten das Bestreben, das Thema eingeschränkt zu halten und etwa eine einzelne Frage aus dem Gebiet des Traumlebens zum Gegenstande zu nehmen. In dieser Veränderung möchte ich einen Ausdruck der Überzeugung sehen, daß in so dunkeln Dingen Aufklärung und Übereinstim mung nur durch eine Reihe von Detailuntersuchungen zu erzielen sein dürften. Nichts anderes als eine solche Detailuntersuchung, und zwar speziell psychologischer Natur, kann ich hier bieten. Ich hatte wenig Anlaß, mich mit dem Problem des Schlafes zu § 29§ 30
Beziehung zum W achlelwn 9
§ 31befassen, denn dies ist ein wesentlich physiologisches Problem,
wenngleich in der Charakteristik des Schlafzustandes die Verände rung der Funktionsbedingungen für den seelischen Apparat mit enthalten sein muß. Es bleibt also auch die Literatur des Schlafes hier außer Betracht. § 32Das wissenschaftliche Interesse an den Traumphänomenen an
sich führt zu den folgenden, zum Teil ineinanderfließenden Fragestellungen : § 33A
Beziehung des Traumes zum VVachleben § 34Das naive Urteil des Erwachten nimmt an, daß der Traum —
wenn er schon nicht aus einer anderen Welt stammt —— doch den Schläfer in eine andere Welt entrückt hatte. Der alte Phy— siologe Burdach, dem wir eine sorgfältige und feinsinnige Be schreibung der Tramphänornene verdanken, hat dieser Überzeu gung in einem viel bemerkten Satze Ausdruck gegeben (S. 4.74): „. . . nie wiederholt sich das Leben des Tages mit seinen An— strengungen und Gemüssen, seinen Freuden und Schmerzen, viel— mehr geht der Traum darauf aus, uns davon zu befreien. Selbst wenn unsere ganze Seele von einem Gegenstande erfüllt war, wenn tiefer Schmerz unser Inneres zenissen, oder eine Aufgabe unsere ganze Geisteskraft in Anspruch genommen hatte, gibt uns der Traum entweder etwas ganz Fremdartiges, oder er nimmt aus der Wirklichkeit nur einzelne Elemente zu seinen Kombi nationen, oder er geht nur in die Tonart unserer Stimmung ein und symbolisiert die Wirklichkeit.“ [E 4] § 35In ähnlichem Sinne äußert sich noch L. Strümpel_l in der
mit Recht von allen Seiten hoch gehaltenen Studie über die Natur und Entstehung der Träume (S. 16): „Wer träumt, ist der Welt des wachen Bewußtseins abgekehrt“ . .. (S. 17): „Im Traume geht das Gedächtnis für den geordneten Inhalt des wachen § 36§ 37
io I. Die wirsenschaleiche Literatur der Traumprobleme
§ 38Bewußtseins und dessen normales Verhalten so gut wie ganz ver
loren . . .“ (S. 19): „Die fast erinnerungslose Abgeschiedenheit der Seele im Traum von dem regelmäßigen Inhalte und Verlaufe des wachen Lebens . . .“ § 39Die überwiegende Mehrheit der Autoren hat aber für die Be
ziehung des Traumes zum Wachleben die entgegengesetzte Auf fassung vertreten. So Haffner (S. 19): „Zunächst setzt der Traum das Wachleben fort. Unsere Träume schließen sich stets an die kurz zuvor im Bewußtsein gewesenen Vorstellungen an. Eine ge naue Beobachtung wird beinahe immer einen Faden finden, in welchem der Traum an die Erlebnisse des vorhergehenden Tages anknüpfte." Weygandt (S. 6) widerspricht direkt der oben zitierten Behauptung Burdachs, „denn es läßt sich oft, anschei nend in der überwiegenden Mehrzahl der Träume beobachten, daß dieselben uns gerade ins gewöhnliche Leben zu.!‘ückführen, statt uns davon zu befreien.“ Maury (Le sommeil et les réves, p. 56) sagt in einer knappen Formel: „nous révons de ce que nous avons vu, dit, desire’ ou fait“ ,- Jessen in seiner 1855 erschienenen Psychologie (S. 550) etwas ausführlicher: „Mehr oder weniger wird der Inhalt der Träume stets bestimmt durch die individuelle Persönlichkeit, durch das Lebensalter, Geschlecht, Stand, Bildungs stufe, gewohnte Lebensweise und durch die Ereignisse und Er— fahrungen des ganzen bisherigen Lebens.“ [Es] § 40Nicht anders dachten die Alten über die Abhängigkeit des
Trauminhaltes vom Leben. Ich zitiere nach Radestock (S. 159): Als Xerxes vor seinem Zuge gegen Griechenland von diesem seinen Entschluß durch guten Rat abgelenkt, durch Träume aber immer wieder dazu angefeuert wurde, sagte schon der alte ratio nelle Traumdeuter der Perser, Artabanos, treffend zu ihm, daß die Traumbilder meist das enthielten, was der Mensch schon im Wachen denke. § 41Im Lehrgedicht des Lucretius, De rerum natura, findet sich
(IV, v. 959) die Stelle: § 42§ 43
Beziehung zum Wachleben 1 1
§ 44Et quo quirque fere studio deuinctus adhacrer,
§ 45am“ quibus in rebus multum Sur/ms unter morati
atque in en ratione fait contenta magis- mm, § 46in somnis Baden! plemmque videmur obire;
causidici causas agere et componere leges, induperatores pugnarc ac proelia obire, . . . etc. etc. § 47Cicero (De Divinatione II) sagt ganz ähnlich, wie so viel später
Maury: „Marimeque reliquiae earum rerum moventur in animis et agitanlur, de quibus vigilantes aut cogitavimus aut egimus.“ § 48Der Widerspruch dieser beiden Ansichten über die Beziehung
von Traumleben und Wachleben scheint in der Tat unauflösbar. Es ist darum am Platze, der Darstellung von F. W. Hildebrandt (1875) zu gedenken, welcher meint, die Eigentümlichkeiten des Traumes ließen sich überhaupt nicht anders beschreiben als durch eine „Reihe von Gegensätzen, welche scheinbar bis zu Widersprüchen sich zuspitzen“ (S. 8). „Den ersten dieser Gegensätze bilden einerseits die strenge Abgeschiedenheit oder Abgeschlossen heit des Traumes von dem wirklichen und wahren Leben, und anderseits das stete Hinübergreifen des einen in das andere, die stete Abhängigkeit des einen von dem andern. —— Der Traum ist etwas von der wachend erlebten Wirklichkeit durchaus Ge scndertes, man möchte sagen ein in sich selbst hermetisch abge— schlossenes Dasein, von dem wirklichen Leben getrennt durch eine unübersteigliche Kluft. Er macht uns von der Wirklichkeit los, löscht die normale Erinnerung an dieselbe in uns aus und stellt uns in eine andere Welt und in eine ganz andere Lebens geschichte, die im Grunde nichts mit der wirklichen zu schaffen hat. . . .“ Hildebrandt führt dann aus, wie mit dem Einschlafen unser ganzes Sein mit seinen Existenzformen „wie hinter einer unsichtbaren Falltür“ verschwindet. Man macht dann etwa im Traum eine Seereise nach St. Helena, um dem dort gefangenen Napoleon etwas Vorzügliches in Moselweinen anzubieten. Man wird von dem Exkaiser aufs liebenswürdigste empfangen und § 49§ 50
uz I. Die wissemchaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 51bedauert fast, die interessante Illusion durch das Erwachen gestört
zu sehen. Nun aber vergleicht man die Traumsituation mit der Wirklichkeit. Man war nie Weinhändler und hat’s auch nie werden wollen. Man hat nie eine Seereise gemacht und würde St. Helena am wenigsten zum Ziel einer solchen nehmen. Gegen Napoleon liegt man durchaus keine sympathische Gesinnung, sondern einen gximmigen patiiotischen Haß. Und zu alledem war der Träumer überhaupt noch nicht unter den Lebenden, als Napoleon auf der Insel starb; eine persönliche Beziehung zu ihm zu knüpfen, lag außerhalb des Bereiches der Möglichkeit. So er scheint das Traumerlebnis als etwas eingeschobenes Fremdes zwischen zwei vollkommen zueinander passenden und. einander fortsetzenden Lebensabschnitten. § 52„Und dennoch,“ setzt Hildebrandt fort, „ebenso wahr und
richtig ist das scheinbare Gegenteil. Ich meine, mit dieser Ab— gesohlossenheit und Abgeschiedenheit geht doch die innigste Beziehung und Verbindung Hand in Hand. Wir dürfen geradezu sagen: Was der Traum auch irgend biete, er nimmt das Material dazu aus der Wirklichkeit und aus dem Geistesleben, welches an dieser Wirklichkeit sich abwickelt. . . . Wie wunderlich er’s damit treibe, er kann doch eigentlich niemals von der realen Welt los und seine sublimsten wie possenhaftesten Gebilde müssen immer ihren Grundstol‘f entlehnen von dem, was entweder in der Sinnenvvelt uns vor Augen getreten ist, oder in unserem wachen Gedankengange irgendwie bereits Platz gefunden hat, mit anderen Worten, von dem, was wir äußerlich oder innerlich bereits erlebt haben.“ § 53B
§ 54Das Traummaterial — Das Gedächtnis im Traum
§ 55Daß alles Material, das den Trauminhalt zusammensetzt, auf
irgend eine Weise vom Erlebten abstamrnt, also im Traum re produziert, erinnert wird, dies wenigstens darf uns als unbe— § 56§ 57
Das Traumgßdächtnis 1 5
§ 58strittene Erkenntnis gelten. Doch wäre es ein Irrtum anzunehmen,
daß ein solcher Zusammenhang des Trauminhaltes mit dem Wach leben sich mühelos als augenfa'lliges Ergebnis der angestellten Vergleichung ergeben muß. Derselbe muß vielmehr aufmerksam gesucht werden und weiß sich in einer ganzen Reihe von Fällen für lange Zeit zu verbergen. Der Grund hiefü.r liegt in einer Anzahl von Eigentümlichkeiten, welche die Erinnerungsfähigkeit im Traume zeigt und die, obwohl allgemein bemerkt, sich doch bisher jeder Erklärung entzogen haben. Es wird der Mühe lohnen, diese Charaktere eingehend zu würdigen. § 59Es kommt zunächst vor, daß im Trauminhalt ein Material
auftritt, welches man dann im Wachen nicht als zu seinem Wissen und Erleben gehörig anerkennt. Man erinnert wohl, daß man das Betreffende geträumt, aber erinnert nicht, daß und wann man es erlebt hat. Man bleibt dann im Unklaren darüber, aus welcher Quelle der Traum geschöpft hat, und ist wohl versucht, an eine selbständig produzierende Tätigkeit des Traumes zu glauben7 bis oft nach langer Zeit ein neues Erlebnis die verloren gegebene Erinnerung an das frühere Erlebnis wiederbring‘t und damit die Traumquelle aufdedkt. Man muß dann zugestehen, daß man im Traum etwas gewußt und erinnert hatte, was der Erinnerungsfähigkeit im Wachen entzogen war. [E €] § 60Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dieser Art erzählt
Delboeuf aus seiner eigenen Traumerfahrung. Er sah im Traum den Hof seines Hauses mit Schnee bedeckt und fand zwei kleine Eidechsen halb erstem und unter dem Schnee begraben, die er als Tierfreund aufnahm, erwärmte und in die für sie bestimmte kleine Höhle im Gemäuer zurückbrachte. Außerdem steckte er ihnen einige Blätter von einem kleinen Famkraut zu, das auf der Mauer wuchs, und das sie, wie er wußte, sehr liebten. Im Traum kannte er den Namen der Pflanze: Asplenium rum muralis. —— Der Traum ging dann weiter, kehrte nach einer Einschaltung zu den Eidechsen zurück und zeigte Delboeuf zu seinem Erstaunen § 61§ 62
14 I. Die wissenschaftlich: Literatur der Traumprobleme
§ 63zwei neue Tierchen, die sich über die Reste des Fern her—
gemacht hatten. Dann wandte er den Blick aufs freie Feld, sah eine fünfte, eine sechste Eidechse den Weg zu dem Loch in der Mauer nehmen, und endlich war die ganze Straße bedeckt von einer Prozession von Eidechsen, die alle in derselben Richtung wanderten usw. § 64Delboeufs Wissen umfaßte im Wachen nur wenige lateinische
Pflanzennamen und schloß die Kenntnis eines Asplenium nicht ein. Zu seinem großen Erstaunen mußte er sich überzeugen, daß ein Fern dieses Namens wirklich existiert. Asplenium rum murarz‘a war seine richtige Bezeichnung, die der Traum ein wenig entstth hatte. An ein zufälliges Zusammentreffen konnte man wohl nicht denken; es blieb aber für Delhoeuf rätselhaft, woher er im Traume die Kenntnis des Namens Asplenium genommen hatte. § 65Der Traum war im Jahre 1862 vorgefallen; sechzehn Jahre
später erblickt der Philosoph bei einem seiner Freunde, den er besucht, ein kleines Album mit; getrockneten Blumen, wie sie als Erinnerungsgaben in manchen Gegenden der Schweiz an die Fremden verkauft werden. Eine Erinnerung steigt in ihm auf, er öffnet das Herbarium, findet in demselben das Asplenium seines Traumes und erkennt seine eigene Handschrift in den beigefügten lateinischen Namen. Nun ließ sich der Zusammenhang herstellen. Eine Schwester dieses Freundes hatte im Jahre 1860 — zwei Jahre vor dem Eidechsentraum — auf der Hochzeitsreise Delboeuf besucht. Sie hatte damals dieses für ihren Bruder bestimmte Album bei sich, und Delboeuf unterzog sich der Mühe, unter dem Diktat eines Botanikers zu jedem der getrockneten Pflänzchen den lateinischen Namen hinzuzuschreiben. § 66Die Gunst des Zufalls, welche dieses Beispiel so sehr mitteilens
wert macht, gestattete Delboeuf, noch ein anderes Stück aus dem Inhalt dieses Traumes auf seine vergessene Quelle zurückzuführen. Eines Tages im Jahre 1877 fiel ihm ein alter Band einer illustrierten § 67§ 68
Die Hypernmesie des Trauma 15
§ 69Zeitschrift in die Hände, in welcher er den ganzen Eidechsen
zug abgebildet sah, wie er ihn 1869 geträumt hatte. Der Band trug die Jahreszahl 1861, und Delboeuf wußte sich zu erinnern, daß er von dem Erscheinen der Zeitschrift an zu ihren Abonnenten gehört hatte. § 70Daß der Traum über Erinnerungen verfügt, welche dem
Wachen unzugänglich sind, ist eine so merkwürdige und theoretisch bedeutsame Tatsache, daß ich durch Mitteilung noch anderer „hypermnestischer“ Träume die Aufmerksamkeit für sie ver stärken möchte. Maury erzählt, daß ihm eine Zeitlang das Wort Mussidan bei Tag in den Sinn zu kommen pflegte. Er wußte, daß es der Name einer französischen Stadt sei, aber weiter nichts. Eines Nachts träumte ihm von einer Unterhaltung mit einer gewissen Person, die ihm sagte, sie käme aus Mussidan, und auf seine Frage, wo die Stadt liege, zur Antwort gab: Mussidan sei eine Kreisstadt im Département de la Dordogne. Erwacht, schenkte Maury der im Traume erhaltenen Auskunft keinen Glauben.; das geographische Lexikon belehrte ihn aber, daß sie vollkommen richtig sei. In diesem Falle ist das Mehr wissen des Traumes bestätigt, die vergessene Quelle dieses Wissens aber nicht aufgespürt werden. § 71Jessen erzählt (S. 55) ein ganz ähnliches Traumvorkommnis
aus älteren Zeiten: „Dahin gehört u. a. der Traum des älteren Scaliger (Hennings, l. c. S. 500), welcher ein Gedicht zum Lobe der berühmten Männer in Verona schrieb, und dem ein Mann, welcher sich Brugnolus nannte, im Traume erschien und sich beklagte, daß er vergessen sei. Obgleich Scaliger sich nicht erinnerte, je etwas von ihm gehört zu haben, so machte er doch Verse auf ihn, und sein Sohn erfuhr nachher in Verona, daß ehemals ein solcher Brugnolus als Kritiker daselbst berühmt gewesen sei.“ [E 7] § 72An einer mir leider nicht zugänglichen Stelle (Proceedings of
the Society for Psychical Research) soll Myers eine ganze § 73§ 74
16 I. Die wüsznschafiliche Literatur der Traumprobleme
§ 75Sammlung solcher hypermnestischer Träume veröfientlicht haben.
Ich meine, jeder, der sich mit Träumen beschäftigt, wird es als ein sehr gewöhnliches Phänomen anerkennen müssen, daß der Traum Zeugnis für Kenntnisse und Erinnerungen ablegt, welche der Wachende nicht zu besitzen vermeint. In den psychoanalytischen Arbeiten mit Nervösen, von denen ich später berichten werde, komme ich jede Woche mehrmals in die Lage, den Patienten aus ihren Träumen zu beweisen, daß sie Zitate, obszöne Worte u. dgl. eigentlich sehr gut kennen, und daß sie sich ihrer im Traume bedienen, obwohl sie sie im wachen Leben vergessen haben. Einen harmlosen Fall von Traumhypermnesie will ich hier noch mitteilen, weil sich bei ihm die Quelle, aus welcher die nur dem Traum zugängliche Kenntnis stammte, sehr leicht auffinden ließ. § 76Ein Patient träumte in einem längeren Zusammenhange, daß
er sich in einem Kaffeehaus eine „Konzuszöwka“ geben lasse, fragte aber nach der Erzählung, was das wohl sei, er habe den Namen nie gehört. Ich_ konnte antworten, Kontuszdwka sei ein polnischer Schnaps, den er im Traume nicht erfunden haben könne, da mir der Name von Plakaten her schon lange bekannt sei. Der Mann wollte mir zuerst keinen Glauben schenken. Einige Tage später, nachdem er seinen Traum im Kaffeehaus hatte zur Wirklichkeit werden lassen, bemerkte er den Namen auf einem Plakate, und zwar an einer Straßenecke, welche er seit Monaten wenigstens zweimal im Tage hatte passieren müssen. [E a] § 77Eine der Quellen, aus welcher der Traum Material zur Repro
duktion bezieht, zum Teil solches, das in der Denktätigkeit des Wachens nicht erinnert und nicht verwendet wird, ist das Kind heitsleben. Ich werde nur einige der Autoren anführen, die dies bemerkt und betont haben: § 78Hildebrandt (S. 25): „Ausdrücklich ist schon zugegeben werden,
daß der Traum bisweilen mit wunderbarer Reproduktionskraft uns gariz abgelegene und selbst vergessene Vorgänge aus femster Zeit treu vor die Seele zurückführt.“ § 79§ 80
Kindhzitsmaterial im Traum 17
§ 81Strümpell (S. 4.0): „Die Sache steigert sich noch mehr, wenn
man bemerkt, wie der Traum mitunter gleichsam aus den tiefsten und massenhaftesten Verschüttungen, welche die spätere Zeit auf die frühesten Jugenderlebnisse gelagert hat, die Bilder einzelner Lokalitäten, Dinge, Personen ganz unversehrt und mit ursprüng— licher Frische wieder hervorzieht. Dies beschränkt sich nicht bloß auf solche Eindrücke, die bei ihrer Entstehung ein lebhaftes Bewußt sein gewonnen oder sich mit, starken psychischen Werten ver— bunden haben, und nun später im Traum als eigentliche Erinne rungen wiederkehren, an denen das erwachte Bewußtsein sich erfreut. Die Tiefe des Traurngedächtnisses umfaßt vielmehr auch solche Bilder von Personen, Dingen, Lokalitäten und Erlebnissen der frühesten Zeit, die entweder nur ein geringes Bewußtsein oder keinen psychischen Wert besaßen oder längst das eine wie das andere verloren hatten und deshalb auch sowohl im Traum wie nach dem Erwachen als gänzlich fremd und unbekannt er scheinen, bis ihr früher Ursprung entdeckt wird.“ § 82Volkelt (S. 119): „Besonders bemerkenswert ist es, wie gern
Kindheits- und Jugenderinnerungen in den Traum eingehen. Woran wir längst nicht mehr denken, was längst für uns alle Wichtig keit verloren: der Traum mahnt uns daran unermüdlic .“ § 83Die Herrschaft des Traumes über das Kindheitsmaterial, welches
bekanntlich zum größten Teil in die Lücken der bewußten Er innerungsfa'higkeit fällt, gibt Anlaß zur Entstehung von inter essanten hypermnestischen Träumen, von denen ich wiederum einige Beispiele mitteilen will. § 84Maury erzählt (Le sommeil, p. 92), daß er von seiner Vater
stadt Meaux als Kind häufig nach dem nahegelegenen Trilport gekommen war, wo sein Vater den Bau einer Brücke leitete. in einer Nacht versetzt ihn der Traum nach Trilport und läßt ihn wieder in den Straßen der Stadt spielen. Ein Mann nähert sich ihm, der eine Art Uniform trägt. Maury fragt ihn nach seinem Namen; er stth sich vor, er heiße C . . . und sei Bzückenwächter. § 85Freud, n. a
§ 86§ 87
18 I. Die wixsertschaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 88Nach dem Erwachen fragt der an der Wirklichkeit der Erinne
rung noch zweifelnde Maury eine alte Dienerin, die seit der Kindheit bei ihm ist, ob sie sich an einen Mann dieses Namens erinnern kann. „Gewiß,“ lautet die Antwort, „er war der Wächter der Brücke, die Ihr Vater damals gebaut hat.“ . ‘ § 89Ein ebenso schön bestätigtes Beispiel von der Sicherheit der im
Träume auftretenden Kindheitserinnerlmg berichtet Maur),r von einem Herrn F. . ., der als Kind in Montb'rison aufgewachsen war. Dieser Mann beschloß, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Weggang, die Heimat und alte, seither nicht gesehene Freunde' der Familie wieder zu besuchen. In der Nacht vor seiner Abreise träumt er, daß er am Ziele ist und in der Nähe von Münt— brison einen ihm vom Ansehen unbekannten Herrn begegnet, der ihm sagt, er sei der Herr T., ein Freund seines Vaters. Der Träumer wußte, daß er einen Herrn dieses Namens als Kind gekannt hatte, erinnerte sich aber im Wachen nicht mehr an sein Aussehen. Einige Tage später nun wirklich in Montbrison an gelangt, findet er die für unbekannt gehaltene Lokalität des Traumes wieder und begegnet einen Herrn, den er sofort als den T. des Traumes erkennt. Die wirkliche Person war nur stärker gealtert, als sie das Traumbild gezeigt hatte. § 90Ich kann hier einen eigenen Traum erzählen, in dem der zu
erinnernde Eindruck durch eine Beziehung ersetzt ist. Ich sah in einem Traum eine Person, von der ich im Traum wußte, es sei der Arzt meines heimatlichen Ortes. Ihr Gesicht war nicht deut— lich, sie vermengte sich aber mit der Vorstellung eines meiner Gymnasiallehrer, den ich noch heute gelegentlich treffe. Welche Beziehung die beiden Personen verknüpfe, konnte ich dann im Wachen nicht ausfindig machen. Als ich aber meine Mutter nach dem Arzt dieser meiner ersten Kinderjahre fragte, erfuhr ich, daß er einäugig gewesen war, und einäugig ist auch der Gymnasial— lehrer, dessen Person die des Arztes im Traum gedeckt hatte. Es waren achtunddreißig Jahre her, daß ich den Arzt nicht mehr § 91§ 92
Rezentes Material im Traum 19
§ 93gesehen, und ich habe meines Wissens im wachen Leben nie
mals an ihn gedacht. § 94“Es klingt, als sollte ein Gegengewicht gegen die übergroße
Rolle der Kindheitseindrücke im Traumleben geschaffen werden, wenn mehrere Autoren behaupten, in den meisten Träumen ließen sich Elemente aus den allerjüngsten Tagen nachweisen. Robert (S. 46) äußert sogar: Im allgemeinen beschäftigt sich der normale Traum nur mit den Eindrücken der letztvergangenen Tage. Wir werden allerdings erfahren, daß die von Robert aufgebaute Theorie des Traumes eine solche Zurückdrängung der ältesten und Vor schiebung der jüngsten Eindrücke gebieterisch fordert. Die Tat sache aber, der Robert Ausdruck gibt, besteht, wie ich nach eigenen Untersuchungen versichern kann, zu Recht. Ein ameri kanischer Autor, Nelson, meint, am häufigsten finden sich im Traum Eindrücke vom Tage vor dem Traumtag oder vom dritten Tag vorher verwertet, als ob die Eindrücke des dem Traum un— mittele vorhergehenden Tages nicht abgeschwächt —- nicht ab— gelegen —— genug wären. § 95Es ist mehreren Autoren, die den intimen Zusammenhang des
Trauminhaltes mit dem Wachleben nicht bezweifeln machten, aufgefallen, daß Eindrücke, welche das wache Denken intensiv beschäftigen, erst dann im Traume auftreten, wenn sie von der Tagesgedankenarbeit einigermaßen zur Seite gedrängt werden sind. So träumt man in der Regel von einem lieben Toten nicht die erste Zeit, so lange die Trauer den Überlebenden ganz ausfith (Delage). Indes hat eine der letzten Beobachter-innen, Miß Hallam, auch Beispiele vom gegenteiligen Verhalten gesammelt und ver tritt für diesen Punkt das Recht der psychologischen Individualität. § 96Die dritte, merkwürdigste und unverständlichste Eigentümlich—
keit des Gedächtnissec im Traum zeigt sich in der Auswahl des reproduzierten Materials, indem nicht wie im Wachen nur das Bedeutsamste, sondern im Gegenteil auch das Gleichgültigste, Un scheinbarste der Erinnerung wert gehalten wird. Ich lasse hier— § 97,.
§ 98§ 99
so I. Die wüsenschafiliche Literatur der Traumprobleme
§ 100über jene Autoren zum Worte kommen, welche ihrer Verwunde
rung den kräftigsten Ausdruck gegeben haben. § 101Hildebrandt (S. 11): „Denn das ist das Merkwürdige, daß
der Traum seine Elemente in der Regel nicht aus den großen und tiefgreifenden Ereignissen, nicht aus den mächtigen und treibenden Interessen des vergangenen Tages, sondern aus den nebensächlichen Zugaben, sozusagen aus den wertlosen Brocken der jüngst verlebten oder weiter rückwärts liegenden Vergangen— heit nimmt. Der erschütternde Todesfall in unserer.Familie, unter dessen Eindrücken wir spät einschlafen, bleibt ausgelöscht aus unserem Gedächtnisse, bis ihn der erste wache Augenblick mit betrübender Gewalt in dieselbe zurückkehren läßt. Dagegen die Warze auf der Stirn eines Fremden, der uns begegnete, und an den wir keinen Augenblick mehr dachten, nachdem wir an ihm vorübergegangen waren, die spielt eine Rolle in unserem Traume“ . . . § 102Strümpell (S. 59): „. .. solche Fälle, wo die Zerlegung eines
Traumes Bestandteile desselben auffindet, die zwar aus den Erleb nissen des vorigen oder vorletzten Tages stammen, aber doch so unbedeutend und wer-dos für das wache Bewußtsein waren, daß sie kurz nach dem Erleben der Vergessenheit anheimfielen. Der gleichen Erlebnisse sind etwa zufällig gehörte Äußerungen oder oberflächlich bemerkte Handlungen eines anderen, rasch vorüber gegangene Wahrnehmungen von Dingen oder Personen, einzelne kleine Stücke aus einer Lektüre u. dgl.“ § 103Havelock Ellis (p. 797): The profound emotions of making
life, the questions and problems on which we spread our chief voluntary mental energy, are not those which usually present them— selves at once to dream conscz'ousness. It is so far as the imme diate past is cancerned, mostly the trifling, the incidental, the „for gottzn“ impressions of daily life which reappear in our dreams. The psychic activities that are awake most intensely are those that sleep most profoundly. § 104§ 105
Bevorzugung des Nebcnsiichlichen su
§ 106Binz (S. 4.5) nimmt gerade die in Rede stehenden Eigentüm
lichkeiten des Gedächtnisses im Traume zum Anlaß, seine Unbe friedigung mit den von ihm selbst unterstützten Erklärungen des Traumes auszusprechen: „Und der natürliche Traum stellt uns ähnliche Fragen. Warum träumen wir nicht immer die Gedächtnis eindrücke der letztverlehten Tage, sondern tauchen oft ein, ohne irgend erkennbares Motiv, in weit hinter uns liegende, fast er loschene Vergangenheit? Warum empfängt im Traum das Bewußt sein so oft den Eindruck gleichgültiger Erinnerungsbilder, während die Gehirnzellen da, wo sie die reizbarsten Aufzeich nungen des Erlebten in sich tragen, meist Stumm und starr liegen, es sei denn, daß eine akute Auffrischung während des Wachens sie kurz vorher erregt hatte?“ § 107Man sieht leicht ein, wie die sonderbare Vorliebe des Traum
gedächtnisses für das Gleichgültige und darum Unbeachtete an den Tageserlebnissen zumeist dazu führen mußte, die Abhängigkeit des Traumes vom Tagesleben überhaupt zu verkennen und dann wenigstens den Nachweis derselben in jedem einzelnen Falle zu erschweren. So war es möglich, daß Miß Whiton Calkins bei der statistischen Bearbeitung ihrer (und ihres Gefährten) Träume doch elf Prozent der Anzahl übrig behielt, in denen eine Be ziehung zum Tagesleben nicht ersichtlich war. Sicherlich hat Hildebrandt mit der Behauptung Recht, daß sich alle Traum hilder uns genetisch erklären würden, wenn wir jedesmal Zeit und Sammlung genug darauf verwendeten, ihrer Herkunft nach zuspüren. Er nennt dies freilich „ein äußerst mühseliges und un dankbares Geschäft. Denn es liefe ja meistens darauf hinaus, allerlei psychisch ganz wertlose Dinge in den abgelegensten Winkeln der Gedächtniskammer aufzustöbem, allerlei völlig indifl'erente Momente längst vergangener Zeit aus der Verschüttung, die ihnen vielleicht schon die nächste Stunde brachte, wieder zutage zu fördern.“ Ich muß aber doch bedauern, daß der scharfsinnige Autor sich von der Verfolgung des so unscheinbar beginnenden Weges abhalten § 108§ 109
an I. Die wissenschdfiliche Literatur der Traumprobleme
§ 110ließ, er hätte. ihn unmittelbar zum Zentrum der Traumerklärung
geleitet ' Das Verhalten des Traumgedächtnisses ist sicherlich höchst be— deutsam für jede Theorie des Gedächtnisses überhaupt. Es lehrt, daß „Nichts, was wir geistig einmal besessen, ganz und gar ver— loren gehen kann“ (Scholz, S. 54). Oder, wie Delboeuf es aus drückt, „que toute impression mé'me la plus insignifiantß, laisse une [race inaltérable, indefifiiment ausceptible de reparai‘tre au jour“, ein Schluß, zu welchem so viele andere, pathologische Erschei— nungen des Seelenlebens gleichfalls drängen. Main halte sich.nün ‘ diese außerordentliche Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses im Traum vor Augen, um den Widerspruch lebhaft Zu empfinden, den gewisse später zu erwähnende Traumtheorien aufstellen müssen, welche die Absurdität und Inkoh‘ärenz der Träume durch ein partielles Vergessen des uns bei Tag Bekannten erklären wollen. Man könnte etwa auf den Einfall geraten, das Phänomen des Träumens überhaupt auf das des Erinnerns zu reduzieren, im Traum die Äußerung einer auch nachts nicht rastenden Repro-’ duktionstätigkeit sehen, die sich Selbstzweck ist. Mitteilungen wie die von Pilcz würden hiezu stimmen, denen zufolge feste Be ziehungen zwischen der Zeit des Träumens und dem Inhalt der Träume nachweisbar sind in der Weise, daß im tiefen Schlaf Ein— drücke aus den ältesten Zeiten, gegen Morgen aber rezente Ein drücke vom Traum reproduziert werden. Es wird aber eine solche Auffassung von vornherein unwahrscheinlich durch die Art, wie der Traum mit dem zu erinnernden Material verführt. Strümpell macht mit Recht darauf aufmerksam, daß Wiederholungen von Erlebnissen im Traume nicht vorko'mmen. Der Traum inacht wohl einen Ansatz dazu, aber das folgende Glied bleibt aus; es tritt verändert auf oder an seiner Stelle erscheint ein ganz fremdes. Der Traum bringt nur Bruchstücke von Reproduktionen. Dies ist sicherlich so weit die Regel, daß es eine theoretische Verwertung gestattet. Indes kommen Ausnahmen vor, in denen ein Traum ein § 111§ 112
Traumreize und Traumquellen 25
§ 113Erlebnis ebenso vollständig wiederholt, wie unsere Erinnerung im
Wachen es vermag. Delboeuf erzählt von einem seiner Universitäts— kollegen (der gegenwärtig in Wien lehrt [E 9]), daß er im Träume eine gefährliche Wagenfahrt, bei welcher er einem Unfall nur wie durch ein Wunder entging, mit all ihren Einzelheiten wieder durchgemacht habe. Miß Calkins erwähnt zweier Träume, welche die genaue Reproduktion eines Erlebnissen vom Vortag zum Inhalt hatten, und ich selbst werde späterhin Anlaß nehmen, ein mir bekannt gewordenes Beispiel von unveränderter Traumwiederkehr eines Kindererlebnisses mitzuteilen. [E 10] § 114C
Traumreize und Traumquellen § 115Was man unter Traumreizen und Traumquellen verstehen soll,
das kann durch eine Berufung auf die Volksrede „Träume kommen vom Magen“ verdeutlicht werden. Hinter der Aufstellung dieser Begriffe verbirgt sich eine Theorie, die den Traum als Folge einer Störung des Schlafes erfaßt. Man hätte nicht geträumt, wenn nicht irgend etwas Stürendes im Schlaf sich geregt hätte, und der Traum ist die Reaktion auf diese Störung. § 116Die Erörterung über die erregenden Ursachen der Träume
nehmen in den Darstellungen der Autoren den breitesten Raum ein. Daß das Problem sich erst ergeben konnte, seitdem der Traum ein Gegenstand der biologischen Forschung geworden war, ist selbstverständlich. Die Alten, denen der Traum als göttliche Sendung galt, brauchten nach einer Reizquelle für ihn nicht zu suchen; aus dem Willen der göttlichen oder dämonischen Macht erfloß der Traum, aus deren Wissen oder Absicht sein Inhalt. Für die Wissenschaft erhob sich alsbald die Frage, ob der Anreiz zum Träumen stets der nämliche sei oder ein vielfacher sein könne, und damit die Erwägung, ob die ursächliche Erklärung des Traumes der Psychologie oder vielmehr der Physiologie an § 117§ 118
94. I. Die wissenschaftlich Literatur der Traumprobleme
§ 119heimfalle. Die meisten Autoren scheinen anzunehmen, daß die
Ursachen der Schlafstörung, also die Quellen des Träumens, mannig faltiger Art sein können, und daß Leibreize ebenso wie seelische Erregungen zur Rolle von Traumerregern gelangen. In der Bevor zugung der einen oder der anderen unter den Traumquellen, in der Herstellung einer Rangordnung unter ihnen je nach ihrer Bedeutsamkeit für die Entstehung des Traumes gehen die An sichten weit auseinander. § 120Wo die Aufzählung der Traumquellen vollständig ist, da er—
geben sich schließlich vier Arten derselben, die auch zur Ein-V teilung der Träume verwendet werden sind: I) Äußere (objek— tive) Sinneserregung. 2) Innere (subjektive) Sinneserre gung. }) Innerer (organischer) Leibreiz. 4) Rein psychische Reizquellen. § 121Ad I) Die äußeren Sinnesreize
§ 122Der jüngere Strümpell, der Sohn des Philosophen, dessen Werk
über den Traum uns bereits mehrmals als Wegweiser in die Traumprobleme diente, hat bekanntlich die Beobachtung eines Kranken mitgeteilt, der mit allgemeiner Anästhesie der Körper decken und Lähmung mehrerer der höheren} Sinnesorgane be haftet war. Wenn man bei diesem Marine die wenigen noch offenen Sinnespforten von der Außenwelt abschloß, verfiel er in Schlaf. Wenn wir einschlafen wollen, pflegen wir alle eine Situa tion anzustreben, die jener jm Strümpellschen Experimente ähn lich ist. Wir verschließen die wichtigsten Sinnespforten, die Augen, und suchen von den anderen Sinnen jeden Reiz oder jede Ver— änderung der auf sie wirkenden Reize abzuhalten. Wir schlafen dann ein, obwohl uns unser Vorhaben nie völlig gelingt. Wir können weder die Reize vollständig von den Sinnesorganen fern— halten noch die Erregbarkeit unserer Sinnesorgane völlig aufheben. Daß wir durch stärkere Reize jederzeit zu erwecken sind, darf uns beweisen, „daß die Seele auch im Schlaf in fondauernder § 123§ 124
Äußere Sirnwsreize als Traumquellen 95
§ 125Verbindung mit der außerleiblichen Welt“ geblieben ist. Die
Sinnesreize, die uns während des Schlafes zukommen, können sehr wohl zu Traumquellen werden. § 126Von solchen Reizen gibt es nun eine große Reihe, von den
unvermeidlichen an, die der Schlafzustand mit sich bringt oder nur gelegentlich zulassen muß, bis zum zufälligen Weckreiz, welcher geeignet oder dazu bestimmt ist, dem Schlafe ein Ende zu machen. Es kann stärkeres Licht in die Augen dringen, ein Gerämch sich vernehmbar machen, ein riechender Stoff die Nasen schleimhaut erregen. Wir können im Schlaf durch ungewollte Be wegungen einzelne Körperteile entblößen und so der Abkühlungs empfindung aussetzen, oder durch Lageveränderung uns selbst Druck- und Berührungsempiindungen erzeugen. Es kann uns eine Fliege stechen oder ein kleiner nächtlicher Unfall kann mehrere Sinne zugleich bestürmen. Die Aufmerksamkeit der Beobachter hat eine ganze Reihe von Träumen gesammelt, in welchen der beim Erwachen konstatierte Reiz und ein Stück des Trauminhaltes so weit übereinstimmten, daß der Reiz als Traumquelle erkannt werden konnte. § 127Eine Sammlung solcher auf objektive — mehr oder minder
akzidentelle —— Sinnesreizung zurückgehender Träume führe ich hier nach Jessen, S. 527, an: Jedes undeutlich wahrgenommene Geräusch erweckt entsprechende Traumbilder, das Rollen des Donners versetzt uns mitten in eine Schlacht, das Krähen eines Hahnes kann sich in das Angstgeschrei eines Menschen verwan deln, das Knarren einer Tür Träume von räuberischen Einbrüchen hervorrufen. Wenn wir des Nachts unsere Bettdecke verlieren, so träumen wir vielleicht, daß wir nackt umhergehen oder daß wir ins Wasser gefallen sind. Wenn wir schräg im Bett liegen und die Füße über den Rand desselben herauskommen, so träumt uns vielleicht, daß wir am Rande eines schrecklichen Abgrundes stehen, oder daß wir von einer steilen Höhe hinabstürzen. Kommt unser Kopf zufällig unter das Kopfkissen, so hängt ein großer Felsen § 128§ 129
26 I. Die wissenschafiliche Literatur der Traumpraölemc
§ 130über uns, und steht im Begriff, uns unter seiner Last zu begraben.
Anhäufungen des Samens erzeugen wollüstige Träume, örtliche Schmelzen die Idee erlittener Mißhandlungen, feindlicher Angriffe oder geschehender Körperverletzungen . . . § 131„Meier (Versuch einer Erklärung des Nachtwandelns. Halle
1758, S. 55) träumte einmal, daß er von einigen Personen über— fallen würde, welche ihn der Länge nach auf den Rücken auf die Erde hinlegten, und ihm zwischen die große und die nächste Zehe einen Pfahl in die Erde schlugen. Indem er sich dies im Traum vorstellte, erwachte er und fühlte, daß ihm ein ’Strohhalm zwischen den Zehen stecke. Demselben soll nach Hennings (Von den Träumen und Nachtwandlern. Weimar 1784, S. 258) ein anderes Mal, als er sein Hemd am Halse etwas fest zusammen— gesteckt hatte, geträumt haben, daß er gehenkt Würde. Hoffbauer träumte in seiner Jugend, von einer hohen Mauer hinabzufallen, und bemerkte beim Erwachen, daß die Bettstelle auseinander ge gangen und daß er wirklich gefallen war . . . Gregory berichtet, er habe einmal beim Zubettegehen eine Flasche mit heißem Wasser an die Füße gelegt und darauf im Traum eine Reise auf die Spitze des Ätna gemacht, wo er die Hitze des Erdbodens fast unerträglich gefunden. Ein anderer träumte nach einem auf den Kopf gelegten Blasenpflaster, daß er von einem Haufen von Indianern skalpiert werde, ein dritter, der in einem feuchten Hemde schlief, glaubte durch einen Strom gezogen zu werden. Ein im Schlaf eintretender Anfall von Podagra ließ einen Kranken glauben, er sei in den Händen der Inquisition und erdulde die Qualen der Folter (Macnish).“ § 132Das auf die Ähnlichkeit zwischen Reiz und Trauminhalt ge—
gründete Argument läßt eine Verstärkung zu, wenn es gelingt, bei einem Schlafenden durch planmäßige Anbringung von Sinnes— reizen dem Reiz entsprechende Träume zu erzeugen. Solche Ver suche hat nach Macnish schon Giron de Buzareingues ange stellt. „Er ließ seine Knie unbedeckt und träumte, daß er in der § 133§ 134
E1'perimtzntell ,erzeugte Träume . 917
§ 135Nacht auf einem Postwagen reise. Er bemerkt dabei, daß Reisende
wohl wissen würden, wie in einer Kutsche die Knie des Nachts kalt würden. Ein anderes Mal ließ er den Kopf hinten unbedeckt und träumte, daß er einer religiösen Zeremonie in freier Luft beiwohne. Es war nämlich in dem Lande, in welchem er lebte, Sitte, den Kopf stets bedeckt zu tragen, ausgenommen bei solchen Veranlassungen, wie die eben genannte.“ § 136Maury teilt neue Beobachtungen von an ihm selbst erzeugten
Träumen mit, (Eine Reihe anderer Versuche brachte keinen Erfolg.) § 1371) Er wird an Lippen und Nasenspitze' mit einer Feder ge
kitzelt. —# Träumt von einer schrecklichen Tortur; eine Pechlarve wird ihm aufs Gesicht gelegt, dann weggerissen, so daß die Haut mitgeht. ‘ § 1389) Man wetzt eine Schere an einer Pinzette. — Er hört Glocken
läuten, dann Sturmläuten und ist in die Junitage des Jahres 184.8 versetzt. ' § 1395) Man läßt ihn Kölnerwasser riechen. —— Er ist in Kairo im
Laden von Johann Maria Farina. Daran schließen sich tolle Aben— teuer, die er nicht reproduzieren kann. § 1404.) Man kneipt ihn leicht in den Nacken. — Er träumt, daß
man ihm ein Blasenpflaster auflegt, und denkt an einen Arzt, der ihn als Kind behandelt hat. § 1415) Man nähert ein heißes Eisen seinem Gesicht. Er träumt
von den „Heizern“,‘ die sich ins Haus eingeschlichen haben und die Bewohner zwingen, ihr Geld herauszugeben, indem sie ihnen die Füße ins Kohlenbecken stecken. Dann tritt die Herzogin von Abrantés auf, deren Sekretär er im Traume ist. § 1428) Man gießt ihm einen Tropfen Wasser auf die Stirne. —
Er ist in Italien, schwitzt heftig und trinkt den weißen Wein von Orvieto. § 143i) Chmfl'zurs hießen Banden von Räubern in der Vendée, die sich dieser Textur
bedienten. § 144§ 145
98 I. Die wissenschafllizhe Literatur der Traumprablarw
§ 1469) Man läßt wiederholt durch ein rotes Papier das Licht einer
Kerze auf ihn fallen. -— Er träumt vom Wetter, von Hitze und befindet sich wieder in einem Seesturm, den er einmal auf dem Kanal La Manche mitgemacht. § 147Andere Versuche, Träume experimentell zu erzeugen, rühren
von d’Hervey, Weygandt u. a. her. § 148Von mehreren Seiten ist die „auffällige Fertigkeit des Traumes
bemerkt worden, plötzliche Eindrücke aus der Sinneswelt der gestalt in seine Gebilde zu verweben, daß sie in diesen eine all— mählich schon vorbereitete und eingeleitete Katastrophe bilden“ (Hildebrandt). „In jüngeren Jahren“, erzählt dieser Autor, „be diente ich mich zu Zeiten, um regelmäßig in bestimmter Morgen stunde aufzustehen, des bekannten, meist an Uhrwerken ange— brachten Weckers. Wohl zu hundertmalen ist mirs begegnet, daß der Ton dieses Instrumentes in einen vermeintlich sehr langen und zusammenhängenden Traum dergestalt hineinpaßte, als ob dieser ganze Traum eben nur auf ihn angelegt sei, und in ihm seine eigentliche logisch unentbehrliche Pointe, sein natürlich ge wiesenes Endziel fände.“ § 149Ich werde drei dieser Weckerträume noch in anderer Absicht
zitieren. § 150Volkelt (S. 68) erzählt: „Einem Komponisten träumte einmal,
er halte Schule und wolle eben seinen Schülern etwas klar machen. Schon ist er damit fertig und wendet sich an einen der Knaben mit der Frage: ,Hast du mich verstanden?‘ Dieser schreit wie ein Besessener: ,Oh ja.‘ Ungehalten hierüber verweist er ihm das Schreien. Doch schon schreit die ganze Klasse: ,Orja‘. Hierauf: ,Eurjo‘. Und endlich: ,Feuer-jo? Und nun erwacht er von wirk lichern Feuerjogeschrei auf der Straße.“ § 151Garnier (Traité des familtés de l’ärne, 1865) bei Radestock
berichtet, daß Napoleon I. durch die Explosion der Höllemmrschine aus einem Traum geweckt wurde, den er im Wagen schlafend hatte, und der ihm den Übergang über den Tagliamento und die § 152§ 153
Triiume auf den Weckreiz 99
§ 154Kanonade der Österreicher wieder erleben ließ, bis er mit dem
Ausruf aufschreckte: „Wir sind unterminiert.“ § 155Zur Berühmtheit gelangt ist ein Traum, den Maury erlebt hat
(Le sommeil, p. 161). Er war 'leidend und lag in seinem Zimmer zu Bett; seine Mutter saß neben ihm. Er träumte nun von der Schreckensherrschaft zur Zeit der Revolution, machte greuliche Mordszenen mit und wurde dann endlich selbst vor den Gerichts hof zitiert. Dort sah er Bobespierre, Marat, Fouquier-Tinville und alle die traurigen Helden jener gräßlichen Epoche, stand ihnen Rede, wurde nach allerlei Zwischenfällen, die sich in seiner Er innerung nicht fixierten, verurteilt und dann, von einer unüber sehbaren Menge begleitet, auf den Richtplatz geführt. Er steigt aufs Schafott, der Scharfrichter bindet ihn aufs Brett; es kippt um; das Messer der Guillotine fällt herab; er fühlt, wie sein Haupt vom Rumpf getrennt wird, wacht in der entsetzlichsten Angst auf —- und findet, daß der Bettaufsatz herabgefallen war und seine Halswirbel, wirklich ähnlich wie das Messer der Guilla— tine, getroffen hatte. § 156An diesen Traum knüpft sich eine interessante, von Le Lorrain
untl Egger in der „Revue philosophique“ eingeleitete Diskussion, ob und wie es dem Träumer möglich werde, in dem kurzen Zeitraum, der zwischen der Wahrnehmung des Weckreizes und dem Erwachen verstreicht, eine anscheinend so überaus reiche Fülle von Traumi.nhalt zusammenzudrängen. § 157Beispiele dieser Art lassen die objektiven Sinnesreizungen Wäh—
rend des Schlafes als die am besten sichergestellte unter den Traumquellen erscheinen. Sie ist es auch, die in der Kenntnis des Laien einzig und allein eine Rolle spielt. Fragt man einen Ge bildeten, der sonst der Traumliteratur fremd geblieben ist, wie die Träume zustande kommen, so wird er zweifellos mit der Berufung auf einen ihm bekannt gewordenen Fall antworten, in dem ein Traum durch einen nach dem Erwachen erkannten ob jektiven Sinnesreiz aufgeklärt wurde. Die wissenschaftliche Betrach § 158§ 159
50 I. Die wissenschaftlich Literatur der Traumprobleme
§ 160tung kann dabei nicht Halt machen; sie schöpft den Anlaß zu
weiteren Fragen aus der Beobachtung, daß der während des Schlafes auf die Sinne einwirkende'fieiz im Traume, ja nicht in seiner wirklichen Gestalt auftritt, sondern durch irgend eine andere Vorstellung vertreten wird, die in irgend welcher Beziehung zu ihm steht. Die Beziehung aber, die den Traumreiz und den Traumerfolg verbindet, ist nach den Worten Maurys une affinite' quelvonque, mais qui n’est pas unique et exclusive (Analogies, p. 72). Man höre z. B. drei der Weckerträume Hildebrandts; man wird sich dann die Frage vor-zulegen haben, warum der selbe Reiz so verschiedene, und warum er gerade diese Traum erfelge hervorrief: § 161(S. 57.) „Also ich gehe an einem Frühlingsrriorgeh spazieren
und schlendre durch die grünenden Felder weiter bis zu einem benachbarten Dorfe, dort sehe ich die Bewohner in Feierkleidern, das Gesangbuch unter dem Arm, zahlreich der Kirche zuwandern. Richtig! Es ist ja Sonntag, und der Frühgottesdienst wird bald beginnen. Ich beschließe, an diesem teilzunehmen, zuvor aber, weil ich etwas echauffiert hin, auf dem die Kirche umgebenden Friedhofe mich abzukühlen. Während ich hier verschiedene Grab— sc_hriften lese, höre ich den Glöckner den Turm hinansteigen, und sehe nun in der Höhe des letzteren die kleine Dorfglocke, die das Zeichen zum Beginn der Andacht geben wird. Noch eine ganze Weile hängt sie _beweg'ungslos da, dann fängt sie an zu schwingen — und plötzlich ertönen ihre Schläge hell und durchdringend — so hell und durchdringend, daß sie meinem Schlaf ein Ende machen. Die Glockentöne aber kommen von dem Wecker.“ § 162„Eine zweite Kombination. Es ist heller Wintertag; die Straßen
sind hoch mit Schnee bedeckt. Ich habe meine Teilnahme an einer Schlittenfahrt zugesagt, muß aber lange warten, bis die Mel— dung erfolgt, der Schlitten stehe vor der Tür. Jetzt erfolgen die Vorbereitungen zum Einsteigen — der Pelz wird angelegt, der § 163§ 164
Die Verkennung des objektiven Sinnésreizes . 51
§ 165Fußsack hervorgeholt —- und endlich sitze ich auf meinem Platze.
Aber noch verzögert sich die Abfahrt, bis die Zügelden herrenden Russen das fühlbare Zeichen geben. Nun ziehen diese an:, die kräftig geschüttelten Schellen beginnen ihre wohlbekannte Janit— scharenmusik mit einer Mächtigkeit, die augenblicklich das Spinn— gewebe des Traumes zerreißt. Wieder ist’s nichts anderes, als der schrille Ton der Weckerglocke.“ § 166_„Noch das dritte Beispiel! Ich sehe ein Küchenmädchen mit
einigen Dutzend aufgetürrnter Teller den Korridor entlang zum Speisezimmer schreiten. Die Porzellansäule ' in ihren Armen scheint mir in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren. ,Nimm dich in acht‘, warne ich, ,die ganze Ladung wird zur Erde fallen.‘ Na— türlich bleibt der obligate Widerspruch nicht aus: man sei der gleichen schon gewohnt usw., während dessen ich noch immer mit Blicken der Besorgnis die Wandelnde begleite. Richtig, an der Türschwelle erfolgt ein Straucheln, — das zerbrechliche Geschirr fällt und rasselt und prasselt in hundert Scherben auf dem Fuß— boden umher. Aber —- das endlos sich fortsetzende Getön ist doch, wie ich bald merke, kein eigentliches Rasseln, sondern ein rich tiges Klingeln; — und mit. diesem Klingeln hat, wie nunmehr der Erwachende erkennt, nur der Wecker seine Schuldigkeit getan.“ ' § 167Die Frage, warum die Seele im Traum die Natur des objek
tiven Sinnesreizes verkenne, ist von Strümpell — und fast ebenso von Wundt — dahin beantwortet werden, daß sie sich gegen solche im Schlaf angreifende Reize unter den Bedingungen der Illusionsbildung befindet. Ein Sinneseindruck wird von uns erkannt, richtig gedeutet, d. h. unter die Erinnerungsgruppe eingereiht, in die er nach allen vorausgegangenen Erfahrungen gehört, wenn der Eindruck stark, deutlich, dauerhaft genug ist, und wenn uns die für diese Überlegung erforderliche Zeit zu Gebote steht. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so verkennen wir das Objekt, von dem der Eindruck herrührt; wir bilden auf Grund desselben eine § 168§ 169
52 I. Die wissemchaflliche Literatur der Traumprobleme
§ 170Illusion. „Wenn jemand auf freiem Felde spazieren geht und einen
entfernten Gegenstand undeutlich wahrnimmt, kann es kommen, daß er denselben zuerst für ein Pferd hält.“ Bei näherern Zusehen kann die Deutung einer ruhenden Kuh sich aufdrängen, und end lich kann sich die Vorstellung mit Bestimmtheit in die einer Gruppe von sitzenden Menschen auflösen. “Ähnlich unbeitimmter Natur sind nun die Eindrücke, welche die Seele im Schlafe durch äußere Reize empfängt; sie bildet auf Grund derselben Illusionen, indem durch den Eindruck eine größere oder kleinere Anzahl von Erinnerungsbildern wachgerufen wird, durch welche der Ein druck seinen psychischen Wert bekommt. Aus welchem der vielen in Betracht kommenden Erinnerungskreise die zugehörigen Bilder geweckt werden, und welche der möglichen Assoziationsbeziehun gen dabei in Kraft treten, dies bleibt auch nach Strümpell un bestimmbar und gleichsam der Willkür des Seelenlebens über lassen. § 171Wir stehen hier vor einer Wahl. Wir können zugeben,
daß die Gesetzmäßigkeit in der Traumbildung wirklich nicht weiter zu verfolgen ist, und somit verzichten zu fragen, ob die Deutung der durch den Sinneseindruck hervorgerufenen Illusion nicht noch anderen Bedingungen unterliegt. Oder wir können auf die Vermutung geraten, daß die im Schlaf angreifende ob jektive Sinnesreizung als Traumquelle nur eine bescheidene Rolle spielt, und daß andere Momente die Auswahl der wachzurufenden Erinnerungsbilder determinieren. In der Tat, wenn man die ex perimentell erzeugten Träume Maurys prüft, die ich in dieser Absicht so ausführlich mitgetth habe, so ist man versucht zu sagen, der angestellte Versuch deckt eigentlich nur eines der Traumelemente nach seiner Herkunft, und der übrige Trauminhalt erscheint vielmehr zu selbständig, zu sehr im einzelnen bestimmt, als daß er durch die eine Anforderung, er müsse sich mit dem experimentell eingeführten Element vertragen, aufgeklärt werden könnte. Ja, man beginnt selbst an der Illusionstheorie und an der § 172§ 173
Innere (subjektive) Sinneserregung 55
§ 174Macht des objektiven Eindrucks, den Traum zu gestalten, zu
zweifeln, wenn man erfährt, daß dieser Eindruck gelegentlich die allersonderbarste und entlegenste Deutung im Traume erfährt. So erzählt z. E. M. Simon einen Traum, in dem er riesenhafte Per sonen bei Tische sitzen sah und deutlich das furchtbare Gekla'pper hörte, das ihre aufeinander schlagenden Kiefer beim Kamen er zeugten. Als er erwachte, hörte er den Hufschlag eines vor seinem Fenster vorbeigaloppierenden Pferdes. Wenn hier der Lärm der Pferdehufe gerade Vorstellungen aus dem Erinnerungskreis von Gullivers Reisen, Aufenthalt bei den Riesen von Brohdingnag § 175und bei den tugendhaften Pferdewesen wachgerufen hat, —— wie
ich ohne alle Unterstützung von Seite des Autors etwa deuten möchte — sollte die Auswahl dieses für den Reiz so ungewöhn— § 176lichen Erinnerungskreises nicht außerdem durch andere Motive
erleichtert gewesen sein? [5 11] § 177Ad 2) Innere (subjektive) Sinneserregung
§ 178Allen Einwendungen zum Trotz wird man zugeben müssen,
daß die Rolle objektiver Sinneserreg'ungen während des Schlafes als Traumerreger unbestritten feststeht, und wenn diese Reize ihrer Natur und Häufigkeit nach vielleicht unzureichend erscheinen, um alle Traumbilder zu erklären, so wird man darauf hingewiesen, nach anderen7 aber ihnen analog wirkenden Traumquellen zu suchen. Ich weiß nun nicht, wo zuerst der Gedanke aufgetaucht ist, neben den äußeren Sinnesreizen die inneren (subjektiven) Er regungen in den Sinnesorganen in Anspruch zu nehmen; es ist aber Tatsache, daß dies in allen neueren Darstellungen der Traum— ätiologie mehr oder minder nachdrücklich geschieht. „Eine wesent liche Rolle spielen ferner, wie ich glaube“, sagt W'undt (S. 565), „bei den Traumillusionen jene subjektiven Gesichts- und Gehörs— empfindungen, die uns aus dem wachen Zustande als Lichtchaos des dunkeln Gesichtsfeldes, als Ohrenklingen, Ohrensausen usw. § 179bekannt sind, unter ihnen namentlich die subjektiven Netzhaut—
§ 180Freud. n. 5
§ 181§ 182
54. I. Die wissemchdflliche Literatur der Traumprableme
§ 183erregungen. So erklärt sich die merkwürdige Neigung des Traumes,
ähnliche oder ganz übereinstimmende Objekte in der Mehrzahl dem Auge vorzuzaubern. Zahllose Vögel, Schmetterlinge, Fische, bunte Perlen, Blumen u. dgl. sehen wir vor uns ausgebreitet. Hier‘ hat der Lichtstaub des dunkeln Gesichtsfeldes phantastische Gestalt angenommen, und die zahlreichen Lichtpunkte, aus denen derselbe besteht, werden von dem Traum in ebenso vielen Einzel bildern verkörpert, die wegen der Beweglichkeit des Lichtchaos als bewegte Gegenstände angeséhaut werden. —- Hierin wurzelt wohl auch die große Neigung des Traumes zu den mannigfachsten Tiergestalten, deren Formenreichtum sich der besonderen Form der subjektiven Lichtbilder leicht anschmiegt.“ ' § 184Die subjektiven Sinneserregungen haben als Quelle der Traum
bilder offenbar den Vorzug, daß sie nicht wie die objektiven vom äußeren Zufall abhängig sind. Sie stehen sozusagen der Erklärung zu Gebote, so oft diese ihrer bedarf. Sie stehen aber hinter den objektiven Sinnesreizen darin zurück, daß sie jener Bestätigung ihrer Rolle als Traumerreger, welche Beobachtung und Experiment bei den letzteren ergeben, nur schwer oder gar nicht zugänglich sind. Den Haupterweis für die traumerregende Macht subjektiver Sinneserregungen erbringen die sogenannten hypnagogischen Halluzinationen, die von Joh. Müller als „phantastische Gesichts— erscheinungen“ beschrieben werden sind. Es sind die; oft sehr lebhafte, wechselvolle Bilder, die sich in der Periode des Ein schlafens, bei vielen Menschen ganz regelmäßig, einzustellen pflegen, und auch nach dem Öffnen der Augen eine Weile -be stehen bleiben können. Maury, der ihnen im hohen Grade unterworfen war, hat ihnen eine eingehende Würdigung zuge wendet und ihren Zusammenhang, ja vielmehr ihre Identität mit den Traumbildern (wie übrigens schon Joh. Müller) behauptet. Für ihre Entstehung, sagt Maury, ist eine gewisse seelische Passivität, ein Nachlaß der Aufmerksamkeitsspannung erforderlich. (S. 59 u. f.) Es genügt aber, daß man auf eine Sekunde in § 185§ 186
H ypnagogische }Ialluzinationen 55
§ 187solche Lethargie verfalle, um bei sonstiger Disposition eine
hypnagogische Halluzination zu sehen, nach der man vielleicht wieder aufwacht, bis das sich mehrmals wiederholende Spiel mit. dem Einschlafen endigt. Erwacht man dann nach nicht zu langer Zeit, so gelingt es nach Maury häufig, im Traum dieselben Bilder nachzuweisen, die einem als hypnagogische Halluzinationen vor dem Einschlafen vorgeschwebt haben. (S. 154..) So erging es Maury einmal mit einer Reihe von grotesken Gestalten mit. verzerrten Mienen und sonderbaren Frisuren, die ihn mit un glaublicher Aufdringlichkeit in der Periode des Einschlafens belästigten, und von denen er nach dem Erwachen sich erinnerte geträumt zu haben. Ein andermal, als er gerade an Hungergei'ühl litt, weil er sich schmale Diät auferlegt hatte, sah er hypnagogisch eine Schüssel und eine mit einer Gabel bewaffnete Hand, die sich etwas von der Speise in der Schüssel holte. Im Traume befand er sich an einer reichgedeckten Tafel und hörte das Geräusch, das die Speisenden mit ihren Gabeln machten. Ein andermal, als er mit gereiz‘teri und schmeizenden Augen einschlief, hatte er die hypnagogische Halluzination von mikroskopisch kleinen Zeichen, die er mit großer Anstrengung einzeln entzifl'em mußte; nach einer Stunde aus dem Schlafe geweckt, erinnerte er sich an einen Traum, in dem ein aufgeschlagenes Buch, mit sehr kleinen Lettern gedruckt, vorkam, welches er mühselig hatte durch— lesen müssen. § 188Ganz ähnlich wie diese Bilder können auch Gehörshalluzi
nationen von Worten, Namen usw. hypnagogisch auftreten und dann im Traum sich wiederholen, als Ouverture gleichsam, welche die Leitmotive der mit ihr beginnenden Oper an— kündigt. § 189Auf den nämlichen Wegen wie Joh. Müller und Maury
wandelt ein neuerer Beobachter der hypnagogischen Halluzinationen, G. Trumbull Ladd. Er brachte es durch Übung dahin, daß er sich zwei bis fünf Minuten nach dem allmählichen Einschlafen § 1905'
§ 191§ 192
56 I. Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 193jäh aus dem Schlaf reißen konnte, ohne die Augen zu öffnen,
und hatte dann die Gelegenheit, die eben entschwindenden Netzhaut— empfindungen mit den in der Erinnerung überlebenden Traum— bildern zu vergleichen. Er versichert, daß sich jedesmal eine innige Beziehung zwischen beiden erkennen ließ in der Weise, daß die leuchtenden Punkte und Linien des Eigenlichtes der Netzhaut gleichsam die Umrißzeichnung, das Schema für die psychisch wahrgenommenen Traumgestalten brachten. Einen Traum z. B., in welchem er deutlich gedruckte Zeilen vor sich sah, die er las und studierte, entsprach eine Anordnung der leuchtenden Punkte in der Netzhaut in parallelen Linien. Um es mit seinen Worten zu sagen: Die klar bedruckte Seite, die er im ”Traum gelesen, löste sich in ein Objekt auf, das seiner wachen Wahr— nehmung erschien wie ein Stück eines reellen bedruckten Blattes, das man aus allzu großer Entfernung, um etwas deutlich auszu nehmen, durch ein Löchelchen in einem Stück Papier ansicht. Ladd meint, ohne übrigens den zentralen Anteil des Phänomens zu unterschätzen, daß kaum ein visueller Traum in uns abläuft, der sich nicht an das Material der inneren Erregungszustände der Netzhaut anlehnte. Besonders gilt dies für die Träume kurz nach dem Einschlafen im dunkeln Zimmer, während‘für die Träume am Morgen nahe dem Erwachen das objektive, im er hellten Zimmer ins Auge dringende Licht die Beizquelle abgebe. Der wechselvolle, unendlich abänderungsfähige Charakter der Eigenlichterregung entspricht genau der unruhigen Bilderflucht, die unsere Träume uns verführen. Wenn man den Beobachtungen von Ladd Bedeutung beimißt, wird man die Ergiebigkeit dieser subjektiven Reizquelle für den Traum nicht gering anschlagen können, denn Gesichtsbilder machen bekanntlich den Haupt-" bestandteil unserer Träume aus. Der Beitrag von anderen Sinnesgebieten bis auf den des Gehörs ist geringfügiger und inkonstant. ‘ § 194§ 195
Innerer, organischer Leibreiz 57
§ 196ad }) Innerer, organischer Leibreiz
§ 197Wenn wir auf dem Wege sind, die Traumquellen nicht außer
halb, sondern innerhalb des Organismus zu suchen, so müssen wir uns daran erinnern, daß fast alle unsere inneren Organe, die im Zustande der Gesundheit uns kaum Kunde von ihrem Bestand geben, in Zuständen von Reizung —' die wir so heißen —— oder .in Krankheiten eine Quelle von meist peinlichen Empfindungen für uns werden, welche den Erregem der von außen anlangenden Schxnerz- und Empfindungsreize gleichgestellt werden muß. Es sind sehr alte Erfahrungen, welche z. B. Strümpell zu der Aussage veranlassen (S. 107): „Die Seele gelangt im Schlaf zu einem viel tieferen und breiteren Empfindungsbewußtsein von ihrer Leiblichkeit als im Wachen, und ist genötigt, gewisse Reizeindrücke zu empfangen und auf sich wirken zu lassen, die aus Teilen und Veränderungen ihres Körpers herstammen, von denen sie im Wachen nichts wußte.“ Schon Aristoteles erklärt es für sehr wohl möglich, daß man im Traum auf beginnende Krankheitszustände aufmerksam gemacht würde, von denen man im Wachen noch nichts merkt (kraft der Vergrößerung, die der Traum den Eindrücken angedeihen läßt, siehe oben S. 8), und ärztliche Autoren, deren Anschauung es sicherlich ferne lag, an eine prophetische Gabe des Traumes zu glauben, haben wenigstens für die Krankheitsankündigung diese Bedeutung des Traumes gelten lassen. (Vgl. M. Simon, S. 51, und viele ältere Autoren.) [E12] § 198Es scheint an beglaubigten Beispielen für solche diagnostische
Leistungen des Traumes auch aus neuerer Zeit nicht zu fehlen. So 2. B. berichtet Tissié nach Artigues (Essai sur la valeur séméiologique des réves) die Geschichte einer dreiundvierzigjährigen Frau, die durch einige Jahre in scheinbar voller Gesundheit von Angstträumen heimgesucht wurde und bei der ärztliche Unter suchung dann eine beginnende Herzaffektion aufwies, welcher sie alsbald erlag. § 199§ 200
58 I. Die wirsenschaftliche Literatur der Traumprableme
§ 201Ausgebildete Störungen der inneren Organe wirken offenbar
bei einer ganzen Reihe von Personen als Traumerreger. All gemein wird auf die Häufigkeit der Angstträume bei Herz- und Lungenkranken hingewiesen, ja diese Beziehung des Traumlebens wird von vielen Autoren so sehr in den Vordergrund gedrängt, daß ich mich hier mit der bloßen Verweisung auf die Literatur (Radestock, Spitta, Maury, M. Simon, Tissié) begnügen kann. Tissié meint sogar, daß die erkrankten Organe dem Trauminhalt das charakteristische Gepräge aufdrücken. Die Träume der Hen kranken sind gewöhnlich sehr kurz und enden mit schreckhaftem Erwachen; fast immer spielt im Inhalt derselben die Situation des Todes unter gräßlichen Umständen eine Rolle. Die Lungen— kranken träumen vom Ersticken, Gedränge, Flucht und sind in auffälliger Zahl dem bekannten Alptraum unterworfen, den übrigens Börner durch Lagerung aufs Gesicht, durch Verdeckung der Respirationsöfl'nungen experimentell hat hervorrufen können. Bei Digestionsstömngen enthält der Traum Vorstellungen aus dem Kreise des Genießens und des Ekels. Der Einfluß sexueller Er regung endlich auf den Inhalt der Träume ist für die Erfahrung eines jeden Einzelnen greifbar genug und leiht der ganzen Lehre von der Traumerregung durch Organreiz ihre stärkste Stütze. § 202Es ist auch, wenn man die Literatur des Traumes’durch
arbeitet, ganz unverkennbar, daß einzelne der Autoren (Maury, Weygandt) durch den Einfluß ihrer eigenen Krankheitszustände auf den Inhalt ihrer Träume zur Beschäftigung mit den Traum problemen geführt werden sind. § 203Der Zuwachs an Traumquellen aus diesen unzweifelhaft fest
gestellten Tatsachen ist übrigens nicht so bedeutsam, als man meinen möchte. Der Traum ist ja ein Phänomen, das sich bei Gesunden — vielleicht bei allen, vielleicht allnächtlich — ein stellt, und das Organerkrankung offenbar nicht zu seinen unent— behrlichen Bedingungen zählt. Es handelt sich für uns aber nicht darum, woher besondere Träume rühren, sondern was für § 204§ 205
„Le moi splanchnique“ 59
§ 206die gewöhnlichen Träume normaler Menschen die Reizquelle
sein mag. § 207Indes bedarf es jetzt nur eines Schrittes weiter, um auf eine
Traumquelle zu stoßen, die reichlicher fließt als jede frühere und eigentlich für keinen Fall zu versiegen verspricht. Wenn es sichergestth ist, daß das Körperinnere im kranken Zustande zur Quelle der Traumreize wird, und wenn wir zugeben, daß die Seele im Schlafzustande, von der Außenwelt abgelenkt, dem Innern des Leibes größere Aufmerksamkeit zuwenden kann, so liegt es nahe anzunehmen, daß die Organe nicht erst zu erkranken brauchen, um Erregungen, die irgendwie zu Traumbildern werden, an die schlafende Seele gelangen zu lassen. Was wir im Wachen dumpf als Gemeingefühl nur seiner Qualität nach wahrnehmen, und wozu nach der Meinung der Ärzte alle Organsysteme ihre Beiträge leisten, das würde nachts, zur kräftigen Einwirkung gelangt und mit seinen einzelnen Komponenten tätig, die mäch— tigste und gleichzeitig die gewöhnlichste Quelle für die Er weckung der Traumvorstellungen ergeben. Es erübrigte dann noch die Untersuchung, nach welchen Regeln sich die Organreize in Traumvorstellungen umsetzen. § 208Wir haben hier jene Theorie der Traumentstehung berührt,
welche die bevorzugte bei allen ärztlichen Autoren geworden ist. Das Dunkel, in welches der Kern unseres Wesens, das „moi splanchnique“ wie Tissié es nennt, für unsere Kenntnisse gehüllt ist, und das Dunkel der Traumentstehung entsprechen einander zu gut, um nicht in Beziehung zueinander gebracht zu werden. Der Ideengang, welcher die vegetative Organempfmdung zum Traumbildner macht, hat überdies für den Arzt den anderen Anreiz, daß er Traum und Geistesstörung, die soviel Überein stimmung in ihren Erscheinungen zeigen, auch ätiologisch vereinigen läßt, denn Alterationen des Gemeingefühls und Reize, die von den inneren Organen ausgehen, werden auch einer weit— reichenden Bedeutung für die Entstehung der Psychosen be— § 209§ 210
40 I. Die wzlvsenschaftlüshe Literatur der Traumprobleme
§ 211ziehtigt. Es ist darum nicht zu verwundem, wenn die Leibreiz- '
theorie sich auf mehr als einen Urheber, der sie selbständig an— gegeben, zurückfiihren läßt. § 212Für eine Reihe von Autoren wurde der Gedankengang maß—
gebend, den der Philosoph Schopenhauer im Jahre 1851 ent— wickelt hat. Das Weltbild entsteht in uns dadurch, daß unser Intellekt die ihn von außen treffenden Eindrücke in die Formen der Zeit, des Raumes und der Kausalität umgießt. Die Reize aus dem Inneren des Organismus, vom sympathischen Nervensystem her, äußern bei Tag höchstens einen unbewußten Einfluß auf unsere Stimmung. Bei Nacht aber, wenn die übertäubende Wirkung der Tageseindrücke aufgehört hat, vermögen jene aus dem Innern heraufdringenden Eindrücke sich Aufmerksamkeit zu verschaffen—— ähnlich wie wir bei Nacht die Quelle rieseln hören, die der Lärm des Tages unvernehmbar machte. Wie anders aber soll der Intellekt auf diese Reize reagieren, als indem er seineihm eigen— tümliche Funktion vollzieht? Er wird also die Reize zu raum und zeiterfüllenden Gestalten, die sich am Leitfaden der Kausalität bewegen, umformen, und so entsteht der Traum. In die nähere Beziehung zwischen Leibreizen und Traumbildern versuchten dann Scherner und nach ihm Volkelt einzudringen, deren Würdigung wir uns auf den Abschnitt über die Traumtheorien aufsparen. § 213In einer besonders konsequent durchgeführten Untersuchung
hat der Psychiater Krauß die Entstehung des Traumes wie der Delirien und Wahnideen von dem nämlichen Element, der organisch bedingten Empfindung, abgeleitet.Es lasse sich kaum eine Stelle des Organismus denken, welche nicht der Ausgangs punkt eines Traumes oder Wahnbildes werden können Die organisch bedingte Empfindung „läßt sich aber in zwei Reihen trennen: I) in die der Totalstimmungen (Gemeingefühle), 2) in die spezifischen, den Hauptsystemen des vegetativen Organismus immanenten Sensationen, wovon wir fünf Gruppen unterschieden § 214§ 215
Theorien von Schapenhalwr und Krauß 41
§ 216haben, a) die Muskelempfindungen, b) die?neumatischen, c) die
gastrischen, d) die sexuellen und e) die peripherischen“. (S. 55 des zweiten Artikels.) § 217Den Hergang der Traumbilderentstehung auf Grund der Leib
reize nimmt Krauß folgendermaßen an: Die geweckte Empfin dung ruft nach irgend einem Assoziationsgesetz eine ihr verwandte Vorstellung wach und verbindet sich mit ihr zu einem organischen Gebilde, gegen welches sich aber das Bewußtsein anders verhält als normal. Denn dies schenkt der Empfindung selbst keine Auf— merksamkeit, sondern wendet sie ganz den begleitenden Vor stellungen zu., was zugleich der Grund ist, warum dieser Sach— verhalt so lange verkannt werden konnte. (S. 11 u. f.) Kratiß findet für den Vorgang auch den besonderen Ausdruck der Transsub$tantiation der Empfindungen in Traumbilder. (S. 24..) § 218Der Einfluß der organischen Leibreize auf die Traumbildung
wird heute nahezu allgemein angenommen, die Frage nach dem Gesetz der Beziehung zwischen beiden sehr verschiedenartig, oftmals mit dunkeln Auskünften, beantwortet. Es ergibt sich nun auf dem Boden der Leibreiztheorie die besondere Aufgabe der Traumdeutung, den Inhalt eines Traumes auf die ihn verur sachenden organischen Reize zurückzuführen, und wenn man nicht die von Scherner aufgefundenen Deutungsregeln anerkennt, steht man oft vor der mißlichen Tatsache, daß die organische Reizquelle sich eben durch nichts anderes als durch den Inhalt des Traumes verrät. § 219Ziemlich übereinstimmend hat sich aber die Deutung ver—
schiedener Traumformen gestaltet, die man als „typische“ be zeichnet hat, weil sie bei so vielen Personen mit ganz ähnlichem Inhalt wiederkehren. Es sind dies die bekannten Träume vom Herabfallen von einer Höhe, vom Zahnausfallen, vom vFliegen und von der Verlegenheit, daß man nackt oder schlecht bekleidet ist. Letzterer Traum soll einfach von der im Schlaf gemachten Wahrnehmung herrühren, daß man die Bettdecke abgeworfen § 220§ 221
4.9. I. Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobkme
§ 222hat und nun entblößt daliegt. Der Traum vom Zahnausfallen
wird auf „Zahnreiz“ zurückgeführt, womit aber nicht ein krank hafter Erregungszustand der Zähne gemeint zu sein braucht. Der Traum zu fliegen ist nach Strümpell das von der Seele ge brauchte adäquate Bild, womit sie das von den auf— und nieder steigenden Lungenflügeln ausgehende Reizquantüm deutet, wenn gleichzeitig das Hautgefühl des Thorax schon bis zur Bewußt— losigkeit herabgesunken ist. Durch den letzteren Umstand wird die an die Vorstellungsform des Schwebens gebundene Empfindung vermittelt. Das Herabfallen aus der Höhe soll darin seinen Anlaß haben, daß bei eingetretener Bewußtlosigkeit des Hautdruck gefühles entweder ein Arm vom Körper herabsinkt oder ein ein— gezogenes Knie plötzlich gestreckt wird, wodurch das Gefühl des Hautdruckes wieder bewußt wird, der Übergang zuin Bewußt werden aber als Traum vom Niederfallen sich psychisch ver körpert (Strümpell, S. 118). Die Schwäche dieser plausibeln Erklärungsversuche liegt offenbar darin, daß sie ohne weiteren Anhalt die oder jene Gruppe von Organempfi'ndungen aus der seelischen Wahrnehmung verschwinden oder sich ihr aufdrängen lassen, bis die für die Erklärung günstige Konstellation hergestth ist. Ich werde übrigens später Gelegenheit haben, auf die typischen Träume und ihre Entstehung zurückzukommen. § 223M. Simon hat versucht, aus der Vergleichung einer Reihe
von ähnlichen Träumen einige Regeln für den Einfluß der Organreize auf die Bestimmung ihrer Traumerfolge abzuleiten. Er sagt (S. 54): Wenn im Schlaf irgend ein Organapparat, der normaler Weise am Ausdruck eines Afl'ektes beteiligt ist, durch irgend einen anderen Anlaß sich in dem Erregungszustande be findet, in den er sonst bei jenem Affekt versetzt wird, so wird der dabei entstehende Traum Vorstellungen enthalten, die dem Affekt angepaßt sind. § 224Eine andere Regel lautet (S. 55): Wenn ein Organapparat sich
im Schlafe in Tätigkeit, Erregung oder Störung befindet, so wird § 225§ 226
Leibrzizrräume ’ 45
§ 227der Traum Vorstellungen bringen, welche sich auf die Ausübung
der organischen Funktion beziehen, die jener Apparat versieht. § 228Mourly Vold hat es unternommen, den von der Leibreiz—
theorie supponierten Einfluß auf die Traumerzeugung für ein einzelnes Gebiet experimentell zu erweisen. Er hat Versuche gemacht, die Stellungen der Glieder des Schlafenden zu verändern und die Traumerfolge mit seinen Abänderungen verglichen. Er teilt folgende Sätze als Ergebnis mit. § 229I) Die Stellung eines Gliedes im Traum entspricht ungefähr
der in der Wirklichkeit, d. h. man träumt von einem statischen Zustand des Gliedes, welcher dem realen entspricht. § 2302) Wenn man von der Bewegung eines Gliedes träumt, so ist
diese immer so, daß eine der bei ihrer Vollziehung vorkommenden Stellungen der wirklichen entspricht. § 231}) Man kann die Stellung des eigenen Gliedes im Traum
auch einer fremden Person zuschieben. } , § 2324) Man kann auch träumen, daß die betreffende Bewegung
gehindert ist. § 233; ) Das Glied in der betreffenden Stellung kann im Traum als
Tier oder Ungeheuer erscheinen, wobei eine gewisse Analogie beider hergestellt wird. § 2346) Die Stellung eines Gliedes kann im Traum Gedanken an—
regen, die zu diesem Glied irgend eine Beziehung haben, so z. B. träumt man bei Beschäftigung mit den Fingern von Zahlen. § 235Ich würde aus solchen Ergebnissen schließen, daß auch die
Leibreiztheorie die scheinbare Freiheit in der Bestimmung der zu erweckenden Traumbilder nicht gänzlich auszulöschen vermag. [E13] § 236ad 4) Psychische Reizquellen
§ 237Als wir die Beziehungen des Traumes zum Wachleben und
die Herkunft des Traummaten'als behandelten, erfuhren wir, es sei die Ansicht der ältesten wie der neuesten Traumforscher, daß die Menschen von dem träumen, was sie bei Tag treiben und § 238§ 239
44, I. Die wissenschaftlich Literatur der Traumprobleme
§ 240was sie im Wachen interessiert. Dieses aus dem Wachleben in
den Schlaf sich fortsetzende Interesse wäre nicht nur ein psy chisches Band, das den Traum aus Leben knüpft, sondern ergibt uns auch eine nicht zu unterschätzende Traumquelle, die lieben dem im Schlaf interessant Gewordenen — den während des Schlafes einwirkenden Reizen, — ausreichen sollte, die Herkunft aller Traumbilder aufzuklären. Wir haben aber auch den Wider spruch gegen obige Behauptung gehört, nämlich daß der Traum den Schläfer von den Interessen des Tages abzieht, und daß wir — meistens — von den Dingen, die uns bei Tag am meisten er— griffen haben, erst dann träumen, wenn sie für das Wachleben den Reiz der Aktualität verloren haben. So erhalten wir in der Analyse des Traumlebens bei jedem Schritt -den Eindrui:k, daß es unstatthaft ist, allgemeine Regeln aufzustellen, ohne durch ein „oft“, „in der Regel“,-„meistens“ Einschränkungen vorzusehen und auf die Gültigkeit der Ausnahmen vorzubereiten. § 241Wenn das Wachinteresse nebst den inneren und äußeren
Schlafreizen zur Deckung der Traumätiologie , ausreichte, so müßten wir imstande sein, von der Herkunft aller Elemente eines Traumes befriedigende Rechenschaft zu geben; das Rätsel der Traumquellen wäre gelöst, und es bliebe noch die Aufgabe, den Anteil der psychischen und der sometischen Traumreize in den einzelnen Träumen abzugrenzen. In Wirklichkeit ist diese vollständige Auflösung eines Traumes noch in keinem Falle gelungen, und jedem, der dies versucht hat, sind — meist sehr reichlich — Traumbestandteile übrig geblieben, über deren Her— kunft er keine Aussage machen konnte. Das Tagesinteresse als psychische Traumquelle trägt offenbar nicht so weit, als man nach den zuversichtlichen Behauptungen, daß jeder im Traum sein Geschäft weiter betreibe, erwarten sollte. § 242Andere psychische Traumquellen sind nicht bekannt. Es lassen
also alle in der Literatur vertretenen Traumerklärlmgen —- mit Ausnahme etwa der später zu erwähnenden von Scherner — § 243§ 244
Die psychischen Traumquellen, 45
§ 245eine große Lücke offen, wo es sich um die Ableitung des für
den Traum am meisten charakteristischen Materials an Vor— stellungshildern handelt. In dieser Verlegenheit hat die Mehrzahl der Autoren die Neigung entwickelt, den psychischen Anteil an der Traumerregung, dem so schwer beizukommen ist, möglichst zu verkleinern. Sie unterscheiden zwar als Haupteinteilung den Nervenreiz- und den Assoziationstraurn, welch letzterer aus schließlich in der Reproduktion seine Quelle findet (Wundt, S. 565), aber sie können den Zweifel nicht los werden, „ob sie sich ohne anstoßgebenden Leibreiz einstellen“ (Volkelt, S. 197). Auch die Charakteristik des reinen Assoziationstraumes versagt: „In den eigentlichen Assoziationstr'a'umen kann von einem solchen festen Kern nicht mehr die Rede sein. Hier dringt die lose Gruppierung auch in den Mittelpunkt des Traumes ein. Das ohnedies von Vernunft und Verstand freigelassene Vor— stellungslehen ist hier auch von jenen gewichtvolleren Leib- und Seelenerregungen nicht mehr zusammengehalten und. so seinem eigenen bunten Schieben und Treiben, seinem eigenen lockeren Durcheinandertaumeln überlassen“ (Volkelt, S. 118). Eine Ver— kleinerung des psychischen Anteils an der Traumerregung ver sucht dann Wundt, indem er ausführt, daß man die „Phan tasmen des Traumes wohl mit Unrecht als reine Halluzi nationen ansehe. Wahrscheinlich sind die meisten Traumvor stellungen in Wirklichkeit Illusionen, indem sie von den leisen Sinneseindrücken ausgehen, die niemals im Schlafe erlöschen“ (S. 559 u. f.). Weygandt hat sich diese Ansicht angeeignet und sie verallgemeinert. Er behauptet für alle Traumvoxstellungen, daß „ihre nächste Ursache Sinnesreize sind, daran erst schließen sich reproduktive Assoziationen“ (S. 17). Noch weiter in der Ver— drängung der psychischen Reizquellen geht Tissié (p. 185): Les réves :forigl'ne absolument psychique n’existerzt pas, und § 246andelswo (p. 6): les pense'es de nos réves nous viennent du
dehors . . . § 247§ 248
46 I. Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 249Diejenigen Autoren, welche wie der einflußreiche Philosoph
Wundt eine Mittelstellung einnehmen, versäumen nicht anzu merken, daß in den meisten Träumen somatische Reize und die unbekannten oder als Tagesinteresse erkannten psychischen An— reger des Traumes zusammenwirken. § 250Wir werden später erfahren, daß das Rätsel der Traumbildung
durch die Aufdeckung einer unverrnuteten psychischen Reizquelle gelöst werden kann. Vorläufig wollen wir uns über die Über schätzung der nicht aus dem Seelenleben stammenden Reize zur Tramnhildung nicht verwundern. Nicht nur daß diese allein leicht aufzufinden und. selbst durchs Experiment zu bestätigen sind; es entspricht auch die somatische Auffassung der Traumentstehung durchwegs der heute in der Psychiatrie herrschenden Denkrich tung. Die Herrschaft des Gehirns über den Organismus wird zwar nachdrücklichst betont, aber alles, was eine Unabhängigkeit des Seelenlebens von nachweisbaren organischen Veränderungen oder eine Spontaneität in dessen Äußerungen erweisen könnte, schreckt den Psychiater heute so, als ob dessen Anerkennung die Zeiten der Naturphilosophie und des metaphysischen Seelenwesens wiederbringen müßte. Das Mißtrauen des Psychiaters hat die Psyche gleichsam unter Kuratel gesetzt und fordert nun, daß keine ihrer Regungen ein ihr eigenes Vermögen verrate. Doch zeigt dies Benehmen von nichts anderem als von einem geringen Zutrauen in die Haltbarkeit der Kausalverkettung, die sich zwischen Leiblichem und Seelischem erstreckt. Selbst wo das Psychische sich bei der Erforschung als der primäre Anlaß eines Phänomens erkennen läßt, wird ein tieferes Eindring'en die Fortsetzung des Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen einmal zu finden wissen. Wo aber das Psychische für unsere derzeitige Er— kenntnis die Endstation bedeuten müßte, da braucht es darum nicht geleugnet zu werden. § 251§ 252
Das Vergessen der Träume 4.7
§ 253D
§ 254Warum man den Traum nach dem Erwachen
§ 255vergr'ßt?
§ 256Daß der Traum am Morgen „zerrinnt“, ist sprichwörtlich.
Freilich ist er der Erinnerung fähig. Denn wir kennen den Traum ja nur aus der Erinnemng an ihn nach dem Erwachen; aber wir glauben sehr oft, daß wir ihn nur unvollständig erinnern, während in der Nacht mehr von ihm da war; wir können be— obachten, wie eine des Morgens noch lebhafte Traumerinnerung im Laufe des Tages bis auf kleine Brocken dahinschwindet; wir wissen oft, daß wir geträumt haben, aber nicht, was wir ge träumt haben, und wir sind an die Erfahrung, daß der Traum dem Vergessen unterworfen ist, so gewöhnt, daß wir die Möglich— keit nicht als absurd verwerfen, daß auch der bei Nacht geträumt haben könnte, der am Morgen weder vom Inhalt noch von der Tatsache des Träumens etwas weiß. Anderseits kommt es vor, daß Träume eine außerordentliche Haltbarkeit im Gedächtnisse zeigen. Ich habe bei meinen Patienten Träume analysiert, die sich ihnen vor fünfundzwanzig und mehr Jahren ereiguet hatten, und kann mich an einen eigenen Traum erinnern, der durch mindestens siehenunddreißig Jahre vom heutigen Tage getrennt ist und doch an seiner Gedächtnisfrische nichts eingebüßt hat. Dies alles ist sehr merkwürdig und zunächst nicht verständlich. § 257Über das Vergessen der Träume handelt am ausführlichsten
Strümpell. Dieses Vergessen ist offenbar ein komplexes Phänomen, denn Strümpell führt es nicht auf einen einzigen, sondern auf eine ganze Reihe von Gründen zurück. § 258Zunächst sind für das Vergessen der Träume alle jene Gründe
wirksam, die im Wachleben das. Vergessen herbeiführen. Wir pflegen als Wachende eine Unzahl von Empfindungen und Wahr nehmungen alsbald zu vergessen, weil sie zu schwach waren, weil die an sie geknüpfte Seelenerregung einen zu geringen Grad § 259§ 260
4.8 I. Die wissazschaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 261hatte. Dasselbe ist rücksichtlich vieler Traumbilder der Fall; sie
werden vergessen, weil sie zu schwach waren, während stärkere Bilder aus ihrer Nähe erinnert werden. Übrigens ist das Moment der Intensität für sich allein sicher nicht entscheidend für die Erhaltung der Traumbilder; Strümpell gesteht wie auch andere Autoren (Calkins) zu, daß man häufig Traumbilder rasch ver gißt, von denen man weiß, daß sie sehr lebhaft waren, während unter den im Gedächtnis erhaltenen sich sehr viele schattenhafte, sinnesschwache Bilder befinden. Ferner pflegt man im Wachen leicht zu vergessen, was sich nur einmal ereignet hat, und besser zu merken, was man wiederholt wahrnehmen konnte. Die meisten Traumbilder sind aber einmalige Erlebnisse;1 diese Eigentümlich keit wird gleichmäßig zum Vergessen aller Träume beitragen. Weit bedeutsamer ist dann ein dritter Grund des Vergessens. Damit Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken usw. eine gewisse Erinnerungsgröße erlangen, ist es notwendig, daß sie nicht ver— einzelt bleiben, sondern Verbindungen und Vergesellschaftungen passender Art eingehen. Löst man einen kleinen Vers in seine Worte auf und schüttelt diese durcheinander, so wird es sehr schwer, ihn zu merken. „Wohlgeordnet und in sachgemäßer Folge hilft ein Wort dem anderen und das Ganze steht sinnvoll in der Erinnerung leicht und lange fest. Widersinniges behalten wir im allgemeinen ebenso schwer und ebenso selten wie das Verworrene und Ordnungslose.“ Nun fehlt den Träumen in den meisten Fällen Verständigung und Ordnung. Die Traumkompositionen ent— behren an sich der Möglichkeit ihres eigenen Gedächtnisses und werden vergessen, weil sie meistens schon in den nächsten Zeit momenten auseinanderfallen. — Zu diesen Ausführungen stimmt allerdings nicht ganz, was Radestock (S. 168) bemerkt haben will, daß wir gerade die sonderbarsten Träume am besten behalten. § 262)) Period.isch wiederkehrende Träume sind wiederholt bemerkt werden, vgl. die
Sammlung van Chahaneix. § 263§ 264
Das Vergessen der Träume 4.9
§ 265Noch wirkungsvoller für das Vergessen des Traumes erscheinen
Strümpell andere Momente, die sich aus dem Verhältnis von Traum und Wachleben ableiten. Die Vergeßlichkeit der Träume für das wache Bewußtsein ist augenscheinlich nur das Gegen— stück zu der früher erwähnten Tatsache, daß der Traum (fast) nie geordnete Erinnerungen aus dem Wachleben, sondern nur Einzelheiten aus demselben übernimmt, die er aus ihren ge wohnten psychischen Verbindungen reißt, in denen sie im Wachen erinnert werden. Die Traumkornposition hat somit keinen Platz in der Gesellschaft der psychischen Reihen, mit denen die Seele erfüllt ist. Es fehlen ihr alle Erinnerungshilfen. „Auf diese Weise hebt sich das Traumgebilde gleichsam von dem Boden unseres Seelenlebens ab und schwebt im psychischen Raum wie eine Wolke am Himmel, die der neu belebte Atem rasch ver— weht“ (S. 87). Nach derselben Richtung wirkt der Umstand, daß mit dem Erwachen sofort die herandrängende Sinneswelt die Aufmerksamkeit mit Beschlag belegt, so daß vor dieser Macht die wenigsten Traumbilder standhalten können. Diese weichen vor den Eindrücken des jungen Tages wie der Glanz der Ge stirne vor dem Licht der Sonne. § 266An letzter Stelle ist als förderlich für das Vergessen der
Träume der Tatsache zu gedenken, daß die meisten Menschen ihren Träumen überhaupt wenig Interesse entgegenbringen. Wer sich z. B. als Forscher eine Zeit lang für den Traum interessiert, träumt währenddessen auch mehr als sonst, das heißt wohl: er erinnert seine Träume leichter und häufiger. § 267Zwei andere Gründe des Vergessens der Träume, die Bonatelli
(bei Benini) zu den Strümpellschen hinzugefügt, sind wohl bereits in diesen enthalten, nämlich: 1) daß die Veränderung des Gemeingefühles zwischen Schlafen und Wachen der wechselseitigen Reproduktion ungünstig ist, und 2) daß die andere Anordnung des Vorstellungsmateriales im Trauma diesen sozusagen unüber— setzbar fürs Wachbewußtsein macht. § 268Freud, II.
§ 269§ 270
50 I. Die wissernchafrliche Limazur der Trawraprobkme
§ 271Nach all diesen Gründen fürs Vergessen wird es, wie Strümpell
selbst hervorhebt, erst recht merkwürdig, daß soviel von den Träumen doch in der Erinnerung behalten wird. Die fortgesetzten Bemühungen der Autoren, das Erinnern der Träume in Regeln zu fassen, kommen einem Eingeständnis gleich, daß auch hier etwas rätselhaft und un gelöst geblieben ist. Mit Recht sind einzelne Eigentümlichkeiten der Erinnerung an den Traum neuerdings besonders bemerkt werden, z. B. daß man einen Traum, den man am Morgen für vergessen hält, im Laufe des Tages aus Anlaß einer Wahrnehmung erinnern kann, die zufällig an den —— doch vergessenen — Inhalt des Traumes enrührt (Radestock, Tissié). Die gesamte Erinnerung an den Traum unterliegt aber einer Einwendung, die geeignet ist, ihren Wert in kritischen Augen recht ausgiebig herabzusetzen. Man kann zweifeln, ob unsere Erinnerung, die soviel vom Traum weg läßt, das, was sie erhalten hat, nicht verfälscht. § 272Solche Zweifel an der Exaktheit der Reproduktion des Traumes
spricht auch Strümpell aus: „Dann geschieht es eben leicht, daß das wache Bewußtsein unwillkürlich manches in die Er innerung des Traumes einfügt: man bildet sich ein, allerlei ge träumt zu haben, was der gewesene Traum nicht. enthielt.“ § 273Besonders entschieden äußert sich Jessen (S. 54.7):
§ 274„Außerdem ist aber bei der Untersuchung und Deutung zu
sammenhängender und folgerichtiger Träume der, wie es scheint, bisher wenig beachtete Umstand sehr in Betracht zu ziehen, daß es dabei fast immer mit der Wahrheit hapert, weil wir, wenn wir einen gehabten Traum in unser Gedächtnis zurückmfen, ohne es zu bemerken oder zu wollen, die Lücken der Traumbilder aus füllen und ergänzen. Selten und vielleicht niemals ist ein zu sammenhängender Traum so zusammenhängend gewesen, wie er uns in der Erinnerung erscheint. Auch dem wahrheitsliebendsten Menschen ist es kaum möglich, einen gehabten merkwürdigen Traum ohne allen Zusatz und ohne alle Ausschmückung zu er zählen: das Bestreben des menschlichen Geistes, alles im Zu § 275§ 276
Zweifel an der Treue der Traumerinnerung 51
§ 277sammenhange zu erblicken, ist so groß, daß er bei der Erinnerung
eines einigermaßen unzusammenhängenden Traumes die Mängel des Zusammenhanges unwillkürlich ergänzt.“ § 278Fast wie eine Übersetzung dieser Worte J essens klingen die doch
gewiß selbständig konzipierten Bemerkungen von V. Egger: „. . . Pab— servat'ion des réves a ses difficultés spe’ciales et le seul moyen d'e'viter route erreur en pareille matiére est de confier au papier sans le moindre retard ce que l’an vient d'e'prouver et de remarquer; sinon, l’oubli vient vite ou total ou partiel; l’oubli total est sans grauite'; mais l’aubli partiel est perjide; car si l’on se met ensuite 21 racenter ce que l’on n’a pas oublie', on est éxposé & comple’ter par imagination les fragments incohe'rents et disjoints fourni par la me'maire...; on devient artiste & son insu, et le re’cit periodiquement re'pe'le' s’impose z‘t la cre'ance de son auteur, qui, de bonne fol', le präsente comme un fait authen tique, düment e’tabli selon les bonnes me'thodes. . .“ § 279Ganz ähnlich Spitta (S. 558), der anzunehmen scheint7 daß
wir überhaupt erst bei dem Versuch, den Traum zu reproduzieren, die Ordnung in die lose miteinander assoziierten Traumelernente einführen — „aus dem Nebeneinander ein Hintereinander, Auseinander machen, also den Prozeß der logischen Verbindung, der im Traum fehlt, hinzufügen“. § 280Da wir nun eine andere als eine objektive Kontrolle für die
Treue unserer Erinnerung nicht besitzen, diese aber beim Traum, der unser eigenes Erlebnis ist, und für den wir nur die 'Er innerung als Quelle kennen, nicht möglich ist, welcher Wert bleibt da unserer Erinnerung an den Traum noch übrig? § 281E
Die psychologischen Besonderheiten des Traumes Wir gehen in der wissenschaftlichen Betrachtung des Traumes von der Annahme aus, daß der Traum ein Ergebnis unserer § 282eigenen Seelentätigkeit ist; doch erscheint uns der fertige Traum
§ 2834.
§ 284§ 285
59 I. Die wisszmchaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 286als etwas Fremdes, zu dessen Urheberschaft zu bekennen es uns
so wenig drängt, daß wir ebenso gerne sagen: „Mir hat geträumt“ wie: „Ich habe geträumt.“ Woher rührt diese „Seelenfrerndheit“ des Traumes? Nach unseren Erörterungen über die Traumquellen sollten wir meinen, sie sei nicht durch das Material bedingt, das in den Trauminhalt gelangt; dies ist ja zum größten Teile dem Traumleben wie dem Wachleben gemeinsam. Man kann sich fragen, ob es nicht Abänderungen der psychischen Vorgänge im Traume sind, welche diesen Eindruck hervorrufen, und kann so eine psychologische Charakteristik des Traumes versuchen. § 287Niemand hat die Wesensverschiedenheit von Traum und Wach
leben stärker betont und zu weitgehenderen Schlüssen verwendet als G. Th. Fechner in einigen Bemerkungen seiner Elemente der Psychophysik. (S. 520, H. T.) Er meint, „weder die ein fache Herabdnickung des bewußten Seelenlebens unter die Haupt— schwelle“, noch die Abziehung der Aufmerksamkeit von den Ein flüssen der Außenwelt genüge, um die Eigentümlichkeiten des Traumlebens dem wachen Leben gegenüber aufzuklären. Er vermutet vielmehr, daß auch der Schauplatz der Träume ein anderer ist als der des wachen Vorstellungslebens. „Sollte der*Schau platz der psychophysischen Tätigkeit während des Schlafens und des Wachens derselbe sein, so könnte der Traum meines Erachtens bloß eine, auf einem niederen Grade der Intensität sich haltende Fortsetzung des wachen Vorstellungslebens sein, und müßte übrigens dessen Stoff und dessen Form teilen. Aber es verhält sich ganz anders.“ § 288Was Fechner mit einer solchen Umsiedlung der Seelen
tätigkeit meint, ist wohl nicht klar geworden; auch hat kein anderer, soviel ich weiß, den Weg weiter verfolgt, dessen Spur er in jener Bemerkung aufgezeigt. Eine anatomische Deutung im Sinne der physiologischen Gehirnlokalisation oder selbst mit Be zug auf die histologische Schichtung der Hirnrinde wird man wohl auszuschließen haben. Vielleicht aber erweist sich der Ge— § 289§ 290
Psychologische Charaktere dss Trauma 55
§ 291danke einmal als sinnreich und fruchtbar, wenn man ihn auf
einen seelischen Apparat bezieht, der aus mehreren hinterein— ander eingeschalteten Instanzen aufgebaut ist. § 292Andere Autoren haben sich damit begnügt, die eine oder die
andere der greifbaren psychologischen Besonderheiten des Traum lehens hervorzuheben und etwa zum Ausgangspunkt weiter rei— chender Erklärungsversuche zu machen. § 293Es ist mit Recht bemerkt werden, daß eine der Haupteigen
tümlichkeiten des Traumlebens schon im Zustand des Einschlafens auftritt und als den Schlaf einleitendes Phänomen zu bezeichnen ist. Das Charakteristische des wachen Zustandes ist nach Schleier— macher (S. 551), daß die Denktätigkeit in Begriffen und nicht in Bildern vor sich geht. Nun denkt der Traum hauptsächlich in Bildern, und man kann beobachten, daß mit der Annäherung an den Schlaf in demselben Maße, in dem die gewollten Tätig— keiten sich erschwert zeigen, ungewollte Vorstellungen her vortreten, die alle in die Klasse der Bilder gehören. Die Unfähig keit zu solcher Vorstellungsarheit, die wir als absichtlich gewollte empfinden, und das mit dieser Zerstreuung regelmäßig ver knüpfte Hervortreten von Bildern, dies sind zwei Charaktere, die dem Traum verbleiben, und die wir bei der psychologischen Analyse desselben als wesentliche Charaktere des Traumlebens anerkennen müssen. Von den Bildern —— den hypnagogischen Halluzinationen — haben wir erfahren, daß sie selbst dem Inhalt nach mit den Traumhildern identisch sind. [E 14] § 294Der Traum denkt also vorwiegend in visuellen Bildern, aber
doch nicht ausschließlich. Er arbeitet auch mit Gehörsbildern und in geringerem Ausmaße mit den Eindrücken der anderen Sinne. Vieles wird auch im Traum einfach gedacht oder vorgestellt (wahrscheinlich also durch Wortvorstellungsreste vertreten), ganz wie sonst im Wachen. Charakteristisch für den Traum sind aber doch nur jene Inhaltselernente, welche sich wie Bilder verhalten, d. h. den Wahrnehmungen ähnlicher sind als den Erinnerunge— § 295§ 296
54. I. Die wissenschaftliche Literatur der Traumprableme
§ 297vorstellungen. Mit Hinwegsetzung über alle die dem Psychiater
wohlbekannten Diskussionen über das Wesen der Halluzination können wir mit allen sachkundigen Autoren aussagen, daß. der Traum halluziniert, daß er Gedanken durch Halluzinationen ersetzt. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen visuellen und akustischen Vorstellungen; es ist bemerkt werden, daß die Erinnerung an eine Tonfolge, mit der man einschläft, sich beim Versinken in den Schlaf in die Halluzination der— selben Melodie verwandelt, um beim Zusichkommen, das mit dem Einnicken mehrmals abwechseln kann, wieder der leiseren und qualitativ anders gearteten Erinnemngsvorstellung Platz zu machen. § 298Die Verwandlung der Vorstellung in Halluzination ist. nicht
die einzige Abweichung des Traumes von einem etwa ihm ent sprechenden Wachgedanken. Aus diesen Bildern gestaltet der Traum eine Situation7 er stellt etwas als gegenwärtig dar, er thematisiert eine Idee, wie Spitta (S. 14.5) sich ausdrückt. Die Charakteristik dieser Seite des Traumlebens wird aber erst voll ständig, wenn man hinzunimmt, daß man beim Träumen —— in der Regel; die Ausnahmen fordern eine besondere Aufklärung—, nicht zu denken, sondern zu erleben vermeint, die Halluzinationen also mit vollem Glauben aufnimmt. Die Kritik, man habe nichts erlebt, sondern nur in eigentüinlicher Form gedacht —— geträumt — regt sich erst beim Erwachen. Dieser Charakter scheidet den echten Schlaftraum von der Tagträun'ierei, die niemals mit der Realität verwechselt wird. . § 299Burdach hat die bisher betrachteten Charaktere des Traum
lebens in folgenden Sätzen zusammengefaßl: (S. 476): „Zu den wesentlichen Me'rkmalen des Traumes gehört: a) daß die sub— jektive Tätigkeit unserer Seele als objektiv erscheint, indem das Wahrnehmungsvermögen die Produkte der Phantasie so auffaßt, als ob es sinnliche Bührungen wären; . . . b) der Schlaf ist eine Aufhebung der Eigenmächtigkeit. Daher gehört eine gewisse Passi— § 300§ 301
Der Glaube an die Realität der Traumbilder 55
§ 302vität zum Einschlafen. . .. Die Schlummerbilder werden durch
den Nachlaß der Eigenmächtigkeit bedingt.“ § 303Es handelt sich nun um den Versuch, die Gläubigkeit der Seele
gegen die Traumhalluzinationen, die erst nach Einstellung einer gewissen eigenmächtigen Tätigkeit auftreten können, zu erklären. Strümpell führt aus, daß die Seele sich dabei korrekt und ihrem Mechanismus gemäß benimmt. Die Traumelernente sind keines wegs bloße Vorstellungen, sondern wahrhafte und wirkliche Erlebnisse der Seele, wie sie im Wachen durch Vermittlung der Sinne auftreten (S. 54). Während die Seele wachend in Wort bildern und in der Sprache vorstth und denkt, stellt sie vor und denkt im Traum in wirklichen Empfindungsbildern (S. 55). Über— dies kommt im Traum ein Raumbewußtsein hinzu,. indem, wie im Wachen, Empfindungen und Bilder in einen äußeren Raum versetzt werden (S. 56). Man muß also zugestehen, daß sich die Seele im Traume ihren Bildern und Wahrnehmungen gegen über in derselben Lage befindet wie im Wachen (S. 4.5). Wenn sie dabei dennoch irre geht, so rührt dies daher, daß ihr im Schlafzustand das Kriterium fehlt, welches allein zwischen von außen und von innen gegebenen Sinneswahrnehmungen unter scheiden kann. Sie kann ihre Bilder nicht den Proben unterziehen, welche allein deren objektive Realität erweisen. Sie vernachlässigt außerdem den Unterschied zwischen willkürlich vertauschbaten Bildern und anderen, wo diese Willkür wegfällt. Sie irrt, weil sie das Gesetz der Kausalität nicht auf den Inhalt ihres Traumes anwenden kann (S. 58). Kurz, ihre Abkehrung von der Außen welt enthält auch den Grund für ihren Glauben an die subjek— tive Traumwelt. § 304Zum selben Schlusse gelangt nach teilweise abweichenden
psychologischen Entwicklungen Delboeuf. Wir schenken den Traumbildern den Realitätsglauben, weil wir im Schlafe keine anderen Eindrücke zum Vergleiche haben, weil wir von der Außenwelt abgelöst sind. Aber nicht etwa darum glauben wir an § 305§ 306
56 I. Die wissenschaftliche Literatur der Traumpmbleme
§ 307die Wahrheit unserer Halluzinationen, weil uns im Schlafe die
Möglichkeit entzogen ist, Proben anzustellen. Der Traum kann uns alle diese Prüfungen vorspiegeln, uns etwa zeigen, daß wir die gesehene Rose berühren, und wir träumen dabei doch. Es gibt nach Delboeuf kein stichhältiges Kriterium dafür, ob etwas ein Traum ist oder wache Wirklichkeit, außer —— und dies nur in praktischer Allgemeinheit — der Tatsache des Erwachens. Ich erkläre alles für Täuschung, was zwischen Einschlsfen und Er wachen erleht werden ist, wenn ich durch das Erwachen merke, daß ich ausgekleidet in meinem Bette liege (S. 84). Während des Schlafes habe ich die Traumbilder für wahr gehalten infolge der nicht einzuschläfernden Denkgewohnheit, eine Außenwelt anzunehmen, zu der ich mein Ich in Gegensatz bringe.1 § 308!) Einen ähnlichen Versuch wie Delhoeuf, die Traumtätigkeit zu erklären durch
die Abänderung, welche eine ahnonn eingefiihrte Bedingung an der sonst korrekten Funktion des intakten seelischen Apparate! zur Folge haben muß, hat Haffner unter nommen, diese Bedingung aber in etwas anderen Worten beschrieben. Das erste Kennzeichen des Traun-nes ist nach ihm die Ort- und Zeitlosigkeit, d. i. die Eman zipation der Vorstellung von der dem Individuum 'mkommenden Stelle in der örtlichen und zeitlichen Ordnung. Mit diesem verbindet sich der zweite Grundchsrakter des Traumes, die Verwechslung der Halluzinutionen, Imsginutionen und Phantssielsom binationen mit äußeren Wahrnehmungen. „Da die Gesamtheit der höheren Seelen— kräfte insbesondere Begrifi‘sbildung, Urteil und Schlußfolgerung einerseits und die freie Selbstbestimmung anderseits an die sinnlichen Phantasiehilder sich anschließen und diese jederzeit zur Unterlage haben, so nehmen auch diese Tätigkeiten an der Begellosigkeit der Traumvorstellungen teil. Sie nehmen teil, sagen wir, denn an und fiir sich ist unsere Urteilskrsft. wie unsere Willenskraft, im Schlefe in keiner Weise slteriert. Wir sind der Tätigkeit nach ebenso scharfsinnig und ebenso frei wie im wachen Zustande. Der Mensch kann auch im Trnume nicht gegen die Denk geset1e an sich verstoßen. d. 11. nicht des ihm als entgegengesetzt sich Darstellende identisch setzen usw. Er kann auch im Traume nur das begehren, was er nis ein Gutes sich vorstellt (mb rnu'ons lnmi). Aber in dieser Anwendung der Gesetze des Denkens und Wollens wird der menschliche Geist im Trsume irregefiibrt durch die Verwechslung einer Vorstellung rnit einer anderen. So kommt es, daß wir im Traum die größten Widersprüche setzen und begehen, während wir anderseits die scharf sinnigsten Urteilshildungen und. die konsequentesten Schlußfolgerungen vollziehen, die tugendhaflesten und heiligsten Entschließungen fassen können. Mangel an Orientierung ist dns ganze Geheimnis des Fluges, mit welchem unsere Phantasie im Trauma sich bewegt, und Mangel an kritischer Reflexion, sowie an Ver ständigung mit anderen, ist die Hauptquelle der meßlosen Extrsvugsnzen unserer Urteile wie unserer Hoffnungen und Wünsche im Traum“ (S. iS). § 309§ 310
Die Abwendung von der Außenwelt 57
§ 311Wird so die Abwendung von der Außenwelt zu dem bestim
mer'xden Momente für die Ausprägung der auffälligsten Charaktere des Traumlebens erhoben, so verlohnt es sich, einige feinsinnige Bemerkungen des alten Burdach anzuführen, welche auf die Be ziehung der schlafenden Seele zur Außenwelt Licht werfen und dazu angetan sind, vor einer Überschätzung der vorstehenden Al) leitungen zurückzuhalten. „Der Schlaf erfolgt nur unter der Be— dingung,“ sagt Burd ach, „daß die Seele nicht von Sinnes reizen angeregt wird, . . . aber es ist nicht sowohl der Mangel an Sinnesreizen die Bedingung des Schlafes, als vielmehr der Mangel an Interesse dafiir [E 15]; mancher sinnliche Eindruck ist selbst not wendig, insofern er zur Beruhigung der Seele dient, wie denn der Müller nur dann schläft, wenn er das Klappern seiner Mühle hört, und der, welcher aus Vorsicht ein Nachtlicht zu brennen für nötig hält, im Dunkeln nicht einschlafen kann.“ (S. 457.) § 312„Die Seele isoliert sich im Schlafe gegen die Außenwelt und
zieht sich von der Peripherie . . . zurück . . . Indes ist der Zu— sammenhang nicht ganz unterbrochen: wenn man nicht im Schlafe selbst, sondern erst nach dem Erwachen hörte und fühlte, so könnte man überhaupt nicht geweckt werden. Noch mehr wird die Fondauer der Sensation dadurch bewiesen, daß man nicht immer durch die bloß sinnliche Stärke eines Eindruckes, sondern durch die psychische Beziehung desselben geweckt wird; ein gleich— gültiges Wort weckt den 'Schlafenden nicht, ruft man ihn aber beim Namen, so erwacht er. . . , die Seele unterscheidet also im Schlafe zwischen den Sensationen. . . . Daher kann man denn auch durch den Mangel eines Sinnesreizes, wenn dieser sich auf eine für die Vorstellung wichtige Sache bezieht, geweckt werden; so erwacht man vom Auslöschen eines Nachtlichtes und der Müller vom Stillstande seiner Mühle, also vom Aufhören der Sinnes tätigkeit, und dies setzt voraus, daß diese perzipiert werden ist, § 313aber als gleichgültig, oder vielmehr befriedigend, die Seele nicht
aufgestört hat.“ (S. 460 11. ff.) § 314§ 315
58 I. Die wissenschaftlich Literatur der Traumprobleme
§ 316Wenn wir selbst von diesen nicht gering zu schützenden Ein
wendungen absehen wollen, so müssen wir doch zugestehen, daß die bisher gewürdigten und aus der Abkehrung von der Außen welt abgeleiteten Eigenschaften des Traumlebens die Fremdartig keit desselben nicht voll zu decken vermögen. Denn im anderen Falle müßte es möglich sein, die Halluzinationen des Traumes in Vorstellungen, die Situationen des Traumes in Gedanken zurück— zuverwandeln, und damit die Aufgabe der Traumdeutung zu lösen. Nun verfahren wir nicht anders, wenn wir nach dem Erwachen den Traum aus der Erinnerung reproduzieren, und ob uns diese Bückübersetzung ganz oder nur teilweise gelingt, der Traum be hält seine Rätselhaftigkeit unverringert bei. § 317Die Autoren nehmen auch alle unbedenklich an, daß im Traume
noch andere und tiefer greifende Veränderungen mit dem Vor stellungsmateriale des Wachens vorgefallen sind. Eine derselben sucht Strümpell in folgender Erörterung herauszugreifen (S. 17): „Die Seele verliert mit dem Aufhören der sinnlich tätigen An schauung und des normalen Lebensbewußtseins auch den Grund, in welchem ihre Gefühle, Begehrungen, Interessen und Hand lungen wurzeln. Auch diejenigen geistigen Zustände, Gefühle, Interessen, Wertschätzungen, welche im Wachen den Erinnerungs bildern anhaften, unterliegen . . . einem verdunkelnden Drucke, infolgedessen sich ihre Verbindung mit den Bildern auflöst, die Wahrnehmungsbilder von Dingen, Perso'nen, Lokalitäten, Begeben heiten und Handlungen des wachen Lebens werden einzeln sehr zahlreich reproduziert, aber keines derselben bringt seinen psy— chischen Wert mit. Dieser ist von ihnen abgelöst und sie schwanken deshalb in der Seele nach eigenen Mitteln umher . . .“ § 318Diese Entblößung der Bilder von ihrem psychischen Wert, die
selbst wiederum auf die Abwendung von der Außenwelt zurück— geführt wird, soll nach Strümpell einen Hauptanteil an dem Eindruck der Fremdartigkeit haben, mit dem sich der Traum in unserer Erinnerung dem Leben gegenüberstellt. § 319§ 320
Die psychische Minderleistung 59
§ 321Wir haben gehört, daß schon das Einschlafen den Verzicht auf
eine der seelischen Tätigkeiten, nämlich auf die willkürliche Leitung des Vorstellungseblaufes, mit sich bringt. Es wird uns so die ohnedies naheliegende Vermutung aufgedrängt, daß der Schlafzustand sich auch über die seelischen Verrinhtungen erstrecken möge. Die eine oder andere dieser Venichtungen wird etwa ganz aufgehoben; ob die übrigbleibenden ungestört weiter arbeiten, ob sie unter solchen Umständen normale Arbeit leisten können, kommt jetzt in Frage. Der Gesichtspunkt taucht auf, daß man die Eigentümlichkeiten des Traumes erklären könne durch die psychische Minderleistung im Schlafzustande, und nun kommt der Eindruck, den der Traum unserem wachen Urteil macht, einer solchen Auffassung entgegen. Der Traum ist unzusammenhängend, vereinigt ohne Anstoß die ärgsten Widersprüche, läßt Unmöglich keiten zu, läßt unser bei Tag einflußreiches Wissen beiseite, zeigt uns ethisch und moralisch stumpfsinnig. Wer sich im Wachen so benehmen würde, wie es der Traum in seinen Situ ationen verführt, den würden wir für wahnsinnig halten; wer im Wachen so spräche oder solche Dinge mitteilen wollte, wie sie im Trauminhalt vorkommen, der würde uns den Eindruck eines Verworrenen oder eines Schwachsinnigen machen. Somit glauben wir nur dem Tatbestand Worte zu leihen, wenn wir die psychische Tätigkeit im Traum nur sehr gering anschlagen und insbesondere die höheren intellektuellen Leistungen als im Traum aufgehoben oder wenigstens schwer geschädigt erklären. § 322Mit ungewöhnlicher Einmütigkeit -— von den Ausnahmen
wird an anderer Stelle die Rede sein—haben die Autoren solche Urteile über den Traum gefällt, die auch unmittelbar zu einer bestimmten Theorie oder Erklärung des Traumlebens hinleiten. Es ist an der Zeit, daß ich mein eben ausgesprochenes Resunié durch eine Sammlung von Aussprüchen verschiedener Autoren — § 323Philosophen und Ärzte — über die psychologischen Charaktere
des Traumes ersetze: § 324§ 325
60 I. Die wissemchaftltkhe Literatitr der Traumprobleme
§ 326Nach Lemoine ist die Inkohärenz der Traumbilder der einzig
wesentliche Charakter des Traumes. § 327Maury pflichtet dem bei; er sagt (Le soinmeil, p. 165): „II
n’y a pas des réves absolument raisonnables et qui ne contiennent quelque incahe'rence, quelque anachronz'sme, quzlque absurdite'.“ § 328Nach Hegel bei Spitta fehlt dem Traum aller objektive ver
ständige Zusammenhang. § 329Dugas sagt: „Le réve, c'est l'anarchz'e psychique, afie‘cziw et
mentale, c’est le jeu des fonctions livre'es & elles—mémes et s'erer gant sans contröle et sans but,- dans le réue l’esprit est un automale spirituel.“ § 330„Die Auflockerung, Lösung und Durcheinandermischung des
im Wachen durch die logische Gewalt des zentralen Ich zu sammengehaltenen Vorstellungslebens“ räumt selbst Volkelt ein (S. 14), nach dessen Lehre die psychische Tätigkeit während des Schlafes keineswegs zwecklos erscheint. § 331Die Ahsurdität der im Traume vorkommenden Vorstellungs
verbindungen kann man kaum schärfer verurteilen, als es schon Cicero (De divin. Il) tat: ]Vihil ram praepostere, tanz incondz'te, tanz monstruose cogitari potest, quod non possimus somniare. § 332Fechner sagt (S. 522): Es ist, als ob die psychologische Tätig
keit aus dem Gehirne eines Vernünftigen in das eines Narren übersiedelte. § 333Eadestock (S. 145): „In der Tat scheint es unmöglich, in
diesem tollen Treiben feste Gesetze zu erkennen. Der strengen Polizei des vernünftigen, den wachen Vorstellungslauf leitenden Willens und der Aufmerksamkeit sich entziehend, wirbelt der Traum in tollem Spiel alles kaleidoskopartig durcheinander.“ § 334Hildebrand (S. 45): „Welche wunderlichen Sprünge erlaubt
sich der Träumende z. B. bei seinen Verstandesschlüssen! Mit welcher Unbefangenheit sieht er die bekanntesten Erfahrungssätze geradezu auf den Kopf gestellt! Welche Iächerlichen Widersprüche kann er in den Ordnungen der Natur und der Gesellschaft ver § 335§ 336
Die Absuralität das Trauma: 61
§ 337tragen, bevor ihm, wie man sagt, die Sache zu bunt wird, und
die Überspannung des Unsinnes das Erwachen herbeiführt! Wir multiplizieren gelegentlich ganz harmlos: Drei mal drei macht zwanzig; es wundert uns gar nicht, daß ein Hund uns einen Vers hersag‘t, daß ein Toter auf eigenen Füßen nach seinem Grabe geht, daß ein Felsstück auf dem Wasser schwimmt; wir gehen alles Ernstes in höherem Auftmge nach dem Herzogtum Bernburg oder dem Fürstentum Liechtenstein, um die Kriegs— marine des Landes zu beobachten, oder lassen uns von Karl dem Zwölften kurz vor der Schlacht bei Pultawa als Freiwillige an— werben.“ § 338Binz (S. 55) mit dem Hinweis auf die aus diesen Eindrücken
sich ergebende Traumtheorie: „Unter zehn Träumen sind min destens neun absurden Inhaltes. Wir koppeln in ihnen Personen und Dinge zusammen, welche nicht die geringsten Beziehungen zueinander haben. Schon im nächsten Augenblick, wie in einem Kaleidoskop, ist die Gruppierung eine andere geworden, womöglich noch unsinniger und toller, als sie es schon vorher war; und so geht das wechselnde Spiel des unvollkommen schlafenden Gehirns weiter, bis wir erwachen, mit der Hand nach der Stirne greifen und uns fragen, ob wir in der Tat noch die Fähigkeit des ver nünftigen Vorstellens und Denkens besitzen.“ § 339Maury (Le sommeil, p. 50) findet für das Verhältnis der
Traumbilder zu den Gedanken des Wachens einen für den Arzt sehr eindrucksvollen Vergleich: „La production de ces images que chez Fhomme éveillé fait le plus souvent naitre la volonte', correspond, pour l‘intelligence, & ce que sont pour la motilite' certains mouve ments que nous ofi'rent la chore’e et les afiecfions paralytiques . . .“ Im übrigen ist ihm der Traum „laute une se'rl'e de dégradations de la faculte' pensante et raisonnante“ (p. 27). § 340Es ist kaum nötig, die Äußerungen der Autoren anzuführen,
§ 341welche den Satz von Maury für die einzelnen höheren Seelen
leistungen wiederholen. § 342§ 343
69 I. Die wüsenschaflliche Literatur der Traumprablcme
§ 344Nach Strümpell treten im Traum — selbstverständlich auch
dort, wo der Unsinn nicht augenfiillig ist —— sämtliche logischen, auf Verhältnissen und Beziehungen beruhenden Operationen der Seele zurück (S. 26)„Nach Spitta (S. 14.8) scheinen im Traum die Vorstellungen dem Kausalitätsgesetz völlig entzogen zu sein. Radestock u. a. betonen die dem Traum eigene Schwäche des Urteils und des Schlusses. Nach Jodl (S. 195) gibt es im Traum keine Kritik, keine Korrektur einer Wahrnehmungsreihe durch den Inhalt des Gesamtbewußtseins. Derselhe Autor äußert: „Alle Arten der Bewußtseinstätigkeit kommen im Traume vor, aber un vollständig, gehemmt, gegeneinander isoliert.“ Die Widersprüche, in welche sich der Traum gegen unser waches Wissen setzt, erklärt Stricker (mit vielen anderen) daraus, daß Tatsachen im Traum vergessen oder logische Beziehungen zwischen Vorstellungen verloren gegangen sind (S. 98) usw., usw. § 345Von den Autoren, die im allgemeinen so ungünstig über die
psychischen Leistungen im Traume urteilen, wird indes zugegeben, daß ein gewisser Rest von seelischer Tätigkeit dem Traume ver— bleibt. Wundt, dessen Lehren für so viele andere Bearbeiter der Traumprobleme maßgebend geworden sind, gesteht dies aus drücklich zu. Man könnte nach der Art und Beschaflenheit des im Traume sich äußernden Bestes von normaler Seelentätigkeit fragen. Es wird nun ziemlich allgemein zugegeben, daß die Reproduktionsfähigkeit, das Gedächtnis im Traum am wenig sten gelitten zu haben scheint, ja eine gewisse Überlegenheit gegen die gleiche Funktion des Wachens (vgl. oben S. m) auf— weisen kann, obwohl ein Teil der Absurditäten des Traumec durch die Vergeßlichkeit eben dieses Traumlebens erklärt werden soll. Nach Spitta ist es das Gemütsleben der Seele, was vom Schlaf nicht befallen wird und dann den Traum dirigiert. Als „Gemüt“ bezeichnet er „die konstante Zusammenfassung der Gefühle als des innersten subjektiven Wesens des Menschen“ (S. 84.). § 346§ 347
Umdzutungen, Assoziationen im Traum 65
§ 348Scholz (S. 57) erblickt eine der im Traume sich äußernden
Seelentätigkeiten in der „allegorisierenden Umdeutung“, welcher das Traummaterial unterzogen wird. Siebeck konstatiert auch im Traum die „ergänzende Deutungstätigkeit“ der Seele (S. 11), welche von ihr gegen alles Wahrnehmen und An— schauen geübt wird. Eine besondere Schwierigkeit hat es für den Traum mit der Beurteilung der angeblich höchsten psychischen Funktion, der des Bewußtseins. Da wir vom Traum nur durchs Bewußtsein etwas wissen, kann an dessen Erhaltung kein Zweifel sein; doch meint Spitta, es sei im Traum nur das Bewußtsein erhalten, nicht auch das Selbstbewußtsein. Delboeuf gesteht ein, daß er diese Unterscheidung nicht zu begreifen vermag. § 349Die Assoziationsgesetze, nach denen sich die Vorstellungen ver—
knüpfen, gelten auch für die Traumbilder, ja ihre Herrschaft kommt im Traume reiner und stärker zum Ausdruck. Strürripell (S. 70): „Der Traum verläuft entweder ausschließlich, wie es scheint, nach den Gesetzen nackter Vorstellungen oder organischer Reize mit solchen Vorstellungen, das heißt, ohne daß Reflexion und Verstand, ästhetischer Geschmack und sittliches Urteil etwas dabei vermögen.“ Die Autoren, deren Ansichten ich hier reproduziere, stellen sich die Bildung der Träume etwa folgender Art vor: Die Summe der im Schlaf einwirkenden Sensationsreize aus den ver— schiedenen, an anderer Stelle angeführten Quellen wecken in der Seele zunächst eine Anzahl von Vorstellungen, die sich als Hal— luzinationen (nach Wundt richtiger Illusionen wegen ihrer Ab kunft von den äußeren und inneren Reizen) darstellen. Diese verknüpfen sich untereinander nach den bekannten Assoziations gesetzen und rufen ihrerseits nach denselben Regeln eine neue Reihe von Vorstellungen (Bildern) wach Das ganze Material wird dann vom noch tätigen Rest der ordnenden und denkeudeu Seelenvermögen, so gut es eben gehen will, verarbeitet (vgl. etwa Wundt und Weygandt). Es ist bloß noch nicht gelungen, die Motive einzusehen, welche darüber entscheiden, daß die Erweckung § 350§ 351
=,
§ 35264. I. Die wissenmh1fth'che Literatur der Traumprobleme
§ 353der nicht von außen stammenden Bilder nach diesem oder nach
jenem Assoziationsgesetz vor sich gehe. § 354Es ist aber wiederholt bemerkt werden, daß die Assoziationen,
welche die Traumvorstellungen untereinander verbinden, von ganz besonderer Art und verschieden von den im wachen Denken tätigen sind. So sagt Volkelt (S. 15): „Im Traume jagen und haschen sich die Vorstellungen nach zufälligen Ähnlichkeiten und kaum wahrnehmbaren Zusammenhängen. Alle Träume sind von solchen nachlässigen, zwanglosen Assoziationen durchzogen.“ Maury legt auf diesen Charakter der Vorstellungsbindung, der ihm gestattet, das Traumleben in engere Analogie mit gewissen Geistesstörungen zu bringen, den größten Wert. Er anerkennt zwei Haupmharaktere des „de'lire“: I) um: action spontane'e et comme automazique de l’esprit} 2) une association vicieuse et irreguliére des idées (Le sommeil, p. 196). Von Maury selbst rühren zwei ausgezeichnete Traumbeispiele her, in denen der bloße Gleichklang der Worte die Verknüpfung der Traumvor stellungen vermittelt. Er träumte einmal, daß er eine Pilgerfehrt (pe’lerinage) nach Jerusalem oder Mekka unternehme, dann befand er sich nach vielen Abenteuern beim Chemiker Pelletier, dieser gab ihm nach einem Gespräch eine Schaufel (pelle) von Zink, und diese wurde in einem darauffolgenden Traumstück sein großes Schlachtschwert (p. 157). Ein andermal ging er im Traum auf der Landstraße und las auf den Meilensteinen die Kilometer ab, darauf befand er sich bei einem Gewürzkrämer, der eine große Wege hatte, und ein Mann legte Kilogewichte auf die Wag schale, um Maury abzuwägen; dann sagte ihm der Gewürzkrämer: „Sie sind nicht in Paris, sondern auf der Insel Gilolo.“ Es folgten darauf mehrere Bilder, in welchen er die Blume Lobelia sah, dann den General Lopez, von dessen Tod er kurz vorher gelesen hatte:, endlich erwachte er, eine Partie Lotto spielend. [EIB] § 355Wir sind aber wohl gefaßt darauf, daß diese Geringschätzung
§ 356der psychischen Leistungen des Traumes nicht ohne Widerspruch
§ 357§ 358
Psychologische Einschätzung des Traumes ‘ 65
§ 359von anderer Seite geblieben ist. Zwar scheint der Widerspruch
hier schwierig. Es will auch nicht viel bedeuten, wenn einer der Herabsetzer des Traumlebens versichert (Spitta, S. 118), daß dieselben psychologischen Gesetze, die im Wachen herrschen, auch den Traum regieren, oder wenn ein anderer (Dugas) aus— spricht „le réve n’est pas de'raison ni méme irraison pure“, solange beide sich nicht die Mühe nehmen, diese Schätzung mit der von ihnen beschriebenen psychischen Anarchie und Auflösung aller Funktionen im Traum in Einklang zu bringen. Aber anderen scheint die Möglichkeit gedäm.mert zu. haben, daß der Wahnsinn des Traumes vielleicht doch nicht ohne Methode sei, vielleicht nur Verstellung wie der des Dänenprinzen, auf dessen Wahnsinn sich das hier zitierte, einsichtsvolle Urteil bezieht. Diese Autoren müssen es vermieden haben, nach dem Anschein zu urteilen, oder der Anschein, den der Traum ihnen bot, war ein anderer. § 360So würdigt Havelock Ellis den Traum, ohne bei seiner
scheinbaren Absurdität verweilen zu wollen, als „an archai'c world of vast emotions and imper;fect thoughts“, deren Studium uns primitive Entwicklungsstufen des psychischen Lebens kennen lehren könnte [E 17]. Ein Denker wie Delboeuf behauptet —— freilich ohne den Beweis gegen das widersprechende Material zu führen und darum eigentlich mit Unrecht: „Dans le somineil, hormis la per cepZion, toutes les faculze's de l’esprit intelligence, imagination, me'maire, volonte', moralite', restent intactes dans leur essence; seulement, elles s’appliquent & des objets imaginaires et mobiles. Le songeur est un acteur qui joue & volonté les fous et les sages, les bourreaua: et les victimes, les nains et les géants, les de'mons et les anges.“ (p. 229). Am energischesten scheint die Herabsetzung der psychischen Leistung im Traum der Marquis d‘I—Iervey bestritten zu haben, gegen den Maury lebhaft polemi siert, und dessen Schrift ich mir trotz aller Bemühung nicht ver— schaffen konnte. Maury sagt über ihn (Le sommeil, p. 19): „M. le Marquis d’Hervey préte () l’intelligence durant le sommeil, § 361Freud. II. 5
§ 362§ 363
66 I. Die wissenschaftlich Literatur der Truurnprobleme
§ 364route sa liberté d’actz'on et d’attentian et ü ne semble faire con
sister le sommeil que dans l’occlusion des sens, dans leur ferme ture du Monde exte'rieur; en sorte ”que l’homme qui dort ne se distz'ngue guére, selon sa maniére de wir, de l’homme qui laisse uaguer sa pense'e en se bouclzant les sens,- toute la dzfie'rence qui se'pare alors la pense'e ordinaire de Celle du dormeur c’est que, chez celui-ci, l’ide'e prend une forme visible, objective et ressemlzle, ä s’y meinrendre, il la sensation de'termine’e par les objets exte'rieurs; le souvenir revet l’apparence du fait präsent.“ § 365Maury fügt aber hinzu: „qu’il y a une dz_'fie'rence de plus et
capitale ?: savoir que les faculte’s intellectuelles de l’homme endormi n’ofl'rent pas l'e'quilibre qu’elles gardent chez l’homme éveille'.“ [E 18] § 366Die Skala der Würdigung des Traumes als psychisches Produkt
hat in der Literatur einen großen Umfang.; sie reicht von der tiefsten Geringschätzung, deren Ausdruck wir kennen gelernt haben, durch die Ahnung eines noch nicht enthüllten Wertes bis zur Überschätzung, die den Traum weit über die Leistungen des Wachlebens stellt. Hildebrandt, der, wie wir wissen, in drei Antinomien die psychologische Charakteristik des Traumlebens entwirft, faßt im dritten dieser Gegensätze die Endpunkte dieser Reihe zusammen (S. 19): „Es ist der zwischen einer Steigerung, einer nicht selten bis zur Virtuosität sich erhebenden Poten— zierung, und andelseits einer entschiedenen, oft bis unter das Niveau des Menschlichen führenden Herabminderung und Schwächung des Seelenlebens.“ ' § 367„Was das erstere betrifft, wer könnte nicht aus eigener Er
fahrung bestätigen, daß in dem Schaffen und Wehen des Traum— genius bisweilen eine Tiefe und Innigkeit des Gemütes, eine Zartheit der Empfindung, eine Klarheit der Anschauung, eine Fein heit der Beobachtung, eine Sclflagfertigkeit des Witzes zutage tritt, wie wir solches alles als konstantes Eigentum während des wachen Lebens zu besitzen bescheidentlich in Abrede stellen Würden? Der Traum hat eine wunderbare Poesie, eine treffl.iche § 368§ 369
Widersprüche der Traum.whiitmng 67
§ 370Allegerie, einen unvergleichlichen Humor, eine köstliche Ironie.
Er schauet die Welt in einem eigentümlich idealisierenden Lichte, und potenziert den Effekt ihrer Erscheinungen oft im sinnigsten Verständnisse des ihnen zum Grunde liegenden Wesens. Er stellt uns das irdisch Schöne in wahrhaft himmlischem Glanze, das Erhabene in höchster Majestät, das erfahrungsgemäß Furchtbare in der grauenvollsten Gestalt, das Lächerliche mit unbeschreiblich drastischer Komik vor Augen; und bisweilen sind wir nach dem Erwachen irgend eines dieser Eindrücke noch so voll, daß es uns vorkommen will, dergleichen habe die wirkliche Welt uns noch nie und niemals geboten.“ § 371Man darf sich fragen, ist es wirklich das nämliche Objekt, dem
jene geringschätzigen Bemerkungen und diese begeisterte An § 372'preisung gilt? Haben die einen die blödsinnigen Träume, die
anderen die tiefsinnigen und feinsinnigen übersehen? Und wenn beiderlei vorkommt, Träume, die solche und die jene Beurteilung verdienen, scheint es da nicht müßig, nach einer psychologi— schen Charakteristik des Traurnes zu suchen, genügt es nicht zu sagen, im Traume sei alles möglich, von der tiefsten Herab— setzung des Seelenlebens bis zu einer im Wachen ungewohnten Steigerung desselben? So bequem diese Lösung wäre, sie hat dies eine gegen sich, daß den Bestrebungen aller Traumfurscher die Voraussetzung zugrunde zu liegen scheint, es gäbe eine solche, in ihren wesentlichen Zügen allgemeingültige Charaktt.L ristik des Traumes, welche über jene Widersprüche hinweghelfen müßte. § 373Es ist unstreitig, daß die psychischen Leistungen des Traumes
bereitwilligere und wärmere Anerkennung gefunden haben in jener, jetzt hinter uns liegenden, intellektuellen Periode, da die Philo sophie und nicht die exakten Naturwissenschaften die Geister be— herrschte. Aussprüche, wie die von Schubert, daß der Traum eine Befreiung des Geistes von der Gewalt der äußeren Natur sei, eine Loslösung der Seele von den Fesseln der Sinnlichkeit, § 3745.
§ 375§ 376
68 I. Die wüsmsclmftlüthe Literatur der Traumprablemz
§ 377und ähnliche Urteile von dem jüngeren Fichte‘ 11. a., welche
sämtlich den Traum als einen Aufschvwmg des Seelenlebens zu einer höheren Stufe darstellen, erscheinen uns heute kaum bc— greiflich; sie werden in der Gegenwart auch nur bei Mystikern und Frömmlern wiederholt. [E 19] Mit dem Eindringen naturwissen schaftlicher Denkweise ist eine Reaktion in der Würdigung des Traumes einhergegangen. Gerade die ärztlichen Autoren sind am ehesten geneigt, die psychische Tätigkeit im Traume für gering— fügig und wertlos anzuschlagen, während Philosophen und nicht zünftige Beobachter —- Amateurpsychologen, — deren Beiträge gerade auf diesem Gebiete nicht zu vemachlässigen sind, im besseren Einvernehmen mit den Ahnungen des Volkes, meist an dem psychischen Wert der Träume festgehalten haben. Wer zur Geringschätzung der psychischen Leistung im Traume neigt, der bevorzugt begreiflicherweise in der Traumätiologie die somatischen Reizquellen; für den, welcher der träumenden Seele den größeren Teil ihrer Fähigkeiten im Wachen belassen hat, entfällt natürlich jedes Motiv, ihr nicht auch selbständige Anregungen zum Träumen zuzugestehen. § 378Unter den Überleistungen, welche man auch bei nüchterner
Vergleichung versucht sein kann, dem Traumleben zuzuschreiben, ist die des Gedächtnisses die auffälligste, wir haben die sie be— weisenden, gar nicht seltenen Erfahrungen ausführlich behandelt. Ein anderer, von alten Autoren häufig gepüesener Vorzug des Traumlebeus, daß es sich souverän über Zeit- und Ortsent— femungen hinwegzusetzen vermöge, ist mit Leichtigkeit als eine Illusion zu erkennen. Dieser Vorzug ist, wie Hildebrandt be merkt, eben ein illusorischer Vorzug; das Träumen setzt sich über Zeit und Raum nicht anders hinweg als das wache Denken, und eben weil es nur eine Form des Denkens ist. Der Traum sollte sich in bezug auf die Zeitlichkeit noch eines anderen Vorzuges erfreuen, noch in anderem Sinne vom Ablauf der Zeit unabhängig § 379:) Vgl. Haffner und Spitta.
§ 380§ 381
Überleiszungen des Traum 69
§ 382sein. Träume7 wie der oben S. 29 mitgeteilte Maurys von seiner
Hinrichtung durch die Guillotine, scheinen zu beweisen, daß der Traum in eine sehr kurze Spanne Zeit weit mehr Wahrnehmungs— inhalt zu drängen vermag, als unsere psychische Tätigkeit im Wachen Denkinhalt bewältigen kann. Diese Folgerung ist indes mit mannigfaltigen Argumenten bestritten werden; seit den Auf sätzen von Le Lorrain und Egger „über die scheinbare Dauer der Träume“ hat sich hierüber eine interessante Diskussion an gesponnen, welche in dieser heikeln und tiefreichenden Frage wahrscheinlich noch nicht die letzte Aufklärung erreicht hat„ [E 20] § 383Daß der Traum die intellektuellen Arbeiten des Tages aufzu
nehmen und zu einem bei Tag nicht erreichten Abschluß zu‘ bringen vermag, daß er Zweifel und Probleme lösen, bei Dichtern und Komponisten die Quelle neuer Eingebungen werden kann, scheint nach vielfachen Berichten und nach der von Chabaneix angestellten Sammlung unbestreitbar zu sein. Aber wenn auch nicht die Tatsache, so unterliegt doch deren Auffassung vielen, ans Prinzipielle streifenden Zweifeln. [E 21] § 384Endlich bildet die behauptete divinatorische Kraft des Traumes
ein Streitobjekt, an welchem schwer überwindliche Bedenken mit hartnäckig wiederholten Versicherungen zusanunentreffen. Man vermeidet es —— und wohl mit Recht, — alles Tatsächliche an diesem Thema abzuleugnen, weil für eine Reihe von Fällen die Möglichkeit einer natürlichen psychologischen Erklärung vielleicht nahe bevorsteht. § 385F
§ 386Die ethischen Gefühle im Traume
§ 387Aus Motiven, welche erst nach Kenntnisnahme meiner eigenen
Untersuchungen über den Traum verständlich werden können, habe ich von dem Thema der Psychologie des Traumes das Teil-» problem abgesondert, ob und inwieweit die moralischen Dis— positionen und Empfindungen des Wachens sich ins Traumleben § 388§ 389
70 I. Die wissenschaftlich: Literatur der Traumprobleme
§ 390erstrecken. Der nämliche Widerspruch in der Darstellung der
Autoren, den wir für alle anderen seelischen Leistungen mit Befremden bemerken mußten, macht uns auch hier betroffen. Die einen versichern mit ebensolcher Entschiedenheit, daß der Traum von den sittlichen Anforderungen nichts weiß, wie die andern, daß die moralische Natur des Menschen auch fürs Traum— leben erhalten bleibt. § 391Die Berufung auf die allnächtliche Traumerfahrung scheint die
Richtigkeit der ersteren Behauptung über jeden Zweifel zu er— heben. Jessen sagt (8. 555): „Auch besser und tugendhafter wird man nicht im Schlafe, vielmehr scheint das Gewissen in den Träumen zu schweigen, indem man kein Mitleid empfindet und die schwersten Verbrechen, Diebstahl, Mord und Totschlag mit völliger Gleichgültigkeit und ohne nachfolgende Reue verüben kann.“ § 392Radestock (S. 14.6): „Es ist zu berücksichtigen, daß die Asso
ziationen im Traume ablaufen und die Vorstellungen sich verbinden, ohne daß Reflexion und Verstand, ästhetischer Geschmack und sitt liches Urteil etwas dabei vermögen; das Urteil ist höchst schwach und es herrscht ethische Gleichgültigkeit vor.” § 393Volkelt (S. 95): „Besonders zügellos aber geht es, wie jeder
weiß, im Traume in geschlechtlicher Beziehung zu. Wie der Träumende selbst aufs äußerste schamlos und jedes sittlichen Gefühls und Urteils verlustig ist, so sieht er auch alle anderen und selbst die verehrtesten Personen mitten in Handlungen, die er im Wachen auch nur in Gedanken mit ihnen zusammen— zubringen sich scheuen würde.“ § 394Den schärfsten Gegensatz hiezu bilden Äußerungen wie die
von Schopenhauer, daß jeder im Traum in vollster Gemäßheit seines Charakters handelt und redet. R. Ph. Fischerl behauptet, daß die subjektiven Gefühle und Bestrebungen, oder Aflekte und § 3951) Grundzüge des Systems der Anthropologie. Erlangen 1850. (Nach Spittn.)
§ 396§ 397
Unsittliclw Träume 7 1
§ 398Leidenschaften in der Willkür des Traumlebens sich offenbaren,
daß die moralischen Eigentümlichkeiten der Personen in ihren Träumen sich spiegeln. § 399Haffner (S. 25): „Seltene Ausnahmen abgerechnet, . . . wird
ein tugendhafter Mensch auch im Traum tugendhaft sein; er wird den Versuchungen widerstehen, dem Haß, dem Neid, dem Zorn und allen Lastern sich verschließen; der Mann der Sünde aber wird auch in seinen Träumen in der Regel die Bilder finden, die er im Wachen vor sich hatte.“ § 400Scholz (S. 56): „Im Traum ist Wahrheit, trotz aller Mas
kierung in Hoheit oder Erniedrigung erkennen wir unser eigenes Selbst wieder . . . Der ehrliche Mann kann auch im Traume kein entehrendes Verbrechen begehen, oder wenn es doch der Fall ist, so entsetzt er sich darüber, als über etwas seiner Natur Fremdes. Der römische Kaiser, der einen seiner Untertanen hin— richten ließ, weil diesem geträumt hatte, er habe dem Kaiser den Kopf abschlagen lassen, hatte darum so Unrecht nicht, wenn er dies damit rechtfertigte, daß, wer so träume, auch ähnliche Gedanken im Wachen haben müsse. Von etwas, das in unserem Innern keinen Raum haben kann, sagen wir deshalb auch be zeichnenderweise: Es fällt mir auch im Traum nicht ein.“ [E 22] § 401Paff‘ sagt geradezu in Abänderung eines bekannten Sprich
wortes: „Erzähle mir eine Zeitlang deine Träume, und ich will dir sagen, wie es um dein Inneres steht.“ § 402Die kleine Schrift von Hildebrandt, der ich bereits so zahl
reiche Zitate entnommen habe, der formvollendetste und ge dankenreichste Beitrag zur Erforschung der Traumprobleme, den ich in der Literatur gefunden, rückt gerade das Problem der Sittlichkeit im Traume in den Mittelpunkt ihres Interesses. Auch für Hildebrandt steht es als Regel fest: Je reiner das Leben, desto reiner der Traum; je unreiner jenes, desto um'einer dieser. § 403]) Das Traumleben und seine Deutung. 1868 (bei Spittu, S. 192}.
§ 404§ 405
79 I. Die wüsemchaftlichz Literatur der Traumprobleme
§ 406Die sittliche Natur des Menschen bleibt auch im Traume be
stehen: „Aber während kein noch so handgreiflicher Rechnungs fehler, keine mich so romantische Umkehr der Wissenschaft, kein noch so scherzhafter Anachronismus uns verletzt oder uns auch nur verdächtig wird, so geht uns doch der Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Tugend und Laster nie verloren. Wie vieles auch von dem, was am Tage mit uns geht, in den Schlummerstunden weichen mag — Kants kategorischer Imperativ hat sich als untrennbarer Be gleiter so an unsere Fersen geheftet, daß wir ihn auch schlafend nicht los werden . . . Erklären aber läßt sich (diese Tatsache) eben nur daraus, daß das Fundamentale der Menschennatur, das sittliche Wesen, zu fest gefügt ist, um an der Wirkung der kaleidoskopischen Durchschüttelung Teil zu nehmen, welcher Phantasie, Verstand, Gedächtnis und sonstige Fakultäten gleichen Ranges im Traume unterliegen.“ (S. 4.5 u. E.) § 407In der weiteren Diskussion des Gegenstandes sind nun merk—
würdige Verschiebungen und Inkonsequenzen bei beiden Gruppen von Autoren hervorgetreten. Streng genommen wäre für alle die jenigen, welche meinen, im Traum zerfalle die sitt.liche Per sönlichkeit des Menschen, das Interesse an den unmoralischen Träumen mit dieser Erklärung zu Ende. Sie könnten den Ver— such, den Träumer für seine Träume verantwortlich zu machen, aus der Schlechtigkeit seiner Träume auf eine böse Regung in seiner Natur zu schließen, mit derselben Ruher ablehnen wie den an scheinend gleichwertigen Versuch, aus der Absurdität seiner Träume die Wertlosigkeit seiner intellektuellen Leistungen im Wachen zu erweisen. Die anderen, für die sich „der kategorische Imperativ“ auch in den Traum erstreckt, hätten die Verantwortlichkeit für un— moralische Träume ohne Einschränkung anzunehmen; es wäre ihnen nur zu wünschen, daß eigene Träume von solch verwerf licher Art sie nicht an der sonst festgehaltenen Wertschätzung der eigenen Sittlichkeit irre machen müßten. § 408§ 409
Die Verantwortlichkeit für den Inhalt der Träume 75
§ 410Nun scheint es aber, daß niemand von sich selbst so recht
sicher weiß, inwieweit er gut oder böse ist, und daß niemand die Erinnerung an eigene unmoralische Träume verleug‘nen kann. Denn über jenen Gegensatz in der Beurteilung der Traum moralität hinweg zeigen sich bei den Autoren beider Gruppen Bemühungen, die Herkunft der unsittlichen Träume anfzuklären, und es entwickelt sich ein neuer Gegensatz, je nachdem deren Ursprung in den Funktionen des psychischen Lebens oder in somatisch bedingten Beeinträchtigungen desselben gesucht wird. Die zwingende Gewalt der Tatsächlichkeit läßt dann Vertreter der Verantwortlichkeit wie der Unverantwortlichkeit des Traum lebens in der Anerkennung einer besonderen psychischen Quelle für die Immoralität der Träume zusammentreffen. § 411Alle die, welche die Sittlichkeit im Trauma fortbestehen lassen,
hüten sich doch davor, die volle Verantwortlichkeit für ihre Träume zu übernehmen. Haffner sagt (S. 94.): „Wir sind für Träume nicht verantwortlich, weil unserem Denken und Wollen die Basis entrückt ist, auf welcher unser Leben allein Wahrheit und Wirklichkeit hat . . . Es kann eben darum kein Traum wollen und Traumhandeln Tugend oder Sünde sein.“ Doch ist der Mensch für den sündhaften Traum verantwortlich, sofern er ihn indirekt verursacht. Es erwächst für ihn die Pflicht, wie im Wachen, so ganz besonders vor dem Schlafengehen seine Seele sittlich zu reinigen. § 412Viel tiefer reicht die Analyse dieses Gemenges von Ablehnung
und von Anerkennung der Verantwortlichkeit für den sittlichen Inhalt der Träume bei Hildebrandt. Nachdem er ausgeführt, daß die dramatische Darstellungsweise des Traumes, die Zu sammendräng'ung der kompliziertesten Überlegungsvorgänge in das kleinste Zeiträumehen, und die auch von ihm zugestandene Entwertung und Vermeng1mg der Vorstellungselemente im Trauma gegen den unsittlichen Anschein der Träume in Abzug gebracht werden muß, gesteht er, daß es doch den ernstesten Bedenken § 413§ 414
74. I. Die wßsemchaftlü:he Literatur der Traumprobleme
§ 415unterliege, alle Verantwortung für Traumsünden und Schulden
schlechthin zu leugnen. § 416(S. 4.9): „Wenn wir irgend eine ungerechte Anklage, nament—
lich eine solche, die sich auf unsere Absichten und Gesinnung-en bezieht, recht entschieden zurückweisen wollen, so gebrauchen wir wohl die Redensart: Das sei uns nicht im Traume einge fallen. Damit sprechen wir allerdings einerseits aus, daß wir das Traumgebiet für das feinste und letzte halten, auf welchem wir für unsere Gedanken einzustehen hätten, weil dort diese Ge danken mit unserem wirklichen Wesen nur so lose und locker mammenhängen, daß sie kaum noch als die nnsrigen betrachtet werden dürfen; aber indem wir eben auch auf diesem Gebiete das Vorhandensein solcher Gedanken ausdrücklich zu leugnen uns veranlaßt fühlen, so geben wir doch indirekt damit zugleich zu, daß unsere Rechtfertigung nicht vollkommen sein würde, wenn sie nicht bis dort hinüber reichte. Und ich glaube, wir reden hier, wenn auch unbewußt, die Sprache der Wahrheit.“ § 417(S. 52) „Es läßt sich nämlich keine Traumtat denken, deren
erstes Motiv nicht irgendwie als Wunsch, Gelüste, Regung vorher durch die Seele des Wachenden gezogen wäre.“ Von dieser ersten Reg-ung müsse man sagen: Der Traum erfand es nicht —- er bildete es nur nach und spann’s nur aus, er bearbeitete nur ein Quentlein historischen Stoffes, das er bei uns vorgefunden hatte, in dramatischer Form; er setzte das Wort des Apostels in Szene: Wer seinen Bruder haßt, der ist ein Totschläger. Und während man das ganze, breit ausgeführte Gebilde des lasterhaften Traumes nach dem Erwachen, seiner sittlichen Stärke bewußt, belächeln kann, so will jener ursprüngliche Bildungsstoff sich doch keine lächerliche Seite abgewinnen lassen. Man fühlt sich für die Ver irrungen des Träumenden verantwortlich, nicht für die ganze Summe, aber doch für einen gewissen Prozentsatz. „Kurz, ver stehen Wir in diesem schwer anzufechtenden Sinne das Wort Christi: Aus dem Herzen kommen arge Gedanken -— dann § 418§ 419
V ernwhungsgedanken 75
§ 420können wir auch kaum der Überzeugung uns erwehren, daß jede
im Traum begangene Sünde ein dunkles Minimum wenigstens von Schuld mit sich führe.“ § 421In den Keimen und Andeutungen böser Regungen, die als
Versuchungsgedanken tagsüber durch unsere Seelen ziehen, findet also Hildebrandt die Quelle für die hnmoralität der Träume, und er steht nicht an, diese immeralischen Elemente bei der sittl.ichen Wertschätzung der Persönlichkeit einzurechnen. Es sind dieselben Gedanken und die nämliche Schätzung derselben, welche, wie wir wissen, die Frommen und Heiligen zu allen Zeiten klagen ließ, sie seien arge Sünder. [E 23] § 422An dem allgemeinen Vorkommen dieser kontrastierenden
Vorstellungen — bei den meisten Menschen und auch auf anderem als ethischem Gebiete —— besteht wohl kein Zweifel. Die Beurteilung derselben ist gelegentlich eine minder ernsthafte gewesen. Bei Spitta findet sich folgende hieher gehörige Äußerung von A. Zeller (Artikel „In-e“ in der allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften von Ersch und Gruber) zitiert (S. 14.4): „So glücklich ist selten ein Geist organisiert, daß er zu allen Zeiten volle Macht besäße und nicht immer wieder nicht allein un— wesentliche, sondern auch völlig fratzenhafte und widersirmige Vorstellungen den stetigen, klaren Gang seiner Gedanken unter brächen, ja die größten Denker haben sich über dieses traum— artige, neckende und peinliche Gesindel von Vorstellungen zu beklagen gehabt, da es ihre tiefsten Betrachtungen und ihre heiligste und ernsthafteste Gedankenarbeit stört.“ § 423Ein heHeres Licht fällt auf die psychologische Stellung dieser
Kontrastgedanken aus einer weiteren Bemerkung von Hildebrandt, daß der Traum uns wohl bisweilen in Tiefen und Falten unseres Wesens blicken lasse, die uns im Zustande des Wachens meist verschlossen bleiben (3. 55). Dieselbe Erkenntnis verrät Kant an einer Stelle der Anthropologie, wenn er meint, der Traum sei wohl dazu da, um uns die verborgenen Anlagen zu entdecken § 424§ 425
76 I. Diz wissenschaftlich: Literatur der Traumprobleme
§ 426und uns zu offenbaren, nicht was wir sind, sondern was wir
hätten werden können, wenn wir eine andere Erziehung gehabt hätten; Radestock (S. 84.) mit den Worten, daß der Traum uns oft nur offenbart, was wir uns nicht gestehen wollen, und daß wir ihn darum mit Unrecht einen Lügner und Betrüger scheiten. [E 24] Wir werden aufmerksam gemacht, daß das Auftauchen dieser, unserem sittlichen Bewußtsein fremden Antriebe nur analog ist zu der uns bereits bekannten Verfügung des Traun-res über anderes Vorstellungsmaterial, welches dem Wachen fehlt oder darin eine geringfügige Rolle spielt, durch Bemerkungen, wie die von Benini: „Carte nostre inclinazioni che si credevano sqfi'ocate :: spente da un pezzo, si ridestano; passioni vecchl'e @ sepolte rivivono; case 2 persone a cui non pensiamo mai, ci vengono dinanzi“ (p. 149), und von Volkelt: „Auch Vorstellungen, die in das wache Bewußtsein fast unbeachtet eingegangen sind und von ihm vielleicht nie wieder der Vergessenheit entzogen würden, pflegen sehr häufig dem Traum ihre Anwesenheit in der Seele kund zu tun“ (S. 105). Endlich ist es hier am Platze uns zu erinnern, daß nach Schleiermacher schon das Einschlafen vom Hervortreten ungewollter Vorstellungen (Bilder) begleitet war. § 427Als „ungewollte Vorstellungen“ dürfen wir nun dies ganze
Vorstellungsmaterial zusammenfassen, dessen Vorkommen in den unmoralischen wie in den absurden Träumen unser Befremden erregt. Ein wichtiger Unterschied liegt nur darin, daß die unge wollten Vorstellungen auf sittlichem Gebiet den Gegensatz zu unserem sonstigen Empfinden erkennen lassen, während die anderen uns bloß fremdartig erscheinen. Es ist bisher kein Schritt geschehen, der uns ermöglichte, diese Verschiedenheit durch tiefer gehende Erkenntnis aufzuhehen. § 428Welche Bedeutung hat nun das Hervortreten ungewollter Vor
stellungen im Traume, welche Schlüsse für die Psychologie der wachenden und der träumenden Seele lassen sich aus diesem nächtlichen Auftauchen kontrastierender ethischer Begungen ab— § 429§ 430
Kontrastierende und ungewollte Vorstellungen 77
§ 431leiten? Hier ist eine neue Meinungsverschiedenheit und eine aber—
mals verschiedene Gruppierung der Autoren zu verzeichnen. Den Gedankengang von Hildebrandt und anderen Vertretern seiner Grundansicht kann man wohl nicht anderswohin fortsetzen, als daß den unmoralischen Regungen auch im Wachen eine gewisse Macht innewohne, die zwar gehemmt ist, bis zur Tat vorzu dringen, und daß im Schlaf etwas wegfalle, was, gleichfalls wie eine Hemmung wirksam, uns gehindert habe, die Existenz dieser Regung zu bemerken. Der Traum zeigte so das wirkliche, wenn auch nicht das ganze Wesen des Menschen, und gehörte zu den Mitteln, das verborgene Seeleninnere für unsere Kenntnis zu— gänglich zu machen. Nur von solchen Voraussetzungen her kann Hildebrandt dem Traum die Rolle eines Warner-5 zuweisen, der uns auf verborgene sittliche Schäden unserer Seele aufmerk— sam macht, wie er nach dem Zugeständnis der Ärzte auch bisher unbemerkte körperliche Leiden dem Bewußtsein verkünden kann. Und auch Spitta kann von keiner anderen Auffassung geleitet sein, wenn er auf die Erregungsquellen hinweist, die z. B. zur Zeit der Pubertät der Psyche zufließen, und den Träumer tröstet, er habe alles getan, was in seinen Kräften steht, wenn er im Wachen einen streng tugendhaften Lebenswandel geführtflund sich bemüht, die sündigen Gedanken, so oft sie kommen, zu unterdrücken, sie nicht reifen und zur Tat werden zu lassen. Nach dieser Auffassung könnten wir die „ungewollten“ Vor— stellungen als die Während des Tages „unterdrückten“ be zeichnen und müßten in ihrem Auftauchen ein echtes psychisches Phänomen erblicken. § 432Nach anderen Autoren hätten wir kein Recht zu letzterer
Folgerung. Für Jessen stellen die ungewollten Vorstellungen im Traume wie im Wachen und in Fieber— und anderen Delirien „den Charakter einer zur Ruhe gelegten Willenstätigkeit und eines gewissermaßen mechanischen Prozesses von‘Bildern und Vorstellungen durch innere Bewegungen der“ (S. 560). Ein § 433§ 434
78 I. Die wissenschufiliche Literatur der Traumprobleme
§ 435unmoralischer Traum beweise weiter nichts für das Seelenleben
des Träumers, als daß dieser von dem betreffenden Vorstellungs inhalt irgendwie einmal Kenntnis gewonnen habe, gewiß nicht eine ihm eigene Seelenregung. Bei einem anderen Autor, Manz-y, könnte man in Zweifel geraten, ob auch nicht er dem Traum zustand die Fähigkeit zuschreibt, die seelische Tätigkeit nach ihren Komponenten zu zerlegen, anstatt sie planlos zu zerstören. Er sagt von den Träumen, in denen man sich über die Schranken der Moralität hinaussetzt: „Ce sont nos penchants qui parlent et qui nous font agir, sans que la conscience nous retienne, bien que parfois elle nous avertisse. J’ai mes defauts et mes penchants uicieux; & l’état de ueille, je täche de lutter contre aux, et il m'arrive assez souoent de n’y pas succamber. Mais dans mes songes ]”y succombe toujours ou pour mieuz dire j’agz's par leur impulsz'on, sans craz'nte et sans remords . . . Evfdernment les visions qui se de'roulent devant ma pem‘e’e et qui constituent le réve, me sont sugge're’es par les incitations que je ressens et que ma volonte' absente ne cherche pas 21 re_'fouler.“ (Le sommeil, p. 115.) § 436Wenn man an die Fähigkeit des Traumes glaubte, eine wirklich
vorhandene aber unterdrückte oder versteckte unmoralische Dis position des Träumers zu enthüllen, so könnte man dieser Meiiiung schärferen Ausdruck nicht geben als mit den Worten Maurys (p. 115): „En réve l’homme se re'véle done tout ander & soi-méme dans sa nudite' et sa misére natives. Dés qu’il suspend l’exercice de sa volonte', il devient le jouet de toutes les passions contre lesquelles, & l’e'tat de veille la consoience, le sentiment d’honneur, la crainte nous de’fendent.“ An anderer Stelle findet er das trefl‘ende Wort: (p. 4.69) „Dans le réue, c’est surtout l’homme instinctif qui se re’véle. . . L’homme revient pour ainsi dire z‘z l’e’tot ale nature quand il réve; mais meins les idées acquises ont pe'nétré dans son esprit, plus les penchants en de'saccord avec elles conservent ensure sur lui d’influence dans le réve.“ Er führt dann als Beispielen, daß seine Träume ihn nicht selten als § 437§ 438
Traumthzorizn 7 9
§ 439Opfer gerade jenes Abergiaubens zeigen, den er in seinen Schriften
am heftigsten bekämpft hat. § 440Der Wert all dieser scharfsinnigen Bemerkungen für eine
psychologische Erkenntnis des Traumlebens wird aber bei Maury dadurch beeinträchtigt, daß er in den von ihm so richtig beob achteten Phänomenen nichts als Beweise für den automatisme psychologique sehen will, der nach ihm das Traumleben beherrscht. Diesen Automatismus faßt er als vollen Gegensatz zur psychischen Tätigkeit. § 441Eine Stelle in den „Studien über das Bewußtsein“ von Stricker
lautet: „Der Traum besteht nicht einzig und allein aus Täuschungen; wenn man sich z. B. im Traum vor Räubern fürchtet, so sind die Räuber zwar imaginär, die Furcht aber ist real.“ So wird man darauf aufmerksam gemacht, daß die Afl'ektentwicklung im Trauma die Beurteilung nicht zuläßt, welche man dem übrigen Traum inhalt schenkt, und das Problem wird vor uns aufgerollt, was an den psychischen Vorgängen im Traum real sein mag, das heißt einen Anspruch auf Einreihung unter die psychischen Vor gänge des Wachens beanspruchen darf? § 442G
§ 443Traumtheorien und Funktion des Traumes
§ 444Eine Aussage über den Traum, welche möglichst viele der
beobachteten Charaktere desselben von einem Gesichtspunkte aus zu erklären versucht und gleichzeitig die Stellung des Traumes zu einem umfassenderen Erscheinungsgehiet bestim.mt, wird man eine Traumtheorie heißen dürfen. Die einzelnen Traumtheorien werden sich darin unterscheiden, daß sie den oder jenen Charakter des Traumes zum wesentlichen erheben, Erklärungen und Be ziehungen an ihn anknüpfen lassen. Eine Funktion, d. i. ein Nutzen oder eine sonstige Leistung des Traumes, wird nicht notwendig aus der Theorie ableitbar sein müssen, aber unsere § 445§ 446
80 I. Die wisszmwhafllichz Literatur‘der Traumprobleme
§ 447auf die Teleologie gewohnheitsgemäß gerichtete Erwartung wird
doch jenen Theorien entg'egenkommen, die mit der Einsicht in eine Funktion des Traumes verbunden sind. § 448Wir haben bereits mehrere Auffassungen des Traumes kennen
gelernt, die den Namen von Traumtheorien in diesem Sinne mehr oder weniger verdienten. Der Glaube der Alten, daß der Traum eine Sendung der Götter sei, um die Handlungen der Menschen zu lenken, war eine vollständige Theorie des Traumes, die über alles am Traum Wissenswerte Auskunft erteilte. Seitdem der Traum ein Gegenstand der biologischen Forschung geworden ist, kennen wir eine größere Anzahl von Traumtheorien, aber darunter auch manche recht unvollständige. § 449Wenn man auf Vollzähligkeit verzichtet, kann man etwa fol
gende lockere Gruppierung der Traumtheorien versuchen, je nach der zugrunde gelegten Annahme über Maß ,und Art der psy chischen Tätigkeit im Traum: § 450I ) Solche Theorien, welche die volle psychische Tätigkeit des
Wachens sich in den Traum fortsetzen lassen, wie die von Delboeuf. Hier schläft die Seele nicht, ihr Apparat bleibt intakt, aber unter die vom Wachen abweichenden Bedingungen des Schlafzustandes gebracht, muß sie bei normalem Funktionieren andere Ergebnisse liefern als im Wachen. Bei diesen Theorien fragt es sich, ob sie imstande sind, die Unterschiede des Traumes von dem Wachdenken sämtlich aus den Bedingungen des Schlaf zustandes abzuleiten. Überdies fehlt ihnen ein möglicher Zugang zu einer Funktion des Traumes; man sieht nicht ein, wozu man träumt, warum der komplizierte Mechanismus des seelischen Appa rates weiter spielt, auch wenn er in Verhältnisse versetzt wird, für die er nicht berechnet scheint. Traumlos schlafen oder, wenn störende Reize kommen, aufwachen, bleiben die einzig zweck mäßigen Reaktionen anstatt der dritten, der des Träumens. § 4512) Solche Theorien, welche im Gegenteile für den Traum eine
Herabsetzung der psychischen Tätigkeit, eine Auflockerung der § 452§ 453
Traumtbeorien ' 8 1
§ 454Zusammenhänge, eine Verarmung an anspruchsfiihigem Material
annehmen. Diesen Theorien zufolge müßte eine ganz andere psychologische Charakteristik des Schlafes gegeben werden als etwa nach Delboeuf. Der Schlaf erstreckt sich weit über die Seele, er besteht nicht bloß in einer Ahsperrung der Seele von der Außenwelt, er dringt vielmehr in ihren Mechanisrfius ein und macht ihn zeitweilig unbrauchbar. Wenn ich einen Vergleich mit psychiatrischem Material heranziehen darf, so möchte ich sagen, die ersteren Theorien konstruieren den Traum wie eine Paranoia, die zweiterwähnten machen ihn zum Vorhilde des Schwachsinn; oder einer Amentia. § 455Die Theorie, daß im Traumleben nur ein Bruchteil der durch
den Schlaf lehmgelegten Seelentätigkeit zum Ausdruck komme, ist die bei ärztlichen Schriftstellem und in der wissenschaftlinhen Welt überhaupt weit bevorzugte. Soweit ein allgemeineres Interesse für Traumerklärlmg vorauszusetzen ist, darf man sie wohl als die herrschende Theorie des Traumes bezeichnen. Es ist hervorzu heben, mit welcher Leichtigkeit gerade diese Theorie die ärgste Klippe jeder Traumerklärnng, nämlich cias Scheitern an einem § 456§ 457
82 I. Die wisszmrhaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 458stoffe und immer mehr von ihnen wird zerlegt oder von dem
restlos treibenden Blutstrom fortgespült. Da und dort leuchten schon einzelne Zellenhaufen wach geworden hervor, Während ringsumher noch alles in Erstarrung ruht. Es tritt nun die isolierte Arbeit der Einzelgruppen vor un’ser umnebeltes Bewußtsein, und zu ihr fehlt die Kontrolle anderer, der Assoziation vorstehender Gehirnteile. Darum fügen die geschaffenen Bilder, welche meist den materiellen Eindrücken naheliegender Ver gangenheit entsprechen, sich wild und regellos aneinander. Immer größer wird die Zahl der freiwerdenden Gehirnzellen, immer geringer die Unvernunft des Traumes.“ § 459Man wird die Auffassung des Träumens als eines unvollständigen,
partiellen Wachens, oder Spuren von ihrem Einflusse, sicherlich bei“ allen modernen Physiologen und Philosophen finden. Am ausführlichsten ist sie bei Maury dargestellt. Dort hat es oft den Anschein, als stellte sich der Autor das Wachsein oder Einge schlafensein nach anatomischen Regionen verschiebbar vor, wobei ihm allerdings eine anatomische Provinz und eine bestimmte psychische Funktion aneinander gebunden erscheinen. Ich möchte hier aber nur andeuten, daß, wenn die Theorie des partiellen Wachens sich bestätigte, über den feineren Ausbau derselben sehr viel zu verhandeln wäre. § 460Eine Funktion des Traumes kann sich bei dieser Auffassung
des Traumlebens natürlich nicht herausstellen. Vielmehr wird das Urteil über die Stellung und Bedeutung des Traumes konsequenterweise durch die Äußerung von Binz gegeben (5. 557): „Alle Tatsachen, wie wir sehen, drängen dahin, den Traum als einen körperlichen, in‘ allen Fällen unnützen, in vielen Fällen geradezu krankhaften Vorgang zu kennzeichnen . . .“ § 461Der Ausdruck „körperlic “ mit Beziehung auf den Traum,
der seine Hervorhebung dem Autor selbst verdankt, weist wohl nach mehr als einer Richtung. Er bezieht sich zunächst auf die Traumätiologie, die ja Binz besonders nahe lag, wenn er die § 462§ 463
Der partielle Schlaf ' 85
§ 464experimentelle Erzeugung von Träumen durch Darreichung von
Giften studierte. Es liegt nämlich im Zusammenhange dieser Art von Traumtheorlen, die Anregung zum Träumen womöglich aus schließlich von somatischer Seite ausgehen zu lassen. In extremster Form dargestellt, lautete es 50: Nachdem wir durch Entfernung der Reize uns in Schlaf versetzt haben, wäre zum Träumen kein Bedürfnis und kein Anlaß bis zum Morgen, wo das all— mähliche Erwachen durch die neu anlangenden Reize sich in dem Phänomen des Träumens spiegeln könnte. Nun gelingt es aber nicht, den Schlaf reizlos zu halten; es kommen, ähnlich wie Mephisto von den Lebenskeimen klagt, von überall her Reize an den Schlafenden heran, von außen, von innen, von all den Körpergebieten sogar, um die man sich als Wachender nie ge kümmert hat. So wird der Schlaf gestört, die Seele bald an dem, bald an jenem Zipfelchen wach gerüttelt und funktioniert dann ein Weilchen mit dem geweckten Teil, froh wieder einzuschlafen. Der Traum ist die Reaktion auf die durch den Reiz verursachte Schlafstörung, übrigens eine rein überflüssige Reaktion. § 465Den Traum, der doch immerhin eine Leistung des Seelen—
organs bleibt, als einen körperlichen Vorgang zu bezeichnen, hat aber auch noch einen anderen Sinn. Es ist die Würde eines psychischen Vorganges, die damit dem Traume abgesprochen werden soll. Das in seiner Anwendung auf den Traum bereits sehr alte Gleichnis von den „zehn Fingern eines der Musik ganz unkundigen Menschen, die über die Tasten des Instrumentes hin laufen“ veranschaulicht vielleicht am besten, welche Würdigung die Traumleistung bei den Vertretern der exakten Wissenschaft zumeist gefunden hat. Der Traum wird in dieser Auffassung etwas ganz und gar Undeutbares; denn wie sollten die zehn Finger des unmusikalischen Spielers ein Stück Musik produzieren können? § 466Es hat der Theorie des partiellen Wachens schon frühzeitig
nicht an Einwänden gefehlt Burdach meinte 1850: „Wenn man sagt, der Traum sei ein partielles Wachen, so wird damit erstlich § 467@
§ 468§ 469
84 I. Die wirsemchafih'chz Literatur der Traumprobleme
§ 470weder das Wachen, noch das Schlafen erklärt, zweitens nichts
anderes gesagt, als daß einige Kräfte der Seele im Traume tätig sind, während andere ruhen. Aber solche Ungleichheit findet während dä ganzen Lebens statt . . .“ (S. 485.) § 471An die herrschende Traumtheorie, welche im Traum einen
„körperlichen“ Vorgang sieht, lehnt sich eine sehr interessante Auffassung des Trauma an, die erst 1886 von Robert ausge— sprochen wurde und die bestechend wirkt, weil sie für das Träumen eine Funktion, einen nützlichen Erfolg, anzugeben weiß. Robert nimmt zur Grundlage seiner Theorie zwei Tatsachen der Beobachtung, bei denen wir bereits in der Würdigung des Traummaterials verweilt haben (vgl. S. II), nämlich daß man so häufig von den nebensächlichsten Eindrücken des Tages träumt, und daß man so selten die großen Interessen des Tages mit hinübernimmt. Robert behauptet als ausschließlich richtig: Es werden nie Dinge, die man voll ausgedacht hat, zu Traum erregern, immer nur solche, die einem unfertig im Sinne liegen, oder den Geist flüchtig streifen (S. 10). — „Darum kann man meistens den Traum sich nicht erklären, weil die Ursachen des— selben eben die nicht zum genügenden Erkennen des Träumenden gekommenen Sinneseindrücke des ver flossenen Tages sind.“ Die Bedingung, daß ein Eindruck in den Traum gelange, ist also, entweder daß dieser Eindruck in seiner Verarbeitung gestört wurde, oder daß er als allzu unbedeutend auf solche Verarbeitung keinen Anspruch hatte. § 472Der Traum stellt sich Robert nun dar „als ein körperlicher
Ausscheidungsprozeß, der in seiner geistigen Reaktionserscheinung zum Erkennen gelangt“. Träume sind Ausscheidungen von im Keime erstickten Gedanken. „Ein Mensch, dem man die Fähigkeit nehmen würde, zu träumen, müßte in gegebener Zeit geistesgestört werden, weil sich in seinem Hirn eine Unmasse un fertiger, unausgedachter Gedanken und seichter Eindrücke an sammeln würde, unter deren Wucht dasjenige ersticken müßte, § 473§ 474
Theorie von Robert 85
§ 475was dem Gedächtnisse als fertiges Ganzes einzuverleiben wäre.“
Der Traum leistet dem überbürdetem Gehirn die Dienste eines Sicherheitsventils. Die Träume haben heilende, entlastende Kraft. (S. 59.) § 476Es wäre mißverständlich, an Robert die Frage zu richten,
wie denn durch das Vorstellen im Traum eine Entlastung der Seele herbeigeführt werden kann. Der Autor schließt offenbar aus jenen beiden Eigentümlichkeiten des Traumrnateriales, daß während des Schlafes eine solche Ausstoßung von wertlosen Ein drücken irgendwie als sometischer Vorgang vollzogen werde, und das Träumen sei kein besonderer psychischer Prozeß, sondern nur die Kunde, die wir von jener Aussonderung erhalten. Übrigens ist eine Ausscheidung nicht das einzige, was nachts in der Seele vorgeht. Robert fügt selbst hinzu, daß überdies die Anregungen des Tages ausgearbeitet werden und, „was sich von dem unver— daut ianeiste liegenden Gedankenstofl nicht ausscheiden läßt, wird durch der Phantasie entlehnte Gedankenfäden zu einem abgerundeten Ganzen verbunden und so dem Ge— dächtnisse als unschädliches Phantasiegemälde eingereiht“. (S. 25.) § 477In den schroffsten Gegensatz zur herrschenden Theorie tritt
die Roberts aber in der Beurteilung der Traumquellen. Während dort überhaupt nicht geträumt würde, wenn nicht die äußeren und inneren Sensationsreize die Seele immer wieder weckten, liegt der Antrieb zum Träumen nach der Theorie Roberts in der Seele selbst, in ihrer Überladung, die nach Entlastung verlangt, und Robert urteilt vollkommen konsequent, daß die im körper lichen Befinden liegenden traumbedingenden Ursachen einen unter geordneten Raum einnehmen, und einen Geist, in dem kein dem wachen Bewußtsein entnommener Stoff zur Traumbildung wäre, keinesfalls zum Träumen veranlassen könnten. Zugegeben sei bloß, daß die im Traume aus den Tiefen der Seele heraus sich ent wickelnden Phantasiebilder durch die Nervenreize beeinflußt werden können. (S. 48.) So ist der Traum nach Robert doch § 478§ 479
86 I. Die wüszmchaftliche Literatur der Traumpralzleme
§ 480nicht so ganz abhängig vom Sbmatischen, er ist Zwar kein
psychischer Vorgang, hat keine Stelle unter den psychischen Vorgängen des Wachens, er ist ein allnächtlicher somatischer Vorgang am Apparat der Seelentätigkeit und hat eine Funktion zu erfüllen, diesen Apparat vor Überspannung zu behüten, oder wenn man das Gleichnis wechseln darf: die Seele auszumjsten. § 481Auf die nämlichen Charaktere des Traumes, die in der Aus
wahl des Traummateriales deutlich werden, stützt ein anderer Autor, Yves Delage, seine eigene Theorie, und es ist lehrreich zu beobachten, wie durch eine leise Wendung in der Auffassung derselben Dinge ein Endergebnis von ganz anderer Tragweite gewonnen wird. § 482Delage hatte an sich selbst, nachdem er eine ihm teure Person
durch den Tod verloren, die Erfahrung gemacht, daß man von dem nicht träumt, was einen tagsüber ausgiebig beschäftigt hat, oder erst dann, wenn es anderen Interessen tagsüber zu weichen beginnt. Seine Nachforschungen bei anderen Personen bestätigten ihm die Allgemeinheit dieses Sachverhaltes. Eine schöne Bemer kung dieser Art, wenn sie sich als allgemein richtig heraus— stellte, macht Delage über das Träumen junger Eheleute: „S’ils ont été fortement épris, presque jamais ils n’ont réué l’un de l'autre avant le mariage ou pendant la lune de mid; et s’ils ont réve' d’amour c’est pour étre infidéles avec quelque personne in difi°érente ou adieuse.“ Wovon träumt man nun aber? Delage erkennt das in unseren Träumen vorkommende Material als bestehend aus Bruchstücken und Besten von Eindrücken der letzten Tage und früherer Zeiten. Alles, was in unseren Träumen auftritt, was wir zuerst geneigt sein mögen, als Schöpfung des Traum-_ lebens anzusehen, erweist sich bei genauerer Prüfung als uner kannte Reproduktion, als „souvenz'r inconscient“. Aber dieses Vorstellungsmaterial zeigt einen gemeinsamen Charakter, es rührt von Eindrücken her, die unsere Sinne wahrscheinlich stärker be troffen haben als unseren Geist, oder von denen die Aufmerk § 483§ 484
Theorie von Delage ‘ 87
§ 485samkeit sehr bald nach ihrem Auftauchen wieder abgelenkt wurde.
Je weniger bewußt und dabei je stärker ein Eindruck gewesen ist, desto mehr Aussicht hat er, im nächsten Traum eine Rolle zu spielen. § 486Es sind im wesentlichen dieselben zwei Kategorien von Ein
drücken, die nebensächlichen und die unerledigten, wie sie Robert hervorhebt, aber Belege wendet den Zusammenhang anders, indem er meint7 diese Eindrücke werden nicht, weil sie gleich— gültig sind, traumfähig, sondern weil sie unerledigt sind. Auch die nebensächlichen Eindrücke sind gewissermaßen nicht voll erledigt werden, auch sie sind ihrer Natur nach als neue Ein— dn'icke „autant de ressor2s tendus“, die sich während des Schlafes entspannen werden. Noch mehr Anrecht auf eine Rolle im Traum als der schwache und fast unbeachtete Eindruck wird ein starker Eindruck haben, der zufällig in seiner Verarbeitung aufgehalten wurde oder mit Absicht zurückgedräng‘t werden ist. Die tagsüber durch Hemmung und Unterdrückung aufgespeicherte psychische Energie wird nachts die Triebfeder des Traumes. Im Traum kommt das psychisch Unterdrückte zum Vorschein. [525] § 487Leider bricht der Gedankengang von Delage an dieser Stelle
ab; er kann einer selbständigen psychischen Tätigkeit im Traum nur die geringste Rolle einräumen, und so schließt er sich mit seiner Traumtheorle unvermittelt wieder an die herrschende Lehre vom partiellen Schlafen des Gehirns an: „En sommz le réue est le produit de la pensée errante, sans but et sans direction, se fixant successivement sur les Souvenirs, qui ont garde' assez d’intensité pour se placer sur sa route et l’arréter au passage, e'tablissant entre zur un lien tantöt faiblz et inde'cis, tantöt plus fort et plus serre', selon que l’actiuite’ actualle du cerveau est plus ou meins aboliz par le sommeil.“ § 488}) Zu einer dritten Gruppe kann man jene Theorien des Traumes
vereinigen, welche der träumenden Seele die Fähigkeit und. Neigung zu besonderen psychischen Leistungen zuschreiben, die § 489§ 490
88 I. Dieiwissenschaftliclla Literatur der Trmtmprobleme
§ 491sie im Wachen entweder gar nicht oder nur in unvollkommener
Weise ausführen kann. Aus der Betätigung dieser Fähigkeiten ergibt sich zumeist eine nützliche Funktion des Traumes. Die Wertschätzungen, welche der Traum bei älteren psychologischen Autoren gefunden hat, gehören meist in diese Reihe. Ich will mich aber damit begnügen, an deren Statt die Äußerung von Burdach anzuführen, derzufolge der Traum „die Naturtätigkeit der Seele ist, welche nicht durch die Macht der Individualität beschränkt, nicht durch Selbstbewußtsein gestört, nicht durch Selbstbestimmung gerichtet wird, sondern die in freiem Spiele sich ergehende Lebendigkeit der sensibeln Zentralpunkte ist“ (S. 486). § 492Dieses Schweigen im freien Gebrauch der eigenen Kräfte stellen
sich Burdach u. a. offenbar als einen Zustand vor, in welchem die Seele a'ch erfrischt und neue Kräfte für die Tagesarbeit sam melt, also etwa nach Art eines Ferienurlaubes. Burdach zitiert und akzeptiert darum auch die liebenswürdigen Worte, in denen der Dichter Novalis das Walten des Traumes pr'eist: „Der Traum ist eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlich keit des Lebens, eine freie Erholung der gebundenen Phantasie, wo sie alle Bilder des Lebens durcheinander wirft, und die be— ständige Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen durch ein fröhliches Kinderspiel unterbricht; ohne die Träume würden wir gewiß früher alt, und so kann man den Traum, wenn auch nicht als unmittelbar von oben gegeben, doch als eine köstliche Auf— gabe, als einen freundlichen Begleiter auf der Wallfahrt zum Grabe betrachten.“ ' § 493Die erfrischende und heilende Tätigkeit des Traumes schildert
noch eindringlicher Purkinje (S. 4.56): „Besonders Würden die produktiven Träume diese Funktionen vermitteln. Es sind leichte Spiele der Imagination, die mit den Tagesbegebenheiten keinen Zusammenhang haben. Die Seele will die Spannungen des wachen Lebens nicht fortsetzen, sondern sie auflösen, sich von ihnen er— § 494§ 495
Die Theorie Scherners 89
§ 496holen. Sie erzeugt zuvörderst denen des Wachens entgegengesetzte
Zustände. Sie heilt Traurigkeit durch Freude, Sorgen durch Hoff— nungen und heitere zerstreuende Bilder, Haß durch Liebe und Freundlichkeit, Furcht durch Mut und Zuversicht; den Zwéifel beschwichtigt sie durch Überzeugung und festen Glauben, ver—' gebliche Erwartung durch Erfüllung. Viele wunde Stellen des Gemütes, die der Tag immerwährend offen erhalten würde, heilt der Schlaf, indem er sie zudeckt und vor neuer Aufregung be wahrt. Darauf beruht zum Teil die schmerzenheilende Wirkung der Zeit.“ Wir empfinden es alle, daß der Schlaf eine Wohltat für das Seelenleben ist, und die dunkle Ahnung des Volksbe wußtseins läßt sich offenbar das Vorurteil nicht rauhen, daß der Traum einer der Wege ist, auf denen der Schlaf seine Wohl— taten spendet. § 497Der originellste und weitgehendste Versuch, den Traum aus
einer besonderen Tätigkeit der Seele, die sich erst im Schlaf— zustande frei entfalten kann, zu erklären, ist der von Scherner 1861 unternommene. Das Buch Scherners, in einem schwülen und schwülstigen Stil geschrieben, von einer nahezu trunkenen Begeisterung für den Gegenstand getragen, die abstoßend wirken muß, wenn sie nicht mit sich fortzureißen vermag, setzt einer Analyse solche Schwierigkeiten entgegen, daß wir bereitwillig nach der klareren und kürzeren Darstellung greifen, in welcher der Philosoph Volkelt die Lehren Scherners uns verführt. „Es hlitzt und leuchtet wohl aus den mystischen Zusammenhallungen, aus all dem Pracht— und Glanzgewoge ein ahnungsvoller Schein von Sinn heraus, allein hell werden hiedurch des Philosophen Pfade nicht.“ Solche Beurteilung findet die Darstellung Scherners selbst bei seinem Anhänger. § 498Scherner gehört nicht zu den Autoren, welche der Seele
gestatten, ihre Fähigkeiten unverringert ins Traumleben mitzu nehmen. Er führt selbst aus, wie im Traum die Zentralität, die Spontanenergie des Ich entnervt wird, wie infolge dieser De § 499§ 500
90 I. Die wissemchaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 501zentralisation Erkennen, Fühlen, Wollen und Vorstellen verändert
werden, und wie den Überbleibseln dieser Seelenkräfte kein wahrer Geistcharakter, sondern nur noch die Natur eines Mecha nismus zukommt. Aber dafür schwingt sich im Traum die als Phantasie zu benennende Tätigkeit der Seele, frei von aller Ver standesherrschaft und damit der strengen Maße ledig, zur unbe schränkten Herrschaft auf. Sie nimmt zwar die letzten Bausteine aus dem Gedächtnis des Wachens, aber führt aus ihnen Gebäude auf, die von den Gebilden des Wachens himmelweit verschieden sind, sie zeigt sich im Traume nicht nur reproduktiv, sondern auch produktiv. Ihre Eigentümlichkeiten verleihen dem Traum leben seine besonderen Charaktere. Sie zeigt eine Vorliebe für das Ungemessene, Übertriebene, Ungeheuerliche. Zugleich aber gewinnt sie durch die Befreiung von den hinderlichen Denk-' kategorien eine größere Schmiegsamkeit, Behendigkeit, Wendungs lust; sie ist auf's feinste empfindsarn fiir die zarten Stimmungs— reize des Gemüts, für die wühlerischen Affekte, sie bildet sofort das innere Leben in die äußere plastische Anschaulichkeit hinein. Der Traumphantasie fehlt die Begriffssprache; was sie sagen will, muß sie anschaulich hinmalen, und da der Begriff hier nicht schwächend einwirk1‘.7 malt sie es in Fülle, Kraft und Größe der Anschauungsform hin. Ihre Sprache wird hiedurch, so deutlich sie ist, weitläufig, schwerfällig, unbeholfen. Besonders erschwert wird die Deutlichkeit ihrer Sprache dadurch, daß sie die Abnei— gung hat, ein Objekt durch sein eigentliches Bild auszudrücken und. lieber ein fremdes Bild wählt, insofern dieses nur dasjenige Moment des Objekts, an dessen Darstellung ihr liegt, durch sich auszudrücken imstande ist. Das ist die symbolisierende Tätig keit der Phantasie . . . Sehr wichtig ist ferner, daß die Traum phantasie die Gegenstände nicht erschöpfend, sondern nur in ihrem Umriß und diesen in freiester Weise, nachbildet. Ihre Malereien erscheinen daher wie genial hingehaucht. Die Traumphantasie bleibt aber nicht bei der bloßen Hinstellung des Gegenstandes § 502§ 503
Die Theorie Svherners 91
§ 504stehen, sondern sie ist innerlich genötigt, das Traum—Ich mehr
oder weniger mit ihm zu verwickeln und so eine Handlung zu erzeugen. Der Gesichtsreiztraum z. B. malt Goldstücke auf die Straße, der Träumer sammelt sie, freut sich, trägt sie davon. § 505Das Material, an welchem die Traumphantasie ihre künst—
lerische Tätigkeit vollzieht, ist nach Scherner vorwiegend das der, bei Tag so dunkeln, organischen Leibreize (vgl. S. 99), so daß in der Annahme der Traumquellen und Traumerreger die allzu phantastische Theorie Scherners und die vielleicht über— nüchterne Lehre Wundts und anderer Physiologen, die sich sonst wie Antipoden zueinander verhalten, sich hier Völlig decken. Aber während nach der physiologischen Theorie die seelische Re— aktion auf die inneren Leibreize rnit der Erweckung von irgend zu ihnen passenden Vorstellungen erschöpft ist, die dann einige andere Vorstellungen auf dem Wege der Assoziation sich zu Hilfe rufen, und mit diesem Stadium die Verfolgung der psy— chischen Vorgänge des Traumes beendigt scheint, geben die Leib— reize nach Scherner der Seele nur ein Material, das sie ihren phantastischen Absichten dienstbar machen kann. Die Traum— bildung fängt für Scherner dort erst an, wo sie für den Blick der anderen versiegt. § 506Zweckmäßig wird man freilich nicht finden können, was die
Traumphantasie mit den Leibreizen vornimmt. Sie treibt ein neckendes Spiel mit ihnen, stellt sich die Organquelle, aus der die Reize im betreffenden Traum stammen, in irgendeiner plastischen Symbolik vor. Ja Scherner meint, worin Volkelt und. andere ihm nicht folgen, daß die Traumphantasie eine be— stimmte Lieblingsdarstellung für den ganzen Organismus habe; diese wäre das Haus. Sie scheint sich aber zum Glück für ihre Darstellungen nicht an diesen Stoff zu binden, sie kann auch umgekehrt ganze Reihen von Häusern benützen, um ein einzelnes Organ zu bezeichnen, z. B. sehr lange Häuserstraßen für den Eingeweidereiz. Andere Male stellen einzelne Teile des Hauses § 507§ 508
92 I. Die wissenschafilichc Literatur der Traumprobleme
§ 509wirklich einzelne Körperteile dar, so z. B. im Kopfschmerztraum
die Decke eines Zimmers (welche der Träumer mit. ekelhaftigen krötenartigen Spinnen bedeckt sieht) den Kopf. § 510Von der Haussymbolik ganz abgesehen, werden beliebige andere
Gegenstände zur Darstellung der den Traumreiz ausschickenden Körperteile verwendet. „So findet die atmende Lunge in dem flammenerfüllten Ofen mit seinem luftartigen Brausen ihr Symbol, das Herz in hohlen Kisten und Körben, die Harnblase in runden, beutelförmigen oder überhaupt nur ausgehöhlten Gegenständen. Der männliche Geschlechtsreiztraum läßt den Träumer den oberen Teil einer Klarinette, daneben den gleichen Teil einer Tabaks pfeife, daneben wieder einen Pelz auf der Straße finden. Klarinette und Tabakspfeife stellen die annähernde Form des männlichen Gliedes, der Pelz das Schamhaar dar. Im weiblichen Geschlechts— traum kann sich die Schrittenge der zusammenschließenden Schenkel durch einen schmalen, von Häusern nnschlossenen Hof, die weibliche Scheide durch einen mitten durch den Hofraum führenden, schlüpfrig weichen, sehr schmalen Fußpfad symbolisieren, den die Träumerin wandehu muß, um. etwa einen Brief zu einem Herrn zu tragen.“ (Volkelt, S. 59.) Besonders wichtig ist es, daß am Schlusse eines solchen Leibreiztranmes die Traumphantasie sich sozusagen demaskiert, indem sie das erregende Organ oder dessen Funktion unverhüllt hinstellt. So schließt der „Zahnreiz traum“ gewöhnlich damit, daß der Träumer sich einen Zahn aus dem Munde nimmt. § 511Die Traumphantasie kann ihre Aufmerksamkeit aber nicht bloß
der Form des erregenden Organs zuwenden, sie kann ebensowohl die in ihm enthaltene Substanz zum Objekt der Symbolisierung nehmen. So führt z. B. der Eingeweidereiztraum durch kotige Straßen, der Harnreiztraum an schäumendes Wasser. Oder der Reiz als solcher, die Art seiner Erreg‘theit, das Objekt, das er be gehrt, werden symbolisch dargestellt, oder das Traum—Ich tritt in konkrete Verbindung mit den Symbolisierungen des eigenen § 512§ 513
Diz Traumphantaxie. Die Maussymbalik 95
§ 514Zustandes, z. B. wenn wir bei Schmelzreizen uns mit heißen
den Hunden oder tobenden Stieren verzweifelt balgen, oder die Träumerin sich im Geschlechtstraum von einem nackten Marine verfolgt sieht. Von all dem möglichen Reichtum in der Aus führung abgesehen, bleibt eine symbolisierende Phantasietät'igkeit als die Zentralkraft eines jeden Traumes bestehen. In den Cha— rakter dieser Phantasie näher einzudxingen, der so erkannten psychischen Tätigkeit ihre Stellung in einem System philo sophischer Gedanken anzuweisen, versuchte dann Volkelt in seinem schön und. warm geschriebenen Buch, das aber allzu schwer verständlich für jeden bleibt, der nicht durch frühe Schulung für das ahnungsvolle Erfassen philosophischer Begriffs schernen vorbereitet ist. § 515Eine nützliche Funktion ist mit der Betätigung der symboli
sierenden Phantasie Scherners in den Träumen nicht verbunden. Die Seele spielt träumend mit den ihr dargebotenen Reizen. Man könnte auf die Vermutung kommen, daß sie unanig spielt. Man könnte aber auch an uns die Frage richten, ob unsere ein gehende Beschäftigung mit der Schernerschen Theorie des Traumes zu irgend etwas Nützlichen führen kann, deren Willkürlichkeit und Losgebundenheit von den Regeln aller Forschung d6ch allzu augenfällig scheint. Da wäre es denn am Platze, gegen eine Ver— werfung der Lehre Scherners vor aller Prüfung als allzu hoch mütig ein Veto einzulegen. Diese Lehre baut sich auf dem Ein— druck auf, den jemand von seinen Träumen empfing, der ihnen große Aufmerksamkeit schenkte, und der persönlich sehr wohl veranlagt scheint, dunkeln seelischen Dingen nachzuspüren. Sie handelt ferner von einem Gegenstand, der den Menschen durch Jahrtausende rätselhaft wohl, aber zugleich inhalts- und beziehungs reich erschienen ist, und zu dessen Erhellung die gestrenge Wissen— schaft, wie sie selbst bekennt, nicht viel anderes beigetragen hat, als daß sie im vollen Gegensatz zur populären Empfindung dem Objekte Inhalt und Bedentsamkeit abzusprechen versuchte. End— § 516§ 517
94. I. Die wissenschaftlich; Literatur der Traumprobleme
§ 518lich wollen wir uns ehrlich sagen, daß es den Anschein hat, wir
könnten bei den Versuchen, den Traum aufzuklären, der Pham tasti.k nicht leicht entgehen. Es gibt auch Ganglienzellenphantastik; die S. 81 zitierte Stelle eines nüchternen und exakten Forschers wie Binz, welche schildert, wie die Aurora des Erwachens über die eingeschlafenen Zellhaufen der Hirnrinde hinzieht, steht an Phantastik und an — Unwahrscheinlichkeit hinter den Schere nerschen Deutungsversuchen nicht zurück. Ich hoffe zeigen zu können, daß hinter den letzteren etwas Reelles steckt, das aller dings nur verschwommen erkannt werden ist und nicht den Charakter der Allgemeinheit besitzt, auf den eine Theorie des Traumes Anspruch erheben kann. Vorläufig kann uns die Schernersche Theorie des Traumes in ihrem Gegensatz zur medizinischen etwa vor Augen führen, zwischen welchen Extremen die Erklärung des Traumlebens heute noch unsicher schwankt. § 519H
Beziehungen zwischen Traum und Geistes krankheiten § 520Wer von der Beziehung des Traumes zu den Geistesstömngen
spricht, kann dreierlei meinen: I) ätiologische und klinische Be ziehungen, etwa wenn ein Traum einen psychotischen Zustand vertritt, einleitet, oder nach ihm erübrigt, 2) Veränderungen, die das Traumleben im Falle der Geisteskrankheit erleidet, }) Innere Beziehungen zwischen Traum und Psychosen, Analogien, die auf Wesensverwandtschaft hindeuten. Diese mannigfachen Beziehungen zwischen den beiden Reihen von Phänomenen sind in früheren Zeiten der Medizin —— und in der Gegenwart von neuem Wieder — ein Lieblingsthema ärztlicher Autoren gewesen, wie die bei Spitta, Badestock, Maury und Tissié gesammelte Literatur des Gegenstandes lehrt. Jüngst hat Sante de Sanctis diesem Zusammen hange seine Aufmerksamkeit zugcwendet. [E26] Dem Interesse § 521§ 522
Traum und Psychosen 95
§ 523unserer Darstellung wird es genügen, den bedeutsamen Gegen
stand bloß zu streifen. § 524Zu den klinischen und ätiologischen Beziehungen zwischen
Traum und Psychosen will ich folgende Beobachtungen als Para— digmata mitteilen. Hohnbaum berichtet (bei Krauß), daß der erste Ausbruch des Wahnsinns sich öfters von einem ängstlichen, schreckhaften Traum herschrieh, und daß die vorherrschende Idee mit diesem Traume in Verbindung stand. Sante de Sanctis bringt ähnliche Beobachtungen von Paranoischen und erklärt den Traum in einzelnen derselben für die „vraz'e cause de'terminante de la folie“. Die Psychose kann mit dem wirksamen, die wahm hafte Aufklärung enthaltenden Traum mit einem Schlag ins Leben treten, oder sich durch weitere Träume, die noch gegen Zweifel anzukämpfen haben, langsam entwickeln. In einem Falle von de Sanctis schlossen sich an den ergreifenden Traum leichte hysterische Anfälle, dann in weiterer Folge ein ängstlich-melan cholischer Zustand. F éré (bei Tissié) berichtet von einem Traum, der eine hysterische' Lähmung zur Folge hatte. Hier wird uns der Traum als Ätiologie der Geistesstörung vorgeführt, obwohl wir dem Tatbestand ebenso Rechnung tragen, wenn wir aussagen, die geistige Störung habe ihre erste Äußerung am Traumleben gezeigt, sei im Traum zuerst durchgebrochen. In anderen Bei spielen enthält das Traumleben die krankhaften Symptome, oder die Psychose bleibt aufs Traumleben eingeschränkt. So macht Thomayer auf Angstträume aufmerksam, die als Äquivalente von epileptjschen Anfällen aufgefaßt werden müssen. Allison hat nächtliche Geisteskrankheit (nocturnal insam'ty) beschrieben (nach Radestock), bei der die Individuen tagsüber anscheinend voll kommen gesund sind, während bei Nacht regelmäßig Halluzina tionen, Tobsuchtsanfa'lle u. dgl. auftreten. Ähnliche Beobachtungen bei de Sanctis (paranoisches Traumäquivalent bei einem Alko holiker, Stimmen, die die Ehefrau der Untreue beschuldigen); bei Tissié. Tissié bringt aus neuerer Zeit eine reiche Anzahl von § 525§ 526
96 I. Die wissenschafiliche Literatur der Traumprobleme
§ 527Beobachtungen, in denen Handlungen pathologischen Charakters
(aus Wahnvoraussetzungen, Zwangsimpulse) sich aus Träumen ableiten. Guislain beschreibt einen Fall, in dem der Schlaf durch ein intermittierendes Irresein ersetzt war. § 528Es ist wohl kein Zweifel, daß eines Tages neben der Psycho
logie des Traumes eine Psychopathologie des Traumes die Ärzte beschäftigen wird. § 529Besonders deutlich wird es häufig in Fällen von Genesung
nach Geisteskrankheit, daß bei gesunder Funktion am Tage das Traumleben noch der Psychose angehören kann. Gregory soll auf dieses Vorkommen zuerst aufmerksam gemacht haben (nach Krauß). Macario (bei Tissié) erzählt von einem Maniacus, der eine Woche nach seiner völligen Herstellung in Träumen die Ideenflucht und die leidenschaftlichen Antriebe seiner Krankheit wieder erlebte. § 530Über die Veränderungen, welche das Traumleben bei dauernd
Psychotischen erfährt, sind bis jetzt nur sehr wenige Unter suchungen angestth werden. Dagegen hat die innere Verwandt schaft zwischen Traum und Geistesstörung, die sich in so weit— gehender Übereinstimmung der Erscheinungen beider äußert, frühzeitig Beachtung gefunden. Nach Maury hat zuerst Cabanis in seinen „Rapports du physique et du moral“ auf sie hingewiesen, nach ihm Lélut, J. Moreau und ganz besonders der Philosoph Maine de Biran. Sicherlich ist die Vergleichung noch älter. Badestock leitet das Kapitel, in dem er sie behandelt, mit einer Sammlung von Ansprüchen ein, welche Traum und Wahnsinn in Analogie bringen. Kant sagt an einer Stelle: „Der Ve'rrückte ist ein Träumer im Wachen.“ Krauß: „Der Wahnsinn ist ein Traum innerhalb des Sinnenwachseins.“ Schopenhauer nennt den Traum einen kurzen Wahnsinn und den Wahnsinn einen langen Traum. Hagen bezeichnet das Delirium als Traumlebeu, welches nicht durch Schlaf sondern durch Krankheiten herbei— geführt ist. Wundt äußert in der „Physiologischen Psychologie“: § 531§ 532
Traum und Psychosen 97
§ 533„In der Tat können wir im Traum fast alle Erscheinungen, die
uns in den Irrenhäusern begegnen, selber durchleben.“ § 534Die einzelnen Übereinstimmungen, auf Grund deren eine solche
Gleichstellung sich dem Urteil empfiehlt, zählt Spitta (übrigens sehr ähnlich wie Maury) in folgender Reihe auf: „I) Aufhebung oder doch Retardation das Selbstbewußtseins, infolgedessen Un kenntnis über den Zustand als solchen, also Unmöglichkeit des Erstaunens, Mangel des moralischen Bewußtseins. 2) Modifizierte Perzeption der Sinnesorgane, und zwar im Traum verminderte, im Wahnsinn im allgemeinen sehr gesteigerte. }) Verbindung der Vorstellungen untereinander lediglich nach den Gesetzen der Assoziation und Reproduktion, also automatische Reihenbildung, daher Unproportionalität der Verhältnisse zwischen den Vor stellungen (Übertreibungen, Phantasmen) und aus alledem resul tierend: 4 ) Veränderung, beziehungsweise Umkehrung der Per sönlichkeit und zuweilen der Eigentümlichkeiten des Charakters (Perversitäten).“ § 535Radestock fügt noch einige Züge hinzu, Analogien im Ma—
terial: „Im Gebiet des Gesichts- und Gehörsinnes und des Gemein gefühls findet man die meisten Halluzinationen und Illusionen. Die wenigsten Elemente liefern wie beim Traum der Geruch und Geschmacksinn. — Dem Fieberkranken steigen in den Delirien wie dem Träumenden Erinnerungen aus langer Ver gangenheit auf; was der Wachende und Gesunde vergessen zu haben schien, dessen erinnert sich der Schlafende und Kranke.“ — Die Analogie von Traum und Psychose erhält erst dadurch ihren vollen Wert, daß sie sich wie eine Familienähnlichkeit in die feinem Mimik und bis auf einzelne Auffälligkeiten des Gesichts ausdruckes erstreckt. § 536„Dem von körperlichen und geistigen Leiden Gequälten ge
währt der Traum, was die, Wirklichkeit versagte: Wohlsein und Glück; so heben sich auch bei dem Geisteskranken die lichten Bilder von Glück, Größe, Erhabenheit und Reichtum. Der ver § 537Freud. IL 7
§ 538§ 539
98 I. Die wissemchaftliche Literatur der Traumprobleme
§ 540meintliche Besitz von Gütern und die imaginäre Erfüllung von
Wünschen, deren Verweigerung oder Vernichtung eben einen psychischen Grund des Irreseins abgeben, machen häufig den Hauptinhalt des Deliriums aus. Die Frau, die ein teueres Kind verloren, deliriert in Mutterfreuden, wer Vermögensverluste er litten, hält sich für außerordentlich reich, das betrogene Mädchen sieht sich zärtlich geliebt.“ § 541(Diese Stelle Radestocks ist die Abkürzung einer feinsinnigen
Ausführung von Griesinger [S. in], die mit aller Klarheit die Wunscherfüllung als einen dem Traum und der Psychose gemeinsamen Charakter des Vorstellens enthüllt. Meine eigenen Untersuchungen haben mich gelehrt, daß hier der Schlüssel zu einer psychologischen Theorie des Traumes und der Psychosen zu finden ist.) § 542„Barocke Gedankenverbindungen und Schwäche des Urteils
sind es, welche den Traum und den Wahnsinn hauptsächlich charakterisieren.“ Die Überschätzung der eigenen geistigen Leistungen, die dem nüchternen Urteil als unsinnig erscheinen, findet sich ‘hier wie dort; dem rapiden Vorstellungsverlauf des Traumes entspricht die Ideenflucht der Psychose. Bei beiden fehlt jedes Zeitmaß. Die Spaltung der Persönlichkeit im Träume, welche 2. B. das eigene Wissen auf zwei Personen ver teilt, von denen die fremde das eigene Ich im Trauma korrigiert, ist völlig gleichwertig der bekannten Persönlichkeitsteilung bei halluzinatorischer Paranoia; auch der Träumer hört die eigenen Gedanken von fremden Stimmen vorgebracht. Selbst für die kon stanten Wohnideen findet sich eine Analogie in den stereotyp wieder— kehrenden pathologischen Träumen ( réve abse’dant). -— Nach der Genesung von einem Delirium sagen die Kranken nicht selten, daß ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit wie ein oft nicht unbehag licher Traum erscheint, ja sie teilen uns mit, daß sie gelegentlich noch während der Krankheit geahnt haben, sie seien nur in einem Traume befangen, ganz wie es oft im Schlaftraum vorkommt. § 543§ 544
Verwandtschaft von Traum und Psychose 99
§ 545Nach alledem ist es nicht zu verwundern, wenn Badestock
seine wie vieler anderer Meinung in den Worten zusammenfaßt, daß „der Wahnsinn, eine anormale krankhafte Erscheinung, als eine Steigerung des periodisch wiederkehrenden normalen Traum zustandes zu betrachten ist“. (S. 228.) § 546Noch inniger vielleicht, als es durch diese Analogie der sich
äußernden Phänomene möglich ist, hat Krauß die Verwandtschaft von Traum und Wahnsinn in der Ätiologie (vielmehr: in den Erregungsquellen) begründen wollen. Das beiden gemeinschaftliche Grundelement ist nach ihm, wie wir gehört haben, die organisch bedingte Empfindung, die Leibreizsensation, das durch Beiträge von allen Organen her zustande gekommene Gemeingefiihl (vgl. Peisse bei Maury, p. 59). § 547Die nicht zu bestreitende, bis in charakteristische Einzelheiten
reichende Übereinstimmung von Traum und Geistesstörung gehört zu den stärksten Stützen der medizinischen Theorie des Traum lebens, nach welcher sich der Traum als unnützer und störender Vorgang und als Ausdruck einer herabgesetzten Seelentätigkeit darstellt. Man wird indes nicht erwarten können, die endgültige Aufklärung über den Traum von den Seelenstörungen her zu empfangen, wo es allgemein bekannt ist, in welch unbefriedi gendern Zustand unsere Einsicht in den Hergang der letzteren sich befindet. Wohl aber ist es wahrscheinlich, daß eine veränderte Auffassung des Traumes unsere Meinungen über den inneren Mechanismus der Geistesstörungen mitheeinflussen muß, und so dürfen wir sagen, daß wir an der Aufklärung der Psychosen § 548arbeiten, wenn wir uns bemühen, das Geheimnis des Traumes
aufzuhellen. [E27] § 549§ 550
u
DIE METHODE DER TRAUMDEUTUNG DIE ANALYSE EINES TRAUMMUSTERS § 551Die Überschrift, die ich meiner Abhandlung gegeben habe,
läßt erkennen, an welche Tradition in der Auffassung der Träume ich anknüpfen möchte. Ich habe mir vorgesetzt zu zeigen, daß Träume einer Deutung fähig sind, und Beiträge zur Klärung der eben behandelten Traumprobleme werden sich mir nur als etwaiger Nebengewinn bei der Erledigung meiner eigentlichen Aufgabe ergeben können. Mit der Voraussetzung, daß Träume deutbar sind, trete ich sofort in Widerspruch zu der herrschenden Traum lehre, ja zu allen Traumtheorien mit Ausnahme der Schernerschen, denn „einen Traum deuten“ heißt, seinen „Sinn“ angeben, ihn durch etwas ersetzen, was sich als vollwichtiges, gleichwertiges Glied in die Verkettung unserer seelischen Aktionen einfügt. Wie wir erfahren haben, lassen aber die wissenschaftlichen Theorien des Traumes für ein Problem der Traumdeutung keinen Raum, denn der Traum ist für sie überhaupt kein seelischer Akt, sondern ein somatischer Vorgang, der sich durch Zeichen am seelischen Apparat kundgibt. Anders hat sich zu allen Zeiten die Laien meinung benommen. Sie bedient sich ihres guten Rechtes, in konsequent zu verfahren, und obwohl sie zugesteht, der Traum sei unverständlich und absurd, kann sie sich doch nicht ent § 552Die symbolische Traumdeutung 101
§ 553schließen, dem Traume jede Bedeutung abzusprechen. Von einer
dunkeln Ahnung geleitet scheint sie doch anzunehmen, der Traum habe einen Sinn, wiewohl einen verborgenen, er sei zum Ersatze eines anderen Denkvorganges bestimmt, und es handle sich nur darum, diesen Ersatz in richtiger Weise aufzudecken, um zur verborgenen Bedeutung des Traumes zu gelangen. § 554Die Laienwelt hat sich darum von jeher bemüht, den Traum
zu „deuten“ und dabei zwei im Wesen verschiedene Methoden versucht. Das erste dieser Verfahren faßt den Trauminhalt als Ganzes ins Auge und sucht denselben durch einen anderen, ver ständlichen und in gewissen Hinsichten analogen Inhalt zu ersetzen. Dies ist die symbolische Traumdeutung; sie scheitert natürlich von vornherein an jenen Träumen, welche nicht bloß unverständlich, sondern auch verworren erscheinen. Ein Beispiel für ihr Verfahren gibt etwa die Auslegung, welche der biblische Josef dem Traume des Pharao angedeihen ließ. Sieben fette Kühe, nach denen sieben magere kommen, welche die ersteren auf zehren, das ist ein symbolischer Ersatz für die Vorhersagung von sieben Hungerjahren im Lande Ägypten, welche allen Überfluß aufzehren, den sieben fruchtbare Jahre geschaffen haben. Die meisten der artefiziellen Träume, welche von Dichtern geschaffen wurden, sind für solche symbolische Deutung bestimmt, denn sie geben den vom Dichter gefaßten Gedanken in einer Verkleidung wieder, die zu den aus der Erfahrung bekannten Charakteren unseres Träumens passend gefunden wird. [£7] Die Meinung, der Traum beschäftige sich vorwiegend mit der Zukunft, deren Ge staltung er im voraus ahne — ein Rest der einst den Träumen zuerkannten prophetischen Bedeutung — wird dann zum Motiv, den durch symbolische Deutung gefundenen Sinn des Traumes durch ein „es wird“ ins Futurum zu versetzen. § 555Wie man den Weg zu einer solchen symbolischen Deutung
findet, dazu läßt sich eine Unterweisung natürlich nicht geben. Das Gelingen bleibt Sache des witzigen Einfalls, der unvermittelten § 556102 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 557Intuition, und darum konnte die Traumdeutung mittels Symbolik
sich zu einer Kunstübung erheben, die an eine besondere Be gabung gebunden schien. [£ 2] Von solchem Anspruch hält sich die andere der populären Methoden der Traumdeutung völlig ferne. Man könnte sie als die „Chiffriermethode“ bezeichnen, da sie den Traum wie eine Art von Geheimschrift behandelt, in der jedes Zeichen nach einem feststehenden Schlüssel in ein anderes Zeichen von bekannter Bedeutung übersetzt wird. Ich habe z. B. von einem Brief geträumt, aber auch von einem Leichenbegängnis u. dgl.; ich sehe nun in einem „Traumbuch“ nach und finde, daß „Brief“ mit „Verdruß“, „Leichenbegängnis“ mit „Verlobung“ zu übersetzen ist. Es bleibt mir dann überlassen, aus den Schlag worten, die ich entziffert habe, einen Zusammenhang herzustellen, den ich wiederum als zukünftig hinnehme. Eine interessante Abänderung dieses Chiffrierverfahrens, durch welche dessen Cha rakter als rein mechanische Übertragung einigermaßen korrigiert wird, zeigt sich in der Schrift über Traumdeutung des Artemi doros aus Daldis. [£3] Hier wird nicht nur auf den Trauminhalt, sondern auch auf die Person und die Lebensumstände des Träumers Rücksicht genommen, so daß das nämliche Traumelement für den Reichen, den Verheirateten, den Redner andere Bedeutung hat als für den Armen, den Ledigen und etwa den Kauf mann. Das Wesentliche an diesem Verfahren ist nun, daß die Deutungsarbeit nicht auf das Ganze des Traumes gerichtet wird, sondern auf jedes Stück des Trauminhaltes für sich, als ob. der Traum ein Konglomerat wäre, in dem jeder Brocken Gestein eine besondere Bestimmung verlangt. Es sind sicherlich die unzusammenhängenden und verworrenen Träume, von denen der Antrieb zur Schöpfung der Chiffriermethode ausgegangen ist. [£#] § 558Für die wissenschaftliche Behandlung des Themas kann die
Unbrauchbarkeit beider populärer Deutungsverfahren des Traumes keinen Moment lang zweifelhaft sein. Die symbolische Methode § 559Die „Chiffriermethode“ 105
§ 560ist in ihrer Anwendung beschränkt und keiner allgemeinen
Darlegung fähig. Bei der Chiffriermethode käme alles darauf an, daß der „Schlüssel“, das Traumbuch, verläßlich wäre, und dafür fehlen alle Garantien. Man wäre versucht, den Philosophen und Psychiatern recht zu geben und mit ihnen das Problem der Traumdeutung als eine imaginäre Aufgabe zu streichen." § 561Allein ich bin eines Bessern belehrt worden. Ich habe ein
sehen müssen, daß hier wiederum einer jener nicht seltenen Fälle vorliegt, in denen ein uralter, hartnäckig festgehaltener Volks glaube der Wahrheit der Dinge näher gekommen zu sein scheint als das Urteil der heute geltenden Wissenschaft. Ich muß be haupten, daß der Traum wirklich eine Bedeutung hat, und daß ein wissenschaftliches Verfahren der Traumdeutung möglich ist. Zur Kenntnis dieses Verfahrens bin ich auf folgende Weise gelangt: § 562Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Auflösung gewisser
psychopathologischer Gebilde, der hysterischen Phobien, der Zwangsvorstellungen u. a. in therapeutischer Absicht; seitdem ich nämlich aus einer bedeutsamen Mitteilung von Josef Breuer weiß, daß für diese als Krankheitssymptome empfundenen Bil dungen Auflösung und Lösung in eines zusammenfällt.” Hat man eine solche pathologische Vorstellung auf die Elemente zurück führen können, aus denen sie im Seelenleben des Kranken. her vorgegangen ist, so ist diese auch zerfallen, der Kranke von ihr befreit. Bei der Ohnmacht unserer sonstigen therapeutischen Be strebungen und angesichts der Rätselhaftigkeit dieser Zustände erschien es mir verlockend, auf dem von Breuer eingeschlagenen Wege trotz aller Schwierigkeiten bis zur vollen Aufklärung vor § 5631) Nach Abschluß meines Manuskriptes ist mir eine Schrift von Stumpf zuge
gangen, die in der Absicht zu erweisen, der Traum sei sinnvoll und deutbar, mit meiner Arbeit zusammentrifft. Die Deutung geschicht aber mittels einer allegori sierenden Symbolik ohne Gewähr für Allgemeingültigkeit des Verfahrens. § 5642) Breuer und Freud, Studien über Hysterie, Wien i895. [Band I dieser Ge
samtausgabe.] § 565104 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 566zudringen. Wie sich die Technik des Verfahrens schließlich ge
staltet hat, und welches die Ergebnisse der Bemühung gewesen sind, darüber werde ich ein anderes Mal ausführlich Bericht zu erstatten haben. Im Verlaufe dieser psychoanalytischen Studien geriet ich auf die Traumdeutung. Die Patienten, die ich ver pflichtet hatte, mir alle Einfälle und Gedanken mitzuteilen, die sich ihnen zu einem bestimmten Thema aufdrängten, erzählten mir ihre Träume und lehrten mich so, daß ein Traum in die psychische Verkettung eingeschoben sein kann, die von einer pathologischen Idee her nach rückwärts in der Erinnerung zu verfolgen ist. Es lag nun nahe, den Traum selbst wie ein Symptom zu behandeln und die für letztere ausgearbeitete Methode der Deutung auf ihn anzuwenden. § 567Dazu bedarf es nun einer gewissen psychischen Vorbereitung
des Kranken. Man strebt zweierlei bei ihm an, eine Steigerung seiner Aufmerksamkeit für seine psychischen Wahrnehmungen und eine Ausschaltung der Kritik, mit der er die ihm auftauchenden Gedanken sonst zu sichten pflegt. Zum Zwecke seiner Selbst beobachtung mit gesammelter Aufmerksamkeit ist es vorteilhaft, daß er eine ruhige Lage einnimmt und die Augen schließt; den Verzicht auf die Kritik der wahrgenommenen Gedankenbildungen muß man ihm ausdrücklich auferlegen. Man sagt ihm also, der Erfolg der Psychoanalyse hänge davon ab, daß er alles beachtet und mitteilt, was ihm durch den Sinn geht, und nicht etwa sich verleiten läßt, den einen Einfall zu unterdrücken, weil er ihm unwichtig oder nicht zum Thema gehörig, den anderen, weil er ihm unsinnig erscheint. Er müsse sich völlig unparteiisch gegen seine Einfälle verhalten; denn gerade an der Kritik läge es, wenn esihm sonst nicht gelänge, die gesuchte Auflösung des Traumes, der Zwangsidee u. dgl. zu finden. § 568Bei den psychoanalytischen Arbeiten habe ich gemerkt, daß die
psychische Verfassung des Mannes, welcher nachdenkt, eine ganz andere ist als die desjenigen, welcher seine psychischen Vorgänge § 569Psychische Vorbereitung zur Traumdeutung 105
§ 570beobachtet. Beim Nachdenken tritt eine psychische Aktion mehr
ins Spiel als bei der aufmerksamsten Selbstbeobachtung, wie es auch die gespannte Miene und die in Falten gezogene Stirne des Nachdenklichen im Gegensatz zur mimischen Ruhe des Selbst beobachters erweist. In beiden Fällen muß eine Sammlung der Aufmerksamkeit vorhanden sein, aber der Nachdenkende übt außerdem eine Kritik aus, infolge deren er einen Teil der ihm aufsteigenden Einfälle verwirft, nachdem er sie wahrgenommen hat, andere kurz abbricht, so daß er den Gedankenwegen nicht folgt, welche sie öffnen würden, und gegen noch andere Ge danken weiß er sich so zu benehmen, daß sie überhaupt nicht bewußt, also vor ihrer Wahrnehmung unterdrückt werden. ‘Der Selbstbeobachter hingegen hat nur die Mühe, die Kritik zu unterdrücken; gelingt ihm dies, so kommt ihm eine Unzahl von Einfällen zum Bewußtsein, die sonst unfaßbar geblieben wären. Mit Hilfe dieses für die Selbstwahrnehmung neu gewonnenen Materials läßt sich die Deutung der pathologischen Ideen sowie der Traumgebilde vollziehen. Wie man sieht, handelt es sich darum, einen psychischen Zustand herzustellen, der mit dem vor dem Einschlafen (und sicherlich auch mit. dem hypnotischen) eine gewisse Analogie in der Verteilung der psychischen Energie (der beweglichen Aufmerksamkeit) gemein hat. Beim Einschlafen treten die „ungewollten Vorstellungen“ hervor durch den Nachlaß einer gewissen willkürlichen (und gewiß auch kritischen) Aktion, die wir auf den Ablauf unserer Vorstellungen einwirken lassen; als den Grund dieses Nachlasses pflegen wir „Ermüdung“ anzugeben; die auftauchenden ungewollten Vorstellungen verwan deln sich in visuelle und akustische Bilder. (Vergleiche die Be merkungen -von Schleiermacher u. a. S. 53.) [£5] Bei dem Zu stand, den man zur Analyse der Träume und pathologischen Ideen benützt, verzichtet man absichtlich und willkürlich auf jene Aktivität und verwendet die ersparte psychische Energie (oder ein Stück derselben) zur aufmerksamen Verfolgung der § 571106 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 572jetzt auftauchenden ungewollten Gedanken, die ihren Charakter
als Vorstellungen (dies der Unterschied gegen den Zustand beim Einschlafen) beibehalten. Man macht so die „ungewollten“ Vorstellungen zu „gewollten“. [£e] § 573Es ist im allgemeinen nicht schwierig, sich selbst oder einen
anderen in den gewünschten Zustand der kritiklosen Selbstbe obachtung zu versetzen. Die meisten meiner Patienten bringen es nach der ersten Unterweisung zustande; ich selbst kann es sehr vollkommen, wenn ich mich dabei durch Niederschreiben meiner Einfälle unterstütze. Der Betrag von psychischer Energie, um den man so die kritische Tätigkeit herabsetzt, und mit welchem man die Intensität der Selbstbeobachtung erhöhen kann, schwankt erheblich je nach dem Thema, welches von der Auf merksamkeit fixiert werden soll. § 574Der erste Schritt bei der Anwendung dieses Verfahrens lehrt
nun, daß man nicht den Traum als Ganzes, sondern nur die einzelnen Teilstücke seines Inhaltes zum Objekt der Aufmerksam keit machen darf. Frage ich den noch nicht eingeübten Patienten: Was fällt Ihnen zu diesem Traum ein? so weiß er in der Regel nichts in seinem geistigen Blickfelde zu erfassen. Ich muß ihm den Traum zerstückt vorlegen, dann liefert er mir zu jedem Stück eine Reihe von Einfällen, die man als die „Hintergedanken“ dieser Traumpartie bezeichnen kann. In dieser ersten wichtigen Bedingung weicht also die von mir geübte Methode der Traum deutung bereits von der populären, historisch und sagenhaft be rühmten Methode der Deutung durch Symbolik ab und nähert sich der zweiten, der „Chiffriermethode“. Sie ist wie diese eine Deutung en detail, nicht en masse; wie diese faßt sie den Traum von vornherein als etwas Zusammengesetztes, als ein Konglomerat von psychischen Bildungen auf. § 575Im Verlaufe meiner Psychoanalysen bei Neurotikern habe ich
wohl bereits über tausend Träume zur Deutung gebracht, aber dieses Material möchte ich hier nicht zur Einführung in die § 576Schwierigkeiten des Materials 107
§ 577Technik und Lehre der Traumdeutung verwenden. Ganz abge
sehen davon, daß ich mich dem Einwand aussetzen würde, es seien ja .die Träume von Neuropathen, die einen Rück schluß auf die Träume gesunder Menschen nicht gestatten, nötigt mich ein anderer Grund zu deren Verwerfung. Das Thema, auf welches diese Träume zielen, ist natürlich immer die Krankheits geschichte, welche der Neurose zugrunde liegt: Hiedurch würde für jeden Traum ein überlanger Vorbericht und ein Eindringen in das Wesen und die ätiologischen Bedingungen der Psycho neurosen erforderlich, Dinge, die an und für sich neu und im höchsten Grade befremdlich sind, und so die Aufmerksamkeit vom Traumproblem ablenken würden. Meine Absicht geht vielmehr dahin, in der Traumauflösung eine Vorarbeit für die Erschließung der schwierigeren Probleme der Neurosenpsychologie zu schaffen. Verzichte ich aber auf die Träume der Neurotiker, mein Haupt material, so darf ich gegen den Rest nicht allzu wählerisch ver fahren. Es bleiben nur noch jene Träume, die mir gelegentlich von gesunden Personen meiner Bekanntschaft erzählt worden sind, oder die ich als Beispiele in der Literatur über das Traumleben verzeichnet finde. Leider geht mir bei all diesen Träumen die Analyse ab, ohne welche ich den Sinn des Traumes nicht finden kann, Mein Verfahren ist ja nicht so bequem wie das der po pulären Chiffriermethode, welche den gegebenen Trauminhalt nach einem fixierten Schlüssel übersetzt; ich bin vielmehr gefaßt darauf, daß derselbe Trauminhalt bei verschiedenen Personen und in verschiedenem Zusammenhang auch einen anderen Sinn ver bergen mag. Somit bin ich auf meine eigenen Träume angewiesen als auf ein reichliches und bequemes Material, das von einer un gefähr normalen Person herrührt und sich auf mannigfache An lässe des täglichen Lebens bezieht. Man wird mir sicherlich Zweifel in die Verläßlichkeit solcher „Selbstanalysen“ entgegen setzen. Die Willkür sei dabei keineswegs ausgeschlossen. Nach meinem Urteil liegen die Verhältnisse bei der Selbstbeobachtung § 578108 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 579eher günstiger als bei der Beobachtung anderer; jedenfalls darf
man versuchen, wie weit man in der Traumdeutung mit der Selbstanalyse reicht. Andere Schwierigkeiten habe ich in meinem eigenen Innern zu überwinden. Man hat eine begreifliche Scheu, soviel Intimes aus seinem Seelenleben preiszugeben, weiß sich dabei auch nicht gesichert vor der Mißdeutung der Fremden. Aber darüber muß man sich hinaussetzen können. „Tout psycho logiste, schreibt Delboeuf, est oblige de faire laveu meme de ses faiblesses s’il croft par l& jeter du jour sur quelque problöme obscur.“ Und auch beim Leser, darf ich annehmen, wird das an fängliche Interesse an den Indiskretionen, die ich begehen muß, sehr bald der ausschließlichen Vertiefung in die hiedurch be leuchteten psychologischen Probleme Platz machen. § 580Ich werde also einen meiner eigenen Träume hervorsuchen
und an ihm meine Deutungsweise erläutern. Jeder solche Traum macht einen Vorbericht nötig. Nun muß ich aber den Leser bitten, für eine ganze Weile meine Interessen zu den seinigen zu machen und sich mit mir in die kleinsten Einzelheiten meines Lebens zu versenken, denn solche Übertragung fordert gebieterisch das Interesse für die versteckte Bedeutung der Träume. § 581Vorbericht
§ 582Im Sommer i895 hatte ich eine junge Dame psychoanalytisch
behandelt, die mir und den Meinigen freundschaftlich sehr nahe stand. Man versteht es, daß solche Vermengung der Beziehungen zur Quelle mannigfacher Erregungen für den Arzt werden kann, zumal für den Psychotherapeuten. Das persönliche Interesse des Arztes ist größer, seine Autorität geringer. Ein Mißerfolg droht die alte Freundschaft mit den Angehörigen der Kranken zu lockern. Die Kur endete mit einem teilweisen Erfolg, die Patientin verlor ihre hysterische Angst, aber nicht alle ihre somatischen Symptome. Ich war damals noch nicht recht sicher in den Kriterien, welche die endgültige Erledigung einer hysterischen § 583Der Traum von Irmas Injektion 109
§ 584Krankengeschichte bezeichnen, und mutete der Patientin eine
Lösung zu, die ihr nicht annehmbar erschien. In solcher Uneinig keit brachen wir der Sommerzeit wegen die Behandlung ab. — Eines Tages besuchte mich ein jüngerer Kollege, einer meiner nächsten Freunde, der die Patientin — Irma — und ihre „Familie in ihrem Landaufenthalt besucht hatte. Ich fragte ihn, wie er sie gefunden habe, und bekam die Antwort: Es geht ihr besser, aber nicht ganz gut. Ich weiß, daß mich die Worte meines Freundes Otto oder der Ton, in dem sie gesprochen waren, ärgerten. Ich glaubte einen Vorwurf herauszuhören, etwa daß ich der Patientin zu viel versprochen hätte, und führte — ob mit Recht oder Unrecht — die vermeintliche Parteinahme Ottos gegen mich auf den Einfluß von Angehörigen der Kranken zurück, die, wie ich annahm, meine Behandlung nie gerne ge sehen hatten. Übrigens wurde mir meine peinliche Empfindung nicht klar, ich gab ihr auch keinen Ausdruck. Am selben Abend schrieb ich noch die Krankengeschichte Irmas nieder, um sie, wie zu meiner Rechtfertigung, dem Dr, M., einem gemeinsamen Freunde, der damals tonangebenden Persönlichkeit in unserem Kreise, zu übergeben. In der auf diesen Abend folgenden Nacht (wohl eher am Morgen) hatte ich den nachstehenden Traum, der unmittelbar nach dem Erwachen fixiert wurde. [£ 7] § 585Traum vom 23./24. Juli 1895
Eine große Halle — viele Gäste, die wir empfangen. — Unter ihnen Irma, die ich sofort beiseite nehme, um gleichsam ihren Brief zu beantworten, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die „Lösung“ noch nicht akzeptiert. Ich sage ihr: Wenn du noch § 586Schmerzen hast, so ist es wirklich nur deine Schuld. — Sie ant
wortet: Wenn du wüßtest, was ich für Schmerzen jetzt habe im Hals, Magen und Leib, es schnürt mich zusammen. — Ich er § 587schrecke und sehe sie an. Sie sieht bleich und gedunsen aus;
ich denke, am Ende übersehe ich da doch etwas Organisches. Ich § 588110 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 589nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt
sie etwas Sträuben wie die Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. — Der Mund geht dann auch gut auf, und ich finde rechts einen großen weißen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, aus gedehnte weißgraue Schorfe. — Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt .... Dr. M. sieht ganz anders aus als sonst; er ist sehr bleich, hinkt, ist am Kinn bartlos ..... Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr, und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: Sie hat eine Dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides wie er spüre) .... M. sagt: Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts; es wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden . . . Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund Otto hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylprä § 590parat, Propylen ..... Propionsäure .... Trimethylamin (dessen
Formel ich fetigedruckt vor mir sehe) ... Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig . . . Wahrscheinlich war auch § 591die Spritze nicht rein.
§ 592Dieser Traum hat vor vielen anderen eines voraus. Es ist sofort
klar, an welche Ereignisse des letzten Tages er anknüpft, und welches Thema er behandelt. Der Vorbericht gibt hierüber Aus kunft. Die Nachricht, die ich von Otto über Irmas Befinden er halten, die Krankengeschichte, an der ich bis tief in die Nacht geschrieben, haben meine Seelentätigkeit auch während des Schlafes beschäftigt. Trotzdem dürfte niemand, der den Vorbericht und den Inhalt des Traumes zur Kenntnis genommen hat, ahnen können, was der Traum bedeutet. Ich selbst weiß es auch nicht. Ich wundere mich über die Krankheitssymptome, welche Irma im Traum mir klagt, da es nicht dieselben sind, wegen welcher ich § 593Analyse des Traumes von Irmas Injektion iri
§ 594sie behandelt habe. Ich lächle über die unsinnige Idee einer
Injektion mit Propionsäure und über den Trost, den Dr. M. aus spricht. Der Traum scheint mir gegen sein Ende hin dunkler und gedrängter, als er zu Beginn ist. Um die Bedeutung von alledem zu erfahren, muß ich mich zu einer eingehenden Analyse entschließen. Analyse § 595Die Halle — viele Gäste, die wir empfangen. Wir wohnten
in diesem Sommer auf der Bellevue, einem einzelstehenden Hause auf einem der Hügel, die sich an den Kahlenberg anschließen. Dies Haus war ehemals zu einem Vergnügungslokal bestimmt, hat hievon die ungewöhnlich hohen, hallenförmigen Räume. Der Traum ist auch auf der Bellevue vorgefallen, und zwar wenige Tage vor dem Geburtsfeste meiner Frau. Am Tage hatte meine Frau die Erwartung ausgesprochen, zu ihrem Geburtstag würden mehrere Freunde, und darunter auch Irma, als Gäste zu uns kommen. Mein Traum antizipiert also diese Situation: Es ist der Geburtstag meiner Frau und viele Leute, darunter Irma, werden von uns als Gäste in der großen Halle der Bellevue empfangen. § 596Ich mache Irma Vorwürfe, daß sie die Lösung nicht akzeptiert
hat; ich sage: Wenn du noch Schmerzen hast, ist es deine eigene Schuld. Das hätte ich ihr auch im Wachen sagen können, oder habe es ihr gesagt. Ich hatte damals die (später als unrichtig erkannte) Meinung, daß meine Aufgabe sich darin ‘erschöpfe, den Kranken den verborgenen Sinn ihrer Symptome mitzuteilen; ob sie diese Lösung dann annehmen oder nicht, wovon der Erfolg abhängt, dafür sei ich nicht mehr verantwortlich. Ich bin diesem jetzt glücklich überwundenen Irrtum dankbar dafür, daß er mir die Existenz zu einer Zeit erleichtert, da ich in all meiner un vermeidlichen Ignoranz Heilerfolge produzieren sollte. — Ich merke aber an dem Satz, den ich im Traume zu Irma spreche, daß ich vor allem nicht Schuld sein will an den Schmerzen, die sie noch hat. Wenn es Irmas eigene Schuld ist, dann kann es § 597112 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 598nicht meine sein. Sollte in dieser Richtung die Absicht des
Traumes zu suchen sein ? § 599Irmas Klagen; Schmerzen im Hals, Leib und Magen, es
schnürt sie zusammen. Schmerzen im Magen gehörten zum Symptomkomplex meiner Patientin, sie waren aber nicht sehr vordringlich; sie klagte eher über Empfindungen von Übelkeit und Ekel. Schmerzen im Hals, im Leib, Schnüren in der Kehle spielten bei ihr kaum eine Rolle. Ich wundere mich, warum ich mich zu dieser Auswahl der Symptome im Traum ent schlossen habe, kann es auch für den Moment nicht finden. § 600Sie sieht bleich und gedunsen aus. Meine Patientin war immer
rosig. Ich vermute, daß sich hier eine andere Person ihr unter schiebt. § 601Ich erschrecke im Gedanken, daß ich doch eine organische
Affektion übersehen habe. Wie man mir gerne glauben wird, eine nie erlöschende Angst beim Spezialisten, der fast ausschließlich Neurotiker sieht, und der so viele Erscheinungen auf Hysterie zu schieben gewohnt ist, welche andere Ärzte als organisch behandeln. Anderseits beschleicht mich — ich weiß nicht woher — ein leiser Zweifel, ob mein Erschrecken ganz ehrlich ist. Wenn die Schmerzen Irmas organisch begründet sind, so bin ich wiederum zu deren Heilung nicht verpflichtet. Meine Kur beseitigt ja nur hysterische Schmerzen. Es kommt mir also eigentlich vor, als sollte ich einen Irrtum in der Diagnose wünschen; dann wäre der Vorwurf des Mißerfolges auch beseitigt. § 602Ich nehme sie zum Fenster, um ihr in den Hals zu sehen.
Sie sträubt sich ein wenig wie die Frauen, die falsche Zähne tragen. Ich denke mir, sie hat es ja doch nicht nötig. Bei Irma hatte ich niemals Anlaß, die Mundhöhle zu inspizieren. Der Vorgang im Traum erinnert mich an die vor einiger Zeit vor genommene Untersuchung einer Gouvernante, die zunächst den Eindruck von jugendlicher Schönheit gemacht hatte, beim Öffnen des Mundes aber gewisse Anstalten traf, um ihr Gebiß zu ver § 603Analyse des Traumes von Irmas Injektion 113
§ 604bergen. An diesen Fall knüpfen sich andere Erinnerungen an
ärztliche Untersuchungen und an kleine Geheimnisse, die dabei, keinem von beiden zur Lust, enthüllt werden. — Sie hat es doch nicht nötig, ist wohl zunächst ein Kompliment für Irma; ich vermute aber noch eine andere Bedeutung. Man fühlt es bei aufmerksamer Analyse, ob man die zu erwartenden Hintergedanken erschöpft hat oder nicht. Die Art, wie Irma beim Fenster steht, erinnert mich plötzlich an ein anderes Erlebnis. Irma besitzt eine intime Freundin, die ich sehr hoch schätze. Als ich eines Abends bei ihr einen Besuch machte, fand ich sie in der im Traum reproduzierten Situation beim Fenster, und ihr Arzt, derselbe Dr. M., erklärte, daß sie einen diphtheritischen Belag habe. Die Person des Dr. M. und der Belag kehren ja im Fortgang des Traumes wieder. Jetzt fällt mir ein, daß ich in den letzten Monaten allen Grund bekommen habe, von dieser anderen Dame anzunehmen, sie sei gleichfalls hysterisch. Ja, Irma selbst hat es mir verraten. Was weiß ich aber von ihren Zuständen? Gerade das eine, daß sie an hysterischem Würgen leidet wie meine Irma im Traum. Ich habe also im Traum meine Patientin durch ihre Freundin ersetzt. Jetzt erinnere ich mich, ich habe oft mit der Vermutung gespielt, diese Dame könnte mich gleichfalls in Anspruch nehmen, sie von ihren Symptomen zu befreien. Ich hielt es aber dann selbst für unwahrscheinlich, denn sie ist von sehr zurückhaltender Natur. Sie sträubt sich, wie es der Traum zeigt. Eine andere Erklärung wäre, daß sie es nicht nötig hat; sie hat sich wirklich bisher stark genug gezeigt, ihre Zu stände ohne fremde Hilfe zu beherrschen. Nun sind nur noch einige Züge übrig, die ich weder bei Irma noch bei ihrer Freundin unterbringen kann: bleich, gedunsen, falsche Zähne. Die falschen Zähne führten mich auf jene Gouvernante; ich fühle mich nun geneigt, mich mit schlechten Zähnen zu begnügen. Dann fällt mir eine andere Person ein, auf welche jene Züge § 605anspielen können. Sie ist gleichfalls nicht meine Patientin, und
Freud, I. 5 § 606114 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 607ich möchte sie nicht zur Patientin haben, da ich gemerkt habe,
daß sie sich vor mir geniert, und ich sie für keine gefügige Kranke halte. Sie ist für gewöhnlich bleich, und als sie einmal eine besonders gute Zeit hatte, war sie gedunsen.' Ich habe also meine Patientin Irma mit zwei anderen Personen verglichen, die sich gleichfalls der Behandlung sträuben würden. Was kann es für Sinn haben, daß ich sie im Traume mit ihrer Freundin ver tauscht habe? Etwa, daß ich sie vertauschen möchte; die andere erweckt entweder bei mir stärkere Sympathien oder ich habe eine höhere Meinung von ihrer Intelligenz. Ich halte nämlich Irma für unklug, weil sie meine Lösung nicht akzeptiert. Die andere wäre klüger, würde also eher nachgeben. Der Mund geht dann auch gut auf; sie würde mehr erzählen als Irma § 608Was ich im Halse sehe: einen weißen Fleck und verschorfte
Nasenmuscheln. Der weiße Fleck erinnert an Diphtheritis und somit an Irmas Freundin, außerdem aber an die schwere Er krankung meiner ältesten Tochter vor nahezu zwei Jahren, und an all den Schreck jener bösen Zeit. Die Schorfe an den Nasen muscheln mahnen an eine Sorge um meine eigene Gesundheit. Ich gebrauchte damals häufig Kokain, um lästige Nasenschwellungen zu unterdrücken, und hatte vor wenigen Tagen gehört, daß eine Patientin, die es mir gleich tat, sich eine ausgedehnte Nekrose der Nasenschleimhaut zugezogen hatte. Die Empfehlung des Kokains, die 1885 von mir ausging, hat mir auch schwerwiegende § 6091) Auf diese dritte Person läßt sich auch die noch unaufgeklärte Klage über
Schmerzen im Leib zurückführen. Es handelt sich natürlich um meine eigene Frau; die Leibschmerzen erinnern mich an einen der Anlässe, bei denen ihre Scheu mir deutlich wurde. Ich muß mir eingestehen, daß ich Irma und meine Frau in diesem Traume nicht sehr liebenswürdig behandle, aber zu meiner Entschuldigung sei bemerkt, daß ich beide am Ideal der braven, gefügigen Patientin messe. § 6102) Ich ahne, daß die Deutung dieses Stückes nicht weit genug geführt ist, um
allem verborgenen Sinn zu folgen. Wollte ich die Vergleichung der drei Frauen fortsetzen, so käme ich weit ab. — Jeder Traum hat mindestens eine Stelle, an welcher er unergründlich ist, gleichsam einen Nabel, durch den er mit dem Un erkannten zusammenhängt. § 611Analyse des Traumes von Irmas Injektion 115
§ 612Vorwürfe eingetragen. Ein teurer, 1895 schon verstorbener Freund
hatte durch den Mißbrauch dieses Mittels seinen Untergang beschleunigt. § 613Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wieder
holt. Das entspräche einfach der Stellung, die M. unter uns ein nahm. Aber das „schnell“ ist auffällig genug, um eine besondere Erklärung zu fordern. Es erinnert mich an ein trauriges ärztliches Erlebnis. Ich hatte einmal durch die fortgesetzte Ordination eines Mittels, welches damals noch als harmlos galt (Sulfonal), eine schwere Intoxikation bei einer Kranken hervorgerufen und wandte mich dann eiligst an den erfahrenen älteren Kollegen um Beistand. Daß ich diesen Fall wirklich im Auge habe, wird durch einen Nebenumstand erhärtet. Die Kranke, welche der Intoxikation erlag, führte denselben Namen wie meine älteste Tochter. Ich hatte bis jetzt niemals daran gedacht; jetzt kommt es mir beinahe wie eine Schicksalsvergeltung vor. Als sollte sich die Ersetzung der Personen in anderem Sinne fortsetzen; diese Mathilde für jene Mathilde; Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn. Es ist, als ob ich alle Gelegenheiten hervorsuchte, aus denen ich mir den Vorwurf mangelnder ärztlicher Gewissenhaftigkeit machen kann. § 614Dr. M. ist bleich, ohne Bart am Kinn und hinkt. Davon ist
soviel richtig, daß sein schlechtes Aussehen häufig die Sorge seiner Freunde erweckt. Die beiden anderen Charaktere müssen einer anderen Person angehören. Es fällt mir mein im Auslande lebender älterer Bruder ein, der das Kinn rasiert trägt und dem, wenn ich mich recht erinnere, der M. des Traumes im ganzen ähnlich sah. Über ihn kam vor einigen Tagen die Nachricht, daß er wegen einer arthritischen Erkrankung in der Hüfte hinke, Es muß einen Grund haben, daß ich die beiden Personen im Traume zu einer einzigen verschmelze. Ich erinnere mich wirklich, daß ich gegen beide aus ähnlichen Gründen mißgestimmt war, Beide hatten einen gewissen Vorschlag, den ich ihnen in der letzten Zeit gemacht hatte, zurückgewiesen. § 615116 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 616Freund Otto steht jetzt bei der Kranken und Freund Leopold
untersucht sie und weist eine Dämpfung links unten nach. Freund Leopold ist gleichfalls Arzt, ein Verwandter von Otto. Das Schicksal hat die beiden, da sie dieselbe Spezialität ausüben, zu Konkurrenten gemacht, die man bestandig miteinander vergleicht. Sie haben mir beide Jahre hindurch assistiert, als ich noch eine öffentliche Ordination für nervenkranke Kinder leitete. Szenen, wie die im Traum reproduzierte, haben sich dort oftmals zuge tragen. Während ich mit Otto über die Diagnose eines Falles debattierte, hatte Leopold das Kind neuerdings untersucht und einen unerwarteten Beitrag zur Entscheidung beigebracht. Es bestand eben zwischen ihnen eine ähnliche Charakterverschiedenheit wie zwischen dem Inspektor Bräsig und seinem Freunde Karl. Der eine tat sich durch „Fixigkeit“ hervor, der andere war langsam, bedächtig, aber gründlich. Wenn ich im Traume Otto und den vorsichtigen Leopold einander gegenüberstelle, so geschieht es offenbar, um Leopold herauszustreichen. Es ist ein ähnliches Vergleichen wie oben zwischen der unfolgsamen Patientin Irma und ihrer für klüger gehaltenen Freundin. Ich merke jetzt auch eines der Gleise, auf denen sich die Gedankenverbindung im Traume fortschiebt: vom kranken Kind zum Kinderkrankeninstitut, — Die Dämpfung links unten macht mir den Eindruck, als ent spräche sie allen Details eines einzelnen Falles, in dem mich Leopold durch seine Gründlichkeit frappiert hat. Es schwebt mir außerdem etwas vor wie eine metastatische Affektion, aber es könnte auch eine Beziehung zu der Patientin sein, die ich an Stelle von Irma haben möchte, Diese Dame imitiert nämlich, soweit ich es übersehen kann, eine Tuberkulose. § 617Eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter. Ich weiß
sofort, das ist mein eigener Schulterrheumatismus, den ich regel mäßig verspüre, wenn ich bis tief in die Nacht wach geblieben bin. Der Wortlaut im Traume klingt auch so zweideutig: was ich... wie er spüre. Am eigenen Körper spüre, ist gemeint. § 618Analyse des Traumes von Irmas Injektion 117
§ 619Übrigens fällt mir auf, wie ungewöhnlich die Bezeichnung
„infiltrierte Hautpartie“ klingt. An die „Infiltration links hinten oben“ sind wir gewöhnt; die bezöge sich auf die Lunge und somit wieder auf "Tuberkulose. § 620Trotz des Kleides. Das ist allerdings nur eine Einschaltung.
Die Kinder im Krankeninstitut untersuchten wir natürlich ent kleidet; es ist irgendein Gegensatz zur Art, wie man erwachsene weibliche Patienten untersuchen muß. Von einem hervorragenden Kliniker pflegte man zu erzählen, daß er seine Patienten stets nur durch die Kleider physikalisch untersucht habe. Das weitere ist mir dunkel, ich habe, offen gesagt, keine Neigung, mich hier tiefer einzulassen. § 621Dr. M. sagt: Es ist eine Infektion, aber es macht nichts. Es
wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden. Das erscheint mir zuerst lächerlich, muß aber doch, wie alles andere, sorgfältig zerlegt werden. Näher betrachtet zeigt es doch eine Art von Sinn. Was ich an der Patientin gefunden habe, war eine lokale Diphtheritis. Aus der Zeit der Erkrankung meiner Tochter erinnere ich mich an die Diskussion über Diphtheritis und Diphtherie. Letztere ist die Allgemeininfektion, die von der lokalen Diphtheritis ausgeht. Eine solche Allgemeininfektion weist Leopold durch die Dämpfung nach, welche also an metastatische Herde denken läßt. Ich glaube zwar, daß gerade bei Diphtherie derartige Metastasen nicht vorkommen. Sie erinnern mich eher an Pyämie. § 622Es macht nichts, ist ein Trost. Ich meine, er fügt sich folgender
maßen ein: Das letzte Stück des Traumes hat den Inhalt ge bracht, daß die Schmerzen der Patientin von einer schweren organischen Affektion herrühren. Es ahnt mir, daß ich auch damit nur die Schuld von mir abwälzen will. Für den Fortbestand diphtheritischer Leiden kann die psychische Kur nicht verant wortlich gemacht werden. Nun geniert es mich doch, daß ich Irma ein so schweres Leiden andichte, einzig und allein, um mich § 623118 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 624zu entlasten. Es sieht so grausam aus. Ich brauche also eine
Versicherung des guten Ausganges, ,und es scheint mir nicht übel gewählt, daß ich den Trost gerade der Person des Dr. M. in den Mund lege. Ich erhebe mich aber hier über den Traum, was der Aufklärung. bedarf. § 625Warum ist dieser Trost aber so unsinnig?
§ 626Dysenterie: Irgendeine fernliegende theoretische Vorstellung,
daß Krankheitsstoffe durch den Darm entfernt werden können. Will ich mich damit über den Reichtum des Dr. M. an weit hergeholten Erklärungen, sonderbaren pathologischen Verknüp fungen lustig machen? Zu Dysenterie fällt mir noch etwas anderes ein. Vor einigen Monaten hatte ich einen jungen Mann mit merkwürdigen Stuhlbeschwerden übernommen, den andere Kollegen als einen Fall von „Anämie mit Unterernährung“ be handelt hatten. Ich erkannte, daß es sich um eine Hysterie handle, wollte meine Psychotherapie nicht an ihm versuchen und schickte ihn auf eine Seereise. Nun bekam ich vor einigen Tagen einen verzweifelten Brief von ihm aus Ägypten, daß er dort einen neuen Anfall durchgemacht, den der Arzt für Dysenterie erklärt habe. Ich vermute zwar, die Diagnose ist nur ein Irrtum des unwissenden Kollegen, der sich von der Hysterie äffen läßt; aber ich konnte mir doch die Vorwürfe nicht ersparen, daß ich den Kranken in die Lage versetzt, sich zu seiner hysterischen Darm affektion etwa noch eine organische zu holen. Dysenterie klingt ferner an Diphtherie an, welcher Name +4} im Traum nicht genannt wird. § 627Ja, es muß so sein, daß ich mich mit der tröstlichen Prognose:
Es wird noch Dysenterie hinzukommen usw. über Dr. M. lustig mache, denn ich entsinne mich, daß er einmal vor Jahren etwas ganz Ähnliches von einem anderen Kollegen lachend erzählt hat. Er war zur Konsultation mit diesem Kollegen bei einem schwer Kranken berufen worden und fühlte sich veranlaßt, dem anderen, der sehr hoffnungsfreudig schien, vorzuhalten, daß er beim Pa § 628Analyse des Traumes von Irmas Injektion 119
§ 629tienten Eiweiß im Harn finde. Der Kollege ließ sich aber nicht
irremachen, sondern antwortete beruhigt: Das macht nichts: Herr Kollege, der Eiweiß wird sich schon ausscheiden! — Es ist mir also nicht mehr zweifelhaft, daß in diesem Stück des Traumes ein Hohn auf die der Hysterie unwissenden Kollegen enthalten ist. Wie zur Bestätigung fährt mir jetzt durch den Sinn: Weiß denn Dr. M., daß die Erscheinungen bei seiner Pa tientin, der Freundin Irmas, welche eine Tuberkulose befürchten lassen, auch auf Hysterie beruhen? Hat er diese Hysterie erkannt, oder ist er ihr „aufgesessen“? § 630Welches Motiv kann ich aber haben, diesen Freund so schlecht
zu behandeln? Das ist sehr einfach: Dr. M. ist mit meiner „Lö sung“ bei Irma so wenig einverstanden wie Irma selbst. Ich habe also in diesem Traum bereits an zwei Personen Rache genommen, an Irma mit den Worten: Wenn du noch Schmerzen hast, ist es deine eigene Schuld, und an Dr. M. mit dem Wortlaut der ihm in den Mund gelegten unsinnigen Tröstung. § 631Wir wissen unmittelbar, woher die Infektion rührt. Dies un
mittelbare Wissen im Traume ist sehr merkwürdig. Eben vorhin wußten wir es noch nicht, da die Infektion erst durch Leopold nachgewiesen wurde. § 632Freund Otto hat ihr, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion
gegeben. Otto hatte wirklich erzählt, daß er in der kurzen Zeit seiner Anwesenheit bei Irmas Familie ins benachbarte Hotel ge holt wurde, um dort jemandem, der sich plötzlich unwohl fühlte, eine Injektion zu machen. Die Injektionen erinnern mich wieder an den unglücklichen Freund, der sich mit Kokain vergiftet hat. Ich hatte ihm das Mittel nur zur internen Anwendung während der Morphiumentziehung geraten; er machte sich aber unverzüg lich Kokaininjektionen. § 633Mit einem Propylpräparat ... Propylen . ... Propionsäure.
Wie komme ich nur dazu? Am selben Abend, nach welchem ich an der Krankengeschichte geschrieben und darauf geträumt hatte, § 634120 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 635öffnete meine Frau eine Flasche Likör, auf welcher „Ananas“'
zu lesen stand und die ein Geschenk unseres Freundes Otto war. Er hat nämlich die Gewohnheit, bei allen möglichen Anlässen zu schenken; hoffentlich wird er einmal durch eine Frau davon kuriert. Diesem Likör entströmte ein solcher Fuselgeruch, daß ich mich weigerte, davon zu kosten. Meine Frau meinte: Diese Flasche schenken wir den Dienstleuten, und ich, noch vorsichtiger, unter sagte es mit der menschenfreundlichen Bemerkung, sie sollen sich auch nicht vergiften. Der Fuselgeruch (Amyl....) hat nun offen bar bei mir die Erinnerung an die ganze Reihe: Propyl, Methyl usw. geweckt, die für den Traum die Propylenpräparate lieferte. Ich habe dabei allerdings eine Substitution vorgenommen, Propyl geträumt, nachdem ich Amyl gerochen, aber derartige Substitutionen sind vielleicht gerade in der organischen Chemie gestattet. § 636Trimethylamin. Von diesem Körper sehe ich im Traume die
chemische Formel, was jedenfalls eine große Anstrengung meines Gedächtnisses bezeugt, und zwar ist die Formel fett gedruckt, als wollte man aus dem Kontext etwas als ganz besonders wichtig herausheben. Worauf führt mich nun Trimethylamin, auf das ich in solcher Weise aufmerksam gemacht werde? Auf ein Gespräch mit einem anderen Freunde, der seit Jahren um. all meine kei menden Arbeiten weiß, wie ich um die seinigen. Er hatte mir damals gewisse Ideen zu einer Sexualchemie mitgeteilt und unter anderem erwähnt, eines der Produkte des Sexualstoffwechsels glaube er im Trimethylamin zu erkennen. Dieser Körper führt mich also auf die Sexualität, auf jenes Moment, dem ich für die Ent stehung der nervösen Affektionen, welche ich heilen will, die größte Bedeutung beilege. Meine Patientin Irma ist eine jugend liche Witwe; wenn es mir darum zu tun ist, den Mißerfolg der Kur bei ihr zu entschuldigen, werde ich mich wohl am besten § 6371) „Ananas“ enthält übrigens einen merkwürdigen Anklang an den Familien
namen meiner Patientin Irma. § 638Analyse des Traumes von Irmas Injektion 191
§ 639auf diese Tatsache berufen, an welcher ihre Freunde gern ändern
möchten. Wie merkwürdig übrigens ein solcher Traum gefügt ist! Die andere, welche ich an Irmas Statt im Traume zur Pa tientin habe, ist auch eine junge Witwe. § 640Ich ahne, warum die Formel Trimethylamin im Traume sich
so breit gemacht hat. Es kommt soviel Wichtiges in diesem einen Wort zusammen: Trimethylamin ist nicht nur eine Anspielung auf das übermächtige Moment der Sexualität, sondern auch auf eine Person, an deren Zustimmung ich mich mit Befriedigung erinnere, wenn ich mich mit meinen Ansichten verlassen fühle. Sollte dieser Freund, der in meinem Leben eine so große Rolle spielt, in dem Gedankenzusammenhang des Traumes weiter nicht vorkommen? Doch; er ist ein besonderer Kenner der Wirkungen, welche von Affektionen der Nase und ihrer Nebenhöhlen ausgehen, und hat der Wissenschaft einige höchst merkwürdige Beziehungen der Nasenmuscheln zu den weiblichen Sexualorganen eröffnet. (Die drei krausen Gebilde im Hals bei Irma.) Ich habe Irma von ihm untersuchen lassen, ob ihre Magenschmerzen etwa nasalen Urprungs sind. Er leidet aber selbst an Naseneiterungen, die mir Sorge bereiten, und darauf spielt wohl die Pyämie an, die mir bei den Metastasen des Traumes vorschwebt. § 641Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig. Hier wird
der Vorwurf der Leichtfertigkeit unmittelbar gegen Freund Otto geschleudert. Ich glaube, etwas Ähnliches habe ich mir am Nach mittage gedacht, als er durch Wort und Blick seine Parteinahme gegen mich zu bezeugen schien. Es war etwa: Wie leicht er sich beeinflussen läßt; wie leicht er mit seinem Urteil fertig wird. — Außerdem deutet mir der obenstehende Satz wiederum auf den verstorbenen Freund, der sich so rasch zu Kokaininjek tionen entschloß. Ich hatte Injektionen mit dem Mittel, wie ge sagt, gar nicht beabsichtigt. Bei dem Vorwurf, den ich gegen Otto erhebe, leichtfertig mit jenen chemischen Stoffen umzugehen, merke ich, daß ich wieder die Geschichte jener unglücklichen § 642122 II. Die Methode der Traumdeutung
§ 643Mathilde berühre, aus der derselbe Vorwurf gegen mich hervor
geht. Ich sammle hier offenbar Beispiele für meine Gewissen haftigkeit, aber auch fürs Gegenteil. § 644Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein. Noch ein Vor
wurf gegen Otto, der aber anderswoher stammt. Gestern traf ich zufällig den Sohn einer zweiundachtzigjährigen Dame, der ich täglich zwei Morphiuminjektionen geben muß. Sie ist gegenwärtig auf dem Lande, und ich hörte über sie, daß sie an einer Venen entzündung leide. Ich dachte sofort daran, es handle sich um ein Infiltrat durch Verunreinigung der Spritze. Es ist mein Stolz, daß ich ihr in zwei Jahren nicht ein einziges Infiltrat gemacht habe; es ist freilich meine beständige Sorge, ob die Spritze auch rein ist. Ich bin eben gewissenhaft. Von der Venenentzündung komme ich wieder auf meine Frau, die in einer Schwangerschaft an Venenstauungen gelitten, und nun tauchen in meiner Erinnerung drei ähnliche Situationen, mit meiner Frau, mit Irma und der verstorbenen Mathilde auf, deren Identität: mir offenbar das Recht gegeben hat, die drei Personen im Traum füreinander § 645einzusetzen.
* § 646Ich habe nun die Traumdeutung vollendet, Während dieser
Arbeit hatte ich Mühe, mich all der Einfälle zu erwehren, zu denen der Vergleich zwischen dem Trauminhalt und den dahinter versteckten Traumgedanken die Anregung geben mußte. Auch ist mir unterdes der „Sinn“ des Traumes aufgegangen. Ich habe eine Absicht gemerkt, welche durch den Traum verwirklicht wird und die das Motiv des Träumens gewesen sein muß. Der Traum erfüllt einige Wünsche, welche durch die Ereignisse des letzten Abends (die Nachricht Ottos, die Niederschrift der Krankenge schichte) in mir rege gemacht worden sind. Das Ergebnis des Traumes ist nämlich, daß ich nicht Schuld bin an dem noch vorhandenen Leiden Irmas, und daß Otto daran Schuld ist. Nun hat mich Otto durch seine Bemerkung über Irmas unvollkommene § 647Analyse des Traumes von Irmas Injektion 125
§ 648Heilung geärgert, der. Traum rächt mich an ihm, indem er den
Vorwurf auf ihn selbst zurückwendet. Von der Verantwortung für Irmas Befinden spricht der. Traum mich frei, indem er dasselbe auf andere Momente (gleich eine ganze Reihe von Begründungen) zurückführt. Der Traum stellt einen gewissen Sachverhalt so dar, wie ich ihn wünschen möchte; sein Inhalt ist also eine Wunscherfüllung, sein Motiv ein Wunsch. § 649Soviel springt in die Augen. Aber auch von den Details des
Traumes wird mir manches unter dem Gesichtspunkte der Wunsch erfüllung verständlich. ,Ich räche mich nicht nur an Otto für seine voreilige Parteinahme gegen mich, indem ich ihm eine vor eilige ärztliche Handlung zuschiebe (die Injektion), sondern ich nehme auch Rache an ihm für den schlechten Likör, der nach Fusel duftet, und ich finde im Traum einen Ausdruck, der beide Vorwürfe vereint: die Injektion mit einem Propylenpräparat. Ich bin noch nicht befriedigt, sondern setze meine Rache fort, indem ich ihm seinen verläßlicheren Konkurrenten gegenüberstelle. Ich scheine damit zu sagen: Der ist mir lieber als du. Otto ist aber nicht der einzige, der die Schwere . meines Zornes zu fühlen hat. Ich räche mich auch an der unfolgsamen Patientin, indem ich sie mit einer klügeren, gefügigeren vertausche. Ich lasse auch dem Dr. M. seinen Widerspruch nicht ruhig hingehen, sondern drücke ihm in einer deutlichen Anspielung meine Meinung aus, daß er der Sache als ein Unwissender gegenübersteht („Es wird Dysenterie hinzutreten etc.“). Ja, mir scheint, ich appelliere von ihm weg an einen anderen, Besserwissenden (meinen Freund, der mir vom Trimethylamin erzählt hat), wie ich von Irma an ihre Freundin, von Otto an Leopold mich gewendet habe. Schafft mir diese Personen weg, ersetzt sie mir durch drei andere meiner Wahl, dann bin ich der Vorwürfe ledig, die ich nicht verdient haben will! Die Grundlosigkeit dieser Vorwürfe selbst wird mir im Traume auf die weitläufigste Art erwiesen. Irmas Schmerzen fallen nicht mir zu Last, denn sie ist selbst schuld an ihnen, § 650124 IT: Die Methode der Traumdeutung
§ 651in dem sie meine Lösung anzunehmen verweigert. Irmas Schmerzen
gehen mich nichts an, denn sie sind organischer Natur, durch eine psychische Kur gar nicht heilbar. Irmas Leiden erklären sich befriedigend durch ihre Witwenschaft (Trimethylamin!), woran ich ja nichts ändern kann. Irmas Leiden ist durch eine unvor sichtige Injektion von seiten Ottos hervorgerufen worden mit einem dazu nicht geeigneten Stoff, wie ich sie nie gemacht hätte. Irmas Leiden rührt von einer Injektion mit unreiner Spritze her wie die Venenentzündung meiner alten Dame, während ich bei meinen Injektionen niemals etwas anstelle. Ich merke zwar, diese Erklärungen für Irmas Leiden, die darin zusammentreffen, mich zu entlasten, stimmen untereinander nicht zusammen, ja sie schließen einander aus. Das ganze Plaidoyer — nichts anderes ist. dieser Traum — erinnert lebhaft an die Verteidigung des Mannes, der von seinem Nachbarn angeklagt war, ihm einen Kessel in schadhaftem Zustande zurückgegeben zu haben. Erstens habe er ihn unversehrt zurückgebracht, zweitens war der Kessel schon durchlöchert, als er ihn entlehnte, drittens hat er nie einen Kessel vom Nachbarn entlehnt. Aber um so besser; wenn nur eine dieser drei Verteidigungsarten als stichhältig erkannt wird, muß der Mann freigesprochen werden. § 652Es spielen in den Traum noch andere Themata hinein, deren
Beziehung zu meiner Entlastung von Irmas Krankheit nicht so durchsichtig ist: Die Krankheit meiner Tochter und die einer gleichnamigen Patientin, die Kokainschädlichkeit, die Affektion meines in Ägypten reisenden Patienten, die Sorge um die Ge sundheit meiner Frau, meines Bruders, des Dr. M., meine eigenen Körperbeschwerden, die Sorge um den abwesenden Freund, der an Naseneiterungen leidet. Doch wenn ich all das ins Auge fasse, fügt es sich zu einem einzigen Gedankenkreis zusammen, etwa mit der Etikette: Sorge um die Gesundheit, eigene und fremde, ärztliche Gewissenhaftigkeit. Ich erinnere mich an eine unklare peinliche Empfindung, als mir Otto die Nachricht von Irmas Be § 653Der Traum die Darstellung eines erfüllten Wunsches 125
§ 654finden brachte. Aus dem im Traume mitspielenden Gedankenkreis
möchte ich nachträglich den Ausdruck für diese flüchtige Empfin dung einsetzen. Es ist, als ob er mir gesagt hätte: Du nimmst deine ärztlichen. Pflichten nicht ernsthaft genug, bist nicht ge wissenhaft, hältst nicht, was du versprichst. Daraufhin hätte sich mir jener Gedankenkreis zur Verfügung gestellt, damit ich den Nachweis erbringen könne, in wie hohem Grade ich gewissenhaft bin, wie sehr mir die Gesundheit meiner Angehörigen, Freunde und Patienten am Herzen liegt. Bemerkenswerterweise sind unter diesem Gedankenmaterial auch peinliche Erinnerungen, die eher für die meinem Freund Otto zugeschriebene Beschuldigung als für meine Entschuldigung sprechen. Das Material ist gleich sam unparteiisch, aber der Zusammenhang dieses breiteren Stoffes, auf dem der Traum ruht, mit dem engeren Thema des Traumes, aus dem der Wunsch hervorgegangen ist, an Irmas Krankheit unschuldig zu sein, ist doch unverkennbar. § 655Ich will nicht behaupten, daß ich den Sinn dieses Traumes
vollständig aufgedeckt habe, daß seine Deutung eine lückenlose ist. § 656Ich könnte noch lange bei ihm verweilen, weitere Aufklärungen
aus ihm entnehmen und neue Rätsel erörtern, die er aufwerfen heißt. Ich kenne selbst die Stellen, von denen aus weitere Gedanken zusammenhänge zu verfolgen sind; aber Rücksichten, wie sie bei jedem eigenen Traum in Betracht kommen, halten mich von der Deutungsarbeit ab. Wer mit dem Tadel für solche Reserve rasch bei der Hand ist, der möge nur selbst versuchen, aufrichtiger zu sein als ich. Ich begnüge mich für den Moment mit der einen neu ge wonnenen Erkenntnis: Wenn man die hier angezeigte Methode der Traumdeutung befolgt, findet man, daß der Traum wirklich einen Sinn hat und keineswegs der Ausdruck einer zerbröckelten Hirntätigkeit ist, wie die Autoren wollen. Nach vollendeter Deutungsarbeit läßt sich der Traum als eine Wunscherfüllung erkennen. § 657III
DER TRAUM IST EINE WUNSCHERFÜLLUNG § 658Wenn man einen engen Hohlweg passiert hat und plötzlich auf
einer Anhöhe angelangt ist, von welcher aus die Wege sich teilen und die reichste Aussicht nach verschiedenen Richtungen sich öffnet, darf man einen Moment lang verweilen und überlegen, wohin man zunächst sich wenden soll. Ähnlich ergeht es uns, nachdem wir diese erste Traumdeutung überwunden haben. Wir stehen in der Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis. Der Traum ist nicht vergleichbar dem unregelmäßigen Ertönen eines musikalischen Instruments, das anstatt von der Hand des Spielers von dem Stoß einer äußeren Gewalt getroffen wird, er ist nicht sinnlos, nicht absurd, setzt nicht voraus, daß ein Teil unseres Vorstellungs schatzes schläft, während ein anderer zu erwachen beginnt. Er ist ein vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunsch erfüllung; er ist einzureihen in den Zusammenhang der uns ver ständlichen seelischen Aktionen des Wachens; eine hoch kompli zierte geistige Tätigkeit hat ihn aufgebaut. Aber eine Fülle von Fragen bestürmt uns im gleichen Moment, da wir uns dieser Erkenntnis freuen wollen. Wenn der Traum laut Angabe der Traumdeutung einen erfüllten Wunsch darstellt, woher rührt die auffällige und befremdende Form, in welcher diese Wunsch erfüllung ausgedrückt ist? Welche Veränderung ist mit den Traumgedanken vorgegangen, bis sich aus ihnen der manifeste Traum, wie wir ihn beim Erwachen erinnern, gestaltete? Auf welchem Wege ist diese Veränderung vor sich gegangen? Woher stammt das Material, das zum Traum verarbeitet worden ist? Woher rühren manche der Eigentümlichkeiten, die wir an den Traumgedanken bemerken konnten, wie z. B., daß sie einander widersprechen dürfen? (Die Analogie mit dem Kessel, S. 124.) Kann der Traum uns etwas Neues über unsere inneren psychischen Vorgänge lehren, kann sein Inhalt Meinungen korrigieren, an die wir tagsüber geglaubt haben? Ich schlage vor, alle diese Fragen einstweilen beiseite zu lassen und einen einzigen Weg weiter zu verfolgen. Wir haben erfahren, daß der Traum einen Wunsch als erfüllt darstellt. Unser nächstes Interesse soll es sein zu erkunden, ob dies ein allgemeiner Charakter des Traumes ist, oder nur der zufällige Inhalt jenes Traumes („von Irmas Injektion“), mit dem unsere Analyse begonnen hat, denn selbst, wenn wir uns darauf gefaßt machen, daß jeder Traum einen Sinn und psychischen Wert hat, müssen wir noch die Möglichkeit offen lassen, daß dieser Sinn nicht in jedem Traume der nämliche sei. Unser erster Traum war eine Wunscherfüllung; ein anderer stellt sich vielleicht als eine erfüllte Befürchtung heraus; ein dritter mag eine Reflexion zum Inhalt haben, ein vierter einfach eine Erinnerung reproduzieren. Gibt es also noch andere Wunsch träume oder gibt es vielleicht nichts anderes als Wunschträume? § 659Es ist leicht zu zeigen, daß die Träume häufig den Charakter
der Wunscherfüllung unverhüllt erkennen lassen, so daß man sich wundern mag, warum die Sprache der Träume nicht schon längst ein Verständnis gefunden hat. Da ist z. B. ein Traum, den ich mir beliebig oft, gleichsam experimentell, erzeugen kann. Wenn ich am Abend Sardellen, Oliven oder sonst stark gesalzene Speisen nehme, bekomme ich in der Nacht Durst, der mich weckt. Dem Erwachen geht aber ein Traum voraus, der jedes mal den gleichen Inhalt hat, nämlich, daß ich trinke. Ich schlürfe Wasser in vollen Zügen, es schmeckt mir so köstlich, wie nur ein kühler Trunk schmecken kann, wenn man verschmachtet ist, und dann erwache ich und muß wirklich trinken. Der Anlaß dieses einfachen Traumes ist der Durst, den ich ja beim Erwachen verspüre. Aus dieser Empfindung geht der Wunsch hervor zu trinken, und diesen Wunsch zeigt mir der Traum erfüllt. Er dient dabei einer Funktion, die ich bald errate. Ich bin ein guter Schläfer, nicht gewöhnt, durch ein Bedürfnis geweckt zu werden. Wenn es mir gelingt, meinen Durst durch den Traum, daß ich trinke, zu beschwichtigen, so brauche ich nicht aufzuwachen, um ihn zu befriedigen. Es ist also ein Bequemlichkeitstraum. Das Träumen setzt sich an Stelle des Handelns wie auch sonst im Leben. Leider ist das Bedürfnis nach Wasser, um den Durst zu löschen, nicht mit einem Traum zu befriedigen, wie mein Rache durst gegen Freund Otto und Dr. M., aber der gute Wille ist der gleiche. Derselbe Traum hat sich unlängst einigermaßen modifiziert. Da bekam ich schon vor dem Einschlafen Durst und trank das Wasserglas leer, das auf dem Kästchen neben meinem Bett stand. Einige Stunden später kam in der Nacht ein neuer Durstanfall, der seine Unbequemlichkeiten im Gefolge hatte. Um mir Wasser zu verschaffen, hätte ich aufstehen und mir das Glas holen müssen, welches auf dem Nachtkästchen meiner Frau stand. Ich träumte also zweckentsprechend, daß meine Frau mir aus einem Gefäß zu trinken gibt; dies Gefäß war ein etruskischer Aschenkrug, den ich mir von einer italienischen Reise heimge bracht und seither verschenkt hatte. Das Wasser in ihm schmeckte aber so salzig (von der Asche offenbar), daß ich erwachen mußte. Man merkt, wie bequem der Traum es einzurichten versteht; da Wunscherfüllung seine einzige Absicht ist, darf er vollkommen egoistisch sein. Liebe zur Bequemlichkeit ist mit Rücksicht auf andere wirklich nicht vereinbar. Die Einmengung des Aschen kruges ist wahrscheinlich wieder eine Wunscherfüllung; es tut mir leid, daß ich dies Gefäß nicht mehr besitze, wie übrigens auch das Wasserglas auf seiten meiner Frau mir nicht zugänglich § 660Solche Bequemlichkeitsträume waren bei mir in juvenilencand. med., zweiundzwanzig Jahre. Er sagte sich träumend: Wenn ich also schon im Spital bin, brauche ich nicht erst hinzugehen, wendete sich um und schlief weiter. Er hatte sich dabei das Motiv seines Träumens unverhohlen eingestanden.
Jahren sehr häufig. Von jeher gewöhnt, bis tief in die Nacht zu arbeiten, war mir das zeitige Erwachen immer eine Schwierig keit. Ich pflegte dann zu träumen, daß ich außer Bett bin und beim Waschkasten stehe. Nach einer Weile konnte ich mich der Einsicht nicht verschließen, daß ich noch nicht aufgestanden bin, hatte aber doch dazwischen eine Weile geschlafen. Denselben Trägheitstraum in besonders witziger Form kenne ich von einem jungen Kollegen, der meine Schlafneigung zu teilen scheint. Die Zimmerfrau, bei der er in der Nähe des Spitals wohnte, hatte den strengen Auftrag, ihn jeden Morgen rechtzeitig zu wecken, aber auch ihre liebe Not, wenn sie den Auftrag ausführen wollte. Eines Morgens war der Schlaf besonders süß. Die Frau rief ins Zimmer: Herr Pepi, stehen S’ auf, Sie müssen ins Spital. Daraufhin träumte der Schläfer ein Zimmer im Spital, ein Bett, in dem er lag, und eine Kopftafel, auf der zu lesen stand: Pepi H . . . § 661Ein anderer Traum, dessen Reiz gleichfalls während des SchlafesMeyer und jammerte fürchterlich vor Kieferschmerzen. Ich habe mir gesagt, da ich die Schmerzen nicht habe, brauche ich auch den Apparat nicht; darum habe ich ihn weggeworfen.“ Dieser Traum der armen Dulderin klingt wie die Darstellung einer Redensart, die sich einem in unangenehmen Lagen über die Lippen drängt: Ich wüßte mir wirklich ein besseres Vergnügen. Der Traum zeigt dieses bessere Vergnügen. Herr Karl Meyer, dem die Träumerin ihre Schmerzen zuschob, war der indifferenteste junge Mann ihrer Bekanntschaft, an den sie sich erinnern konnte.
selbst einwirkt: Eine meiner Patientinnen, die sich einer un günstig verlaufenen Kieferoperation hatte unterziehen müssen, sollte nach dem Wunsche der Ärzte Tag und Nacht einen Kühl apparat auf der kranken Wange tragen. Sie pflegte ihn aber wegzuschleudern, sobald sie eingeschlafen war. Eines Tages bat man mich, ihr darüber Vorwürfe zu machen; sie hatte den Apparat wiederum auf den Boden geworfen. Die Kranke verant wortete sich: „Diesmal kann ich wirklich nichts dafür; es war die Folge eines Traumes, den ich bei Nacht gehabt. Ich war im Traum in einer Loge in der Oper und interessierte mich lebhaft für die Vorstellung. Im Sanatorium aber lag der Herr Karl 1) Das Tatsächliche der Durstträume war auch Weygandt bekannt, der S. 41 darüber äußert: „Gerade die Durstempfindung wird am präzisesten von allen auf gefaßt: sie erzeugt stets eine Vorstellung des Durstlöschens. — Die Art, wie sich der Traum das Durstlöschen vorstellt, ist mannigfaltig und wird nach einer naheliegenden Erinnerung specialisiert. Eine allgemeine Erscheinung ist auch hier, daß sich sofort nach der Vorstellung des Durstlöschens eine Enttäuschung über die geringe Wirkung der vermeintlichen Erfrischungen einstellt.“ Er übersieht aber das Allgemeingültige in der Reaktion des Traumes auf den Reiz. — Wenn andere Personen, die in der Nacht vom Durst befallen werden, erwachen, ohne vorher zu träumen, so bedeutet dies keinen Einwand gegen mein Experiment, sondern charakterisiert diese anderen als schlechtere Schläfer. [ E 1 ] § 662Nicht schwieriger ist es, die Wunscherfüllung in einigen anderen
Träumen aufzudecken, die ich von Gesunden gesammelt habe. Ein Freund, der meine Traumtheorie kennt und sie seiner Frau mitgeteilt hat, sagt mir eines Tages: „Ich soll dir von meiner Frau erzählen, daß sie gestern geträumt hat, sie hätte die Periode bekommen. Du wirst wissen, was das bedeutet.“ Freilich weiß ich’s; wenn die junge Frau geträumt hat, daß sie die Periode hat, so ist die Periode ausgeblieben. Ich kann mirs denken, daß sie gerne noch einige Zeit ihre Freiheit genossen hätte, ehe die Be schwerden der Mütterlichkeit beginnen. Es war eine geschickte Art, die Anzeige von ihrer ersten Gravidität zu machen. Ein anderer Freund schreibt, seine Frau habe unlängst geträumt, daß sie an ihrer Hemdenbrust Milchflecken bemerke. Dies ist auch eine Graviditätsanzeige, aber nicht mehr vom ersten Mal; die junge Mutter wünscht sich, für das zweite Kind mehr Nahrung zu haben als seinerzeit fürs erste. § 663Eine junge Frau, die Wochen hindurch bei der Pflege ihresDaudet, Bourget, M. Prévost u. a. befinden, die sämtlich sehr liebenswürdig gegen sie sind und sie vortrefflich amüsieren. Die betreffenden Autoren tragen auch im Traum die Züge, welche ihnen ihre Bilder geben; M. Prévost, von dem sie ein Bild nicht kennt, sieht dem — Des infektionsmanne gleich, der am Tag vorher die Krankenzimmer gereinigt und sie als erster Besucher nach langer Zeit betreten hatte. Man meint den Traum lückenlos übersetzen zu können: Jetzt wäre es einmal Zeit für etwas Amüsanteres als diese ewigen Krankenpflegen.
infektiös erkrankten Kindes vom Verkehr abgeschnitten war, träumt nach glücklicher Beendigung der Krankheit von einer Gesellschaft, in der sich A. § 664Vielleicht wird diese Auslese genügen, um zu erweisen, daß
man sehr häufig und unter den mannigfaltigsten Bedingungen Träume findet, die sich nur als Wunscherfüllungen verstehen lassen, und die ihren Inhalt unverhüllt zur Schau tragen. Es sind dies zumeist kurze und einfache Träume, die von den ver worrenen und überreichen Traumkompositionen, die wesentlich die Aufmerksamkeit der Autoren auf sich gezogen haben, wohl tuend abstechen. Es verlohnt sich aber, bei diesen einfachen Träumen noch zu verweilen. Die allereinfachsten Formen von Träumen darf man wohl bei Kindern erwarten, deren psychische Leistungen sicherlich minder kompliziert sind als die Erwachsener. Die Kinderpsychologie ist nach meiner Meinung dazu berufen, für die Psychologie der Erwachsenen ähnliche Dienste zu leisten wie die Untersuchung des Baues oder der Entwicklung niederer Tiere für die Erforschung der Struktur der höchsten Tierklassen. Es sind bis jetzt wenig zielbewußte Schritte geschehen, die Psychologie der Kinder zu solchem Zwecke auszunützen. § 665Die Träume der kleinen Kinder sind [ E 2 ] simple Wunsch erfüllungen und darum im Gegensatz zu den Träumen Erwachsener gar nicht interessant. Sie geben keine Rätsel zu lösen, sind aber natürlich unschätzbar für den Erweis, daß der Traum seinem innersten Wesen nach eine Wunscherfüllung bedeutet. Bei meinem Materiale von eigenen Kindern konnte ich einige Beispiele von solchen Träumen sammeln.
§ 666Einem Ausfluge nach dem schönen Hallstatt im Sommer 1896
von Aussee aus verdanke ich zwei Träume, den einen von meiner damals achteinhalbjährigen Tochter, den anderen von einem fünf einvierteljährigen Knaben. Als Vorbericht muß ich angeben, daß wir in diesem Sommer auf einem Hügel bei Aussee wohnten, von wo aus wir bei schönem Wetter eine herrliche Dachsteinaussicht genossen. Mit dem Fernrohr war die Simony-Hütte gut zu erkennen. Die Kleinen bemühten sich wiederholt, sie durchs Fernrohr zu sehen; ich weiß nicht, mit welchem Erfolg. Vor der Partie hatte ich den Kindern erzählt, Hallstatt läge am Fuße des Dachsteins. Sie freuten sich sehr auf den Tag. Von Hallstatt aus gingen wir ins Escherntal, das mit seinen wechselnden Ansichten die Kinder sehr entzückte. Nur eines, der fünfjährige Knabe, wurde all mählich mißgestimmt. So oft ein neuer Berg in Sicht kam, fragte er: Ist das der Dachstein? worauf ich antworten mußte: Nein, nur ein Vorberg. Nachdem sich diese Frage einige Male wieder holt hatte, verstummte er ganz; den Stufenweg zum Wasserfall wollte er überhaupt nicht mitmachen. Ich hielt ihn für ermüdet. Am nächsten Morgen kam er aber ganz selig auf mich zu und erzählte: Heute Nacht habe ich geträumt, daß wir auf der Simony-Hütte gewesen sind. Ich verstand ihn nun; er hatte er wartet, als ich vom Dachstein sprach, daß er auf dem Ausfluge nach Hallstatt den Berg besteigen und die Hütte zu Gesicht bekommen werde, von der beim Fernrohr so viel die Rede war. Als er dann merkte, daß man ihm zumute, sich mit Vorbergen und einem Wasserfall abspeisen zu lassen, fühlte er sich getäuscht und wurde verstimmt. Der Traum entschädigte ihn dafür. Ich versuchte Details des Traumes zu erfahren; sie waren ärmlich. „Man geht sechs Stunden lang auf Stufen hinauf“, wie er es gehört hatte. § 667Auch bei dem achteinhalbjährigen Mädchen waren auf diesem
Ausflug Wünsche rege geworden, die der Traum befriedigen mußte. Wir hatten den zwölfährigen Knaben unserer Nachbarn nach Hallstatt mitgenommen, einen vollendeten Ritter, der, wie mir schien, sich aller Sympathien des kleinen Frauenzimmers bereits erfreute. Sie erzählte nun am nächsten Morgen folgenden Traum: Denk’ dir, ich hab’ geträumt, daß der Emil einer von uns ist, Papa und Mama zu euch sagt und im großen Zimmer mit uns schläft wie unsere Buben. Dann kommt die Mama ins Zimmer und wirft eine Handvoll großer Schokoladestangen in blauem und grünem Papier unter unsere Betten. Die Brüder, die sich also nicht kraft erblicher Übertragung auf Traumdeutung verstehen, erklärten ganz wie unsere Autoren: Dieser Traum ist ein Unsinn. Das Mädchen trat wenigstens für einen Teil des Traumes ein, und es ist wertvoll für die Theorie der Neurosen zu erfahren, für welchen: Daß der Emil ganz bei uns ist, das ist ein Unsinn, aber das mit den Schokoladestangen nicht. Mir war gerade das letztere dunkel. Die Mama lieferte mir hiefür die Erklärung. Auf dem Wege vom Bahnhof nach Hause hatten die Kinder vor dem Automaten Halt gemacht und sich gerade solche Schokoladestangen in metallisch glänzendem Papier gewünscht, die der Automat nach ihrer Erfahrung zu verkaufen hatte. Die Mama hatte mit Recht gemeint, jener Tag habe genug Wunsch erfüllungen gebracht, und diesen Wunsch für den Traum übrig gelassen. Mir war die kleine Szene entgangen. Den von meiner Tochter proskribierten Teil des Traumes verstand ich ohne weiteres. Ich hatte selbst gehört, wie der artige Gast auf dem Wege die Kinder aufgefordert hatte zu warten, bis der Papa oder die Mama nachkommen. Aus dieser zeitweiligen Zugehörigkeit machte der Traum der Kleinen eine dauernde Adoption. Andere Formen des Beisammenseins als die im Traum erwähnten, die von den Brüdern hergenommen sind, kannte ihre Zärtlichkeit noch nicht. Warum die Schokoladestangen unter die Betten geworfen wurden, ließ sich ohne Ausfragen des Kindes natürlich nicht aufklären. § 668Einen ganz ähnlichen Traum wie den meines Knaben habe
ich von befreundeter Seite erfahren. Er betraf ein achtjähriges Mädchen. Der Vater hatte mit mehreren Kindern einen Spazier gang nach Dornbach in der Absicht unternommen, die Rohrer Hütte zu besuchen, kehrte aber um, weil es zu spät geworden war, und versprach den Kindern, sie ein anderes Mal zu ent schädigen. Auf dem Rückweg kamen sie an der Tafel vorbei, welche den Weg zum Hameau anzeigt. Die Kinder verlangten nun, auch aufs Hameau geführt zu werden, mußten sich aber aus demselben Grund wiederum auf einen anderen Tag vertrösten lassen. Am nächsten Morgen kam das achtjährige Mädchen dem Papa befriedigt entgegen: Papa, heut’ hab ich geträumt, du warst mit uns bei der Bohrer-Hütte und auf dem Hameau. Ihre Un geduld hatte also die Erfüllung des vom Papa geleisteten Ver sprechens antizipiert. § 669Ebenso aufrichtig ist ein anderer Traum, den die landschaftliche
Schönheit Aussees bei meinem damals dreieinvierteljährigen Töchterchen erregt hat. Die Kleine war zum erstenmal über den See gefahren, und die Zeit der Seefahrt war ihr zu rasch ver gangen. An der Landungsstelle wollte sie das Boot nicht ver lassen und weinte bitterlich. Am nächsten Morgen erzählte sie: Heute Nacht bin ich auf dem See gefahren. Hoffen wir, daß die Dauer dieser Traumfahrt sie besser befriedigt hat. § 670Mein ältester, derzeit achtjähriger Knabe träumt bereits die
Realisierung seiner Phantasien. Er ist mit dem Achilleus in einem Wagen gefahren und der Diomedes war Wagenlenker. Er hat sich natürlich tags vorher für die Sagen Griechenlands begeistert, die der älteren Schwester geschenkt worden sind. § 671Wenn man mir zugibt, daß das Sprechen aus dem SchlafAnna F . eud, Er(d)beer, Hochbeer, Eier(s)peis, Papp. Ihren Namen gebrauchte sie damals, um die Besitzergreifung auszu drücken; der Speisezettel umfaßte wohl alles, was ihr als be gehrenswerte Mahlzeit erscheinen mußte; daß die Erdbeeren darin in zwei Varietäten vorkamen, war eine Demonstration gegen die häusliche Sanitätspolizei und hatte seinen Grund in dem von ihr wohl bemerkten Nebenumstand, daß die Kinderfrau ihre Indispo sition auf allzu reichlichen Erdbeergenuß geschoben hatte; für dies ihr unbequeme Gutachten nahm sie also im Traume ihre Revanche.11
der Kinder gleichfalls dem Kreis des Träumens angehört, so kann ich im folgenden einen der jüngsten Träume meiner Sammlung mitteilen. Mein jüngstes Mädchen, damals neunzehn Monate alt, hatte eines Morgens erbrochen und war darum den Tag über nüchtern erhalten worden. In der Nacht, die diesem Hungertag folgte, hörte man sie erregt aus dem Schlaf rufen: § 672Wenn wir die Kindheit glücklich preisen, weil sie die sexuelle E 3 ] Hier ein zweites Beispiel dafür. Mein zweiund zwanzigmonatiger Neffe hat zu meinem Geburtstage die Aufgabe bekommen, mir zu gratulieren und als Geschenk ein Körbchen mit Kirschen zu überreichen, die um diese Zeit des Jahres noch zu den Primeurs zählen. Es scheint ihm hart anzukommen, denn er wiederholt unaufhörlich: Kirschen sind d(r)in, und ist nicht zu bewegen, das Körbchen aus den Händen zu geben. Aber er weiß sich zu entschädigen. Er pflegte bisher jeden Morgen seiner Mutter zu erzählen, daß er vom „weißen Soldat“ geträumt, einem Gardeoffzier im Mantel, den er einst auf der Straße bewunderte. Am Tag nach dem Geburtstagsopfer erwacht er freudig mit der Mitteilung, die nur einem Traum entstammen kann: He(r) [ man alle Kirschen aufgessen! E 4 ]
Begierde noch nicht kennt, so wollen wir nicht verkennen, eine wie reiche Quelle der Enttäuschung, Entsagung und damit der Traumanregung der andere der großen Lebenstriebe für sie werden kann. [ 1) Dieselbe Leistung wie bei der jüngsten Enkelin vollbringt dann der Traum kurz nachher bei der Großmutter, deren Alter das des Kindes ungefähr zu 70 Jahren ergänzt. Nachdem sie einen Tag lang durch die Unruhe ihrer Wanderniere zum Hungern gezwungen war, träumt sie dann, offenbar mit Versetzung in die glückliche Zeit des blühenden Mädchentums, daß sie für beide Hauptmahlzeiten „ausgebeten“, zu Gast geladen ist, und jedesmal die köstlichsten Einen vorgesetzt bekommt. § 673Wovon die Tiere träumen, weiß ich nicht. Ein Sprichtwort,Wovon träumt die und beantwortet sie: Gans?Vom Kukuruz (Mais). [ E 5 ] Die ganze Theorie, daß der Traum eine Wunscherfüllung sei, ist in diesen zwei Sätzen enthalten. [ E 6 ]
dessen Erwähnung ich einem meiner Hörer danke, behauptet es zu wissen, denn es stellt die Frage: § 674Wir bemerken jetzt, daß wir zu unserer Lehre von dem verTräume sind Schäume — aber für den Sprach gebrauch ist der Traum doch vorwiegend der holde Wunscherfüller. „Das hätt´ ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt“, ruft entzückt, wer in der Wirklichkeit seine Erwartungen über troffen findet.
borgenen Sinn des Traumes auch auf dem kürzesten Wege gelangt wären, wenn wir nur den Sprachgebrauch befragt hätten. Die Sprachweisheit redet zwar manchmal verächtlich genug vom Traum — man meint, sie wolle der Wissenschaft Recht geben, wenn sie urteilt: § 675IV
DIE TRAUMENTSTELLUNG § 676Wenn ich nun die Behauptung aufstelle, daß Wunscherfüllung
der Sinn eines jeden Traumes sei, also daß es keine anderen als Wunschträume gehen kann, so bin ich des entschiedensten Widerspruches im vorhinein sicher. Man wird mir entgegenhalten: „Daß es Träume gibt, welche als Wunscherfüllungen zu verstehen sind, ist nicht neu, sondern längst von den Autoren bemerkt worden. (Vgl. Radestock, S. 157, 158, Volkelt, S. 110, 111Y Purkinje, S. 4.56, Tissié, S. 70, M. Simon, S. 4,9 über die Hungerträume des eingekerkerten Baron Trenck und die Stelle bei Griesinger, S. 1 1 1.) [E 1] Daß es aber nichts anderes geben soll als Wunscherfüllungsträume, das ist wieder eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung, die sich zum Glück leicht zurückweisen läßt. Es kommen doch reichlich genug Träume vor, welche den peinlich— sten Inhalt erkennen lassen, aber keine Spur irgendeiner Wunsch— erfüllung. Der pessi.mistische Philosoph Eduard v. Hartmann steht wohl der Wunscherfüllungstheorie am fernsten. Er äußert in seiner ,Philosophie des Unbewußten‘, II. Teil (Stereotyp-Aus gabe, S. 54.4): ,Was den Traum betrifft, so treten mit ihm alle Plackereien des wachen Lebens auch in den Schlafzmtand hinüber, nur das einzige nicht, was den Gebildeten einigermaßen mit dem Leben aussöhnen kann: wissenschaftlicher und Kunstgenuß . . . .‘ Aber auch minder unzufriedene Beobachter haben hervorgehoben, § 677§ 678
158 IV, Die Truumentstzllung
§ 679daß im Traum Schmerz und Unlust häufiger sei als Lust, so
Scholz (S. 55), Volkelt (S. 80) u. a. Ja, die Damen Sarah Weed und Florence Hallam haben aus der Bearbeitung ihrer Träume einen zififemmäßigen Ausdruck für das Überwiegen der Unlust in den Träumen entnommen. Sie bezeichnen 58 Prozent der Träume als peinlich und nur 98'6 Prozent als positiv an— genehm. Außer diesen Träumen, welche die mannigfaltigen peinlichen Gefühle des Lebens in den Schlaf fortsetzen, gibt es auch Angstträurne7 in denen uns diese entsetzlichste aller Un lustempfindungen schüttelt, bis wir erwachen, und von solchen Angstträumen werden gerade die Kinder so leicht heimgesucht (vgl. Debacker über den Fever nocturnus), bei denen sie die Wunschträume unverhiillt gefunden haben.“ § 680Wirklich scheinen gerade die Angstträume eine Verallgemei
nerung des Satzes, den wir aus den Beispielen des vorigen Ab schnittes gewonnen haben, der Traum sei eine Wunscherfüllung, unmöglich zu machen, ja diesen Satz als Absurdität zu brand marken. § 681Dennoch ist es nicht sehr schwer, sich diesen anscheinend
zwingenden Einwänden zu entziehen. Man wolle bloß beachten, daß unsere Lehre nicht auf die Würdigung des manifesten Traum inhaltes beruht, sondern sich auf den Gedankeninhalt bezieht, welcher durch die Deutungsarbeit hinter dem Traume erkannt wird. Stellen wir manifesten und latenten Trauminhalt einander gegenüber. Es ist richtig, daß es Träume gibt, deren manifester Inhalt von der peinlichsten Art ist. Aber hat jemand versucht, diese Träume zu deuten, den latenten Gedankeninhalt derselben aufzudecken? Wenn aber nicht, dann treffen uns die beiden Einwände nicht mehr; es bleibt immerhin möglich, daß auch peinliche und Angstträurne sich nach der Deutung als Wunscherfüllungen enthüllen. [E 2] § 682Bei wissenschaftlicher Arbeit ist es oft von Vorteil, wenn die
Lösung des einen Problems Schwierigkeiten bereitet, ein zweites § 683§ 684
Mam'fesur und latenrcr n„„i„l„lz 159
§ 685hinzuzunehmen, etwa wie man zwei Nüsse leichter miteinander
als einzeln aufknackt. So stehen wir nicht nur var der Frage: Wie können peinliche und Angstträume Wunscherf‘ullungen sein, sondern wir können auch aus unseren bisherigen Erörterungen über den Traum eine zweite Frage aufwerfen: Warum zeigen die Träume indifferenten Inhalts, welche sich als Wunscherfüllungen ergeben, diesen ihren Sinn nicht unverhüllt? Man nehme den weitläuflg behandelten Traum von Irmas Injektion, er ist keines— wegs peinlicher Natur, er ist durch die Deutung als eklatante Wunscherfüllung zu erkennen. Wozu bedarf es aber überhaupt einer Deutung? Warum sagt der Traum nicht direkt, was er bedeutet? Tatsächlich macht auch der Traum von Irmas Injektion zunächst nicht den Eindruck, daß er einen Wunsch des Träumen als erfüllt darstellt. Der Leser wird diesen Eindruck nicht be kommen haben, aber auch ich selbst wußte es nicht, ehe ich die Analyse angestellt hatte. Heißer: wir dieses der Erklärung be dürftige Verhalten des Traumes: die Tatsache der Traum entstellung, so erhebt sich also die zweite Frage: Wovon rührt diese Traumenrstellung her? § 686Wenn man hierüber seine ersten Einfülle befragt, könnte man
auf verschiedene mögliche Lösungen geraten, z. B. daß während des Schlafes ein Unvermögen bestehe, den Traumgedanken einen entsprechenden Ausdruck zu schaffen. Allein die Analyse gewisser Träume nötig-t uns, für die Traumentstellung eine andere Er klärung zuzulassen. Ich will dies an einem zweiten Traum von mir selbst zeigen, welcher wiederum vielfache Indiskretionen er fordert, aber für dies persönliche Opfer durch eine gründliche Aufhellung des Problems entschädigt. § 687Vorbericht: Im Frühjahr 1897 erfuhr ich, daß zwei Pro
fessoren unserer Universität mich für die Ernennung zum Prof. e.ztraord. vorgeschlagen hatten. Diese Nachricht kam mir über— raschend und erfreute mich lebhaft als Ausdruck einer durch persönliche Beziehungen nicht aufzuklärenden Anerkennung von § 688§ 689
140 IV. Die Traumenzstzllung
§ 690seiten zweier hervorragender Männer. Ich sagte mir aber sofort,
daß ich an dieses Ereignis keine Erwartungen knüpfen dürfe. Das Ministerium hatte in den letzten Jahren Vorschläge solcher Art unherücksichtigt gelassen, und mehrere Kollegen, die mir an Jahren voraus waren und an Verdiensten mindestens gleich kamen, warteten seitdem vergehens auf ihre Ernennung. Ich hatte keinen Grund anzunehmen, daß es mir besser ergehen würde. Ich be schloß also bei mir, mich zu trösten. Ich bin, soviel ich weiß, nicht ehrgeizig, übe meine ärztliche Tätigkeit mit zufrieden stellendem Erfolge aus, auch ohne daß mich ein Titel empfiehlt. Es handelte sich übrigens gar nicht darum, ob ich die Trauben für süß oder sauer erklärte, da sie unzweifelhaft zu hoch für mich hingen. § 691Eines Abends besuchte mich ein befreundeter Kollege, einer von
denjenigen, deren Schicksal ich mir zur Warnung hatte dienen lassen. Seit längerer Zeit ein Kandidat für die Beförderung zum Professor, die den Arzt in unserer Gesellschaft zum Halbgott für seine Kranken erhebt, und minder resigniert als ich, pflegte er von Zeit zu Zeit seine Vorstellung in den Bureaus des hohen Ministeriums zu machen, um seine Angelegenheit zu fördern. Von einem solchen Besuche kam er zu mir. Er erzählte, daß er diesmal den hohen Herrn in die Enge getrieben und ihn gerade heraus befragt habe, ob an dem Aufschub seiner Ernennung § 692wirklich — konfessionelle Rücksichten die Schuld trügen. Die
Antwort hatte gelautet, daß allerdings * bei der gegenwärtigen Strömung —— Se. Exzellenz vorläufig nicht in der Lage sei usw. § 693„Nun weiß ich wenigstens, woran ich hin“, schloß mein Freund
seine Erzählung, die mir nichts Neues brachte, mich aber in meiner Resignation bestärken mußte. Dieselben konfessionellen Rücksichten sind nämlich auch auf meinen Fall anwendbar. § 694Am Morgen nach diesem Besuch hatte ich folgenden Traum,
der auch durch seine Form bemerkenswert war. Er bestand aus zwei Gedanken und zwei Bildern, so daß ein Gedanke und ein § 695§ 696
Der Onkzltraum 14.1
§ 697Bild einander ablösten. Ich setze aber nur die erste Hälfte des
Traumes hieher, da die andere mit der Absicht nichts zu tun hat, welcher die Mitteilung des Traumes dienen soll. § 698I. F rzurd R. ist mein Onkel. — Ich empfinde große Zärtlich—
keit für ihn. ' § 699II. Ich sehe sein Gesicht Etwas verändert var mir. Es ist wie
in die Länge gezogen, ein gelber Bart, der es umrahmt, ist be— sonders deutlich hervorgehoben. § 700Dann folgen die beiden anderen Stücke, wieder ein Gedanke
und ein Bild, die ich übergehe. § 701Die Deutung dieses Traumes vollzog sich folgendermaßen:
§ 702Als mir der Traum im Laufe des Vormittags einfiel, lachte
ich auf und sagte: Der Traum ist ein Unsinn. Er ließ sich aber nicht ahtun und ging mir den ganzen Tag nach, bis ich mir endlich am Abend Vorwürfe machte: „Wenn einer deiner Patienten zur Traumdeutung nichts zu sagen wüßte als: Das ist ein Un sinn, so würdest du es ihm verweisen und vermuten, daß sich hinter dem Traum eine unangenehme Geschichte versteckt, welche zur Kenntnis zu nehmen er sich ersparen will. Ver—fahr” mit dir selbst ebenso; deine Meinung, der Traum sei ein Unsinn, bedeutet nur einen inneren Widerstand gegen die Traumdeutung. Laß dich nicht abhalten.“ Ich machte mich also an die Deutung. § 703„R. ist mein Onkel.“ Was kann das heißen? Ich habe doch
nur einen Onkel gehabt, den Onkel Iosef.‘ Mit dem war's aller dings eine traurige Geschichte. Er hatte sich einmal, es sind mehr als dreißig Jahre her, in gewinnsüchtiger Absicht zu einer Handlung verleiten lassen, welche das Gesetz schwer bestraft, und wurde dann auch von der Strafe getroffen Mein Vater, der damals aus Kummer in wenigen Tagen grau wurde, pflegte § 704,) Es ist merkwürdig, wie sich hier meine Erinnerung — im Wachen — für die
Zwecke der Analyse einschränkt. Ich habe fünf von meinen Onkeln gekannt, einen vun ihnen geliebt und geehrt. In dem Augenblicke aber, da ich den Widentumi gegen die Traumdeung überwunden habe, sage ich mir: Ich habe doch nux einen Onkel gehabt, den, der eben im Traum gemeint ist. § 705§ 706
145 IV. Die Traummtstzllung
§ 707immer zu sagen, Onkel Josef sei nie ein schlechter Mensch
gewesen., wohl aber ein Schwachkopf; su drückte er sich aus. Wenn also Freund R. mein Onkel Josef ist, so will ich damit sagen: B. ist ein Schwachkopf. Kaum glaublich und sehr un— angenehm! Aber da ist ja jenes Gesicht, das ich im Traum sehe, mit den länglichen Zügen und dem gelben Bart. Mein Onkel hatte wirklich so ein Gesicht, länglich, von einem schönen blonden Bart umrahmt. Mein Freund R. war intensiv schwarz, aber wenn die Schwarzhaarigen zu ergrauen anfangen, so hüßen sie für die Pracht ihrer Jugendjahre, Ihr schwarzer Bart macht Haar für Haar eine unerfreuliche Farbenwandlung durch; er wird zuerst mtbraun, dann gelhbraun, dann erst definitiv grau. In diesem Stadium befindet sich jetzt der Bart meines Freundes R.; übrigens auch schon der meinige, wie ich mit Mißvergnügen bemerke. Das Gesicht, das ich im Traum sehe, ist gleichzeitig das meines Freundes R. und das meines Onkels. Es ist wie eine Misch— photographie von Galton, der, um Familienähnlichkeiten zu emieren, mehrere Gesichter auf die nämliche Platte photographieren ließ. Es ist also kein Zweifel möglich, ich meine wirklich, daß Freund R. ein Schwachkupf ist —— wie mein Onkel Josef. § 708Ich ahne noch gar nicht’ zu welchem Zweck ich diese Be
ziehung hergestellt, gegen die ich mich unausgesetzt sträuben muß. Sie ist doch nicht sehr tiefgehend, denn der Onkel war ein Verbrecher, mein Freund R. ist unbeschnlten. Etwa bis auf die Bestrafung dafür, daß er mit dem Rad einen Lehrbuhen niedergeworfen, Sollte ich diese Untat meinen? Das hieße die Vergleichung ins Lächerliche ziehen. Da fällt mir aber ein anderes Gespräch ein, das ich vor einigen Tagen mit einem anderen Kollegen N., und zwar über das gleiche Thema hatte. Ich traf N. auf der Straße; er ist auch zum Professor vorgeschlagen, wußte von meiner Ehrung und gratulierte mir dazu. Ich lehnte ent— schieden al). „Gerade Sie sollten sich den Scheu nicht machen, da Sie den Wert des Vorschlages an sich selbst erfahren haben.“ § 709§ 710
Deutung der Onkeltraums 145
§ 711Er darauf, wahrscheinlich nicht ernsthaft: „Das kann man nicht
wissen. Gegen mich liegt ja etwas Besonderes vor. Wissen Sie nicht, daß eine Person einmal eine gerichtliche Anzeige gegen mich erstattet hat? Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß die Untersuchung eingestellt wurde; es war ein gemeiner Erpressung? versuch; ich hatte noch alle Mühe, die Anzeigerin selbst vor Bestrafung zu retten. Aber vielleicht macht man im Ministerium diese Angelegenheit gegen mich geltend, um mich nicht zu ernennen. Sie aber, Sie sind unbescholten.“ Da habe ich ja den Verbrecher, gleichzeitig aber auch die Deutung und Tendenz meines Traumes. Mein Onkel Josef stellt mir da beide nicht zu Professoren er nannten Kollegen dar, den einen als Schwachkapf, den anderen als Verbrecher. Ich weiß jetzt auch, wozu ich diese Darstellung brauche. Wenn für den Au.f.schub der Ernennung meiner Freunde R. und N. „konfessionelle“ Rücksichten maßgebend sind, so ist auch meine Emennung in Frage gestellt; wenn ich aber die Zurückweisung der beiden auf andere Gründe schieben kann, die mich nicht treffen, so bleibt mir die Hoffnung ungestört. So ver— fahrt mein Traum; er macht den einen, B., zum Schwachkopf, den anderen, N., zum Verbrecher; ich bin aber weder das eine noch das andere; unsere Gemeinsamkeit ist aufgehoben, ich darf mich auf meine Ernennung zum Professor freuen, und bin der peinlichen Anwendung entgangen, die ich aus R.s Nachricht, was ihm der hohe Beamte bekannt, für meine eigene Person hätte machen müssen. § 712Ich muß mich mit der Deutung dieses Traumes noch weiter
beschäftigen. Er ist für mein Gefühl noch nicht befriedigend erledigt, ich bin noch immer nicht über die Leichtigkeit beruhigt, mit der ich zwei geachtete Kollegen degradiere, um mir den Weg zur Professur frei zu halten. Meine Unzufriedenheit mit meinem Vorgehen hat sich allerdings bereits ermäßigt, seitdem ich den Wert der Aussagen im Traum zu würdigen weiß. Ich würde gegen jedermann bestreiten, daß ich R. wirklich für einen § 713§ 714
144 IV. Die Traummtstellung
§ 715Schwachkopf halte, und daß ich N.s Darstellung jener Erpressungs
afiäre nicht glaube. Ich glaube ja auch nicht, daß Irma durch eine Infektion Ottos mit einem Propylenpräparat gefährlich krank geworden ist; es ist, hier wie dort, nur mein Wunsch, daß es sich so verhalten möge, den mein Traum ausdrückt. Die Behauptung, in welcher sich mein Wunsch realisiert, klingt im zweiten Traum minder absurd als im ersten; sie ist hier mit geschickter Benützung tatsächlicher Anhaltspunkte geformt, etwa wie eine gutgemachte Verleumdung, an der „etwas daran ist“, denn Freund R. hatte seinerzeit das Votum eines Fachprofessors gegen sich, und Freund N. hat mir das Material für die An— schwärzung arglus selbst geliefert. Dennoch, ich wiederhole es, scheint mir der Traum weiterer Aufklärung hedürftig. § 716Ich entsinne mich jetzt, daß der Traum noch ein Stück ent
hieltv auf welches die Deutung bisher keine Rücksicht genommen hat. Nachdem mir eingefallen, R. ist mein Onkel, empfinde ich im Traum warme Zärtlichkeit für ihn. Wohin gehört diese Emp findung?iFür meinen Onkel Josef habe ich zärtliche Gefühle natürlich niemals gehabt. Freund R. ist mir seit Jahren lieb und teuer; aber käme ich zu ihm und drückte ihm meine Zuneigung in Worten aus, die annähernd dem Grad meiner Zärtlichkeit im Traume entsprechen, so wäre er ohne Zweifel erstaunt. Meine Zärtlichkeit gegen ihn erscheint mir unwahr und übertrieben, ähnlich wie mein Urteil über seine geistigen Qualitäten, das ich durch die Verschmelzung seiner Persönlichkeit mit der des Onkels ausdrücke; aber in entgegengesetztem Sinne übertrieben. Nun dämmert mir aber ein neuer Sachverhalt. Die Zärtlichkeit des Traumes gehört nicht zum latenten Inhalt, zu den Gedanken hinter dem Traume; sie steht im Gegensatz zu diesem Inhalt; sie ist geeignet, mir die Kenntnis der Traumdeutung zu verdecken. Wahrscheinlich ist gerade dies ihre Bestimmung. Ich erinnere mich, mit welchem Widerstand ich an die Traumdeutung ging, wie lange ich sie aufschieben wollte und den Traum für baren § 717§ 718
Deutung du 0nkzltraums 145
§ 719Unsinn erklärte. Von meinen psynhoanaly'fischen Behandlungen
her weiß ich, wie ein solches Verweifungsurteil—zu deuten ist. Es hat keinen Erkenntniswert, sondern bloß den einer Afl'ekt äußerung. Wenn meine kleine Tochter einen Apfel nicht mag, den man ihr angeboten hat, so behauptet sie, der Apfel schmeckt bitter, ohne ihn auch nur gekostet zu haben. Wenn meine Patienten sich so benehmen wie die Kleine, so weiß ich, daß es sich bei ihnen um eine Vorstellung handelt, welche sie verdrängen wollen. Dasselbe gilt für meinen Traum. Ich mag ihn nicht deuten, weil die Deutung etwas enthält, wogegen ich mich sträube. Nach vollzogener Traumdeutung erfahre ich, wogegen ich mich gestränbt hatte; es war die Behauptung, daß R. ein Schwaßhkopf ist. Die Zärtlichkeit, die ich gegen R. empfinde, kann ich nicht auf die latenten Traumgedanken, ‘W0lll aber auf dies mein Sträuhen zurückführen. Wenn mein Traum im Vergleich zu seinem latenten Inhalt in dimem Punkte entstellt, und zwar ins Gegensätzliche entstth ist, so dient die in:»T1-aum manifeste Zärtlichkeit dieser Entstellung oder, mit anderen _Worten, die Entstellung erweist sich hier als absichtlich, als ein-Mittel der Verstellung. Meine Traumgedanken enthalten eine Sehni'a'hung für R.; damit ich diese nicht merke, gelangt in den Traum das Gegenteil, ein zärtliches Empfinden für ihn. § 720Es könnte dies eine allgemeingi'xltige Erkenntnis sein. Wie die
Beispiele in Abschnitt III gezeigt haben, gibt es ja Träume, welche unverhl'illt'e Wunscherfüllungen sind. Wo die Wunsch— erfüllung unkenntlich, verkleidet ist, da müßte eine Tendenz zur Abwehr gegen diesen Wunsch vorhanden sein, und infolge dimr Abwehr könnte der Wunsch sich nicht anders als entstellt zum Ausdruck bringen. Ich will zu diesem Vorkommnis aus dem psy— chischen Binnenleben das Seitenstück aus dem sozialen Leben suchen. Wo findet man'im sozialen Leben eine ähnliche Ent stellung eines psychischen Aktes? Nur dort, wo es sich um zwei Personen handelt, von denen die eine eine gewisse Macht besitzt, § 721nm. 11. n
§ 722§ 723
145 IV. Die Traumentstellung
§ 724die zweite wegen dieser Macht eine Rücksicht zu nehmen hat.
Diese zweite Person entstellt dann ihre psychischen Akte, oder, wie wir auch sagen können, sie verstellt sich. Die Höflichkeit, die ich alle Tage übe, ist zum guten Teil eine solche Verstellung; wenn ich meine Träume für den Leser deute, bin ich zu solchen Entstellungen genötigt. Über den Zwang zu solcher Ent stellung klagt auch der Dichter: § 725„Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch
nicht sagen.“ § 726In ähnlicher Lage befindet sich der politische Schriftsteller, der
den Machthabern unangenehme Wahrheiten zu sagen hat. Wenn er sie unverhohlen sagt, wird der Machthaber seine Äußerung unter drücken, nachträglich, wenn es sich um mündliche Äußerung handelt, präventiv, wenn sie auf dem Wege des Drucks kund gegeben werden soll. Der Schriftsteller hat die Zensur zu fürchten, er ermäßigt und entstth darum den Ausdruck seiner Meinung. Je nach der Stärke und Empfindlichkeit dieser Zensur sieht er sich genötigt, entweder bloß gewisse Formen des Angrifiis einzu— halten, oder in Anspielungen anstatt in direkten Bezeichnungen zu reden, oder er muß seine anstößige Mitteilung hinter einer harmlos erscheinenden Verkleidung verbergen, er darf z, B. von Vorfällen zwischen zwei Mandarinen im Reiche der Mitte er zählen, während er die Beamten des Vaterlandes im Auge hat. ,le strenger die Zensur waltet, desto weitgehender wird die Ver kleidung, desto witziger oft die Mittel, welche den Leser doch auf die Spur der eigentlichen Bedeutung leiten. [E a] § 727Die bis ins einzelne durchzuführende Übereinstimmung zwischen
den Phänomenen der Zensur und denen der Traumentstellung gibt uns die Berechtigung, ähnliche Bedingungen für beide vor auszusetzen. Wir dürfen also als die Urheber der Traumgestaltung zwei psychische Mächte (Strömungen, Systeme) im Einzelmenschen annehmen, von denen die eine den durch den Traum zum Ausdruck gebrachten Wunsch bildet, während die andere eine § 728§ 729
Die Traumzen.rur 14.7
§ 730Zensur an diesem Traumwunsch übt und durch diese Zensur eine
Entstellung seiner Äußerung erzwingt. Es fragt sich nur, worin die Machtbefugnis dieser zweiten Instanz besteht, kraft deren sie ihre Zensur ausüben darf. Wenn wir uns erinnern, daß die latenten Traumgedanken vor der Analyse nicht bewußt sind, der von ihnen ausgehende manifeste Trauminhalt aber als bewußt erinnert wird, so liegt die Annahme nicht ferne, das Vorrecht der zweiten Instanz sei eben die Zulassung zum Bewußtsein. Aus dem ersten Systeme könne nichts zum Bewußtsein gelangen, was nicht vor her die zweite Instanz Passiert habe, und die zweite Instanz lasse nichts passieren, ohne ihre Rechte auszuüben und die ihr genehmen Abänderungen am Bebvußtseinswerber durchzusetzen. Wir verraten dabei eine ganz bestimmte Auffassung vom „Wesen“ des Bewußt seins, das Bewußtwerden ist für uns ein besonderer psychischer Akt, verschieden und unabhängig von dem Vorgang des Gesetzt- oder Vorgestelltwerdens, und das Bewußtsein erscheint uns als ein Sinnes organ, welches einen anderwärts gegebenen Inhalt wahrnimmt. Es läßt sich zeigen, daß die Psychopathologie dieser Grundannahmen schlechterdings nicht entraten kann. Eine eingehendere Würdigung derselben dürfen wir uns für eine spätere Stelle vorbehalten. Wenn ich die Vorstellung der beiden psychischen Instanzen und ihrer Beziehungen zum Bewußtsein festhalte, ergibt sich für die auffällige Zärtlichkeit, die ich im Traum für meinen Freund R. empfinde, der in der Traumdeutung so herabgesetzt wird, eine völlig kongruente Analogie aus dem politischen Leben der Menschen, Ich versetze mich in ein Staatsleben, in welchem ein auf seine Macht eifersüchtiger Herrscher und eine rege öffentliche Meinung miteinander ringen. Das Volk empöre sich gegen einen ihm mißliebigen Beamten und verlange dessen Entlassung; um nicht zu zeigen, daß er dem Volkswillen Rechnung tragen muß, wird der Selbstherrscher dem Beamten gerade dann eine hohe Auszeichnung verleihen, zu der sonst kein Anlaß vorläge. So zeichnet meine zweite, den Zugang zum Bewußtsein beherr» § 731\o'
§ 732§ 733
148 I V. Die Traunwnzstzllung
§ 734sehende Instanz Freund B. durch einen Erguß von übergroßer
Zärtlichkeit aus, weil die Wunschbestrehungen des ersten Systems ihn in einem besonderen Interesse, dem sie gerade nachhängen, als einen Schwachkopf beschimpfen möchten. [: 4] § 735Vielleicht werden wir hier von der Ahnung erfaßt, daß die
Traumdeutung imstande sei, uns Aufschlüsse über den Bau unseres seelischen Apparates zu geben, welche wir von der Philo sophie bisher vergebens erwartet haben. Wir folgen aber nicht dieser Spur, sondern kehren, nachdem wir die Traumentstellung aufgeklärt haben, zu unserem Ausgangsproblem zurück. Es wurde gefragt, wie denn die Träume mit peinlichem Inhalt als Wunsch erfüllungen aufgelöst werden können. Wir sehen nun, dies ist möglich, wenn eine Traumentstellung stattgefunden hat, wenn der peinliche Inhalt nur zur Verkleidung eines erwünschten dient. Mit Rücksicht auf unsere Annahmen über die zwei psy chischen Instanzen können wir jetzt auch sagen; die peinlichen Träume enthalten tatsächlich etwas, was der zweiten Instanz peinlich ist, was aber gleichzeitig einen Wunsch der ersten Instanz erfüllt. Sie sind insofern Wunschträume, als ja jeder Traum von der ersten Instanz ausgeht7 die zweite sich nur abwehrend, nicht schöpferisch gegen den Traum verhält. Beschränken wir uns auf eine Würdigung dessen, was die zweite Instanz zum Traum beiträgt, so können wir den Traum niemals verstehen. Es bleiben dann alle Rätsel bestehen, welche von den Autoren am Traum bemerkt werden sind. § 736Daß der Traum wirklich einen geheimen Sinn hat, der eine
\Vunscherfüllung ergibt, muß wiederum für jeden Fall durch die Analyse erwiesen werden. Ich greife darum einige Träume peinlichen Inhalts heraus und versuche deren Analyse. Es sind zum Teil Träume von Hysterikern, die einen langen Vorbericht und stellenweise ein Eindringen in die psychischen Vorgänge bei der Hysterie erfordern. Ich kann dieser Erschwerung der Dar— stellung aber nicht aus dem Wege gehen. § 737§ 738
Träume peinlichen Inhalts 149
§ 739Wenn ich einen Psychoneurotiker in analytische Behandlung
nehme, werden seine Träume regelmäßig, wie bereits erwähnt, zum Thema unserer Besprechungen. Ich muß ihm dabei alle die psychologischen Aufklärungen geben, mit deren Hilfe ich selbst zum Verständnis seiner Symptome gelangt bin7 und erfahre dabei eine unerhittliche Kritik, wie ich sie von den Fachgenossen wohl nicht schärfer zu erwarten habe. Ganz regelmäßig erhebt sich der Widerspruch meiner Patienten gegen den Satz, daß die Träume sämtlich Wunscherfüllungen seien. Hier einige Beispiele von dem Material an Träumen, welche mir als Gegenbeweise vor gehalten werden. § 740„Sie sagen immer, der Traum ist ein erfüllter Wunsch“, he
ginnt eine witzige Patientin. „Nun will ich Ihnen einen Traum erzählen, dessen Inhalt ganz im Gegenteil dahin geht, daß mir ein Wunsch nicht erfith wird. Wie vereinen Sie das mit Ihrer Theorie? Der Traum lautet wie folgt: § 741„Ich will ein Souper gehen, habe aber nichts vorrätig als etwas
geräaeherten Lachs. Ich denke daran, einkaufen zu gehen, erinnere mich aber, daß es Sonntag Nachmittag ist, wo alle Läden gesperrt sind. Ich will nun einigen Lieferanten telephonieren, aber das Telephon ist gestört. So muß ich auf den Wunsch, ein Sauper zu gehen, verzichten.“ § 742Ich antwortete natürlich, daß über den Sinn dieses Traumes
nur die Analyse entscheiden kann, wenngleich ich zugebe, daß er für den ersten Anblick vernünftig und zusammenhängend er scheint und dem Gegenteil einer Wunscherfüllung ähnlich sieht. „Aus welchem Material ist aber dieser Traum hervorgegangen? Sie wissen, daß die Anregung zu einem Traum jedesmal in den Erlebnissen des letzten Tages liegt.“ § 743Analyse: Der Mann der Patientin, ein biederer und tüchtiger
Großfleischhaner, hat ihr Tags vorher erklärt7 er werde zu dick und wolle darum eine Entfettungskur beginnen. Er werde früh aufstehen, Bewegung machen, strenge Diät halten, und vor allem § 744§ 745
150 IV. Die Truumzntslellung
§ 746keine Einladungen zu Soupers mehr annehmen. — Von dem Menue
erzählt sie lachend weiter, er habe am Stammtisch die Bekannt— schaft eines Malers gemacht, der ihn durchaus abkonterfeien wolle, weil er einen so ausdrucksvollen Kopf noch nicht gefunden habe. Ihr Mann habe aber in seiner derben Manier erwidert7 er bedanke sich schön und er sei ganz überzeugt, ein Stück vom Hintern eines schönen jungen Mädchens sei dem Maler lieber als sein ganzes Gesicht.‘ Sie sei jetzt sehr verliebt in ihren Mann und necke sich mit ihm herum. Sie hat ihn auch gebeten, ihr keinen Kaviar zu schenken. — Was soll das heißen? § 747Sie wünscht es sich nämlich schon lange, jeden Vormittag eine
Kaviarsemmel essen zu können, gönnt sich aber die Ausgabe nicht. Natürlich bekäme sie den Kaviar sofort von ihrem Mann, wenn sie ihn darum bitten würde. Aber sie hat ihn im Gegenteil ge— beten, ihr keinen Kaviar zu schenken, damit sie ihn länger damit necken kann. § 748(Diese Begründung erscheint mir fadenscheinig. Hinter solchen
unbefr‘iedigenden Auskünften pflegen sich uneingestandene Motive zu verbergen. Man denke an die Hypnotisierten Bernheims, die einen posthypnutischen Auftrag ausführen, und, nach ihren Motiven befragt, nicht etwa antworten: Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, sondern eine offenbar unzureichende Begründung erfinden müssen. So ähnlich wird es wohl mit dern Kaviar meiner Patientin sein. Ich merke, sie ist genötigt, sich im Leben einen unerfüllten Wunsch zu schaffen. Ihr Traum zeigt ihr auch die Wunschver weigerung als eingetroffen. Wozu braucht sie aber einen uner fü.l.lten Wunsch?) § 749Die bisherigen Einfa‘lle haben zur Deutung des Traumes nicht
ausgereicht. Ich dringe nach Weiterem. Nach einer kurzen Pause, wie sie eben der Überwindung eines Widerstandes entspricht, § 750‘) Dem Maler sitzen.
§ 751Goethe: Und wenn er keinen Hintern hat,
Wie kann der Edle einen? § 752§ 753
Triz'wne von unerfiilltzn Wiimchzn ’5‘
§ 754berichtet sie ferner, daß sie gestern einen Besuch bei einer
Freundin gemacht, auf die sie eigentlich eifeisüchtig ist, weil ihr Mann diese Frau immer so sehr lobt. Zum Glück ist diese Freundin sehr dürr und mager, und ihr Mann ist ein Liebhaber voller Körper'formen. Woven sprach nun diese magere Freundin? Natür— lich von ihrem Wunsch, etwas stärker zu werden. Sie fragte sie auch: „Wann laden Sie uns wieder einmal ein? Man il3t immer so gut bei Ihnen.“ § 755Nun ist der Sinn des Traumes klar. Ich kann der Patientin
sagen: „Es ist gerade so, als ob Sie sich bei der Aufforderung gedacht hätten: Dich werde ich natürlich einladen, damit du dich bei mir anessen, dick werden und meinem Mann noch besser gefallen kannst. Lieber geb’ ich kein Souper mehr. Der Traum sagt Ihnen dann, daß Sie kein Snuper geben können, erfüllt also Ihren Wunsch, zur Abrundung der Körperformen Ihrer Freundin nichts beizutragen. Daß man von den Dingen, die man in Ge sellschaften vurgesetzt bekommt, dick wird, lehrt Sie ja der Vor— satz Ihres Mannes, im Interesse seiner Entfenung Souperein— ladungen nicht mehr anzunehmen.“ Es fehlt jetzt nur noch irgendein Zusammentreffen, welches die Lösung bestätigt. F5 ist auch der geräucherte Lachs im Trauminhalt noch nicht abgeleitet. „Wie kommen Sie zu dem im Traum erwähnten Lachs?“ „Ge räucherter Lachs ist die Lieblingsspeise dieser Freundin“, antwortet sie. Zufällig kenne ich die Dame auch und kann bestätigen, daß sie sich den Lachs ebensowenig vergönnt wie meine Patientin den Kaviar. § 756Derselbe Traum läßt auch noch eine andere und feinere
Deutung zu, die durch einen Nebenumstand selbst notwendig ge— macht wird. Die beiden Deutungen widersprechen einander nicht, sondern überdecken einander und ergeben ein schönes Beispiel für die gewöhnliche Doppelsinnigkeit der Träume wie aller anderen psychopathologischen Bildungen. Wir haben gehört, daß die Patientin gleichzeitig mit ihrem Traum von der Wunschver § 757§ 758
155 IV. Die Traumenzstellung
§ 759weigerung bemüht war, sich einen ver-sagten Wunsch im Realen
zu verschaffen (die Kaviarsemmel). Auch die Freundin hatte einen Wunsch geäußert7 nämlich dicker zu werden, und es würde uns nicht wundern, wenn unsere Dame geträumt hätte, der Freundin gehe ein Wunsch nicht in Erfüllung. Es ist nämlich ihr eigener Wunsch, daß der Freundin ein Wunsch — nämlich der nach Körperzunahme — nicht in Erfüllung gehe. Anstatt dessen träumt sie aber, daß ihr selbst ein Wunsch nicht erfüllt wird. Der Traum erhält eine neue Deutung, wenn sie im Traum nicht sich, sondern die Freundin meint7 wenn sie sich an die Stelle der Freundin gesetzt oder, wie wir sagen können, sich mit ihr identifiziert hat. § 760Ich meine, dies hat sie wirklich getan, und als Anzeichen
dieser Identifizierung hat sie sich den versagten Wunsch im Realen geschaffen. Was hat aber die hysterische Identifizierung für Sinn? Das aufzuklären bedarf einer eingehenderen Darstellung. Die Identifizierung ist ein für den Mechanismus der hysterischen Symptome höchst wichtiges Moment; auf diesem Wege bringen es die Kranken zustande, die Erlebnisse einer großen Reihe von Personen, nicht nur die eigenen, in ihren Symptomen auszu drücken, gleichsam für einen ganzen Menschenhaufen zu leiden und alle Rollen eines Schauspiels allein mit ihren persönlichen Mitteln darzustellen. Man wird mir einwenden, dies sei die be kannte hysterische Imitation, die Fähigkeit Hysteiischer, alle Symptome, die ihnen bei anderen Eindruck machen, nachzuahmen, gleichsam ein zur Reproduktion gesteigertes Mitleiden. Damit ist aber nur der Weg bezeichnet, auf dern der psychische Vor gang bei der hysterischen Imitation abläuft.; etwas anderes ist der Weg, und der seelische Akt, der diesen Weg geht. Letzterer ist um ein Geringes komplizierter, als man sich die Imitation der Hysterischen vorzustellen liebt; er entspricht einem unbewußten Schlußprozeß, wie ein Beispiel klarstellen wird. Der Arzt, welcher eine Kranke mit einer bestimmten Art von Zuckungen unter § 761§ 762
Di: hystzrixche Identifizierung 155
§ 763anderen Kranken auf demselben Zimmer im Krankenhause hat,
zeigt sich nicht erstaunt, wenn er einä Morgens erfährt, daß dieser besondere hysterische Anfall Nachahmung gefunden hat. Er sagt sich einfach: Die anderen haben ihn gesehen und nach— gemacht; das ist psychische Infektion. Ja, aber die psychische Infektion geht etwa auf folgende Weise zu. Die Kranken wissen in der Regel mehr voneinander als der Arzt über jede von ihnen, und sie kümmern sich um einander, wenn die ärztliche Visite vorüber ist. Die eine bekomme heute ihren Anfall; es wird alsbald den anderen bekannt7 daß ein Brief von Hause, Auf frischung des Liebeskummers u. dgl. davon die Ursache ist. Ihr Mitgefühl wird rege, es vollzieht sich in ihnen folgender, nicht zum Bewußtsein gelangender Schluß: Wenn man von solcher Ursache solche Anfälle haben kann, so kann ich auch solche An fa'lle bekommen, denn ich habe dieselben Anlässe. Wäre dies ein des Bewußtseins fähiger Schluß, so würde er vielleicht in die Angst ausmünden, den gleichen Anfall zu bekommen; er vollzieht sich aber auf einem anderen psychischen Terrain, endet daher in der Realisierung des gefürchteten Symptoms. Die Identifizierung ist also nicht simple Imitation, sondern Aneignung auf Grund des gleichen ätiologischen Anspruches; sie drückt ein „gleichwie“ aus und bezieht sich auf ein im Unbevvußten verbleibendes Ge meinsames. § 764Die Identifizierung wird in der Hysterie am häufigsten benützt
zum Ausdruck einer sexuellen Gemeinsamkeit. Die Hysterika identifiziert sich in ihren Symptomen am ehesten — wenn auch nicht ausschließlich —— mit solchen Personen, mit denen sie im sexuellen Verkehr gestanden hat, oder welche mit den närnlichen Personen wie sie selbst sexuell verkehren. Die Sprache trägt einer solchen Auffassung gleichfalls Rechnung. Zwei Liebende sind „Eines“. In der hysterischen Phantasie wie im Traum ge« nügt es für die Identifizierung, daß man an sexuelle Beziehungen denkt, ohne daß sie darum als real gelten müssen. Die Patientin § 765§ 766
154 IV. Die Traumen!stellung
§ 767folgt also bloß den Regeln der hysterischen Denkvurgänge, wenn
sie ihrer Eifersucht gegen die Freundin (die sie als unberechtigt übrigens selbst erkennt) Ausdruck gibt, indem sie sich im Traum an ihre Stelle setzt und sich durch die Schaffung eines Symptoms (des versagten Wunsches) mit ihr identifiziert. Man möchte den Vorgang noch sprachlich in folgender Weise erläutern: Sie setzt sich an die Stelle der Freundin im Traum, weil diese sich bei ihrem Mann an ihre Stelle setzt, weil sie deren Platz in der Wertschätzung ihres Mannes einnehmen möchte.’ § 768In einfacherer Weise und doch auch nach dem Schema, daß
die Nichterfüllung des einen Wunsches die Erfüllung eines anderen bedeutet, löste sich der Widerspruch gegen meine Traumlehre bei einer anderen Patientin, der witzigsten unter all meinen Träumerinnen. Ich hatte ihr an einem Tage auseinandergesetzt, daß der Traum eine Wunscherfüllung sei; am nächsten Tage brachte sie mir einen Traum, daß sie mit ihrer Schwiegermutter nach dem gemeinsamen Landaufenthalt fahre. Nun wußte ich, daß sie sich heftig gesträubt hatte, den Sommer in der Nähe der Schwiegennutter zu verbringen, wußte auch, daß sie der von ihr gefürchteten Gemeinschaft in den letzten Tagen durch die Miete eines vom Sitz der Schwiegermutter weit entfernten Landaufent haltes glücklich ausgewichen war. Jetzt machte der Traum diese erwünschte Lösung rückgängig; war das nicht der schärfste Ge— gensatz zu meiner Lehre von der Wunscherfüllung durch den Traum? Gewiß, man brauchte nur die Konsequenz aus diesem Traum zu ziehen, um seine Deutung zu haben. Nach diesem Traum hatte ich Unrecht; es war also ihr Wunsch, daß ich Unrecht haben sollte, und diesen zeigte ihr der Traum erfüllt Der Wunsch, daß ich Unrecht haben sollte, der sich an § 769,) Ich hedaure „um die Einschaltung solcher Stücke aus der Psynhopnlhologie
der Hysterie, welche, infolge ihrer fragmgnfarischen Darstellung und aus um.. Zunmmenhang gerissen, doch nicht sehr anfklärend wirken können. Wenn sie auf die innigen Beziehungen des Themas vom Tmnne zu den Peyehonenmen hinzu— weisen Vermögen, in inhen sie die „„im erfüllt, in der ich sie nufgenommen habe. § 770§ 771
Eimprüchz gegen die Theorie der Wumch„fü11u„g 155
§ 772dem Thema der Landwohnung erfüllte, bezog sich aber in Wirk
lichkeit auf einen anderen und ernsteren Gegenstand. Ich hatte um die nämliohe Zeit aus dem Material, welches ihre Analyse ergab, geschlossen, daß in einer gewissen Periode ihres Lebens etwas für ihre Erkrankung Bedeutsames vorgefallen sein müsse. Sie hatte es in Abrede gestellt, weil es sich nicht in ihrer Er» innerung vorfand. Wir kamen bald darauf, daß ich Recht hatte. Ihr Wunsch, daß ich Unrecht haben möge, verwandelt in den Traum, daß sie mit ihrer Schwiegermutter aufs Land fahre, ent sprach also dem berechtigten Wunsch, daß jene damals erst ver muteten Dinge sich nie ereignet haben möchten. § 773Ohne Analyse, nur vermittels einer Vermutung, gestattete ich
mir ein kleines Vorkommnis bei einem Freunde zu deuten, der durch die acht Gymnasialklassen mein Kollege gewesen war. Er hörte einmal in einem kleinen Kreise einen Vortrag von mir über die Neuigkeit, daß der Traum eine Wunscherfüllung sei, ging nach Hause, träumte, daß er alle seine Prozesse verloren habe — er war Advokatf und beklagte sich bei mir darüber. Ich half mir mit der Ausflucht: Man kann nicht alle Prozesse gEWinnen, dachte aber bei mir: Wenn ich durch acht Jahre als Primus in der ersten Bank gesessen, während er irgendwo in der Mitte der Klasse den Platz gewechselt, sollte ihm aus diesen Knabenjahren der Wunsch ferne geblieben sein, daß ich mich auch einmal gründlich blarnieren möge? § 774Ein anderer Traum von mehr düsteren: Charakter wurde mir
gleichfalls von einer Patientin als Einspruch gegen die Theorie des Wunschtraumes vorgetragen. Die Patientin, ein junges Mäd— chen, begann: Sie erinnern sich, daß meine Schwester jetzt nur einen Buben hat, den Karl; den älteren, Otto, hat sie verloren, als ich noch in ihrem Hause war. Otto war mein Liebling, ich habe ihn eigentlich erzogen. Den Kleinen habe ich auch gern, aber natürlich lange nicht so sehr wie den Verstorbenen. Nun träume ich diese Nacht, daß ich den Karl tot vor mir liegen sehe. Er § 775§ 776
1 5 6 I V, Die Traumentstellung
§ 777liegt in seinem kleinen Sarg, die Hände gefaltet, Kerzen rings
herum, kurz ganz so wie damals der kleine Orte, dessen Tod mich so erschüttert hat. Nun sagen Sie mir, was soll das heißen? Sie kennen mich ja; bin ich eine so schlechte Person, daß ich meiner Schwester den Verlust des einzigen Kindes wünschen sollte, das sie noch besitzt? Oder heißt der Traum, daß ich lieber den Karl tot wünschte als den Otto, den ich um so viel lieber gehabt habe? § 778Ich versicherte ihr, daß diese letzte Deutung ausgeschlossen sei.
Nach kurzem Besinnen konnte ich ihr die richtige Deutung des Traumes sagen, die ich dann von ihr bestätigen ließ. Es gelang mir dies, weil mir die ganze Vorgeschichte der Träumerin be— kannt war. § 779Frühzeitig verweist, war das Mädchen im Hause ihrer um
vieles älteren Schwester aufgezogen werden und begegnete unter den Freunden und Besuchern des Hauses auch dem Marine, der einen bleibenden Eindruck auf ihr Herz machte. Es schien eine Weile, als ob diese kaum ausgesprochenen Beziehungen mit einer Heirat enden sollten, aber dieser glückliche Ausgang wurde durch die Schwester vereitelt, deren Motive nie eine völlige Auflilärung gefunden haben. Nach dem Bruch mied der von unserer Patientin geliebte Mann das Haus; sie selbst machte sich einige Zeit nach dem Tod des kleinen Otto, an den sie ihre Zärtlichkeit unter» dessen gewendet hatte, selbständig. Es gelang ihr aber nicht, sich von der Abhängigkeit frei zu machen, in welche sie durch ihre Neigung zu dem Freund ihrer Schwester geraten war. Ihr Stolz gebot ihr, ihm auszuweichen; es war ihr aber unmöglich, ihre Liebe auf andere Bewerber zu übertragen, die sich in der Folge einstellten. Wenn der geliebte Mann, der dem Literatenstand angehörte, irgendwo einen Vortrag angekündigt hatte, war sie unfehlbar unter den Zuhörern zu finden, und auch sonst ergriff sie jede Gelegenheit, ihn am dritten Orte aus der Ferne zu sehen. Ich erinnerte mich, daß sie mir tags vorher erzählt hatte, der § 780§ 781
Unkmntll'chz Wumchzrfüllungen 157
§ 782Professor ginge in ein bestimmtes Konzert, und sie wolle auch
dorthin gehen, um sich wieder einmal seines Anblickes zu er— freuen. Das war am Tag vor dem Traum; an dem Tag, an dem. sie mir den Traum erzählte, sollte das Konzert stattfinden. Ich konnte mit so die richtige Deutung leicht konstruieren und fragte sie, ob ihr irgend ein Ereignis einfalle, das nach dem Tod des kleinen Otto eingetreten sei. Sie antwortete sofort: Gewi.ß7 damals ist der Professor nach langem Ausbleiben wiedergekommen, und ich habe ihn an dem Serge des kleinen Otto wieder einmal ge— sehen. Es war genau so, wie ich es erwartet hatte. Ich deutete also den Traum in folgender Art: „Wenn jetzt der andere Knabe stürbe, würde sich dasselbe wiederholen. Sie würden den Tag bei Ihrer Schwester zubringen, der Professor käme sicherlich hinauf, um zu kondolieren, und unter den nämlichen Verhältnissen wie damals würden Sie ihn wiedersehen. Der Traum bedeutet nichts als diesen ihren Wunsch nach Wiedersehen, gegen den Sie inner lich ankämpfen. Ich weiß, daß Sie das Billett für das heutige Konzert in der Tasche tragen. Ihr Traum ist ein Ungeduldstraurn, er hat. das Wiedersehen, das heute stattfinden soll, um einige Stunden verfrüht,“ § 783Zur Verdeckung ihres Wunsches hatte sie offenbar eine Situation
gewählt, in welcher solche Wünsche unterdrückt zu werden pflegen, eine Situation, in der man von Trauer so sehr erfüllt ist, daß man an Liebe nicht denkt. Und doch ist es sehr gut möglich, daß auch in der realen Situation, welche der Traum getreulich kopierte, am Sarge des ersten, von ihr stärker geliebten Knaben sie die zärtliche Empfindung für den lange vermißten Besucher nicht hatte unterdrücken können. _ § 784Eine andere Aufklärung fand ein ähnlicher Traum einer anderen
Patientin, die sich in früheren Jahren durch raschen Witz und heitere Laune hervorgetan hatte und diese Eigenschaften,jetzt wenigstens noch in ihren Einfiillen während der Behandlung bewies. Dieser Dame kam es im Zusammenhange eines längeren § 785§ 786
158 IV. Die 1'mumzncsnelbmg
§ 787Traumes vor, daß sie ihre einzige, fünfzehnjährige Tochter in
einer Schachtel mt daliegen sah. Sie hatte nicht übel Lust. aus “dieser Traumerscheinung einen Einwand gegen die Wunsch— erfüllungstheorie zu machen, ahnze aber selbst, daß das Detail der Schachtel den Weg zu einer anderen Auffassung des Trauma anzeigen müsse.‘ Bei der Analyse fiel ihr ein, daß in der Gesell» schaft abends vorher die Rede auf das englische Wort „bor“ gekommen war und auf die mannigfaltigen Übersetzungen des selben im Deutschen, als: Schachtel, Loge, Kasten, Ohrfeige usw. Aus anderen Bestandstücken desselben Traumes ließ sich nun ergänzen, daß sie die Verwandtschaft des englischen „baz“ rnit dem deutschen „Büchse“ erraten habe und dann von der Er innerung heimgesucht worden sei, daß „Büchse“ auch als vulgäre Bezeichnung des weiblichen Genitales gebraucht werde. Mit einiger Nachsicht für ihre Kenntnisse in der topographischen Anatomie konnte man also annehmen, daß das Kind in der „Schachte “ eine Frucht im Mutterleibe bedeute. Soweit aufgeklärt, leugnete sie nun nicht, daß das Traumbild wirklich einem Wunsch von ihr entspreche. Wie so viele junge Frauen war sie keineswegs glücklich, als sie in die Gravidität geriet, und gestand sich mehr als einmal den Wunsch ein, daß ihr das Kind im Mutterleibe absterben möge; ja in einem Wutanfalle nach einer heftigen Szene mit ihrem Marine schlug sie mit den Fäusten auf ihren Leib los, um das Kind darin zu treiien. Das tote Kind war also wirklich eine Wunscherfüllung, aber die eines seit fünfzehn Jahren beseitigten Wunsches, und es ist nicht zu verwundern, wenn man die Wunsch erfüllung nach so verspätetem Eintreiien nicht mehr erkennt. Unterdessen hat sich eben zu viel geändert. § 788Die Gruppe, zu welcher die beiden letzten Träume gehören,
die den Tod lieber Angehöriger zum Inhalt haben, soll bei den typischen Träumen nochmals Berücksichtigung finden, Ich werde § 789;) Ähnlich wie im Traum vom vereitelten Souper der gerflucherte L-du.
§ 790§ 791
Unkenntüche Wumcherfiillungen ‘59
§ 792dort an neuen Beispielen zeigen können, daß trotz des uner—
wünschten Inhalts alle diese Träume als Wunscherfüllungen ge deutet werden müssen. Keinen] Patienten, sondern einem intelligenten Bechtsgelehrten meiner Bekanntschaft, verdanke ich folgenden Traum, der mir wiederum in der Absicht erzählt wurde, mich von voreiliger Verallgemeinerung in der Lehre vom Wunsch— traum zurückzuhalten. „Ich träume,“ berichtet mein Gewährs mann, „daß ich, eine Dame am Arm, vor mein Haus Immme. Dart wartet ein geschlossener Wagen, ein Herr tritt auf mich zu, legitimiert sich als Polizeiagent und fordert mich auf, ihm zu folgen. Ich bitte nur noch um die Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen. Glauben Sie, daß es vielleicht ein Wunsch von mir ist, verhaftet zu werden?“ , Gewiß nicht, muß ich zugeben. Wissen Sie vielleicht7 unter welcher Eeschuldigung Sie verhaftet wurden? —— „Ja, ich glaube wegen Kindesmords.” — Kindesmord? Sie wissen doch, daß dieses Verbrechen nur eine Mutter an ihrem Neugeborenen begehen kann? —— „Das ist richtig.“‘ — Und unter welchen Umständen haben Sie geträumt; was ist am Abend vorher vorgegangen? — „Das möchte ich Ihnen nicht gerne erzählen, es ist eine heikle Angelegenheit.“ * Ich brauche es aber, sonst müssen wir auf die Deutung des Traumes verzichten. — „Also hören Sie. Ich habe die Nacht nicht zu Hause, sondern bei einer Dame zugebracht, die mir sehr viel bedeutet. Als wir am Morgen erwachten, ging neuerdings etwas zwischen uns vor. Dann schlief ich wiederum ein und träumte, was Sie wissen.“ —- Es ist eine verheiratete Frau? — „Ja,“ — Und sie wollen kein Kind mit ihr erzeugen? , „Nein, nein, das könnte uns verraten.“ — Sie “ben also nicht normalen Koitus? , „Ich gebrauche die Vorsicht, mich vor der Ejakulation zurückzuziehen.“ — Darf ich annehmen, § 793]) Es ereignct sich häufig, daß ein Traum unvollgtändig erzählt wird, und
daß erst wiihrend der Analyse die Erinnerung an diese ausgelassenen Stücke der Traumes anfiaucht. Diese nachträglinh ringefiigten Stücke ergeben regelmäßig den Schlüssel zur Traumdeutung. Vergleiche weiter unten über das Vergeuen der Träume. § 794§ 795
160 IV, Die Traumenmellung
§ 796Sie hätten das Kunststück in dieser Nacht mehrere Male ausgeführt,
und seien nach der Wiederholung am Morgen ein wenig un sicher gewesen, ob es Ihnen gelungen ist? — „Das könnte wohl sein.“ —— Dann ist Ihr Traum eine Wunscherl'üllung. Sie erhalten durch ihn die Beruhigung, daß Sie kein Kind eneugt haben, oder was nahezu das gleiche ist, Sie hätten ein Kind umgebracht. Die Mittelglieder kann ich Ihnen leicht nachweisen. Erinnern Sie sich, vor einigen Tagen sprachen wir über die Ehenot und über die Inkonsequenz, daß es gestattet ist, den Koitus so zu halten, daß keine Befruchtung zustande kommt, während jeder Eingriff, wenn einmal Ei und Same sich getroffen und einen Fötus ge bildet haben, als Verbrechen bestraft wird. Im Anschluß daran gedachten wir auch der mittelalterlichen Streitfi‘age, in welchem Zeitpunkt eigentlich die Seele in den Fötus hineinfahre, weil der Begriff des Mordes erst von da an zulässig wird. Sie kennen gewiß auch das schaurige Gedicht von Lenau, welches Kinder mord und Kinderverhütung gleichstellt. —— „An Lenau habe ich melkwürdigerweise heute Vormittag wie zufällig gedacht.“ —— Auch ein Nachklang Ihres Traumes. Und nun will ich Ihnen noch eine kleine Nebenwunscherfüllung in Ihrem Traum nach weisen. Sie kommen mit der Dame am Arm vor Ihr Haus. Sie führen sie also heim, anstatt daß Sie in Wirklichkeit die Nacht in deren Hause zuhringen. Daß die Wunscherfüllung, die den Kern des Traumes bildet, sich in so unangenehmer Form verbirgt, hat vielleicht mehr als einen Grund. Aus meinem Aufsatz über die Ätiologie der Angstneurose könnten Sie erfahren, daß ich den Cairns interruptus als eine; der ursächlichen Momente für die Entstehung der neurotischen Angst in Anspruch nehme. Es würde dazu stimmen, wenn Ihnen nach mehrmaligem Kuitus dieser Art eine unhehagliche Stimmung verbliebe, die nun als Element in die Zusammensetzung ihres Traumes eingeht. Dieser Ver stimmung bedienen Sie sich auch, um sich die Wunscherfijllung zu verhüllen. Übrigens ist auch die Erwähnung des Kindßmordes § 797§ 798
Unkmntlizhe quzherfüllungzn i 6 1
§ 799nicht erklärt. Wie kommen Sie zu diesem spezifisch weiblichen
Verbrechen? —— „Ich will Ihnen gestehen, daß ich vor Jahren einmal in eine solche Angelegenheit verflcchten war. Ich war schuld daran, daß ein Mädchen sich durch eine Fruchtabtr€ibung vor den Folgen eines Verhältnisses mit mir zu schützen versuchte. Ich hatte mit der Ausführung des Vorsatzes gar nichts zu tun, war aber lange Zeit in begreiflicher Angst7 daß die Sache ent deckt würde.“ , „Ich verstehe, diese Erinnerung ergab einen zweiten Grund, warum Ihnen die Vermutung, Sie hätten Ihr Kunststück schlecht gemacht7 peinlich sein mußte.“ § 800Ein junger Arzt, welcher in meinem Kolleg diesen Traum er—
zählen hörte, muß sich von ihm betroffen gefühlt haben, denn er beeilte sich, ihn nachzuträumen, dessen Gedankenform auf ein anderes Thema anzuwenden. Er hatte tags vorher sein Einkommen bekenntnis übergeben, welches vollkommen aufrichtig gehalten war, da er nur wenig zu bekennen hatte. Er träumte nun, ein Bekannter komme aus der Sitzung der Stenerkornmission zu ihm und teile ihm mit, daß alle anderen Steuerbekenntnisse unbe anständet geblieben seien, das seinige aber habe allgemeines Miß— trauen erweckt und werde ihm eine empfindliche Steuerstrafe eintragen. Der Traum ist eine lässig verhüllte Wunscherfüllung, für einen Arzt von graßem Einkommen zu gelten. Er erinnert übrigens an die bekannte Geschichte von jenem jungen Mädchen, welchem abgeraten wird, ihrem Freier zuzusagen, weil er ein jähzorniger Mensch sei und sie in der Ehe sicherlich mit Schlägen traktieren werde. Die Antwort des Mädchens lautet: Schlüg’ er mich erst! Ihr Wunsch, verheiratet zu sein, ist so lebhaft, daß sie die in Aussicht gestellte Unannehmlichkeit, die mit dieser Ehe verbunden sein soll, mit in den Kauf nimmt und selbst zum Wunsch erhebt. [55] § 801Ich hoffe, die vorstehenden Beispiele werden genügen, um es —
bis auf weiteren Einspruch — glaubwürdig erscheinen zu lassen, daß auch die Träume mit peinlichem Inhalt als Wunscherfüllungen § 802Freud, n n
§ 803§ 804
162 IV. Die Traumzrltstßllung
§ 805aufzulösen sind. [: s] Es wird auch niemand eine Äußerung des
Zufalls darin erblicken, daß man bei der Deutung dieser Träume jedesmal auf Themata gerät, von denen man nicht gerne spricht oder an die man nicht gerne denkt. Das peinliche Gefühl, welches solche Träume erwecken, ist wohl einfach identisch mit dem Widerwillen, der uns von der Behandlung oder Erwägung solcher Themata — meist mit Erfolg * abhalten möchte, und welcher von jedem von uns überwunden werden muß, wenn wir uns genötigt sehen, es doch in Angriff zu nehmen. Dieses im Traum also wiederkehrende Unlustgefüld schließt aber das Bestehen eines Wunsches nicht aus, es gibt bei jedem Menschen Wünsche, die er anderen nicht mitteilen möchte, und Wünsche, die er sich selbst nicht eingestehen will. Anderseits finden wir uns berechtigt, den Unlustcharakter all dieser Träume mit der Tatsache der Traumentstellung in Zusammenhang zu bringen und zu schließen, diese Träume seien gerade darum so entstellt, und die Wunscherfüllung in ihnen bis zur Unkenntlichkeit ver kleidet, weil ein Widerwillen, eine Verdrängungsabsicht gegen das Thema des Traumes oder gegen den aus ihm geschöpften Wunsch besteht. Die Traumentstellung erweist sich also tatsächlich als ein Akt der Zensur. Allem, was die Analyse der Unlustträume zutage gefördert hat, tragen wir aber Rechnung, wenn wir unsere Formel, die das Wesen des Traumes ausdrücken soll, in folgender Art verändern: Der Traum ist die (verkleidete) Er füllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches. [: 7] § 806Nun erübrigen noch die Angstträume als besondere Unterart
der Träume mit peinlichem Inhalt, deren Auffassung als Wunsch träume bei dem Unaufgeklärten die geringste Bereitwilligkeit begegnen wird. Doch kann ich die Angstträume hier ganz kurz ahtun; es ist nicht eine neue Seite des Traumproblems, die sich uns in ihnen zeigen würde, sondern es handelt sich bei ihnen um das Verständnis der neurctischen Angst überhaupt. Die Angst, die wir im Traume empfinden, ist nur scheinbar durch den § 807§ 808
Die Angstträumz 165
§ 809Inhalt des Traumes erklärt. Wenn wir den Trauminhalt der
Deutung unterziehen, merken wir, daß die Traumangst durch den Inhalt des Traumes nicht besser gerechtfertigt wird als etwa die Angst einer Phobie durch die Vorstellung, an welcher die Phobie hängt. Es ist z. B. zwar richtig, daß man aus dem Fenster stürzen kann und darum Ursache hat, sich beim Fenster einer gewissen Vorsicht zu befleißen, aber es ist nicht zu verstehen, warum bei der entsprechenden Phobie die Angst so groß ist und den Kranken weit über ihre Anlässe hinaus verfolgt. Dieselbe Aufklärung erweist sich dann als gültig für die Phobie wie für den Angsttraum. Die Angst ist beide Male an die sie begleitende Vorstellung nur angelötet und stammt aus anderer Quelle. § 810Wegen dieses intimen Zusammenhanges der Traumangst mit
der Neurosenangst muß ich hier bei der Erörterung der ersteren auf die letztere verweisen. In einem kleinen Aufsatze über die „Angst— neurose“ (Neurologisches Zentralblatt 1895 [Ges. Schriften, Bd.l]) habe ich seinerzeit behauptet, daß die neurotische Angst aus dem Sexualleben stammt und einer von ihrer Bestimmung abgelenkten, nicht zur Verwendung gelangten Libido entspricht. Diese Formel hat sich seither immer mehr als stichhältig erwiesen. Aus ihr läßt sich nun der Satz ableiten, daß die Angstnäume Träume sexuellen Inhaltes sind, deren zugehörige Libido eine Verwandlung in Angst erfahren hat. Es wird sich späterhin die Gelegenheit ergeben, diese Behauptung durch die Analyse einiger Träume bei Neurotikern zu unterstützen. Auch werde ich bei weiteren Versuchen, mich einer Theorie des Traumes zu nähern, nochmals auf die Bedingung der Angstträume und deren Verträglichkeit mit der Wunsch— erfüllungstheorie zu sprechen kommen. § 811§ 812
V
DAS TRAUMMATERIAL UND DIE TRAUMQUELLEN § 813Als wir aus der Analyse des Traumes von lrmas Injektion er
sehen hatten, daß der Traum eine Wunscherfüllung ist, nahm uns zunächst das Interesse gefangen, ob wir hiemit einen all gemeinen Charakter des Traumes aufgedeckt haben, und wir brachten vorläufig jede andere wissenschaftliche Neugierde zum Schweigen, die sich in uns während jener Deutungsarbeit geregt haben mochte. Nachdem wir jetzt auf dem einen Wege zum Ziel gelangt sind, dürfen wir zurückkehren und einen neuen Ausgangs punkt für unsere Streifungen durch die Probleme des Traumes wählen, sollten wir darüber auch das noch keineswegs voll erledigte Thema der Wunscherfüllung für eine Weile aus den Augen verlieren. § 814Seitdem wir durch Anwendung unseres Verfahrens der Traum
deutung einen latenten Trauminhalt aufdecken können, der an Bedeutsamkeit den manifesten Trauminhalt weit hinter sich läßt, muß es uns drängen, die einzelnen Traumprobleme von neuem aufzunehmen, um*zu versuchen, ob sich für uns nicht Rätsel und Widersprüche befriedigend lösen, die, solange man nur den manifesten Trauminhalt kannte, unangreifbar erschienen sind. § 815§ 816
Die Hzrlnmft des Traummatzn'ales 165
§ 817Die Angaben der Autoren über den Zusammenhang des
Traumes rnit dem Wachleben, sowie über die Herkunft des Traumaterials sind im einleitenden Abschnitt ausführlich mit— geteilt worden. Wir erinnern uns auch jener drei Eigentümlich— keiten des Traumgedächtnisses, die so vielfach bemerkt, aber nicht erklärt werden sind: . § 818]) Daß der Traum die Eindrücke der letzten Tage deutlich
hevnrzugt (Robert, Strümpell, Hildebrandt, auch Weed Hallam); § 8199) daß er eine Auswahl nach anderen Prinzipien als unser
Wachgedächtnis trifft, indem er nicht das Waentliche und Wichtige, sondern das Nebensächliche und Unbeachtete erinnert (vgl. S. an); § 8205) daß er die Verfügung über unsere frühesten Kindheits
eindrü9ke besitzt und selbst Einzelheiten aus dieser Lebenmit hervorholt, die uns wiederum als triv‘ial erscheinen und im Wachen für längst vergessen gehalten werden sind.‘ § 821Diese Besonderheiten in der Auswahl des Traummaterials
sind von den Autoren natürlich am manifesben Trauminhalue beobachtet werden. § 822A
Das Rezente und das Indzfl'erente im Traum § 823Wenn ich jetzt in Betreff der Herkunft der im Trauminhalte
auftretenden Elemente meine eigene Erfahrung zu Rate ziehe, so muß ich zunächst die Behauptung aufstellen, daß in jedem Trauma eine Anknüpfung an die Erlebnisse des letztabgelaufenen Tages aufzufinden ist. Welchen Traum immer ich vornehme, einen eigenen oder fremden, jedesmal bestätigt sich mir diese Erfahrung. § 824') Es ist klar, daß die Auffulung Robot", der 'h’lum lei dazu baltime unter
Gedächtnis von den werflnun Eindrücken den Tage! zu enthalten, nicht mehr 1.u halten ist, wenn im Traum. einigermle häufig gleichgültiga Erinnenmgnbild-r § 825aus „mm Kamm: auftreten. Man müßte den Schluß lieben, an! da- Traum die
ihm zufnllende Aufgabe "hr ungenügend zu erfüllen pfl|gL § 826§ 827
166 V. Das Traummatzrial und die Traumquellen
§ 828In Kenntnis dieser Tatsache kann ich etwa die Traumdeutung
damit beginnen, daß ich zuerst nach dem Erlebnis des Tages forsche, welches den Traum angeregt hat, für viele Fälle ist dies sogar der nächste Weg. An den beiden Träumen, die ich im vorigen Abschnitt einer genauen Analyse unterzogen habe (von Irmas Injektion, von meinem Onkel mit dem gelben Bart) ist die Beziehung zum Tag so augenfällig, daß sie keiner weiteren Beleuchtung bedarf. Um aber zu zeigen, wie regelmäßig sich diese Beziehung erweisen läßt, will ich ein Stück meiner eigenen Traumchronik daraufhin untersuchen. Ich teile die Träume nur soweit mit, als ich es zur Aufdeckung der gesuchten Traumquelle bedarf. § 8291) Ich mache einen Besuch in einem Hause, wo ich nur
mit Schwierigkeiten vorgelassen werde usw., lasse eine Frau unter— dessen auf mich warten. § 830Quelle: Gespräch mit einer Verwandten am Abend, daß eine
Anschaffung, die sie verlangt, warten müsse, bis usw. § 8312) Ich habe eine Monographie über eine gewisse (unklar)
Pflanzenart geschrieben. § 832Quelle: Am Vormittag im Schaufenster einer Buchhandlung
eine Monographie gesehen über die Gattung Zyklen-nen. § 833}) Ich sehe zwei Frauen auf der Straße, Mutter und
Tochter, von denen die letztere meine Patientin war, § 834Quelle: Eine in Behandlung stehende Patientin hat mir abends
mitgeteilt, welche Schwierigkeiten ihre Mutter einer Fortsetzung der Behandlung entgegenstellt. § 8354 ) In der Buchhandlung von S. und R. nehme ich ein
Abonnement auf eine periodische Publikation, die jährlich zwanzig Gulden kostet. § 836Quelle: Meine Frau hat mich am Tage daran erinnert, daß
ich ihr zwanzig Gulden vom Wochengelde noch schuldig bin. § 837§ 838
Die Anlmüpfung das Trauma: an den Vortag 3.57
§ 8395} Ich erhalte eine Zuschrift vorn sozialdemokratischen
Komitee, in der ich als Mitglied behandelt werde. § 840Quelle: Zuschriften erhalten gleichzeitig vom liberalen Wahl
komitee und vom Präsidium des humanitären Vereines, dessen Mitglied ich wirklich bin. § 8416) Ein Mann auf einem steilen Fels mitten im Meer, in
Böcklinscher Manier. § 842Quelle: Dreyfus auf der Teufelsinsel gleichzeitig Nach—
richten von meinem Verwandten in England usw. ' § 843Man könnte die Frage aufwerfen, ob die Tnumanknüpfung
unfehlbar an die Ereignisse des letzten Tages erfolgt7 oder ob sie sich auf Eindrücke eines längeren Zeitraumes der jüngsten Ver gangenheit erstrecken kann. Dieser Gegenstand kann prinzipielle Bedeutsamkeit wahrscheinlich nicht beanspruchen, doch möchte ich mich für das ausschließliche Von-echt des letzten Tages vor dem Traume (des Traumtages) entscheiden. So oft ich zu finden vermeinte, daß ein Eindruck vor zwei oder drei Tagen die Quelle des Traumes gewesen sei, konnte ich mich doch bei genauerer Nachforschung überzeugen, daß jener Eindruck am Vortage wieder erinnert werden war, daß also eine nachweisbare Reproduktion am Vortage sich zwischen dem Ereignistage und der Traumzeit eingeschoben hatte, und konnte außerdem den rezenten Anlaß nachweisen, von dem die Erinnerung an den älteren Eindruck ausgegangen sein konnte. [E 1] § 844Ich meine also, es gibt für jeden Traum einen Traumerreger
aus jenen Erlebnissen, über die „man noch keine Nacht ge schlafen hat“. § 845Die Eindrücke der jüngsten Vergangenheit (mit Ausschluß des
Tages vor der Traumnacht) zeigen also keine andersartige Be ziehung zum Trauminhalte als andere Eindrücke aus beliebig ferner liegenden Zeiten Der Traum kann sein Material aus jeder Zeit des Lebens wählen, wofem nur von den Erlebnissen des § 846§ 847
168 V. Des Traummatzrial und die Traumquzllen
§ 848Traumtages (den „rezenten“ Eindrücken) zu diesen früheren ein
Gedankenfaden reicht. § 849Woher aber die Bevorzugung der rezenten Eindrücke? Wir
werden zu Vermutungen über diesen Punkt gelangen, wenn wir einen der erwähnten Träume einer genaueren Analyse unter— ziehen. Ich wähle den § 850Traum von der botanischen Monographie.
§ 851Ich habe‘zinz Monographie über eine gewisse Pflanze ge
schrieben. Das Buch liegt vor mir, ich blättere eben eine einge— schlagene farbige Tafel urn. Jedem Exemplar ist ein getrocknetes Spezimen der Pflanze beigebunden, ähnlich wie aus einem Herbarinm. § 852Analyse:
§ 853Ich habe am Vurmittage im Schaufenster einer Buchhandlung
ein neues Buch gesehen, welches sich betitelt: Die Gattung Zyklamen, — offenbar eine Monographie über diese Pflanze. § 854Zyklamen ist die Lieblingsblume meiner Frau. Ich mache
mir Vorwürfe, daß ich so selten daran denke, ihr Blumen mitzubringen, wie sie sich’s wünscht. * Bei dem Thema: Blumen mitbringen erinnere ich mich einer Geschichte, welche ich unlängst im Freundeskreis erzählt und als Beweis für meine Behauptung verwendet habe, daß Vergessen sehr häufig die Aus führung einer Absicht des Unbewußten sei und immerhin einen Schluß auf die geheime Gesinnung des Vergessenden gestatte. Eine junge Frau, welche daran gewöhnt war, zu ihrem Geburts— tage einen Strauß von ihrem Manne vorzufinden, vermißt dieses Zeichen der Zärtlichkeit an einem solchen Festtag und bricht darüber in Tränen aus. Der Mann kommt hinzu, weiß sich ihr Weinen nicht zu erklären, bis sie ihm sagt: Heute ist mein Ge burtstag. Da schlägt er sich vor die Stirne, mit aus: Entschuldige, hab' ich doch ganz daran vergessen, und will fort, ihr Blumen § 855§ 856
Der Traum von der batanirchm Monographie 169
§ 857zu holen. Sie läßt sich aber nicht trästen, denn sie sieht in
der Vergeßlichkeit ihres Mannes einen Beweis dafür, daß sie in seinen Gedanken nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie einstens. — Diese Frau L. ist meiner Frau vor zwei Tagen begegnet, hat ihr mitgeteilt, daß sie sich wohlfühlt, und sich nach mir erkundigt. Sie stand in früheren Jahren in meiner Behandlung. § 858Ein neuer Ansatz: Ich habe wirklich einmal etwas Ähnliches
geschrieben wie eine Monographie über eine Pflanze, nämlich einen Aufsatz über die Cocapflanze, welcher die Aufmerksam keit von K. Koller auf die anästhesierende Eigenschaft des Kokains gelenkt hat. Ich hatte diese Verwendung des Alkaloicls in meiner Publikation selbst angedeutet, aber war nicht gründlich genug, die Sache weiter zu verfolgen. Dazu fällt mir ein, daß ich am Vormittag des Tages nach dem Traume (zu dessen Deutung ich erst abends Zeit fand) des Kokains in einer Art von Tagesphantasie gedacht habe. Wenn ich je Glaukom be— kommen sollte, würde ich nach Berlin reisen und mich dort bei meinem Berliner Freunde von einem Arzt, den er mir empfiehlt, inkognito operieren lassen. Der Operateur, der nicht wüßte, an wem er arbeitet, würde wieder einmal rühmen, wie leicht sich diese Operationen seit der Einführung des Kokains gestaltet haben; ich würde durch keine Miene verraten, daß ich an dieser Ent— deckung selbst einen Anteil habe. An diese Phantasie schlossen sich Gedanken an, wie unbequern es doch für den Arzt sei, ärztliche Leistungen von seiten der Kollegen für seine Person in Anspruch zu nehmen. Den Berliner Augenarzt, der mich nicht kennt, würde ich wie ein anderer entlohnen können. Nachdem dieser Tagtraum mir in den Sinn gekommen, merke ich erst, daß sich die Erinnerung an ein bestimmtes Erlebnis hinter ihm ver birgt. Kurz nach der Entdeckung Kollers war nämlich mein Vater an Glaukom erkrankt; er wurde von meinem Freunde, dem Augenarzt Dr. Königstein, operiert, Dr. Koller besorgte die Kokainanästhesie und machte dann die Bemerkung, daß bei § 859§ 860
170 V. Das Traummaterz'al und die Traumqllzllen.
§ 861diesem Falle alle die drei Personen sich vereinigt finden, die an
der Einführung des Kokains Anteil gehabt haben. § 862Meine Gedanken gehen nun weiter, wann ich zuletzt an diese
Geschichte des Kokains erinnert worden bin. Es war dies vor einigen Tagen, als ich die Festschrift in die Hand bekam, mit deren Erscheinen dankbare Schüler das Jubiläum ihres Lehrers und Laboratoriumsvorstandes gefeiert hatten. Unter den Ruhmes» titeln des Laboratoriums fand ich auch angeführt daß dort die Entdeckung der anästhesierenden Eigenschaft des Kokains durch K. Koller vorgefallen sei. Ich bemerke nun plötzlich, daß mein Traum mit einem Erlebnis des Abends vorher zusammenhängt. Ich hatte gerade Dr. Königstein nach Hause begleitet, mit dem ich in ein Gespräch über eine Angelegenheit geraten war, die mich jedesmal, wenn sie berührt wird, lebhaft erregt. Als ich mich in dem Hausflur mit ihm aufhielt, kam Professor Gärtner mit seiner jungen Frau hinzu. Ich konnte mich nicht enthalten, die beiden darüber zu beglüc'kwünschen, wie blühend sie aus— sehen. Nun ist Professor Gärtner einer der Verfasser der Fest schrift, von der ich eben sprach, und konnte mich wohl an diese erinnern. Auch die Frau L., deren Gebumtagsenttäuschung ich unlängst erzählte, war im Gespräch mit Dr. Königstein, in anderem Zusamenhange allerdings, erwähnt werden. § 863Ich will versuchen, auch die anderen Bestimmungen des
Trauminhaltes zu deuten. Ein getrocknetes Spezirnen der Pflanze liegt der Monographie bei, als ob es ein Herbarium wäre. Aus Herbarium knüpft sich eine Gymnasialerinnerung. Unser Gymnasialdirektor rief einmal die Schüler der höheren Klassen zusammen, um ihnen das Herbarium der Anstalt zur Durchsicht und zur Reinigung zu übergeben. Es hatten sich kleine Würmer eingefunden * Bücherwurrn. Zu meiner Hilfeleistung scheint er nicht Zutrauen gezeigt zu haben, denn er überließ mir nur wenige Blätter. Ich weiß noch heute, daß Kruziferen darauf waren. Ich hatte niemals ein besonders inu'mes Verhältnis § 864§ 865
Analyse des Trauma: von der botanischen Managrnph'w 171
§ 866zur Botanik. Bei meiner botanischen Vorprüfung bekam ich
wiederum eine Kruzifere zur Bestimmung und — erkannte sie nicht. Es wäre mir schlecht ergangen, wenn nicht meine theore tischen Kenntnisse mir herausgehulfen hätten. —— Von den Kruziferen gerate ich auf die Kompositen. Eigentlich ist auch die Artischocke eine Komposite, und zwar die, welche ich meine Lieblingsblume heißen könnte. Edler als ich, pflegt meine Frau mir diese Lieblingsblume häufig vom Markte heimzu bringen. § 867Ich sehe die Monographie vor mir liegen, die ich geschrieben
habe. Auch dies ist nicht ohne Bezug. Mein visueller Freund schrieb mir gestern aus Berlin: „Mit deinem Traumbuche beschäftige ich mich sehr viel. Ich sehe es fertig vor mir liegen und blättere darin.“ Wie habe ich ihn um diese Sehergabe beneidet! Wenn ich es doch auch schon fertig vor mir liegen sehen könnte! § 868Die zusammengelegte farbige Tafel: Als ich Student der
Medizin war, litt ich viel unter dem Impuls, nur aus Mono graphien lernen zu wollen. Ich hielt mir damals, trotz meiner beschränkten Mittel, mehrere medizinische Archive, deren farbige Tafeln mein Entzücken waren. Ich war stolz auf diese Neigung zur Gründlichkeit. Als ich dann selbst zu publizieren begann, mußte ich auch die Tafeln für meine Abhandlungen zeichnen und ich weiß, daß eine derselben so kümmerlich ausfiel, daß mich ein wohlwollender Kollege ihretwegen verhöhnte. Dazu kommt noch, ich weiß nicht recht wie, eine sehr frühe Jugend— erinnerung. Mein Vater machte sich einmal den Scherz, mir und meiner ältesten Schwester ein Buch mit farbigen Tafeln (Beschreibung einer Reise in Persien) zur Vernichtung zu über lassen. Es war kaum erziehlich zu rechtfertigen. Ich war damals fünf Jahre, die Schwester unter drei Jahren alt, und das Bild, wie wir Kinder übersehg dieses Buch zerpflücken (wie eine Artischocke, Blatt für Blatt, muß ich sagen), ist nahezu das einzige, § 869§ 870
179 V, Das Traummatzrial und die Traumquellzn
§ 871was mir aus dieser Lebenszeit in plastischer Erinnerung geblieben
ist. Als ich dann Student wurde, entwickelte sich bei mir eine ausgesprochene Vorliebe, Bücher zu sammeln und zu besitzen (analog der Neigung, aus Monographien zu studieren, eine Lieb haberei, wie sie in den Traumgedanken betrefis Zyklamen und Artischocke bereits vorkommt). Ich wurde ein Bücherwurm (vgl. Herbarium). Ich habe diese erste Leidenschaft meines Lebens, seitdem ich über mich nachdenke, immer auf diesen Kindereindruck zurückgeführt, oder vielmehr, ich habe erkannt, daß diese Kinderszene eine „Deckerirmerung“ für meine spätere Bibliophilie ist.‘ Natürlich habe ich auch frühzeitig erfahren, daß man durch Leidenschaften leicht in Leiden gerät. Als ich siebzehn Jahre alt war, hatte ich ein ansehnliches Konto beim Buchhändler und keine Mittel, es zu begleichen, und mein Vater ließ es kaum als Entschuldigung gelten, daß sich meine Neigungen auf nichts Böseres geworfen hatten. Die Erwähnung dieses späteren Jugend erlebnisses bringt mich aber sofort zu dem Gespräch mit meinem Freunde Dr. Königstein zurück. Denn um dieselben Vorwürfe wie damals, daß ich meinen Liebhabereien zuviel nachgebe, handelte es sich auch im Gespräch am Abend des Traumtages. § 872Aus Gründen, die nicht hieher gehören, will ich die Deutung
dieses Traumes nicht verfolgen, sondern bloß den Weg angeben, welcher zu ihr führt. Während der Deutungsarbeit bin ich an das Gespräch mit D)“. Königstein erinnert worden, und zwar von mehr als einer Stelle aus. Wenn ich mir vorhalte, welche Dinge in diesem Gespräche berührt werden sind, so wird der Sinn des Traumes mir verständlich. Alle angefangenen Gedanken— gänge, von den Liebhabereien meiner Frau und meinen eigenen, vom Kokain, von den Schwierigkeiten ärztlicher Behandlung unter Kollegen, von meiner Vorliebe für monographische Studien und meiner Vernachlässigung gewisser Fächer wie der Botanik, § 873;) Vgl. meinen Aufsatz „Über Deckerinnerlmgen" in der Man-meiu-iit für m,—
chiatrie und Neurologie, 1899. [Ges. Schriften, Br]. I.] § 874§ 875
Analyse des Trauncs von der botarnlvchm Monographie 175
§ 876dies alles erhält dann seine Fortsetzung und mündet in irgend—
einen der Fäden der vielverzweigten Unterredung ein. Der Traum bekommt wieder den Charakter einer Rechtfertigung, eines Plaidoyers für mein Recht, wie der erstaniilysierte Traum von Irmas Injektion; ja er setzt das dort begonnene Thema fort und erörtert es an einem neuen Material, welches im Intervall zwischen beiden Träumen hinzugekommen ist. Selbst die scheinbar in— differente Ausdrucksform des Traumes bekommt einen Akzent. Es heißt jetzt: Ich bin doch der Mann, der die wertvolle und. erfolgreiche Abhandlung (über des Kokain) geschrieben hat, ähnlich wie ich damals zu‘meiner Rechtfertigung verbrachte: Ich bin doch ein tüchtiger und fleißiger Student; in beiden Fällen also: Ich darf mir das erlauben. Ich kann aber auf die Ausführung der Traumdeutung hier verzichten, weil mich zur Mitteilung des Traumes nur die Absicht bewegen hat, an einem Beispiele die Beziehung des Trauminhalbes zu dem erregenden Erlebnis des Vortages zu untersuchen. So lange ich von diesem Traume nur den manifesten Inhalt kenne, wird mir nur eine Be ziehung des Traumes zu einem Tageseindruck augeniällig; nach— dem ich die Analyse gemacht habe, ergibt sich eine zweite Quelle des Traumes in einem anderen Erlebnis dieselben Tages. Der erste der Eindrücke, auf welche sich der Traum bezieht, ist ein gleiehgültiger, ein Nebenurnstand. Ich sehe im Schaufenster ein Buch, dessen Titel mich flüchtig berührt, dessen Inhalt mich kaum interessieren dürfte. Das zweite Erlebnis hatte einen hohen psychischen Wert, ich habe mit meinem Freunde, dem Augen arzt, wohl eine Stunde lang eifrig gesprochen, ihm Andeutungen gemacht, die uns beiden nahe gehen mußten, und Erinnerungen in mir wachgeru.fen, bei denen die mannigfaltigsten Erregungen meines Innern mir bemerklich wurden. Überdies wurde dieses Gespräch unvollendet abgebrochen, weil Bekannte hinzukamen. Wie stehen nun die beiden Eindrücke des Tages zueinander und zu dem in der Nacht erfolgenden Traum? § 877§ 878
,„ V. Das Trawnmaterial und die Trzumquzllzn
§ 879I.m Trauminhalte finde ich nur eine Anspielung auf den
gleichgültigen Eindruck und kann so bestätigen, daß der Traum mit Vorliebe Nebensächliches aus dem Leben in seinen Inhalt aufnimmt. In der Traumdeutung hingegen führt alles auf das wichtige, mit Recht erregende Erlebnis hin. Wenn ich den Sinn des Traumes, wie es einzig richtig ist, nach dem latenten, durch die Analyse zutage geförderten Inhalt beurteile, so bin ich un— versehens zu einer neuen und wichtigen Erkenntnis gelangt. Ich sehe das Rätsel zerfallen, daß der Traum sich nur mit den wert losen ßrucken des Tageslebens beschäftigt; ich muß auch der Behauptung widersprechen, daß das Seelenlehen des Wachens sich in den Traum nicht fortsetzt, und der Traum dafür psychische Tätigkeit an läppisches Material verschwendet. Das Gegenteil ist wahr; was uns bei Tage in Anspruch genommen hat, beherrscht auch die Traumgedanken, und wir geben uns die Mühe zu träumen nur bei solchen Materien, welche uns bei Tage Anlaß zum Denken geboten hätten. § 880Die naheliegendste Erklärung dafür, daß ich doch vom gleich
gültigen Tageseindruck träume, während der mit Recht aufregende mich zum Traume veranlaßt hat7 ist wohl die, daß hier wieder ein Phänomen der Traumentstellung vorliegt, welche wir oben auf eine als Zensur waltende psychische Macht zurückgeführt haben. Die Erinnerung an die Monographie über die Gattung Zyklamen erfährt eine Verwendung, als ob sie eine Anspielung auf das Gespräch mit dem Freunde wäre, ganz ähnlich wie im Traum von dem verhinderten Suuper die Erwähnung der Freundin durch die Anspielung „geräucherter Lachs“ vertreten wird. Es fragt sich nur, durch welche Mittelglieder kann der Eindruck der Monographie zu dem Gespräche mit dem Augenarzt in das Ver hältnis der Anspielung treten, da eine solche Beziehung zunächst nicht ersichtlich ist. In dem Beispiele vom verhinderten Souper ist die Beziehung von vornherein gegeben; „geräucherter Lachs“ als die Lieblingsspeise der Freundin gehört ohne weiteres zu dem § 881§ 882
Verknüp_fimgzn und Anspielungen 175
§ 883Vorstellungskreise, den die Person der Freundin bei der Träu
menden anzuregen vermag. In unserem neuen Beispiel handelt es sich um zwei gesonderte Eindrücke, die zunächst nichts ge— meinsam haben, als daß sie am nämlichen Tage erfolgen. Die Monographie fällt mir am Vormittag auf, das Gespräch führe ich dann am Abend. Die Antwort, welche die Analyse an die Hand gibt, lautet: Solche erst nicht vorhandene Beziehungen zwischen den beiden Eindrücken werden nachträglich vom Vorstellungsinhalt des einen zum Vorstellungsinhalt des anderen angespannen. Ich habe die betreffenden Mittelglieder bereits bei der Niederschrift der Analyse hervorgehoben. An die Vorstellung der Monographie über Zyklamen würde sich ohne Beeinflussung von anderswoher wohl nur die Idee knüpfen, daß diese die Lieblingsblume meiner Frau ist, etwa noch die Erinnerung an den vermißten Blumen strauß der Frau L. Ich glaube nicht, daß diese Hintergedanken genügt hätten, einen Traum hervorzurufen. § 884„There needs no ghast, my lord, come from the grave
To tell u.s this.“ § 885heißt es im „Hamlet“. Aber siehe da, in der Analyse werde
ich daran erinnert, daß der Mann, der unser Gespräch störte, Gärtner hieß, daß ich seine Frau blühend fand; ja ich besinne mich eben jetzt nachträglich, daß eine meiner Patientinnen, die den schönen Namen Flora trägt, eine Weile im Mittelpunkte unseres Gespräches stand. Es muß so zugegangen sein., daß sich über diese Mittelglieder aus dem botanischen Vorstellungskreis die Verknüpfung der beiden Tageserlebnisse, des gleichgültigen und des aufregenden, vollzog. Dann stellten sich weitere Beziehungen ein, die des Kokains, welche mit Fug und Recht zwischen der Person des Dr. Königstein und einer botanischen Monographie, die ich geschrieben habe, ver mitteln kann, und befestigten diese Verschmelzung der beiden Vor— stellungskreise zu einem, so daß nun ein Stück aus dem ersten Er lebnis als Anspielung auf'das zweite verwendet werden konnte. § 886§ 887
176 V. Das Traummaterial und die Traumquzllen
§ 888Ich bin darauf gefaßt, daß man diese Aufkläng als eine
willkürliche oder als eine gekünstelte anfechten wird. Was wäre geschehen, wenn Professor Gärtner mit seiner blühenden Frau nicht hinzugetreten wäre, wenn die besprochene Patientin nicht Flora, sondem Anna hieße? Und doch ist die Antwort leicht. Wenn sich nicht diese Gedankenbeziehungen ergeben hätten, so wären wahrscheinlich andere ausgewählt werden. Es ist so leicht, derartige Beziehungen herzustellen, wie ja die Scherz- und Bätselfragen, mit denen wir uns den Tag erheitem, zu beweisen vermögen. Der Machthereich des Witzes ist ein uneingeschränkter. Um einen Schritt weiter zu gehen: wenn sich zwischen den beiden Eindrücken des Tages keine genug ausgiebigen Mittel— beziehungen hätten herstellen lassen, so wäre der Traum eben anders ausgefallen; ein anderer gleichgültiger Eindruck des Tages, wie sie in Scharen an uns herantreten und von uns vergessen werden, hätte für den Traum die Stelle der „Monographie“ über nommen, wäre in Verbindung mit dem Inhalt des Gespräches gelangt und hätte dieses im Trauminhalt vertreten. Da kein anderer als der von der Monographie dieses Schicksal hatte, so wird er wohl der für die Verknüpfung passendste gewesen sein. Man braucht sich nie wie Hänschen Schlau bei Lessing darüber zu wundern, „daß nur die Reichen in der Welt das meiste Geld besitzen“. § 889Der Psychologische Vorgang, durch welchen nach unserer Dar—
legu.ug das gleichgültige Erlebnis zur Stellvertreth für das psychisch wertvolle gelangt, muß uns noch bedenklich und be— fremdend erscheinen. In einem späteren Abschnitt werden wir uns vor der Aufgabe sehen, die Eigentümlichkeiten dieser schein— bar inkorrekten Operation unserem Verständnis näher zu bringen. Hier haben wir es nur mit dem Erfolge des Vorganges zu tun, zu dessen Annahme wir durch ungerählte und‘regelmäßig wieder— kehrende Erfahrungen bei der Traumanalyse gedrängt werden. Der Vorgang ist aber so, als ob eine Verschiebung — sagen § 890§ 891
Die Verschiebung 177
§ 892wir: des psychischen Akzentes — auf dem Wege jener Mittel
glieder zustande käme, bis anfangs schwach mit Intensität ge— ladene Vorstellungen durch Übernahme der Ladung von den anfänglich intensiver besetzten zu einer Stärke gelangen, welche sie befähigt, den Zugang zum Bewußtsein zu erzw'ingen. Solche Verschiebungen wundern uns keineswegs, wo es sich um die Anbringung von Affektgrößen oder überhaupt um motorische Aktionen handelt. Daß die einsam gebliebene Jungfrau ihre Zärt lichkeit auf Tiere überträgt, der .Tunggeselle leidenschaftlicher Sammler wird, daß der Soldat einen Streifen farbigen Zeuges, die Fahne, mit seinem Herzblute verteidigt, daß im Liebesverhältnis ein um Sekunden verlängerter Händedruck Seligkeit erzeugt1 oder im „Othelln“ ein verlorenes Schnupftuch einen Wutausbruch, das sind sämtlich Beispiele von psychischen Verschiebungen, die uns unanfechtbar erscheinen. Daß aber auf demselben Wege und nach denselben Grundsätzen eine Entscheidung darüber gefällt wird, was in unser Bewußtsein gelangt und was ihm vorenthalten bleibt, also was wir denken, das macht uns den Eindruck des Krank haften, und wir heißen es Denkfehler, wo es im Wachleben vor kommt. Verraten wir hier als das Ergebnis später anzustellender Betrachtungen, daß der psychische Vorgang, den wir in der Traumverschiebung erkannt haben, sich zwar nicht als ein krank haft gestörter, wohl aber als ein vom normalen verschiedener, als ein Vorgang von mehr primärer Natur herausstellen wird. Wir deuten somit die Tatsache, daß der Traumin.helt Reste von nebensächlichen Erlebnissen aufnimmt, als eine Äußerung der Traumentstellung (durch Verschiebung) und erinnern daran, daß wir in der Traumentstellung eine Folge der zwischen zwei psychischen Instanzen bestehenden Durchgangszensur erkannt haben. Wir erwarten dabei, daß die Traumanalyse uns regelmäßig die wirkliche, psychisch bedeutsame Traumquelle aus dem Tegesleben aufdecken wird, deren Erinnerung ihren Akzent auf die gleich gültige Erinnerung verschoben hat. Durch diese Auffassung haben § 893Freud. n. u
§ 894§ 895
178 V. Das Traummaterial und die Traumquzllen
§ 896wir uns in vollen Gegensatz zu der Theorie von Robert ge—
bracht, die für uns unverwendbar geworden ist. Die Tatsache, welche Robert erklären wollte, besteht eben nicht; ihre Annahme beruht auf einem Mißverständnis, auf der Unterlassung, für den scheinbaren Trauminhalt den wirklichen Sinn des Traumes ein zusetzen. Man kann noch weiterhin gegen die Lehre von Robert einwenden: Wenn der Traum wirklich die Aufgabe hätte, unser Gedächtnis durch besondere psychische Arbeit von den „Schlacken“ der Tageser'innerung zu befreien, so müßte unser Schlafen ge quälter sein und auf angestrengtere Arbeit verwendet werden, als wir es von unserem wachen Geistesleben behaupten können. Denn die Anzahl der indifl"erenten Eindrücke des Tages, vor denen wir unser Gedächtnis zu schützen hätten, ist offenbar unermeßlich groß; die Nacht würde nicht hinreichen, die Summe zu bewäl— tigen. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß das Vergessen der gleichgültigen Eindrücke ohne aktives Eingreifen unserer seelischen Mächte vor sich geht. § 897Dennoch verspüren wir eine Warnung, von dem Robertschen
Gedanken ohne weitere Berücksichtigung Abschied zu nehmen. Wir haben die Tatsache unerklän gelassen, daß einer der indiFfee renten Eindrücke des Tages — und zwar des letzten Tages — regelmäßig einen Beitrag zum Trauminhalte liefert. Die Beziehun gen zwischen diesem Eindruck und der eigentlichen Traumquelle im Unbewußten bestehen nicht immer von vornherein; wie wir gesehen haben, werden sie erst nachträglich, gleichsam zum Dienste der beabsichtigten Verschiebung, während der Traumarbeit here gestellt. Es muß also eine Nötigung vorhanden sein, Verbindungen gerade nach der Richtung des rezenten, obwohl gleichgültigen, Eindruckes anzubahnen; dieser muß eine besondere Eignung durch irgend eine Qualität dazu bieten. Sonst wäre es ja ebenso leicht durchführbar, daß die Traumgedanken ihren Akzent auf einen unwesentlichen Bestandteil ihres eigenen Vorstellungskreises ver schieben, § 898§ 899
„Rupprochzment for:!“ 179
§ 900Folgende Erfahrungen können uns hier auf den Weg zur
Aufklärung leiten. Wenn uns ein Tag zwei oder mehr Erlebnisse gebracht han welche Träume anzuregen würdig sind, so vereinigt der Traum die Erwähnung beider zu einem einzigen Ganzen; er » gehorcht einem Zwang, eine Einheit aus ihnen zu gestalten; » z. B.: Ich stieg eines Nachmittags im Sommer in ein Eisenbahn— ‘ Coupé ein, in welchem ich zwei Bekannte traf, die einander aber fremd waren. Der eine war ein einflußreicher Kollege, der andere ein Angehöriger einer vornehmen Familie, in welcher ich ärztlich beschäftigt war. Ich machte die beiden Herren miteinander be— kannt; ihr Verkehr ging aber die lange Fahrt über mich, so daß ich bald mit dem einen, bald mit dem anderen einen Gesprächs stoff zu behandeln hatte. Den Kollegen bat ich, einem gemein samen Eekannten, der eben seine ärztliche Praxis begonnen hatte, seine Empfehlung zuzuwenden. Der Kollege erwiderte, er sei von der Tüchtigkeit des jungen Mannes überzeugt, aber sein unscheinbares Wesen werde ihm den Eingang in vornehme Häuser nicht leicht werden lassen. Ich erwiderte: Gerade darum bedarf er der Empfehlung. Bei dem anderen Mitreisenden erkundigte ich mich bald darauf nach dem Befinden seiner Tante — der Mutter einer meiner Patientinnen, * welche damals schwer krank danieder lag. In der Nacht nach dieser Reise träumte ich, mein junger Freund, für den ich die Protektion erbeten hatte, befinde sich in einem eleganten Salon und halte vor einer ausgewählten Gesellschaft, in die ich alle mir bekannten vor nehmen und reichen 'Ieute versetzt hatte, mit weltmännischen Gesten eine Trauerrede auf die (für den Traum bereits verstorbene) alte Dame, welche die Tante des zweiten Reisegenossen war. [Ich ge— stehe offen, daß ich mit dieser Dame nicht in guten Beziehungen gestanden hatte.] Mein Traum hatte also wiederum Verknüpfungen zwischen beiden Eindrücken des Tages aufgefunden und mittels derselben eine einheitliche Situation komponiert. § 901Auf Grund vieler ähnlicher Erfahrungen muß ich den Satz
aufstellen, daß für die Traumarbeit eine Art von Nötigung be § 902„
§ 903§ 904
xßo V. Das Traumnuzmrial und die Traumquzlkn
§ 905steht, alle vorhandenen Traumreizquellen zu einer Einheit im
Traume zusammenzusetzen.‘ § 906Ich vn'll jetzt die Frage in Erörterung ziehen, ob die traum—
erregende Quelle, auf welche die Analyse hinführt, jedesmal ein rezentes (und hedeutsames) Ereignis sein muß, oder ob ein inneres Erlebnis, also die Erinnerungen ein psychisch wertvolles Ereignis, ein Gedankengarig, die Rolle des Traumerregers übernehmen kann. Die Antwort, die sich aus zahlreichen Analysen auf das be— stimmteste ergibt, lautet im letzteren Sinne. Der Trauma-reger kann ein innerer Vorgang sein, der gleichsam durch die Denk— arheit am Tage rezenl. geworden ist, Es wird jetzt wohl der richtige Moment sein, die verschiedenen Bedingungen, welche die Traumquellen erkennen lassen, in einem Schema zusammen— zustellen. § 907Die Traumquelle kann sein:
§ 908a) Ein rezentes und psychisch bedeutsames Erlebnis, welches
im Traume direkt vertreten ist.2 § 909b) Mehrere rezente, bedeutsame Erlebnisse, die durch den
Traum zu einer Einheit vereinigt werden.5 § 9100) Ein oder mehrere rezente und bedeutsame Erlebnisse, die
im Trauminhalte durch die Erwähnung eines gleichzeitigen, aber indiflerenten Erlebnisses vertreten werden.‘ § 911d) Ein inneres bedeutsames Erlebnis (Erinnerung, Gedanken
gang), welches dann im Trauma regelmäßig durch die Er— wähnung eines rezenten, aber indiflerenten Eindruckes vertreten wird? § 912Wie man sieht, wird für die Traumdeutung durchwegs die
Bedingung festgehalten, daß ein Bestandteil des Trauminhaltes § 913i) Die Neigung der Txuumu-heii, gleichzeitig nis interessant Vorhandene! in einer
Behandlung zu verschmelzen, ist bereits vun mehreren Autoren bemerkt worden, 1. 134 vun Belege (p.41), Deiboeuf: raypmchementfnné @. 556). § 914a) Traum von haus Injektion; Traum vom Freund, der mein Onkel ist
§ 9155) Traum von der Trauernde des jungen Arztes.
§ 9164) Traum von der hotaniscl'ieri Monographie.
§ 9175) Solcherart sind die meinten Träume meiner Patienten während der Analyse.
§ 918§ 919
Da; Emma und das Indan 181
§ 920einen rezenten Eindruck des Verlages wiederholt. Dieser zur
Vertretung im Bäume bestimmte Anteil kann entweder dem Vorstellungskreis des eigentlichen Traumerregers selbst angehören * und zwar entweder als wesentlicher oder als unwichtiger Be standteil desselben — oder er rührt aus dem Bereiche eines indifferenten Eindmckes her, der durch mehr oder minder reich liche Verknüpfung mit dem Kreis des Traumerregers in Be— ziehung gebracht werden ist. Die scheinbare Mehrheit der Bedingungen kommt hier nur durch die Alternative zustande, daß eine Verschiebung unterbliehen oder vorgefallen ist, und wir merken hier, daß diese Alternative uns dieselbe Leich tigkeit bietet, die Kon1.raste des Traumes zu erklären, wie der medizinischen Theorie des Traumes die Reihe vom partiellen bis zum vollen Wachen der Gehirnzellen (vgl. S. 82). § 921Man bemerkt an dieser Reihe ferner, daß das psychisch wertvolle,
aber nicht rezente Element (der Gedankengung, die Erinnerung) für die Zwecke der Traumbildung durch ein rezentes, aber psychisch indiiferentes Element ersetzt werden kann, wenn dabei nur die beiden Bedingungen eingehalten werden, daß 1 ) der Trauminhalt eine Anknüpfung an das rezent Erlebl,e erhält; 2) der Traumerreger ein psychisch wertvoller Vorgang bleibt. In einem einzigen Falle (a) werden beide Bedingungen durch denselben Eindruck erfüllt. Zieht, man noch in Erwägung, daß dieselben indifierenten Eindrücke, welche; für den Traum verwertet werden, solange sie rezent sind, diese Eig— nung einbüßen, sobald sie einen Tag (oder höchstens mehrere) älter 1 geworden sind, so muß man sich zur Annahme entschließen, daß! die Frische eines Eindruckes ihm an sich einen gewissen psychischen," Wert für die Traumbildung verleiht, welcher der Wertigkeit effekt—‘, betonter Erinnerungen oder Gedankengänge irgendwie gleichkommt. ' Wir werden erst bei späteren psychologischen Überlegungen ernten können, worin dieser Wert rezenter Eindrücke für die Traum— bildung begründet sein kann.‘ § 9221) Vgl. im Abschnitt vn über die „mmguga.
§ 923\:
§ 924§ 925
182 V. Das Traummazerial wd [lie Traumquellen
§ 926Nebenbei wird hier unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt,
daß zur Nachtzeit und von unserem Bewußtsein unbemerkt wichtige Veränderungen mit unserem Erinnerungs- und Vor stellungsrnaterial vor sich gehen können. Die Forderung, eine Nacht über eine Angelegenheit zu schlafen, ehe man sich end gültig über sie entscheidet, ist offenbar vollberechtigt. Wir merken ' aber, daß wir an diesem Punkte aus der Psychologie des Träumens in die des Schlafens übergegrif'fen haben, ein Schritt, zu welchem sich der Anlaß noch öfter ergeben wird. [E 2] § 927Es gibt nun einen Einwand, welcher die letzten Schlußfolge
rungen umzustoßen droht. Wenn indifferente Eindrücke nur so lange sie rezent sind in den Trauminhalt gelangen können, wie kommt es, daß wir im Traurninhalt auch Elemente aus früheren Lebensperioden vorfinden, die zur Zeit, da sie rezent waren —— nach Strümpells Worten keinen psychischen Wert besaßen, also längst vergessen sein sollten, Elemente also, die weder frisch noch psychisch bedeutsam sind? § 928Dieser Einwand ist voll zu erledigen, wenn man sich auf die
Ergebnisse der Psychoanalyse hei Neurotikern stützt. Die Lösung lautet nämlich, daß die Verschiebung, welche das psychisch wichtige Material durch indifferentes ersetzt (für das Träumen wie für das Denken), hier bereits in jenen frühen Lebensperioden stattgefunden hat und seither im Gedächtnis fixiert werden ist. Jene ursprünglich indifferenten Elemente sind eben nicht mehr indifferent, seitdem sie durch Verschiebung die Wertigkeit vom psychisch bedeutsamen Material übernommen haben. Was wirklich indifferent geblieben ist, kann auch nicht mehr im Traume reproduziert werden. § 929Aus den vorstehenden Erörterungen wird man mit Recht
schließen, daß ich die Behauptung aufstelle, es gebe keine in— diflerenten Traumerreger, also auch keine harmlosen Träume. Dies ist in aller Strenge und Ausschließlichkeit meine Meinung, abgesehen von den Träumen der Kinder und etwa den kurzen § 930§ 931
Hamlm Träume 185
§ 932Traumreaktionen auf nächtliche Sensatiunen. Was man sonst träumt,
ist entweder manifest als psychisch bedeutsam zu erkennen, oder es ist entstellt und dann erst nach vollzogener Traumdeutung zu beurteilen, wnrauf es sich wiederum als bedeutsam zu erkennen gibt. Der Traum gibt sich nie mit Kleinigkeiten ab; um Geringes lassen wir uns im Schlaf nicht stören. [E a] Die scheinbar harmlosen Träume erweisen sich als arg, wenn man sich um ihre Deutung bemüht; wenn man mir die Redensart gestattet, sie haben es „faustdick hinter den Ohren“. Da dies wiederum ein Punkt ist, bei dem ich Widerspruch erwarten darf, und da ich gerne die Gelegenheit ergreife, die Traumentstellung bei ihrer Arbeit zu zeigen, will ich eine Reihe von „harmlosen Träumen“ aus meiner Sammlung hier der Analyse unterziehen. § 933I
§ 934Eine kluge und feine junge Dame, die aber auch im Leben
zu den Reservierten, zu den „stillen Wassern“ gehört, erzählt: Ich habe geträumt, daß ich auf den Markt zu spät komme und beim Fleischhauer sowie bei der Gemüsefrau nichts bekomme. Gewiß ein harmloser Traum, aber so sieht ein Traum nicht aus; ich lasse ihn mir detailliert erzählen. Dann lautet der Bericht folgendermaßen: Sie geht auf den Markt mit ihrer Köchin, die den Korb trägt. Der Fleischhaaer sagt ihr, nachdem sie etwas verlangt hat: Das ist nicht mehr zu haben, und will ihr etwas anderes gehen mit der Bemerkung: Das ist auch gut. Sie lehnt ab und geht zur Gemüsefrau, die will ihr ein eigenüimliches Ge müse verkaufen, das in Bündeln zusammengebunden ist, aber schwarz von Farbe. Sie sagt: Das kenne ich nicht, das nehme ich nicht. § 935Die Tagesanknüpfung des Trau.mes ist einfach genug. Sie war
wirklich zu spät auf den Markt gegangen und hatte nichts mehr bekommen. Die Fleischbank war schon geschlossen, drängt sich einem als Beschreibung des Erlebnisses auf. Doch halt, ist § 936§ 937
184 V. Das Traumßenal und die Truumquzllen
§ 938das nicht eine recht gemeine Redensart, die — oder vielmehr
deren Ggenteil , auf eine Nachlässigkeit in der Kleidung eines Mannes geht? Die Träumerin hat diese Worte übrigens nicht gebraucht, ist ihnen vielleicht ausgewichen; suchen wir nach der Deutung der im Trauma enthaltenen Einzelheiten. § 939Wo etwas im Traum den Charakter einer Rede hat, also
gesagt oder gehört wird, nicht bloß gedacht — was sich meist sicher unterscheiden läßt — das stammt von Reden des wachen Lebens her, die freilich als Rohmaterial behandelt, zerstückelt, leise verändert, vor allem aber aus dem Zusammenhange gerissen werden sind.‘ Man kann bei der Deutungsarbeit von solchen Reden ausgehen. Woher stammt also die Rede des Fleischhauers: Das ist nicht mehr zu haben? Von mir selbst:, ich hatte ihr einige Tage vorher erklärt, „daß die ältesten Kindererlebnisse nicht mehr als solche zu haben sind, sondern durch „Über tragungen“ und Traume in der Analyse ersetzt werden“. Ich bin also der Fleischhauer, und sie lehnt diese Übertragungen alter Denk- und Empfindungsweisen auf die Gegenwart ab. * Woher rührt ihre Traumrede: Das kenne ich nicht, das nehme ich nicht? Diese ist für die Analyse zu zerteilen. „Das kenne ich nicht“ hat sie selbst tags vorher zu ihrer Köchin gesagt, mit der sie einen Streit hatte, damals aber hinzugefügt: Benehmen Sie sich anständig. Hier wird eine Verschiebung greifbar; von den beiden Sätzen, die sie gegen ihre Köchin gebraucht, hat sie den bedeutungslosen in den Traum genommen, der unterdrückte aber: „Benehmen Sie sich anständig!“ stimmt allein zum übrigen Trauminhalt. So könnte man jemandem _zurufen, der unanständige Zumutungen wagt und vergil3t, „die Fleischhank zuzuschließen“. Daß wir der Deutung wirklich auf die Spur gekommen sind, beweist dann der Zusammenhang mit den Anspielungen, die in § 940.) Vergleiche über die Reden im Traum im Abschnitte über die Traumadzeit.
Ein einziger der Autoren „heim die Herkunft der Traumreden erkannt zu haben. Dellmeuf (p. „S), indem er sie mit „„Wie vergleicht. § 941§ 942
Hamlosz Träume 185
§ 943der Begebenheit mit der Gemüsefrau niedergelegt sind. Ein (39
müse, das in Bündeln zusammengebunden verkauft wird (läninch ist7 wie sie nacht " lich hinzufügt), und dabei schwam was kann das anderes sein als die Traumvereinigung von Spargel und schwarzem Rettich? Spargel brauche ich keinem und keiner Wissenden zu deuten, aber auch das andere Gemüse — als Zu ruf: Schwarzer, rett' dich! — scheint mir auf das nämliche sexuelle Thema hinzuweisen, das wir gleich anfangs en-ieten, als wir für die Traumerzälilung einsetzen wollten: die Fleischhank war geschlossen. Es kommt nicht darauf an, den Sinn dieses Traumes vollständig zu erkennen; soviel steht fest, daß er sinn— reich ist und keineswegs harmlas.l § 944II
§ 945Ein anderer harmloser Traum derselben Patientin, in gewisser
Hinsicht ein Gegenstück zum vorigen: Ihr Mann fragt: Soll man dar Klavier nicht stimmen lassen? Sie: Es lohnt nicht, es muß ohneda'es neu beladen werden. Wiederum die Wiederholung eines realen Ereignisses vom Vortag. Ihr Mann hat so gefragt und sie so ähnlich geantwortet. Aber was bedeutet es, daß sie es träumt? Sie erzählt zwar vom Klavier, es sei ein ekelhafter Kasten, der einen schlechten Ton gibt, ein Ding, das ihr Mann schon vor der Ehe besessen hat“ usw., aber den Schlüssel zur Lösung ergibt doch erst die Rede: Es lohnt nicht. Diese stammt von einem gestern gemachten Besuch bei ihrer Freundin, Dort wurde sie aufgefordert, ihre Jacke abzulegen und weigerte § 946,) Fiir Wißhagierigs hemerlu ich, daß hinter dem Traume sich eine Phumi.
verbirgt von ununti‘ndigem, sexuell prnvozierendem Benehmen meinerleitl und von Abwehr von Seite der Dame. Wem dien Deutung unerh5rt erscheinen sollte, den mahne ich im die zahlreichen Fälle, wo Ärzte snlche Anklagen von hytterilchen Frauen erfahren haben, bei denen die nämlich: thtuie nicht mutellt und ah Traum aufgetreten, landen unverhülh bewußt und wuli.ulult geworden in. [E4] § 9472) Eine Ersetzung durch das Gegenteil, wie uns nach der Deutung im wurden
wird. § 948§ 949
186 V. Das Traummatzriul und die Traumquzllen
§ 950sich mit den Worten: Danke, es lohnt nicht, ich muß gleich
gehen. Bei dieser Erzählung muß mir einfallen, daß sie gestern während der Analysenarbeit plötzlich an ihre Jacke griff, an der sich ein Knopf geöanet hatte. Es ist also, als wollte sie sagen: Bitte, sehen Sie nicht hin, es lohnt nicht So ergänzt sich der Kasten zum Brustkasten, und die Deutung des Traumes führt direkt in die Zeit ihrer körperlichen Entwicklung, da sie anfing, mit ihren Körperformen unzufrieden zu sein. Es führt auch wohl in frühere Zeiten, wenn wir auf das „Ekelhaft“ und den „schlechten Ton“ Rücksicht nehmen und uns daran erinnern, wie häufig die kleinen Hemisphären des weiblichen Körpers — als Gegensatz und als Ersatz — für die großen eintreten, — in der Anspielung und im Traum. § 951HI
§ 952Ich unterbreche diese Reihe, indem ich einen kurzen
harmlosen Traum eines jungen Mannes einschiebe. Er hat geträumt, daß er wieder seinen Ff’interrock anzieht, war schrecklich ist. Anlaß dieses Traumes ist angeblich die plötzlich wieder einge tretené Kälte. Ein feineres Urteil wird indes bemerken, daß die beiden kurzen Stücke des Traumes nicht gut zueinander passen, denn in der Kälte den schweren oder dicken Rock tragen, Was könnte daran „schrecklich“ sein. Zum Schaden für die Harm losigkeit dieses Traumes bringt auch der erste Einfal.l bei der Analyse die Erinnerung, daß eine Dame ihm gestern vertraulich gestanden, daß ihr letztes Kind einem geplanten Kondom seine Existenz verdankt. Er rekonstruiert nun seine Gedanken bei diesem Anlasse: Ein dünner Kondom ist gefährlich, ein dicker schlecht. Der Kondom ist der „Überzieher“ mit Recht, man zieht ihn ja über; so heißt man auch einen leichten Rock. Ein Ereignis wie das von der Dame berichtete wäre für den unverheirateten Mann allerdings „schrecklich“. § 953Nun wieder zurück zu unserer harmlosen Träumerin.
§ 954§ 955
Hamlose Träume 187
§ 956IV
§ 957Sie steckt eine Kerze in den Leuchter; die Kerze ist aber
gebrochen, so daß sie nicht gut steht. Die Mädchen in der Schule sagen, sie sei ungeschickt; das Fräulein aber, es sei nicht ihre Schuld. § 958Ein realer Anlaß auch hier; sie hat gestern wirklich eine
Kerze in den Leuchter gesteckt; die war aber nicht gebrochen. Hier ist eine durchsichtige Symbolik verwendet worden. Die Kerze ist ein Gegenstand, der die weiblichen Genitalien reizt; wenn sie gebrochen ist, so daß sie nicht gut steht, so bedeutet dies die Impotenz des Mannes („es sei nicht ihre Schuld“). Ob nur die sorgfältig erzogene und allem Häßlichen fremd gebliebene junge Frau diese Verwendung der Kerze kennt? Zufällig kann sie noch angeben, durch welches Erlebnis sie zu dieser Kenntnis gekommen ist. Bei einer Kahnfahrt auf dem Rhein fährt ein Boot an ihnen vorüber, in dem Studenten sitzen, welche mit großem Behagen ein Lied singen oder brüllen: „Wenn die Königin von Schweden, bei geschlossenen Fensterläderi mit Apollo kerLen . . .“ § 959Das letzte Wort hört oder versteht sie nicht, Ihr Mann muß
ihr die verlangte Aufklärung geben. Diese Verse sind dann im Trauminhalt ersetzt durch eine harmlose Erinnerung an einen Auftrag, den sie einmal im Pensionat ungeschickt eusführte, und zwar vermöge des Gemeinsamen: geschlossene Fensterläden. Die Verbindung des Themas von der Onanie mit der Impotenz ist klar genug. „Apollo“ im latenten Traumi.nhalt verknüpft diesen Traum mit einem früheren, in dem von der jungfräulichen Pallas die Rede war. Alles wahrlich nicht harmlos. § 960V
Damit man sich die Schlüsse aus den Träumen auf die wirk lichen Lebensverhältnisse der Träumer nicht zu leicht vorstelle, füge ich noch einen Traum an, der gleichfalls harmlos scheint § 961§ 962
188 V. Das Traummazerial und die Traumquzllen
§ 963und von derselben Person herrührt. Ich habe etwas geträumt,
erzählt sie, was ich bei Tag wirklich getan habe, nämlich einen kleinen Kofler so voll mit Büchern gefüllt, daß ich Mühe hatte, ihn zu schließen, und ich habe es so geträumt, wie es wirklich uorgefzzllen ist. Hier legt die Erzählerin selbst das Hauptgewicht auf die Übereinstimmung von Traum und Wirklichkeit. Alle solchen Urteile über den Traum, Bemerkungen zum Traum, ge— hören nun, obwohl sie sich einen Platz im wachen Denken geschaffen haben, doch regelmäßig in den latenten Trauminhalt, wie uns noch spätere Beispiele bestätigen werden. Es wird uns also gesagt, das, was der Traum erzählt, ist am Tag vorher wirklich vorgefallen. Es wäre nun zu weitläufig mitzuteilen, auf welchem Wege man zum Einfalle kommt, bei der Deutung das Englische zur Hilfe zu nehmen. Genug, es handelt sich wieder um eine kleine bar (vgl. S, 157 f. den Traum vom toten Kind in der Schachtel), die so angefüllt werden ist, daß nichts mehr hineinging. Wenigstens nichts Arges diesmal. § 964In all dies'en „harmlosen“ Träumen schlägt das sexuelle Moment
als Motiv der Zensur so sehr auffällig von Doch ist dies ein Thema von prinzipieller Bedeutung, welches wir zur Seite stellen müssen. § 965B
Das Infantile als Traumquelle § 966Als dritte unter den Eigentümlichkeiten des Trauminhaltes
haben wir mit allen Autoren (bis auf Robert) angeführt, daß im Traume Eindrücke aus den frühesten Lebensaltern erscheinen können, über welche das Gedächtnis im Wachen nicht zu ver fügen scheint. Wie selten oder wie häufig sich dies ereignet, ist hegreiflicherweise schwer zu beurteilen, weil die betreffenden Elemente des Trau.mes nach dem Erwachen nicht in ihrer Her— kunft erkannt werden. Der Nachweis, daß es sich hier um Eindrücke der Kindheit handelt, muß else auf objektivem Wege § 967§ 968
Das Infantile als Truunuyuellz 189
§ 969erbracht werden, wozu sich die Bedingungen nur in seltenen
Fällen zusammenfinden können. Als besonders beweiskräftig wird von A. Maury die Geschichte eines Mannes erzählt, welcher eines Tages sich entschloß, nach zwanzigiähriger Abwesenheit seinen Heimatsort aufzusuchen. In der Nacht vor der Abreise träumte er, er sei in einer ihm ganz unbekannten Ortschaft und begegne daselbst auf der Straße einem unbekannten Herrn, mit dem er sich unterhalte. In seine Heimat zurückgekehrt7 konnte er sich nun überzeugen, daß diese unbekannte Ortschaft in nächster Nähe seiner Heimatstadt wirklich existiere, und auch der unbekannte Mann des Traumes stellte sich als ein dort lebender Freund seines verstorbenen Vaters heraus. Wohl ein zwingender Beweis dafür, daß er beide, Mann wie Ortschaft, in seiner Kindheit gesehen hatte. Der Traum ist übrigens als Ungedulds traum zu deuten, wie der des Mädchens, welches das Billett für den Konzertabend in der Tasche trägt (S. 156 f.); des Kindes, welchem der Vater den Ausflug nach dem Hameau versprochen hat u. dgl. Die Motive, Welche dem Träumer gerade diesen Eindruck aus seiner Kindheit reproduzieren, sind natürlich ohne Analyse nicht aufzudecken. § 970Einer meiner Kolleghörer, welcher sich rühmte, daß seine
Träume nur sehr selten der Traumentstellung unterliegen, teilte mir mit, daß er vor einiger Zeit im Traume gesehen, Sein Ehe— maliger Hofmeister befinde sich im Bett; der Barum, die bis zu seinem elften Jahre im Hause gewesen war. Die Örtlichkeit für diese Szene fiel ihm noch im Traume ein. Lebhaft interessiert teilte er den Traum seinem älteren Bruder mit, der ihm lachend die Wirk lichkeit des Geträumten bestätigte. Er erinnere sich sehr gut daran, denn er sei damals sechs Jahre alt gewesen. Das Liebespaar pflegte ihn, den älteren Knaben, durch Bier betrunken zu machen,_ wenn die Umstände einem nächtlichen Verkehre günstig waren. Das kleinere, damals dreijährige Kind — unser Träumer, — das im Zimmer der Bonne schlief, wurde nicht als Störung betrachtet. § 971§ 972
190 V. Das Traummanzrial und die Traumquellen
§ 973Noch in einem anderen Falle läßt es sich mit Sicherheit ohne
Beihilfe der Traumdeutung feststellen, daß der Traum Elemente aus der Kindheit enthält, wenn nämlich der Traum ein soge nannter perennierender ist, der, in der Kindheit zuerst geträumt, später immer wieder von Zeit zu Zeit während des Schlafes des Erwachsenen auftritt. Zu den bekannten Beispielen dieser Art kann ich einige aus meiner Erfahrung hinzufügen, wenngleich ich an mir selbst einen solchen perennierenden Traum nicht kennen gelernt habe, Ein Arzt in den Dreißigern erzählte mir, daß in seinem Traumlehen von den ersten Zeiten seiner Kindheit an bis zum heutigen Tage häufig ein gelber Löwe erscheint, über den er die genaueste Auskunft zu geben vermag. Dieser ihm aus Träumen bekannte Löwe fand sich nämlich eines Tages in natura als ein lange verschollener Gegenstand aus Porzellan vor, und der junge Mann hörte damals von seiner Mutter, daß dieses Objekt das begehrteste Spielzeug seiner frühen Kinder-zeit gewesen war, woran er sich selbst nicht mehr erinnern konnte. Eine meiner Patientinnen hatte Vier- oder fünfmal im Laufe ihrer achtunddreißig Jahre die nämliche ängstliche Szene ge träumt7 daß sie verfolgt werde, sich in ein Zimmer flüchte, die Türe zumache, dann öffne, um den außen steckenden Schlüssel abzuziehen, daß sie unter der Empfindung, wenn es ihr nicht gelinge, werde etwas Sehreckliches geschehen, den Schlüssel er hasche7 um von innen zuzuschließen, und daß sie dann erleichtert aufatme. Ich weiß nicht anzugeben, in welches frühe Lebens alter diese kleine Szene, bei der sie natürlich nur Zuschauerin gewesen ist, verlegt werden muß. [E 5] § 974Wendet man sich nun von dem manifesten Trauminhalt zu
den Traumgedanken, welche erst die Analyse aufdeckt, so kann man mit Erstaunen die Mitwirkung von Kindheitserlebnissen auch bei solchen Träumen konstatieren, deren Inhalt keine derartige Vermutung erweckt hätte. Dem geehrten Kollegen vom „gelben Löwen“ verdanke ich ein besonders liebenswürdiges und lehr— § 975§ 976
Du: Infantile als Traumquellz 191
§ 977reiches Beispiel eines solchen Traumes. Nach der Lektüre von
Nansens Reisebericht über seine Polarexpedition träumte er, in einer Eiswüste galvanisiere er den kühnen Forscher wegen einer Ischias, über welche dieser klage! Zur Analyse dieses Traumes fiel ihm eine Geschichte aus seiner Kindheit ein, ohne welche der Traum allerdings unverständlich bleibt. Als er ein drei- oder Vierjähriges Kind war, hörte er eines Tages neugierig zu, wie die Erwachsenen von Entdeckungsreisen sprachen, und fragte dann den Papa, ob das eine schwere Krankheit sei. Er hatte oflenbar Reisen mit „Reißen“ verwechselt, und der Spott seiner Ge— schwister sorgte dafür, daß ihm das beschämende Erlebnis nicht in Vergessenheit geriet. § 978Ein ganz ähnlicher Fall ist es, wenn ich in der Analyse des Traumes
von der Monographie über die Gattung Zyklamen auf eine erhalten gebliebene Jugenderinnerung stoße, daß der Vater dem fünfiährigen Knaben ein mit farbigen Tafeln ausgestattetes Buch zur Zerstörung überläßt. Man wird etwa den Zweifel aufwerfen, ob diese Erinnerung wirklich an der Gestaltung des Trauminhaltes Anteil genommen hat, ob nicht vielmehr die Arbeit der Analyse eine Beziehung erst nach— trüglich herstellt. Aber die Reichhaltigkeit und Verschlungenheit der Assoziationsverknüpfungen bürgt für die erstere Auffassung. (Zyklamen — Lieblingsblume —- Lieblingsspeise —— Artischocke; zer— pflücken wie eine Artischocke, Blatt für Blatt [eine Wendung, die einem anläßlich der Teilung des chinesischen Reiches täglich ans Ohr schlägt]; —— Herbariurn * Bücherwurm, dessen Lieblingsspeise Bücher sind.) Außerdem kann ich versichern, daß der letzte Sinn des Traumes, den ich hier nicht ausgeführt habe, zum Inhalt der Kinderszene in intimster Beziehung steht. § 979Bei einer anderen Reihe von Träumen wird man durch die
Analyse belehrt, daß der Wunsch selbst, der den Traum erregt hat, als dessen Erfüllung der Traum sich darstellt, aus dem Kinder leben stammt, so daß man zu seiner Überraschung im Traum das Kind mit seinen Impulsen weiterlebend findet. § 980§ 981
199 V. Das Traummazerial und die Traumquellen
§ 982Ich setze an dieser Stelle die Deutung eines Traumes fort, aus
dem wir bereits einmal neue Belehrung geschöpft haben, ich meine den Traum: Freund R. ist mein Onkel. Wir haben dessen Deu tung soweit gefördert, daß uns das Wunschmotiv, zum Professor ernannt zu werden, greifbar entgegenttat, und wir erklärten uns die Zärtlichkeit des Traumes für Freund B. als eine Oppositions und Trotzschöpfung gegen die Schmähung der beiden Kollegen, die in den Traumgedanken enthalten war. Der Traum war mein eigener; ich darf darum dessen Analyse mit der Mitteilung fort setzen, daß mein Gefühl durch die erreichte Lösung noch nicht befriedigt war. Ich wußte, daß mein Urteil über die in den Traumgedanken mißhandelten Kollegen im Wachen ganz anders gelautet hatte; die Macht des Wunsches, ihr Schicksal in betrefl' der Ernennung nicht zu teilen, erschien mir zu gering, um den Gegensatz zwischen wacher und Traumschätzung voll aufzuklären. Wenn mein Bedürfnis, mit einem anderen Titel angeredet zu werden, so stark sein sollte, so beweist dies einen krankhaften Ehrgeiz, den ich nicht an mir kenne, den ich ferne von mit glaube. Ich weiß nicht, wie andere, die mich zu kennen glauben, in diesem Punkt über mich urteilen würden; vielleicht habe ich auch wirklich Ehrgeiz besessen; aber wenn, so hat er sich längst auf andere Objekte als auf Titel und Rang eines Professor ertra ordinarius geworfen. § 983Woher dann also der Ehrgeiz, der mir den Traum eingegeben
hat? Da fällt mir ein, was ich so oft in der Kindheit erzählen gehört habe, daß bei meiner Geburt eine alte Bäuerin der über den Erstgeborenen glücklichen Mutter prophezeit, daß sie der Welt einen großen Mann geschenkt habe. Solche Prophezeiungen müssen sehr häufig verfallen; es gibt so viel erwartungsfrohe Mütter und so viel alte Bäuerinnen oder andere alte Weiber, deren Macht auf Erden vergangen ist, und die sich darum der Zukunft zugewendet haben. Es wird auch nicht der Schade der Prophetin gewesen sein. Sollte meine Größensehnsucht aus dieser § 984§ 985
Der infantile Ehrgeiz im 0nkzlzrawn 193
§ 986Quelle stammen? Aber da besinne ich mich eben eines anderen
Eindruckes aus späteren Jugendjahren, der sich zur Erklärung noch besser eignen würde: Es war eines Abends in einem der Wirtshäuser im Prater, wohin die Eltern den elf- oder zwölf— jährigen Knaben mitzunehmen pflegten, daß uns ein Mann auffiel, der von Tisch zu Tisch ging und für ein kleines Honorar Verse über ein ihm aufgegebenes Thema improv-isierte. Ich wurde ab geschickt, den Dichter an unseren Tisch zu bestellen., und er erwies sich dem Boten dankbar. Ehe er nach seiner Aufgabe fragte, ließ er einige Reime über mich fallen und erklärte es in seiner Inspiration für wahrscheinlich, daß ich noch einmal „Minister“ werde. An den Eindruck dieser zweiten Prophezeiung kann ich mich noch sehr wohl erinnern. Es war die Zeit des Bürger— ministeriums, der Vater hatte kurz vorher die Bilder der bürger lichen Doktoren Herbst, Giskra, Unger, Berger u. a. nach Hause gebracht, und wir hatten diesen Herren zur Ehre illumi niert. Es waren sogar Juden unter ihnen; jeder fleißige Juden knabe trug also das Minister-pnrtefeuille in seiner Schultasche. Es muß mit den Eindrücken jener Zeit sogar zusammenhängen, daß ich bis kurz vor der Inskription an der Universität Willens war, Jura zu studieren, und erst im letzten Moment umsattelte. Dem Mediziner ist ja die Ministerlaufbahn überhaupt verschlossen. Und nun mein Traum! Ich merke es erst jetzt, daß er mich aus der trüben Gegenwart in die hoflhungsfi‘ohe Zeit des Bürger mi.nisteriums zurückversetzt und meinen Wunsch von damals nach seinen Kräften erfüllt. Indem ich die beiden gelehrten und achtenswerten Kollegen, Weil sie Juden sind, so schlecht behandle, den einen, als ob er ein Schwachkopf, den anderen, als ob er ein Verbrecher wäre, indem ich so verfahre, benehme ich mich, als ob ich der Minister wäre, habe ich mich an die Stelle des Mi— nisters gesetzt. Welch gründliche Rache an Seiner Exzellenzl Er verweigert es, mich zum Profzsmr attraordinarius zu ernennen, und ich setze mich dafür im Traum an seine Stelle. Freud, u. 15 § 987§ 988
194 V. Das Tranmmaterial untl die Traumqlwlkn
§ 989In einem anderen Falle konnte ich merken, daß der Wunsch,
welcher den Traum erregt, obzwar ein gegenwärtigen doch eine mächtige Verstärkung aus tiefreichenden Kindererinnerungen be zieht. Es handelt sich hier um eine Reihe von Träumen, denen die Sehnsucht, nach Rom zu kommen, zugrunde liegt, Ich werde diese Sehnsucht wohl noch lange Zeit durch Träume befriedigen müssen, denn um die Zeit des Jahres, welche mir für eine Reise zur Verfügung steht, ist der Aufenthalt in Rom aus Rücksichten der Gesundheit zu meiden. [: 9] So träume ich denn einmal, daß ich vom Coupéfenster aus Tiber und Engelsbrücke sehe; dann setzt sich der Zug in Bewegung, und es fallt mir ein, daß ich die Stadt ja gar nicht betreten habe. Die Aussicht, die ich im Trauma sah, war einem bekannten Stiche nachgebildet, den ich tags zuvor im Salon eines Patienten flüchtig bemerkt hatte. Ein andermal führt mich jemand auf einen Hügel und zeigt mir Rom, vom Nebel halb verschleiert und noch so ferne, daß ich mich über die Deutlichkeit der Aussicht wundere. Der Inhalt dieses Traumes ist reicher, als ich hier ausführen möchte. Das Motiv, „das gelobte Land von ferne sehen“, ist darin leicht zu erkennen. Die Stadt, die ich so zuerst im Nebel gesehen habe, ist — Lübeck; der Hügel findet sein Vorbild in — Gleichenberg. In einem dritten Traum bin ich endlich in Rom, wie mir der Traum sagt. Ich sehe aber zu meiner Enttäuschung eine keineswegs städtische Szenerie, einen kleinen Fluß mit dunklem Wasser, auf der einen Seite desselben schwarze Felsen, atf der anderen Wiesen mit grqßen weißen Blumen. Ich bemerke einen Herrn Zucker (den ich oberflächlich kenne) und beschließe, ihn um den Weg in die Stadt zu fragen. Es ist offenbar, daß ich mich vergebens bemühe, eine Stadt im Traume zu sehen, die ich im Wachen nicht ge— sehen habe, Wenn ich das Landschaftsbild des Tranmes in seine Elemente zersetze, so deuten die weißen Blumen auf das mir be— kannte Ravenne, das wenigstens eine Zeitlang als Italiens Haupt— stadt Rom den Vorrang abgenommen hatte. In den Siimpfen um § 990§ 991
Sehruuchtsträumz um Rom 1 95
§ 992Ravenna haben wir die schönsten Seerosen mitten im schwarzen
Wasser gefunden; der Traum läßt sie auf Wiesen wachsen wie die Narzissen in unserem Aussee, weil es damals so mühselig war, sie aus dem Wasser zu holen. Der dunkle Fels, so nahe am Wasser, erinnert lebhaft an das Tal der Tepl bei Karlsbad, „Karlsbad“ setzt mich nun in den Stand, mit den sonderbaren Zug zu erklären, daß ich Herrn Zucker um den Weg frage. Es sind hier in dem Material, aus dem der Traum gesponnen ist, zwei jener lustigen jüdischen Anekdoten zu erkennen, die soviel tiefsinnige, oft bittere Lebensweisheit verbergen, und die wir in Gesprächen und Briefen so gerne zitieren. Die eine ist die Ge schichte von der „Konstitution“, des Inhalts, wie ein armer Jude ohne Fahrbillet den Einlaß in den Eilzu.g nach Karlsbad erschleicht, dann ertappt, bei jeder Revision vom Zuge gewiesen und immer härter behandelt wird, und der dann einem Bekannten, welcher ihn auf einer seiner Leidensstationen antr'ifl"t, auf die Frage, wohin er reise, zur Antwort gibt: „Wenn’s meine Konstitution aushält —— nach Karlsbad.“ Nahe dabei ruht im Gedächtnis eine andere Geschichte, von einem des Französischen unkundigen Juden, dem eingeschärft wird, in Paris nach dem Wege zur Rue Bicheiieu zu fragen. Auch Paris war lange Jahre hindurch ein Ziel meiner Sehnsucht, und die Seligkeit, in welcher ich zuerst den Fuß auf das Pflaster von Paris setzte, nahm ich als Gewähr, daß ich auch die Erfüllung anderer Wünsche erreichen werde. Das Urn-den—Weg-Fragen ist ferner eine direkte Anspielung an Rom, denn nach Rom führen bekanntlich alle Wege. Übrigens deutet der Name Zucker wiederum auf Karlsbad, wnhin wir doch alle mit der konstitutiunellen Krankheit Diabetes Be— hafteten schicken. Der Anlaß dieses Traumes war der Vor schlag meines Berliners Freundes, uns zu Ostern in Prag zu treffen. Aus den Dingen, die ich mit ihm zu besprechen hatte, würde sich eine weitere Beziehung zu „Zucker“ und „Diabetes“ ergeben. § 993§ 994
196 V. Das Traunvmatzrial und die Traun-quellen
§ 995Ein vierter Traum, kurz nach dem letzterwähnten, bringt mich
wieder nach Rom. Ich sehe eine Straßenecke vor mir und wundere mich darüber, daß dort so viele deutsche Plakate an geschlagen sind. Tags vorher hatte ich meinem Freund in pro phetischer Voraussicht geschrieben, Prag dürfte für deutsche Spaziergänger kein bequemer Aufenthaltsort sein. Der Traum drückte also gleichzeitig den Wunsch aus, ihn in Rom zu treffen anstatt in einer böhmischen Stadt, und das wahrscheinlich aus der Studentenzeit stammende Interesse daran, daß in Prag der deutschen Sprache mehr Duldung gewährt sein möge. Die tsche chische Sprache muß ich übrigens in meinen ersten Kinder-jahren verstanden haben, da ich in einem kleinen Orte Mährens mit slawischer Bevölkerung geboren bin. Ein tschechischer Kindervers, den ich in meinem siebzehnten Jahre gehört, hat sich meinem Gedächtnis mühelos so eingeprägt, daß ich ihn noch heute hersagen kann, obwohl ich keine Ahnung von seiner Bedeutung habe. Es fehlt also auch diesen Träumen nicht an mannigfaltigen Beziehungen zu den Eindrücken meiner ersten Lebensjahre. § 996Auf meiner letzten Italienreise, die mich unter anderem am
Trasimener See vorüberführ‘te, fand ich endlich, nachdem ich den Tiber gesehen und schmerzlich bewegt achtzig Kilometer weit von Rom umgekehrt war, die Verstärkung auf, welche meine Sehn sucht nach der ewigen Stadt aus Jugendeindrücken bezieht. Ich erwog gerade den Plan, ein nächstes Jahr an Rom vorbei nach Neapel zu reisen, als mir ein Satz einfiel, den ich bei einem unserer klassischen Schriftsteller [E 7] gelesen haben muß: Es ist fraglich, wer eifriger in seiner Stube auf und ab lief, nachdem er den Plan gefaßt, nach Rom zu gehen, der Korrektor Winckelmann oder der Feldberr Hannibal. Ich war ja auf den Spuren Hanni— bals gewandelt; es war mir so wenig wie ihm beschieden, Rom zu sehen, und auch er war noch Kampanien gezogen, nachdem alle Welt in Rom ihn erwartet hatte. Hannibal, mit dem ich diese Ähnlichkeit erreicht hatte, war aber der Lieblingsheld § 997§ 998
Das infantil.e Moment zu den Ramzräumen 197
§ 999meiner Gymnasialiahre gewesen; wie so viele in jenem Alter,
hatte ich meine Sympathien während der punischen Kriege nicht den Römern, sondern dem Karthager zugewendet. Als dann im Obergymnas'um das erste Verständnis für die Konsequenzen der Abstammung aus landesfremder Rasse erwucbs. und die anti— semitischen Begungen unter den Kameraden mahnten, Stellung zu nehmen, da hob sich die Gestalt des semitischen Feldhen'n noch höher in meinen Augen, Hannibal und Rom symbolisierten dem Jüngling den Gegensatz zwischen der Zähigkeit des Juden— tums und der Organisation der katholischen Kirche. Die Be deutung, welche die antisemitische Bewegung seither für unser Gemütsleben gewonnen hat, verhalf dann den Gedanken und Empfindungen jener früheren Zeit zur therung. So ist der Wunsch, nach Rom zu kommen, für das Traumleben zum Deck— mantel und Symbol für mehrere andere heißer5ehnte Wünsche geworden, an deren Verwirklichung man mit der Ausdauer und Ausschließlichkeit des Puniers arbeiten möchte, und deren Er» füllung zeitweilig vom Schicksal ebensowenig begünstigt scheint wie der Lebenswunsch Hannibals, in Rom einzuziehen. § 1000Und nun stoße ich erst auf das .lugenderlebnis, das in all
diesen Empfindungen undTräumen noch heute seine Macht äußert. Ich mochte zehn oder zwölf Jahre gewesen sein, als mein Vater begann, mich auf seine Spaziergänge mitzunehmen und mir in Gesprächen seine Ansichten über die Dinge dieser Welt zu er öffnen. Sc erzählte er mir einmal, um mir zu zeigen, in Wieviel bessere Zeiten ich gekommen sei als er: Als ich ein junger Mensch war, bin ich in deinem Geburtsort am Samstag in der Straße spazieren gegangen, schön gekleidet, mit einer neuen Pelzmütze auf dem Kopf, Da kommt ein Christ daher, haut mir mit einem Schlag die Mütze in den Kot, und ruft dabei: lud, herunter vom Trottoir! „Und was hast du getan?“ Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben, war die gelassene Antwort. Das schien mir nicht heldenhaft von dem großen starken § 1001§ 1002
198 V. Das Traumrmztzr'ml und diz Traumquellen
§ 1003Mann, der mich Kleinen an der Hand führte. Ich stellte dieser
Situation, die mich nicht befriedigte, eine andere gegenüber, die meinem Empfinden besser entsprach, die Szene, in welcher Hanni bals Vater, Hamilkar Barkas, seinen Knaben vor dem Hausaltar schwören läßt, an den Römern Rache zu nehmen. [5 &] Seitdem hatte Hannibal einen Platz in meinen Phantasien. § 1004Ich meine, daß ich diese Schwärmerei für den karthagischen
General noch ein Stück weiter in meine Kindheit zurück ver folgen kann, so daß es sich auch hier nur um die Übertragung einer bereits gebildeten Affektrelation auf einen neuen Träger handeln dürfte. Eines der ersten Bücher, das dem lesefa'higen Kind in die Hände fiel, war Thiers’ „Konsulat und Kaiserreich“; ich erinnere mich, daß ich meinen Holzsoldaten kleine Zettel mit. den Namen der kaiserlichen Maischälle auf den flachen Rücken geklebt, und daß damals schon Masse'na (als Jude: Menasse) mein erklärter Liebling war. [E 9] Napoleon selbst schließt sich durch den Übergang über die Alpen an Hannibal an. Und vielleicht ließe sich die Entwicklung dieses Kriegerideals noch weiter zurück in die Kindheit verfolgen bis auf Wünsche, die der bald freund— schaftliche, bald kriegerische Verkehr während der ersten drei Jahre mit einem um ein Jahr älteren Knaben bei dem schwächeren der beiden Gespielen hervorrufen mußte. § 1005Je tiefer man sich in die Analyse der Träume einläßt, desto
häufiger wird man auf die Spur von Kindheitserlebnissen geführt, welche im latenten Trauminhalt eine Rolle als Traumquellen spielen. § 1006Wir haben gehört (S. gef.), daß der Traum sehr selten Er—
innerungen so reproduziert, daß sie unverkürzt und unverändert den alleinigen manifesten Trauminhalt bilden. Immerhin sind einige Beispiele für dieses Vorkommen sicher gestellt, zu denen ich einige neue hinzufügen kann, die sich wiederum auf Infantjl— Szenen beziehen. Bei einem meiner Patienten brachte einmal ein Traum eine kaum entstthe Wiedergabe eines sexuellen Vorfalles, die sofort als getreue Erinnerung erkannt wurde. Die Erinnerung § 1007§ 1008
Die Spuren von Kindheitrerlzbm‘sren in Träumen 199
§ 1009daran war im Wachen zwar nie völlig verloren gewesen, aber
doch stark verdu.nkelt werden, und ihre Neubelehung war ein Erfolg der vorausgegangenen analytischen Arbeit. Der Träumer hatte mit zwölf fahren einen hettlägerigen Kollegen besucht, der sich wahrscheinlich nur zufällig bei einer Bewegung im Bene enthlößte. Beim Anblick seiner Genitalien von einer Art Zwang ergriffen, entblößte er sich selbst und faßte das Glied des anderen, der ihn aber unwillig und verwundert ansah, worauf er verlegen wurde und abhel3. Diese Szene wiederholte ein Traum dreiundzwanzig Jahre später auch mit allen Einzelheiten der in ihr vorkommenden Empfindungen, veränderte sie aber dahin, daß der Träumer anstatt der aktiven die passive Rolle übernahm, während die Person des Schulkollegen durch eine der Gegenwart angehörige ersetzt wurde. In der Regel freilich ist die Infantilszene im manifesten Traum inhalt nur durch eine Anspielung vertreten, und muß durch Deutung aus dem Traum entwickelt werden. Die Mitteilung solcher Beispiele kann nicht sehr heweiskräftig ausfallen, weil ja für diese Kindererlehnisse meistens jede andere Gewähr fehlt; sie werden7 wenn sie in ein frühes Alter fallen, von der Erinnerung nicht mehr anerkannt. Das Recht, überhaupt aus Träumen auf solche Kindererlehnisse zu schließen, ergibt sich bei der psycho— analytischen Arbeit aus einer ganzen Reihe von Momenten, die in ihrem Zusammenwirken verläßlich genug erscheinen. Zum Zwecke der Traumdeutung aus ihrem Zusammenhange gerissen, werden solche Zurückführungen von Träumen auf Kindererlehnisse vielleicht wenig Eindruck machen, besonders da ich nicht 'einmal alles Material mitteile, auf welches sich die Deutung stützt. Indes will ich mich von der Mitteilung darum nicht abhalten lassen. § 10101
§ 1011Bei einer meiner Patientinnen haben alle Träume den Charakter
des „Gehetzten“; sie hetzt sich, um zurecht zu kommen, den Eisenhahnzug nicht zu Versäumen, u. dgl. In einem Traume soll § 1012§ 1013
zoo V. Da; Traumrnaterial umi die Traumquellen
§ 1014sie ihre Freundin besuchen; die Mutter hat ihr gesagt, sie soll
fahren, nicht gehen; sie läuft aber und fällt dabei in einem fort. — Das bei der Analyse auftauchende Material gestattet, die Erinnerung an Kinderhetzereien zu erkennen (man weiß, was der Wiener „eine Hetz“ nennt), und gibt speziell für den einen Traum die Zurückführung auf den bei Kindern beliebten Sehen, den Satz: „Die Kuh rannte, bis sie fiel“ so rasch auszu sprechen, als ob er ein einziges Wort wäre, was wiederum ein „Hetzen“ ist. Alle diese harmlosen Hetzereien unter kleinen Freundinnen werden erinnert, weil sie andere, minder harmlose, § 1015ersetzen.
II § 1016Von einer anderen folgender Traum: Sie ist in einem großen
Zimmer, in dem allerlei Maschinen stehen, etwa so, wie sie sich eine orthopädische Anstalt vorstellt. Sie hört, daß ich keine Zeit habe, und daß sie die Behandlung gleichzeitig mit fünf anderen machen muß. Sie Sträubt sich aber und will sich in das für sie bestimmte Bett — oder was es ist — nicht legen. Sie steht in einem Winkel und wartet, daß ich sage, es ist nicht wahr. Die anderen lachen sie unterdes aus, es sei Fazerei von ihr. —— Daneben, als ob sie viele kleine Quadrate machen würde. § 1017Der erste Teil dieses Trauminhaltes ist eine Anknüpfnng an
die Kur und Übertragung auf mich. Der zweite enthält die An spielung an die Kinderszene; mit der Erwähnung des Bettes sind die beiden Stücke aneinander gelütet. Die orthopädische Anstalt geht auf eine meiner Reden zurück, in der ich die Behandlung ihrer Dauer wie ihrem Wesen nach mit einer orthopädischen verglichen hatte. Ich mußte ihr zu Anfang der Behandlung mit § 1018. teilen, daß ich vorläufig wenig Zeit für sie habe, ihr aber
später eine ganze Stunde täglich widmen würde. Dies machte die alte Empfindlichkeit in ihr rege, die ein Hauptcharakterzug der zur Hysterie bestimmten Kinder ist. Sie sind unersättl.ich nach Liebe. Meine Patientin war die jüngste von sechs Geschwistern § 1019§ 1020
Aufdzclamg von Kindheitsérlabnisszn in der Traumdan am
§ 1021(daher: mit fünf anderen) und als solche der Liebling des
Vaters, scheint aber gefunden zu haben, daß der geliebte Vater ihr noch zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit Widme. — Daß sie wartet7 bis ich sage, es ist nicht wahr, hat folgende Ableitung: Ein kleiner Schneiderjunge hatte ihr ein Kleid gebracht, und. sie ihm dafür das Geld mitgegeben. Dann fragte sie ihren Mann, ob sie das Geld nochmals bezahlen müsse, wenn er es verliere. Der MannY um sie zu necken, versicherte: ja (die Neckerei im Trauminhah), und sie fragte immer wieder von neuem und wartete darauf, daß er endlich sage, es ist nicht wahr. Nun läßt sich für den latenten Trauminhalt der Gedanke konstruieren, ob sie mir wohl das Doppelte bezahlen müsse, wenn ich ihr die doppelte Zeit widme, ein Gedanke, der geizig oder schmutzig ist. (Die Unreinlichkeit der Kinderzeit wird sehr häufig vom Traum durch Geldgeiz ersetzt; das Wort „schmutzig“ bildet dabei die Brücke.) Wenn all das vom Warten, bis ich sage usw., das Wort „schmutzig“ im Traum umschreiben soll, so stimmt das InkWinkel-stehen und das Sich—nicht-ins-Bett-legen dazu als Bestandteil einer Kinderszene, in der sie das Bett schmutzig gemacht hätte, zur Strafe in den Winkel gestellt wird unter der Androhung, daß sie der Papa nicht. mehr lieb haben werde, die Geschwister sie auslachen mw. Die kleinen Qumdrate zielen auf ihre kleine Nichte, die ihr die Rechenkunst gezeigt, wie man in neun Quadrate, glaube ich, Zahlen so einschreibt, daß sie nach allen Richtungen addiert, fünfzehn ergeben. § 1022III
Der Traum eines Mannes: Er sieht zwei Knabzn, die sich balgen, und zwar Faßbinderknabzn, wie er aus den herumliegenden Gerätschaften schließt,- einer der Knaben hat den anderen nieder gewo;fen, dzr liegende Knabe hat Ohrringe mit blauen Steinen. Er gilt dem Illz'rsetäter mit zrhobenzm Stock nach, um ihn zu züchn'gzn. Dieser flüchtet zu einer Frau, die bei einem Bretter— § 1023§ 1024
am V. Das Traummaterial und die Traumquellen
§ 1025man steht, als ob sie seine Mutter wäre. Es ist eine Taghä'hners—
frau, die dem Träumzr den Rücken zuwendet. Endlich kehrt sie sich um und schaut ihn mit: einem gräßlz'chen Blick an, so daß er erschreckt davonläuft. An ihren Augen sieht man vom unterm Lid das rote Fleisch varstehßn. § 1026Der Traum hat triviale Begebenheiten des Vorbages reichlich
verwertet. Er hat gestern wirklich zwei Knaben auf der Straße gesehen, von denen einer den anderen hinwarf. Als er hinzueilte, um zu schlichten, ergriifen sie die Flucht. — Faßbinderknaben: wird erst durch einen nachfolgenden Traum erklärt, in dessen Analyse er die Bedensart gebraucht: Dem Fall den Boden aus— schlagen. — Ohrringe mit blauen Steinen tragen nach seiner Beobachtung meist die Prostituierten. So fügt sich ein bekannter Klapphornvers von zwei Knaben an: Der andere Knabe, der hieß Marie (d. h. war ein Mädchen). — Die stehende Frau: Nach der Szene mit den beiden Knaben ging er am Donauufer spazieren und benützte die Einsamkeit dort, um gegen einen Bretterzaun zu urinieren. Auf dem weiteren Weg lächelte ihn eine anständig ge kleidete ältere Dame sehr freundlich an und wollte ihm ihre Adreßkarte überreichen. § 1027Da die Frau im Traume so steht wie er beim Urinieren, so
handelt es sich um ein u.ri.nierendes Weib, und dazu gehört dann der gräßliche „Anblick“, das Vorstehen des roten Fleisches, was sich nur auf die beim Kauem klaffenden Genitalien beziehen kann7 die, in der Kinderzeit gesehen, in der späteren Erinnerung als „wildes Fleisch“, als „Wunde“ wieder,auftreten. Der Traum vereinigt zwei Anlässe, bei denen der kleine Knabe die Genitalien kleiner Mädchen sehen konnte, beim Hinwerfen und bei deren Urinieren, und wie aus dem anderen Zusammenhange hervor geht, bewahrt er die Erinnerung an eine Züchtigung oder Drohung des Vaters wegen der von dem Buben bei diesen Anlässen be § 1028wiesenen sexuellen Neugierde.
§ 1029§ 1030
Kind]:eitserlebnisre hinter den Träumen sm5
§ 1031IV
§ 1032Eine ganze Summe von Kindererinnerungen, zu einer Phantasie
nctdürftig vereinigt, findet sich hinter folgendem Traum eina‘ älteren Dame. § 1033Sie geht in Helze aus, Kommissionen zu machen. Auf dem
Graben sinkt sie dann, wie zusammengebrochen, in die Knie. Viele Leute sammeln sich um sie, besonders die Fiakerkutscher; aber niemand hilft ihr auf. Sie macht viele uergebliche Versuche, endlich muß es gelungen sein, denn man ,reizt sie in einen Fiaker, der sie nach Hause bringen soll; durch Femter wirfi man ihr einen großen, schwer gefüllten Korb nach (ähnlich einem Ein kaufskarb). § 1034Es ist dieselbe, die in ihren Träumen immer gehetzt wird, wie
sie als Kind gehetzt hat. Die erste Situation des Traumes ist offenbar von dem Anblick eines gestürzten Pferdes hergenommen, wie auch das „Zusarnmenbrechen“ auf Wem-ennen deutet. Sie war in jungen Jahren Reiterin, in noch jüngeren wahrscheinlich auch Pferd. Zu dem Hinstümen gehört die erste Kindheitserinne rung an den siehzelmjährigen Sohn des Purtiers, der, auf der Straße von epileptischen Krämpfen befallen, im Wagen nach Hause ge bracht wurde. Davon hat sie natürlich nur gehört, aber die Vor stellung von epileptischen Krämpfen, vom „Hinfallenden“ hat große Macht. über ihre Phantasie gewonnen und später ihre eigenen hysterischen Anfälle in ihrer Form beeinflußt — Wenn eine Frauensperson vom Fallen träumt, so hat das wohl regel mäßig einen sexuellen Sinn, sie wird eine „Gefallene“; für unseren Traum wird diese Deutung am wenigsten zweifelhaft sein, denn sie fällt auf dem Graben, jenem Platze von Wien, der als Korso der Prostitution bekannt ist. Der Einkaufskorb gibt mehr als eine Deutung; als Korb erinnert er an die vielen Körbe, die sie zuerst ihren Freiern ausgeteilt, und später, wie sie meint, sich auch selbst geholt hat. Dazu gehört dann auch, daß § 1035§ 1036
304 V. Das I'raummatzrial und die Trawuellen
§ 1037ihr niemand aufhelfen will, was sie selbst als Verschmähtwerden
auslegt. Ferner erinnert der Einkaufskorb an Phantasien, die der Analyse bereits bekannt geworden sind, in denen sie tief unter ihrem Stande geheiratet hat und nun selbst zu Markte einkaufen geht. Endlich aber könnte der Einkaufskorb als Zeichen einer dienenden Person gedeutet werden. Dazu kommen nun weitere Kindheitserinnerungen, an eine Köchin, die weggeschickt wurde, weil sie stahl; die ist auch so in die Knie gesunken und hat gefleht. Sie war damals zwölf Jahre alt. Dann an ein Stuben rnädchen, das weggeschickt wurde, weil es sich mit dem Kut scher des Hauses abgab, der sie übrigens später heiratete. Diese Erinnerung ergibt uns also eine Quelle für die Kutscher im Traum (die sich im Gegensatz zur Wirklichkeit der Gefallenen nicht annehmen). Es bleibt aber noch das Nachwerfen des Korbes, und zwar durchs Fenster, zu erklären. Das mahnt sie an das Expedieren des Gepäcks auf der Eisenbahn, an das „Fensterln“ auf dem Lande, an kleine Eindrücke von dem Landaufenthalte, wie ein Herr einer Dame blaue Pflaumen durchs Fenster in ihr Zimmer wirft, wie ihre kleine Schwester sich gefürchtet, weil ein vorübergehender Trottel durchs Fenster ins Zimmer sah. Und nun taucht dahinter eine dunkle Erinnerung aus dem zehnten Lebensjahre auf, von einer Bonne, die auf dem Lande Liebes szenen mit einem Diener des Hauses aufführte, von denen das Kind doch etwas gemerkt haben konnte, und die mitsamt ihrem Liebhaber „expediert“, „hinausgeworfen“ wurde (im Traum der Gegensatz: „hineingevvorfen“), eine Geschichte, der wir uns auch von mehreren anderen Wegen her genähert hatten, Das Gepäck, der Koffer einer dienenden Person, wird aber in Wien geringschätzig als die „sieben Zwetschken“ bezeichnet. „Pack’ deine sieben Zwetschken zusammen und ge '.“ § 1038An solchen Träumen von Patienten, deren Analyse zu dunkel
oder gar nicht mehr erinnerten Kindereindrücken, oft aus den ersten drei Lebensjahren, führt, hat meine Sammlung natürlich § 1039§ 1040
Kindheitszrinnerungen im Pmmtraum 905
§ 1041überreichen Vorrat. Es ist aber mißlich, Schlüsse aus ihnen zu‘
ziehen, die für den Traum im allgemeinen gelten sollen; es han— delt sich ja regelmäßig um neurotische, speziell hysterische Per sonen, und die Rolle, welche den Kinderszenen in diesen Träumen zufällt, könnte durch die Natur der Neurose und nicht durch das Wesen des Traumes bedingt sein. Indes begegnet es mir bei der Deutung meiner eigenen Träume, die ich duch nicht wegen grober Leidenssyinptome unternehme, ebenso oft, daß ich im latenten Träuminhalt unvermutet auf eine Infantilszene stoße, und daß mir eine ganze Serie von Träumen mit einemmal in die von einem Kindererlebnis ausgehenden Bahnen einmündet. Beispiele hiefür habe ich schon erbracht und ich werde noch bei verschie denen Anlässen weitere erbringen. Vielleicht kann ich den ganzen Abschnitt nicht besser beschließen, als durch Mitteilung einiger eigenen Träume, in denen rezente Anlässe und langvergessene Kindererlebnisse mitsanu:nen als Traumquellen auftreten. § 1042I ) Nachdem ich gereist bin, müde und hungrig das Bett auf—
gesucht habe, melden sich im Schlafe die großen Bedürfnisse des Lebens und ich träume: Ich gehe in eine Küche, um mir Mehl— speise geben zu lassen. Dort stehen drei Frauzn, von denen eine die }Virtin ist und etwas in der Hand dreht, als ob sie Krfidzl machen würde. Sie antwortet, daß ich warten soll, hir sie fertig ist (nicht deutlich als Rede). Ich werde ungeduldig und gehe beleidigt weg. Ich ziehe einen Überer an,- der erste, den ich versuche, ist mir aber zu lang. Ich ziehe ihn wieder aus, etwas überrascht, daß er Pelzbesatz hat. Ein zweiter, den ich anziehe, hat einen langen Strzifzn mit türkischer Zeichnung eingelezt. Ein Fremder mit langem Gesicht und kurzem Spitzbart kommt hinzu und hindert mich am Anziehen, indem er ihn für den seinen erklärt. Ich zeige ihm nun, daß er über und über türkisch gestickt ist. Er fragt: Was gehen Sie: die türkischen ( Zeich nungen, Strei zn . . .) an:" Wir sind aber dann ganz freundlich miteinander. § 1043§ 1044
906 V. Das Traummaterial und die Traumquellen
§ 1045In der Analyse dieses Traumes fällt mir ganz unerwartet der
erste Roman ein, den ich, vielleicht dreizehnjährig, gelesen, d. h. mit dem Ende des ersten Bandes begonnen habe. Den Namen des Romans und seines Autors habe ich nie gewußt, aber der Schluß ist mir nun in lebhafter Erinnerung. Der Held verfällt in Wahnsinn und ruft beständig die drei Frauennamen, die ihm im Leben das größte Glück und das Unheil bedeutet haben. Pélagie ist einer dieser Namen. Noch weiß ich nicht, was ich mit diesem Einfall in der Analyse beginnen werde. Da tauchen zu den drei Frauen die drei Parzen auf, die das Geschick des Menschen spinnen, und ich weiß, daß eine der drei Frauen, die Wirtin im Traum, die Mutter ist, die das Leben gibt, mitunter auch, wie bei mir, dem Lebenden die erste Nahrung. An der Frauenbrust treffen sich Liebe und Hunger. Ein junger Mann, erzählt die Anekdote, der ein großer Verehrer der Frauenschün— heit wurde, äußerte einmal, als die Rede auf die schöne Amme kam, die ihn als Säugling genälrirt: es tue ihm leid, die gute Gelegenheit damals nicht besser ausgenützt zu haben. Ich pflege mich der Anekdote zur Erläuterung für das Moment der NaCl]— träglichkeit in dem Mechanismus der Psychoneurosen zu be— dienen. — Die eine der Parzen also reiht die Handflächen anein» ander, als ob sie Knödel machen würde. Eine sonderbare Beschäf tigung für eine Parze, welche dringend der Aufklärung bedarf! Diese kommt nun aus einer anderen und früheren Kindererinne— rung. Als ich sechs Jahre alt war und den ersten Unterricht bei meiner Mutter genoß, sollte ich glauben, daß wir aus Erde ge macht sind und darum zur Erde zurückkehren müssen. Es behagte mir aber nicht, und ich zweifelte die Lehre an. Da rieb die Mutter die Handflächen aneinander -— ganz ähnlich wie beim Knödelmachen, nur daß sich kein Teig zwischen ihnen befindet — und zeigte mir die schwärzlichen Epidermisschuppen, die sich dabei abreiben, als eine Probe der Erde, aus der wir gemacht sind, vor. Mein Erstaunen über diese Demonstration ad aculos § 1046§ 1047
Analyse des Hungertrawn: von den Parzzn 507
§ 1048war grenzenlos und ich ergab mich in das, was ich später in
den Worten ausgedrückt hören sollte: Du bist der Natur einen Tod schuldig.‘ So sind es also wirklich Parzen, zu denen ich in die Küche gehe, wie so Oft in den Kinderjahren, wenn ich hungrig war, und die Mutter beim Herd mich mahnte zu warten, bis das Mittagessen fertig sei. Und nun die Knödel! Wenigstens einer meiner Universitätslehrer, aber gerade der, dem ich meine histo— logischen Kenntnisse (Epidermis) verdanke, wird sich bei dem Namen Knödl an eine Person erinnern, die er belangen mußte, weil sie ein Plagiat an seinen Schriften begangen hatte. Ein Plagiat begeben, sich aneignen, was man bekommen kann, auch wenn es einem andern gehört, leitet offenbar zum zweiten Teil des Traumes, in dem ich wie der Überrockdieb behandelt werde, der eine Zeitlang in den Hörs‘a'len sein Wesen trieb. Ich habe den Ausdruck Plagiat niedergeschrieben, absichtslos, weil er sich mir darbot, und nun merke ich, daß er dem latenten Traum— inhalte angehören muß, weil er als Brücke zwischen verschie denen Stücken des manifesten Trauminhaltes dienen kann. Die Assoziatinnskette Pe'lagie—P lagiat—Plagiostomen* (Haifische) fFischblase verbindet den alten Roman mit der Afi'äre Knödl und mit den Überziehem, die ja offenbar ein Gerät der sexuellen Technik bedeuten. (Vgl. Maurys Traum von Kilo—Lotto, S. 54.) Eine höchst gezwungene und unsinnige Verbindung zwar, aber doch keine, die ich im Wachen herstellen könnte, wenn sie nicht schon durch die Treumiirbeit hergestth wäre. Ja, als ob dem Drang, Verbindungen zu envvingen, gar nichts heilig wäre, dient nun der teure Name Brücke (Wortbrücke siehe oben) dazu, mich an dasselbe Institut zu erinnern, in dem ich meine glück« liebsten Stunden als Schüler verbracht, sonst ganz bedürfnislos § 10491) Beide zu diesen Kinderszazen gehörigen Afiekte, das Erstaunen und die Er
gehung ins Unvermeidliche, fanden sich in einem Traum kurz vnrher, der mir zu< erst die Erinnerung an dieses Kindererlebnis wiederhrechte. § 1050z) Die Plagiostomen ergänze ich nicht willkürlich; sie mahnen mich An eine
ärgerliche Gelegenheit von Blunqu vor demselben Lehrer. § 1051§ 1052
908 V. Das Traummaren'al und die Traumquelkn
§ 1053(„So wird‘s Euch an der Weisheit Brüsten mit jedem Tage mehr
gelösten“), im vollsten Gegensatz zu den Begierden, die mich, während ich träume, plagen. Und endlich taucht die Erinnerung an einen anderen teuren Lehrer auf, dessen Name wiederum an etwas Eßbares anklingt (Fleischl, wie Knödl) und an eine trau rige Szene, in der Epidermisschuppen eine Rolle spielen (die Mutter — Winin) und Geistesstörung (der Roman) und ein Mittel aus der lateinischen Küche, das den Hunger benimmt, das Kokain. § 1054So könnte ich den verschlungenen Gedankenwegen weiter
folgen und das in der Analyse fehlende Stück des Traumes voll aufklären, aber ich muß es unterlassen, weil die persönlichen Opfer, die es erfordern würde, zu groß sind. Ich greife nur einen der Fäden auf, der direkt zu einem der dem Gewirre zugrunde liegenden Traumgedanken fiihren kann. Der Fremde mit langem Gesicht und Spitzhart, der mich am Anziehen hindern will, trägt die Züge eines Kaufmannes in Spalato, bei dem meine Frau reichlich türkische Stoffe eingekauft hat. Er hieß Popnvié, ein verdächtiger Name, der auch dem Huxnoristen Stettenheim zu einer andeutungsvollen Bemerkung Anlaß gegeben hat. („Er nannte mir seinen Namen und drückte mir errötend die Hand.“) Übrigens derselbe Mißbrauch mit Namen wie chen mit Pélagie, Knödl, Brücke, Fleischl. Daß solche Namenspielerei Kinder unart ist, darf man ohne Widerspruch behaupten; wenn ich mich in ihr ergehe, ist es aber ein Akt der Vergeltung, denn mein eigener Name ist unzählige Male solchen schwachsinnigen Witzeleien zum Opfer gefallen. Goethe bemerkte einmal, wie empfindlich man für seinen Namen ist, mit dem man sich ver wachsen fühlt wie mit seiner Haut, als Herder auf seinen Namen dichtete: § 1055„Der du von Göttern abstammst, von Gothen oder vom Kate“ ——
§ 1056„So seid ihr Götterbilder auch zu Staub.“
§ 1057§ 1058
Ein rzvolutianärzr Traum 909
§ 1059Ich merkeY daß die Abschweifung über den Mißbrauch von
Namen nur diese Klage vorbereiten sollte. Aber brechen wir hier ab. — Der Einkauf in Spalato mahnt mich an einen anderen Einkauf in Cattaro, bei dem ich allzu zurückhaltend war und die Gelegenheit zu schönen Erwerbungen versäumte. (Die Gelegen heit bei der Ann-ne versäumt, s. 0.) Einer der Traumgedanken, die dem Träumer der Hunger eing‘lbt, lautet nämlich: Man soll sich nichts entgehen lassen, nehmen, was man haben kann, auch wenn ein kleines Unrecht dabei mitläuft; man soll keine Gelegenheit Versäumen, das Leben ist so kur7„ der Tod unvermeidlich. Weil es auch sexuell gemeint ist, und weil die Begierde vor dem Unrecht nicht Halt machen will, hat dieses carpe diem die Zensur zu fürchten und muß sich hinter einem Traum verbergen. Dazu kommen nun alle Gegengedanken zu Wort, die Erinnerung an die Zeit, da die geistige Nahrung dem Träumer allein genügte, alle Abhaltungen und selbst die Drohungen mit den ekelhaften sexuellen Strafen. § 1060II) Ein zweiter Traum erfordert einen längeren Vorbericht:
§ 1061Ich bin auf den Westbahnhof gefahren, um meine Ferienreise
nach Aussee anzutreten, gehe aber schon zum früher. abgehanden Ischler Zug auf den Per-ron. Dort sehe ich nun den Grafen Thun dastehen, der wiederum zum Kaiser nach Ischl fährt. Er war trotz des Regens im offenen Wagen angekommen, direkt durch die Eingangs— tür für Lokalzüge hinausgetreten und hatte den Türhüter, der ihn nicht kannte und ihm das Billett abnehmen wollte, mit einer kurzen Handbewegung ohne Erklärung von sich gewiesen. Ich soll dann, nachdem er im Ischler Zuge abgefahren ist, den Permn wieder ver lassen und in den Wartesaal zurückgehen, setze es aber mühselig durch, daß ich bleiben darf. Ich vertreibe mir die Zeit, aufzupsssen, wer da kommen wird, um sich auf dem Protektionswege ein Coupé anweisen zu lassen; nehme mir vor, dann Lärm zu schlagen, d. h. gleiches Recht zu verlangen. Unterdes singe ich mir etwas vor, was ich dann als die Arie aus Figures Hochzeit erkenne: § 1062Freud4 II.
§ 1063§ 1064
210 V. Da: Traummatzrial und di; Tr4wmqucllen
§ 1065Will der Herr Graf ein Tänzelein wagen, Tänzelein wagen,
Soll m nur sagen, Ich spiel’ ihm eins auf, § 1066(Ein anderer hätte den Gesang vielleicht nicht erkannt.)
§ 1067Ich war den ganzen Abend in übermütiger, streitlustiger Stim—
mung gewesen, hatte Kellner und Kutscher gefrnzzelt, hoffentlich ohne ihnen wehe zu tun; nun gehen mir allerlei freche und revolutionäre Gedanken durch den Kopf, wie sie zu den Worten Figaros passen und zur Erinnerung an die Komödie von Beau— marchais, die ich in der Comz'die frangaise aufführen gesehen. Das Wort von den großen Herren, die sich die Mühe gegeben haben, geboren zu werden; das Herrenrecht, das der Graf Alma viva bei Susanne zur Geltung bringen will; die Scherze, die unsere bösen oppositicnellen Tagschreiber mit dem Namen des Grafen Thun anstellen, indem sie ihn Graf N ichtsthun nennen. Ich be— Beide ihn wirklich nicht; er hat jetzt einen schweren Gang zum Kaiser und ich bin der eigentliche Graf Nichtsthun; ich gehe auf Ferien. Allerlei lustige Ferienvorsätze dazu. Es kommt nun ein Herr, der mir als Regierungsvertreter bei den medizinischen Prüfungen bekannt ist, und der sich durch seine Leistungen in dieser Rolle den schmeichelhaften Beinamen des „Regierungsbei— schläfers“ zugezogen hat. Er verlangt unter Berufung auf seine amtliche Eigenschaft ein Halbcoupe' erster Klasse, und ich höre den Beamten zu einem andern sagen: Wo geben wir den Herrn mit der halben Ersten hin? Eine nette Bevorzugung; ich zahle meine erste Klasse ganz. Ich bekomme dann auch ein Coupé für mich, aber nicht in einem durchgehenden Wagen, so daß mir die Nacht über kein Abort zur Verfügung steht. Meine Klage beim Beamten hat keinen Erfolg; ich räche mich, indem ich ihm den Vorschlag mache, in' diesem Coupé wenigstens ein Loch im Boden anbringen zu lassen, für etwaige Bedürfnisse der Reisenden. Ich erwache auch wirklich um dreiviertel drei Uhr morgens mit Harnd.rang aus nachstehenden: Traum: § 1068§ 1069
Ein revolutionärer Traum 21 1
§ 1070Menschenmenge, Studentenversammlung. — Ein Graf ( Thun
oder Taafle) redet. Aufgefordert, etwas über die Deutschen zu sagen, erklärt er mit höhnischer Gebärde für ihre Lieblingsblume den Huflatt‘ich und steckt dann etwas wie ein zerfetztes Blatt, eigentlich ein zusammengekniilltes Blattgerippe ins Knopfloch. Ich fahre auf, fahre also auf,‘ wundere mich aber doch über diese meine Gesinnung. Dann undeutlicher: Als ob es die Aula wäre, die Zugänge besetzt, und man müßte fliehen. Ich bahne mir den Weg durch eine Reihe von schön eingerichteten Zimmern, ofi'en— bar Regierungszimmern, mit Möbeln in einer Farbe zwischen braun und violett, und komme endlich in einen Gang, in dem eine Haushälterin, ein älteres dickes Frauenzimmer, sitzt. Ich ver meide es, mit ihr zu sprechen; sie hält mich aber ofi‘enbar für berechtigt, hier zu passieren, denn sie fragt, ob sie mit der Lampe mitgehen soll, Ich deute oder sage ihr, sie soll auf der Treppe stehen bleiben, und komme mir dabei sehr schlau vor, daß ich die Kontrolle am Erde uermeide. So bin ich drunten und finde einen schmalen, steil aufsteigenden Weg, den ich gehe. § 1071Wieder undeutlich . . . Als ob jetzt die zweite Aufgabe käme,
aus der Stadt wegzukommen, wie früher am dem Haus. Ich fahre in einem Einspänner und gebe ihm Auftrag, zu einem Bahnhof zu fahren. „Auf der Bahnstrecke selbst kann ich nicht mit Ihnen fahren“, sage ich, nachdem er einen Einwand gemacht hat, als ob ich ihn übermüdet hätte, Dabei ist es, als wäre ich schon eine Strecke mit ihm gefahren, die man sonst mit der Bahn fährt. Die Bahnhöfe sind besetzt,— ich überlege, ob ich nach Krems oder Znaim soll, denke aber, dort wird der Hof sein, und ent scheide mich für Graz oder so etwas. Nun sitze ich im Waggon, der ähnlich einem Stadtbahnwagen ist, und habe im Knopfloch ein eigenlümlich geflochtenes, langes Ding, daran violettbraune Veilchen § 10721)Diese Wiederholung hat sich, unheinbar au! z»m„mlmz, in den Text del
Trauma eingeschlicben und wird von mir belucen, &. die Am1yn zeigt„ du]! ne ihre Bedeutung lm. § 1073„'
§ 1074§ 1075
219 V. Das Traummaterial und die Traumquellen
§ 1076aus starrem St:71fl was den Leuten sehr auffällt. Hier bricht die
Szene ab. § 1077Ich bin wieder vor dem Bahnhofe, aber zu zweit mit einem
älteren Herrn, erfinde einen Plan, um unerkannt zu bleiben, sehe diesen Plan aber auch schon ausgeführt. Denken und Erleben ist gleichsam eins. Er stellt sich blind, wenigstens auf einem Auge, und ich halte ihm ein männliches Uringlas vor (das wir in der Stadt kaufen mußten oder gekauft haben). Ich bin also ein Krankenpfleger und muß ihm das Glas geben, weil er blind ist. Wenn der Kondukteur uns so sieht, muß er uns als unauffällig entknmmen lassen. Dabei ist die Stellung des Betrefi’enden und sein urlnierendes Glied plastisch gesehen. Darauf das Erwachen mit Harndrang. § 1078Der ganze Traum macht etwa den Eindruck einer Phantasie,
die den Träumer in das Revolutionsjahr 184.8 versetzt, dessen Andenken ja durch das Jubiläum des Jahres 1898 erneuert war, wie überdies durch einen kleinen Ausflug in die Wachau, bei dem ich Emmersdorf [: w] kennengelernt hatte, den Ruhesitz des Studentenführers Fisehhof, auf den einige Züge des manifesten Traumiuhaltes weisen mögen. Die Gedankenverbindung führt mich dann nach England, in das Haus meines Bruders, der seiner Frau schemhaft vorzuhalten pflegte „Fifty years age“ nach dem Titel eines Gedichtes von Lord Tennyson. worauf die Kinder zu rektifizieren gewöhnt waren: Eli/teen years ago. Diese Phan— tasie, die sich an die Gedanken anschließt, welche der Anblick des Grafen Thun hervorgerufen hatte, ist aber nur wie die Fassade italienischer Kirchen ohne organischen Zusammenhang dem Gebäude dahinter vorgesetzt; anders als diese Fassaden ist sie übrigens lückenhaft, verworren, und Bestandteile aus dem Inneren drängen sich an vielen Stellen durch. Die erste Situation des Traumes ist aus mehreren Szenen zusammengehraut, in die ich sie zerlegen kann. Die hochmütige Stellung des Grafen im Traum ist kopiert nach einer Gymnasialszene aus meinem fünf— § 1079§ 1080
Analyse des revolutionären Traumes 515
§ 1081zehnten Jahr. Wir hatten gegen einen mißliebigen und igno
ranten Lehrer eine Verschwörung angezettelt, deren Seele ein Kollege war, der sich seitdem Heinrich VIII. von England zum Vorhilde genommen zu haben scheint. Die Führung des Haupt schlages fiel mir zu, und eine Diskussion über die Bedeutung der Donau für Österreich (Wachau!) war der Anlaß, bei dem es zur offenen Empörung kam. Ein Mitverschworener war der einzige aristokratische Kollege, den wir hatten, wegen seiner auf fälligen Längenentwicklung die „Giraffe“ genannt, und der stand, vom Schultyrannen, dem Professor der deutschen Sprache, zur Rede gestellt, so da wie der Graf im Traume. Das Erklären der Li eblingshlume und In‘s-Knopi'loch4tecken von etwas, was wieder eine Blume sein muß (was an die Orchideen erinnert, die ich einer Freundin am selben Tag gebracht hatte, und außerdem an eine Rose von Jericho), mahnt auffällig an die Szene aus den Königs dramen Shakespeares, die den Bürgerkrieg der roten und der weißen Bose eröffnet; die Erwähnung Heinrichs VIII. hat den Weg zu dieser Reminiszenz gebahnt, Dann ist es nicht weit von den Rosen zu den roten und weißen Nelken. (Dazwischen schieben sich in der Analyse zwei Verslein ein, eins deutsch, das andere spanisch: Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken. * Isabelita, no llorev que se marchitan las floras. Das Spanische vom „Figaro“ her.) Die weißen Nelken sind bei uns in Wien das Abzeichen der Antisemiten, die roten das der Sozialdemo kraten geworden. Dahinter eine Erinnerung an eine antisemitischa Herausforderung während einerEisenbahnfahrt im schönen Sachsen Iande (Angelsachsen). Die dritte Szene, welche Bestandteile für die Bildung der ersten Traumsitmtion abgegeben hat, fällt in meine erste Studentenzeit. In einem deutschen Studentenverein gab es eine Diskussion über das Verhältnis der Philosophie zu den Naturwissenschaften. Ich grüner Junge, der materialisn'sehen Lehre voll, drängte mich vor, um einen höchst einseitigen Standpunkt zu vertreten. Da erhob sich ein überl%ener älterer § 1082§ 1083
214 V. Das Traummaterial und die Traumquellen
§ 1084Kollege, der seitdem seine Fähigkeit erwiesen hat, Menschen
zu lenken und Massen zu organisieren, der übrigens auch einen Namen aus dem Tierreich trägt, und machte uns nichtig herunter; auch er habe in seiner Jugend die Schweine gehütet und sei dann reuig ins Vaterhaus zurückgekehrt. Ich fuhr auf (wie im Traum), wurde saugrob und antwortete, seitdem ich wüßte, daß er die Schweine gehütet, wunderte ich mich nicht mehr über den Ton seiner Reden. (Im Traum wundere ich mich über meine dentschnationale Gesinnung.) Großer Auf ruhr; ich wurde von vielen Seiten aufgefordert, meine Worte zurückzunehmen, blieb aber standhaft. Der Beleidigte war zu verständig, um das Ansinnen einer Herausforderung, das man an ihn richtete, anzunehmen, und ließ die Sache auf,sich beruhen. § 1085Die übrigen Elemente der Traumszene stammen aus tieferen
Schichten. Was soll es bedeuten, daß der Graf den „Huflattich“ proklamiert? Hier muß ich meine Assoziatiunsreihe befragen. Huf laltich—lattice—Salat—Salathund (der Hund, der anderen nicht gönnt, was er doch selber nicht frißt). Hier sieht man durch auf einen Vorrat an Schimpfwörtern: Gir-affe, Schwein, Sau, Hund; ich wüßte auch auf dem Umweg über einen Namen zu einem Esel zu gelangen und damit wieder zu einem Hohn auf einen akademischen Lehrer. Außerdem übersetze ich mir —— ich weiß nicht, ob mit Recht, , Huflattich mit „pisse-en—lit“. Die Kenntnis kommt mir aus dem „Germinal“ chas, in dem die Kinder aufgefordert werden, solchen Salat mitzubringen. Der Hund , chief: — enthält in seinem Namen einen Anklang an die größere Funktion (chier, wie pisxer für die kleinere). Nun werden wir bald das Unanständige in allen drei Aggregatzuständen beisammen haben; denn im selben „Ger minal“, der mit der künftigen Revolution genug zu tun hat, ist ein ganz eigentümlicher Wettkampf beschrieben, der sich auf die Produktion gasförmiger Exkretionen, Flatus genannt, § 1086§ 1087
Analyse das revolutionären Tram „15
§ 1088bezieht.‘ Und nun muß ich bemerken, wie der Weg zu diesem
Flatus seit langem angelegt ist, von den Blumen aus über das spanische Verslein, die Isabelita, zu Isabella und Ferdinand, über Heinrich VIII., die englische Geschichte zum Kampf der Armada gegen England, nach dessen siegreicher Beendigung die Engländer eine Medaille prägten mit der Inschrift: Flavit et dixsipati sum, da der Sturmwind die spanische Flotte zerstreut hatte. [E 11] Diesen Spruch gedachte ich aber zur halb schenhaft gemeinten Überschrift des Kapitels „Therapie“ zu nehmen, wenn ich je dazu gelangen sollte, ausführliche Kunde von meiner Auf fassung und Behandlung der Hysterie zu geben. § 1089Von der zweiten Szene des Traumes kann ich eine so aus
führliche Auflösung nicht geben, und zwar aus Rücksichten der Zensur. Ich setze mich nämlich an die Stelle eines hohen Herrn jener Revolutionszeit, der auch ein Abenteuer mit einem Adler gehabt„ an invontz'nentia alvi gelitten haben soll u. dgl., und ich glaube, ich wäre nicht berechtigt, hier die Zensur zu pas sieren, obwohl ein Hofrat (Aula, consiliarz'us aulicus) mir den größeren Teil jener Geschichten erzählt hat. Die Reihe von Zimmern im Traum verdankt ihre Anregung dem Salonwagen Seiner Exzellenz, in den ich einen Moment hineinblicken konnte; sie bedeutet aber, wie so häufig im Traum, Frauenzimmer (ärarische Frauenzimmer). Mit der Felsen der Haushälterin statte ich einer geistreichen älteren Dame schlechten Dank für die Be— wirtung und die vielen guten Geschichten ab, die mir in ihrem Hause geboten werden sind. —— Der Zug mit der Lampe geht auf Grillparzer zurück, der ein reizendes Erlebnis ähnlichen Inhaltes notiert und dann in „Hero und Leander“ (des Meeres § 1090und der Liebe Wellen —— die Armada und der Sturm) ver—
wendet hat. [Em] § 10911) Nicht im „Germinal“, sondern in „L. Terre“. aa. Irrtum, der mit erst
nach der Analyse hemerklicll wird. _ ich mache übrigens auf die identischen Buch Stuben in Hall-lich und rum aufmerksam. § 1092§ 1093
916 V. Das Traummaterial und die Traumquzlkn
§ 1094Auch die detaillierte Analyse der beiden übrigen Traumstiicke
muß ich zurückhalten; ich werde nur jene Elemente herausgreifen, die zu den beiden Kindernenen führen, um deren Willen ich den Traum überhaupt aufgenommen habe. Man wird mit Recht vermuten, daß es sexuelles Material ist, welches mich zu dieser Unterdrückung nötigt; man braucht sich aber mit dieser Auf klärung nicht zufrieden zu geben. Man macht doch sich selbst aus vielem kein Geheimnis, was man vor anderen als Geheimnis behandeln muß, und hier handelt es sich nicht um die Gründe, die mich nötigen, die Lösung zu verbergen, sondern um die Motive der inneren Zensur, welche den eigentlichen Inhalt des Traumes vor mir selbst verstecken. Ich muß also darum sagen, daß die Analyse diese drei Traumstiicke als imperu'nente anhlereien, als Ausfluß eines lächerlichen, in meinem wachen Lehen längst unterdrückten Größenwahnes erkennen läßt, der sich mit einzelnen Ausläufern bis in den manifesten Trauminhalt wagt (ich kumme mir schlau vor), allerdings die übermütige Stimmung dä Abends vor den Träumen trefiiich verstehen läßt. Prahlerei zwar auf allen Gebieten; so geht die Erwähnung von Graz auf die Redens art „Was kostet Graz?“, in der man sich gefällt, wenn man sich überreich mit Geld versehen glaubt. Wer an Meister Rabelais unübertroffene Schilderung von dem Leben und Taten des Gar gantua und seines Sohnes Pantag-ruel denken will, wird auch den angedeuteten Inhalt des ersten Traumstückes unter die Prah.lereien einreihen können. Zu den zwei versprochenen Kinderszenen ge hört aber folgendes: Ich hatte für diese Reise einen neuen Koffer gekauft, dessen Farbe, ein Braunviolett, im Traum mehrmals auftritt (violettbraune Veilchen aus starrem Stoß neben einem Ding, das man „Mädchenfa‘nger“ heißt — die Möbel in den R@ierungszimmem). Daß man mit etwas Neuem den Leuten auffällt, ist ein bekannter Kinder-glaube. Nun ist mir folgende Szene aus meinem Kinderleben erzählt worden, deren Erinnerung ersetzt ist durch die Erinnerung an die Erzählung. Ich soll __. § 1095§ 1096
I nfnnziles Material zum Traum 1 1 7
§ 1097im Alter von zwei Jahren —— noch gelegentlich das Bett naß
gemacht haben, und als ich dafür Vorwürfe zu hören bekam, den Vater durch das Versprechen getröstet haben, daß ich ihm in N. (der nächsten größeren Stadt) ein neues, schönes, rotes Bett kaufen werde. (Daher im Traum die Einschaltung, daß wir das Glas in der Stadt gekauft haben oder kaufen mußten; was man versprochen hat, muß man halten.) [Man beachte übrigens die Zusammenstellung des männlichen Glases und des _ weiblichen Koffers, bez.] Der ganze Größenwahn des Kindes ist in diesem Versprechen enthalten. Die Bedeutung der Ham schwierigkeiten des Kindes für den Traum ist uns bereits bei einer früheren Traumdeutung (vergleiche den Traum S. 900) aufgefallen. [E13] § 1098Dann gab es aber einmal einen anderen häuslichen Anstand,
als ich sieben oder acht Jahre alt war, an den ich mich sehr wohl erinnere. Ich setzte mich abends vor dem Schlafengehen über das Gebot der Diskretion hinweg, Bedürfnisse nicht im Schlafzimmer der Eltern in deren Anwesenheit zu verrichten, und der Vater ließ in seiner Strafrede dariiber die Bemerkung fallen: Aus dem Buben wird nichts werden. Es muß eine furcht bare Kränkung für meinen Ehrgeiz gewesen sein, denn Anspie lungen an diese Szene kehren immer in meinen Träumen wieder und sind regelmäßig mit Aufzählung meiner Leistungen und Erfolge verknüpft, als wollte ich sagen: Siehst du, ich bin doch etwas geworden. Diese Kinderszene gibt nun den Stoff für das letzte Bild des Traumes, in dem natürlich zur Rache die Rollen verlauscht sind. Der ältere Mann, offenbar der Vater, da die Blindheit auf einem Auge sein einseitiges Glaukcm bedeutet,‘ uriniert jetzt vor mir, wie ich damals vor ihm. Mit dem Glaukom mahne ich ihn an das Kokain, daß ihm bei der Operation zu— § 1099.) Andere Deutung: Er in einingig wie cam, der Götter-vater. _ cam“
Trost. — Der Trust aus der Kinderlzene, fhß ich ihm ein neues Bett kaufen werde. § 1100§ 1101
218 V. Da: Traummatzrinl und die Traumquellm
§ 1102gute kam, als hätte ich damit mein Versprechen erfüllt. Außerdem
mache ich mich über ihn lustig; weil er blind ist, muß ich ihm das Glas verhalten und schwelge in Anspielungen an meine Erkennt» nisse in der Lehre von der Hysterie, auf die ich stolz bin.‘ Wenn die beiden Urinierszenen aus der Kindheit bei mir ohne— dies mit dem Thema der Größensucht eng verbunden sind, so kam ihrer Erweckung auf der Reise nach Aussee noch der zu fällige Umstand zugute, daß mein Coupé kein Klosett besaß, und ich vorbereitet sein mußte, während der Fahrt in Verlegenheit zu kommen, was dann am Morgen auch eintraf. Ich erwachte § 1103I)Du1u einige! Deutungsrnnteriul: Der Verhalten dee Glases erinnert an die
Geschichte vom Bauern, der heim Optiker Glas nach Gries versucht, aber nicht lesen kenn, _ (Bauernfängcr _ Mädchenfänger irn vorigen Treumstiiek,) _ Die Be— handlung des schwenhsinnig' gewordenen Vaters bei den Benern in z eine „Le Terre“. _ Die traurige Genugmung, deli der Veter in seinen letzten Lehenstagen wie ein Kind das Bett besehrnnm hat; dnher hin ich im Traum sein Krankenpfleger. _ „Denken und Erleben sind hier gleichsam ein:“ erinnert an ein Atari; revolutinnaxex Buch drernn von Oslur Panizza, in dem Gottvater ah parnlytiicher Greis ichmähl.ieh genug hehandelt wird; der! heißt es: Wille und Tat sind bei ihm eine, und er muß von seinem Erzengel, einer Art Genyrned. abgehalten werden zu schimpfen und zu fluchen, weil diese Verwünschungen sich infort erfüllen würden * Das Pläne machen ist ein aus späterer Zeit der Kritik stnmrnender Vorwurf geglm den Vater, wie üherhaupt dcr ganze rehellieehe, majestätsheleicligende und die hohe Obrigkeit verhöhnende Inhalt des Trenmes auf Auflehnung gegen den Vater zurückgeht. Der Fürst heißt Lendesveter. und der Vater ist die älteste, erste, für das Kind einzige Autorität, aus deren Machtvollkammenheit im Laufe der menschlichen Kulturge schichte die anderen sozinlen Obrigkeiten hervorgegengen sind (insofern nicht den „Mutten'echt“ zur Einichriinkung diem: Sitze; nötigt). —— Die Fassung im Traum „Denken und Erleben sind eine“, zielt auf die Erklärung der hysterischen Symptome, zu der auch des männliche Glas eine Beziehung hat. Einem Wiener brauchte ich des Prinzip der „Gschnas“ nicht emeinenderrneeteen; es besteht darin, Gegenstände von scltenem und wertvollem Ansehen aus triviulern, am liebsten komischen und wertlosem Material herzustellen, z. B. Rüstungen aus Kochtöpfeu, Strahwimhen und Snizstangeln, wie es unsere Künstler an ihren lustigen Abenden lieben. Ich hatte nun gemerkt, da]! die Hysterischen es ebenso machen; neben dem. was ihnen wirklich zugestuße'n ist, geetnlten sie sich unheth gräßlil:he oder eneeehweifende Phantuie— hegehenheiten, die sie aus dem harmlusesten und bannlsten Material des Erlebens nuflmnrn. An diesen Phantasien hängen erst die Symptnme, nicht an den Erinnerungen der wirklichen Begebenheiten. seien dieie nun enstheft oder gleichfalls hnrmlos. Diese Aufldärung hatte mir über viele Schwierigkeiten hinweggehelfen und mnehte mir viel Freude Ich konnte sie mit dern Trdumelernent des „männlichen Glases“ andeuten, weil mir von dem letzten „Gschrlenbencl“ erzählt werden wir, es sei den ein Giftbecher der Lucrel'ia Borgin ausgestellt gewesen, dessen Kern und Haupthestandtcil ein Uringles für Männer, wie es in den Spitälern gebräuehlieh iet, gehildet hätte. § 1104§ 1105
D'u wahrscheinlich Rolle des Infantilen fiir die Traumbildurlg 919
§ 1106dann mit den Empfindungen des körperlichen Bedürfnisses. Ich
meine, man könnte geneigt sein, diesen Empfindungen die Rolle des eigentlichen Traumerregers zuzuweisen, würde aber einer anderen Auffassung den Vorzug geben, nämlich daß die Traum gedanken erst den Harndrang hervorgerufen haben. Es ist bei mir ganz ungewöhnlich, daß ich durch irgendein Bedürfnis im Schlaf gestört werde, am wenigsten um die Zeit dieses Er wachens, drei Viertel drei Uhr morgens. Einem weiteren Einwand begegne ich durch die Bemerkung, daß ich auf anderen Reisen unter bequemeren Verhältnissen fast niemals den Hamdrang nach frühzeitigern Erwachen verspürt habe. Übrigens kann ich diesen Punkt auch ohne Schaden nnentschieden lassen. § 1107Seitdem ich ferner durch Erfahrungen bei der Traumanalyse
aufmerksam gemacht worden hin, daß auch von Träumen, deren Deutung zunächst vollständig erscheint, weil Traumquellen und Wunscherreger leicht nachweisbar sind, — daß auch von solchen Träumen wichtige Gedankenfa'den ausgehen, die bis in die früheste Kindheit hinreichen, habe ich mich fragen müssen, ob nicht auch in diesem Zug eine wesentliche Bedingung des Träumens ge geben ist. Wenn ich diesen Gedanken verallgemeinern dürfte, so käme jedem Traum in seinem manifesten Inhalt eine Anknüpfung an das rezent Erlebte zu, in seinem latenten Inhalt aber eine Anknüpfung an das älteste Erlebte, von dem ich bei der Analyse der Hysterie wirklich zeigen kann, daß es im guten Sinne bis auf die Gegenwart rezent geblieben ist. Diese Vermutung er scheint aber noch recht schwer erweislich; ich werde auf die wahrscheinliche Rolle frühester Kindheitserlebnisse für die Traum bildnng noch in anderem Zusammenhange (Abschnitt VII) zu— rückkommen müssen. § 1108Von den drei eingangs betrachteten Besonderheiten des Traum
gedächtnisses hat sich uns die eine — die Bevorzugung des Nebem sächlichen im Trauminhalt —— durch ihre Zurückführung auf die Traumentstellung befriedigend gelöst. Die beiden anderen, § 1109§ 1110
920 V. Das Traummatzrial und di; Traumquellen
§ 1111die Auszeichnung des Rezenten wie des Infantilen haben wir
bestätigen, aber nicht aus den Motiven des Träumens ableiten können. Wir wollen diese beiden Charaktere, deren Erklärung oder Verwertung uns erübrigt, im Gedächtnis behalten; sie werden anderswo ihre Einteihung finden müssen, entweder in der Psycho logie des Schlafzustandes oder bei jenen Erwägungen über den Aufbau des seelischen Apparats, die wir später anstellen werden, wenn wir gemerkt haben, daß man durch die Traumdeutung wie durch eine Fensterlücke in das Innere desselben einen Blick werfen kann. § 1112Ein anderes Ergebnis der letzten Traumanalysen will ich aber
gleich hier hervorheben. Der Traum erscheint häufig mehrdeutig; es können nicht nur, wie Beispiele zeigen, mehrere Wunsch er‘füllungen nebeneinander in ihm vereinigt sein; es kann auch ein Sinn, eine Wunscherfüllung die andere decken, bis man zu untth auf die Erfüllung eines Wunsches aus der ersten Kindheit stößt, und auch hier wieder die Erwägung, ob in diesem Satze das „häufig“ nicht richtiger durch „regelmäßig“ zu ersetzen ist. [E14] § 1113C
Die somatischen Traumquellen § 1114Wenn man den Versuch macht, einen gebildeten Laien für
die Probleme des Träumens zu interessieren, und in dieser Ab sicht die Frage an ihn richtet, aus welchen Quellen wohl nach seiner Meinung die Träume herrühren, so merkt man zumeist, daß der Gefragte im gesicherten Besitz dieses Teiles der Lösung zu sein vermeint. Er gedenkt sofort des Einflusses, den gestürte oder beschwerte Verdauung („Träume kommen aus dem Magen“), zufällige Körperlage und kleine Erlebnisse während des Schlafens auf die Traumbildung äußern, und scheint nicht zu ahnen, daß nach Berücksichtigung all dieser Momente etwas der Erklärung Bedül'ftiges noch erübrigt. § 1115§ 1116
Die :umatischen. Traumquellzn bzi den Autoren em
§ 1117Welche Rolle für die Traumhildung die wissenschaftliche Literatur
den somat.ischen Beizquellen zugesteht, haben wir im einleitenden Abschnitt (S. 95 ff.) ausführlich auseinandergesetzt, sa daß wir uns hier nur an die Ergebnisse dieser Untersuchung zu erinnern brauchen. Wir haben gehört, daß dreierlei somatische Beizquelleu unterschieden werden, die von äußeren Objekten ausgehenden Objektiven Sinnesreize7 die nur subjektiv begründeten inneren Er regungszustände der Sinnesorgane und die aus dem Körperinnern stammenden Leibreize, und wir haben die Neigung der Autnren bemerkt, neben diesen sometischen Reizquellen etwaige psychische Quellen des Tram-nes in den Hintergrund zu drängen oder ganz auszuschalten (S. 44. f.). Bei der Prüfung der Ansprüche, welche zugunsten dieser Klassen von sometischen Reizquelleu erhoben werden, haben wir erfahren, daß die Bedeutung der objektiven § 1118Sinnesorganerregungen — teils zufällige Reize während des
Schlafes, teils solche, die sich auch vom schlafenden Seelenleben nicht ferne halten lassen — durch zahlreiche Beobachtungen § 1119sichergestellt wird und durch das Experiment eine Bestätigung
erfährt (S. 97), daß die Rolle der subjektiven Sinneserregungen durch die Wiederkehr der hypnagogischen Sinnesbilder in den Träumen (S. 54) dargetan erscheint, und daß die im weitesten Umfang angenommene Zurückführung unserer Traumbilder und Traumvorstellungen auf inneren Leibreiz zwar nicht in ihrer ganzen Breite beweisbar ist, aber sich an die allbekannte Beein flussung anlehnen kann, welche der Erregungszustand der Digestions-, Harn- und Sexualorgane auf den Inhalt unserer Träume ausübt. § 1120„Nervenreiz“ und „Leibreiz“ wären also die sometischen
Quellen des Traumes, d. h. nach mehreren Autoren die einzigen Quellen des Traumes überhaupt § 1121Wir haben aber auch bereits einer Reihe von Zweifeln Gehör
geschenkt, welche nicht sowohl die Richtigkeit als vielmehr die Zulänglichkeit der sometischen Reinheorie anzugreifen schienen. § 1122§ 1123
229 V. DM Traummazerial und die Traumquellen
§ 1124So sicher sich alle Vertreter dieser Lehre bezüglich deren tat
sächlichen Grundlagen fühlen mußten , zumal soweit die ak zidentellen und äußeren Nervenreize in Betracht kommen, die im Traumi.nhalt wiederzufinden keinerlei Mühe erfordert, —— so blieb doch keiner der Einsicht ferne, daß der reiche Vorstellungs inhalt der Träume eine Ableitung aus den äußeren Nervenreizen allein nicht wohl zulasse. Miß Mary Whiton Calkins hat ihre eigenen Träume und die einer zweiten Person durch sechs Wochen hindurch von diesem Gesichtspunkte aus geprüft und nur 15”; Prozent, respektive 67 Prozent, gefunden, in denen das Element äußerer Sinneswabrnehrnung nachweisbar war; nur zwei Fälle der Sammlung ließen sich auf organische Empfindungen zurückführen. Die Statistik bestätigt uns hier, was uns bereits eine flüchtige Überschau unserer eigenen Erfahrungen hatte ver— muten lassen. § 1125Man beschied sich vielfach, den „Nervenreiztraum“ als eine
gut erforschte Unterart des Traumes vor anderen Traumformen hervorzuheben. Spitta trennte die Träume in Nervenreiz— und Assoziationstraurn. Es war aber klar, daß die Lösung unbe friedigend blieb, so lange es nicht gelang, das Band zwischen den somatischen Traumquellen und dem Vorstellungsinhalt des Traumes nachzuweisen. § 1126Neben den ersten Einwand, der Unzulänglichkeit in der
Häufigkeit der äußeren Beizquellen, stellt sich so als zweiter die Unzulänglichkeit in der Aufklärung des Traumes, die durch die Einführung dieser Art von Traumquellen zu erreichen ist. Die Vertreter der Lehre sind uns zwei solcher Aufklärungen schuldig, erstens, warum der äußere Reiz im Traum nicht in seiner wirk lichen Natur erkannt, sondern regelmäßig verkannt wird (ver gleiche die Weckerträurne, S. 50), und zweitens, warum das Re— sultat der Reaktion der wahrnehmenden Seele auf diesen ver— kannten Reiz so unbestimmbar wechselvoll ausfallen kann. Als Antwort auf diese Frage haben wir von Strümpell gehört, daß § 1127§ 1128
Nervznrziz und Assazümianstraum 925
§ 1129die Seele infolge ihrer Abwendung von der Außenwelt während
des Schlafes nicht imstande ist, die richtige Deutung des ob— iektiven Sinnesreizes zu geben, sondern genöu'gt wird, auf Grund der nach vielen Richtungen unbestimmnen Anregung Illusionen zu bilden, in seinen Worten ausgedrückt (S. 108): § 1130„Sobald durch einen äußeren oder inneren Nervenreiz während
des Schlafes in der Seele eine Empfindung oder ein Empfindunge komplex, ein Gefühl, überhaupt ein psychischer Vorgang entsteht und von der Seele penipiert wird, so ruft dieser Vorgang aus dem der Seele vom Wachen her verbliebenen Erfahrungskreise Empfindungsbilder, also frühere Wahrnehmungen, entweder nackt oder mit zugehörigen psychischen Werten hervor. Er sammelt gleichsam um sich eine größere oder kleinere Anzahl solcher Bilder, durch welche der vom Nervenreiz herrührende Eindruck seinen psychischen Wert bekommt. Man sagt gewöhnlich auch hier, wie es der Sprachgebrauch für das Wache Verhalten tut, daß die Seele im Schlaf die Nervenreizeindrücke deute. Das Resultat dieser Deutung ist der sogenannte Nervenreiztraum, d. h. ein Traum, dessen Bestandteile dadurch bedingt sind, daß ein Nervenreiz nach den Gesetzen der Reproduktion seine psychische Wirkung im Seelenlebén vollzieht.“ § 1131In allem Wesentlichen mit dieser Lehre identisch ist die
Äußerung von Wundt, die Vorstellungen des Traumes gehen jedenfalls zum größten Teil von Sinnesreizen aus, namentlich auch von solchen des allgemeinen Sinnes, und sind daher zumeist phantastische Hlusionen, wahrscheinlich nur zum kleineren Teil reine, zu Halluzinationen gesteigerte Exinnerungsvorstellungen. Für das Verhältnis des Trauminhaltes zu den Traumreizen, welches sich nach dieser Theorie ergibt, findet Strümpell das trefiliche Gleichnis (S. 84), es sei, wie „wenn die zehn Finger eines der Musik ganz unkundigen Menschen über die Tasten des Instrumentes hinlaufen“. Der Traum erschiene so nicht als ein seelisches Phänomen, aus psychischen Motiven entsprungen, sondern § 1132§ 1133
„4 V. Das Truummztzr'ial und die Traumquellzn
§ 1134als der Erfolg eines physiologischen Beizes, der sich in psychischer
Symptomatologie äußen, weil der vom Reiz betroffene Apparat keiner anderen Äußerung fähig ist. Auf eine ähnliche Voraus setzung ist z. B. die Erklärung der Zwangsvoxstellungen aufgebaut, die Meynert durch das berühmte Gleichnis vom Zifferblatt, auf dem einzelne Zahleh stärker gewölbt vorspringen, zu geben ver suchte. § 1135So beliebt die Lehre von den somatischen Traumreizen ge
worden ist und so bestechend sie erscheinen mag, so ist es doch leicht, den schwachen Punkt in ihr aufzuweisen. Jeder somatische Traumreiz, welcher im Schlafe den seelischen Apparat zur Deutung durch Illusionsbildung auffordert, kann ungezählt viele solcher Deutungsversuche anregen, also in ungemein verschiedenen Vor stellungen seine Vertretung im Trauminhalt erreichen. [E 15] Die Lehre von Strümpell und Wundt ist aber unfähig, irgendein Motiv anzugeben, welches die Beziehung zwischen dem äußeren Reiz und der zu seiner Deutung gewählten Traumvorstellung regelt, also die „sonderbare Auswahl“ zu erklären, welche die Reize „oft genug bei ihrer produktiven Wirksamkeit treffen“. (Lipps, Grundtatsachen des Seelenlehens, S. 170.) Andere Einwendungen richten sich gegen die Grundvoraussetzung der ganzen Illusions lebte, daß die Seele im Schlaf nicht in der Lage sei, die wirkliche Natur der objektiven Sinnesreize zu erkennen. Der alte Physio loge Burdach beweist uns, daß die Seele auch im Schlafe sehr wohl fähig ist, die an sie gelangenden Sinneseindrücke richtig zu deuten und der richtigen Deutung gemäß zu reagieren, indem er ausführt, daß man gewisse, dem Individuum wichtig er— scheinende Sinneseindrücke von der Vernachlässigung während des Schlafes ausnehmen kann (Amme und Kind), und daß man durch den eigenen Namen weit sicherer geweckt wird als durch einen gleichgültigen Gehörseindruck, was ja voraussetzt, daß die Seele auch im Schlafe zwischen den Sensationen unterscheidet (Abschnitt I, S. 57). Burdach folgen aus diesen Beobachtungen, § 1136§ 1137
Unzuünglichlrzit der Lehre von dm samazischen Traumreizzn M5
§ 1138daß während des Sclflafzustandes nicht eine Unfähigkeit, die
Sinnesreize zu deuten, sondern ein Mangel an Interesse für sie anzunehmen ist. Die nämlichen Argumente, die Burdach 1850 verwendet, kehren dann zur Bekämpfung der somatischen Reiz theorie unverändert bei Lipps im Jahre 1885 wieder. Die Seele erscheint uns demnach so wie der Schläfer in der Anekdote, der auf die Frage „Schläfst du?" antwortet „nein“, nach der zweiten Anrede, „dann leih mir zehn Gulden“ aber sich hinter der Aus» rede verschanzt: „ich schlafe.“ § 1139Die Unzulänglichkeit der Lehre von den sometischen Traum
reizen läßt sich auch auf andere Weise dartun. Die Beobachtung zeigt, daß ich durch äußere Reize nicht zum Träumen genötigt werde, wenngleich diese Reize im Traumi.nhalt erscheinen, sobald und für den Fall, daß ich träume. Gegen einen Haut- oder Druckreiz etwa, der mich im Schlafe befa'llt, stehen mit ver» schiedene Reaktionen zu Gebote. Ich kann ihn überhören und dann beim Erwachen finden, daß 2. B. ein Bein unbedeckt oder ein Arm gedrückt war; die Pathologie zeigt mir in die zahl? reichsten Beispiele, daß verschiedenanige und kräftig erregende Empfindungs- und Bewegungsreize während des Schlafes wirkungs los bleiben. Ich kann die Sensation während des Schlafes ver— spüren7 gleichsam durch den Schlaf hindurch, wie es in der Regel mit schmerzhaften Reizen geschieht, aber ohne den Schmerz in einen Traum zu verweben; und ich kann drittens auf den Reiz erwachen7 um ihn zu beseitigen. [E 18] Erst eine vierte mögliche Reaktion ist, daß ich durch den Nervenreiz zum Traum ver-l anlaßt werde; die anderen Möglichkeiten werden aber mindestens‘ ebenso häufig vollzogen wie die der Traumbildung. Dies könnte nicht geschehen, wenn nicht das Motiv des Träumens außer-’ halb der samatischen Reizquellen läge. § 1140In gerechter Würdigung jener oben aufgedeckten Lücke in
der Erklärung des Traumes durch somafische Reize haben nun § 1141andere Autoren — Scherner, dem der Philosoph Volkelt sich
§ 1142Freud, u. 15
§ 1143§ 1144
216 V. Das Traummaterfal und die Traumquzllan
§ 1145anschloß — die Seelentätigkeiten, welche aus den somaüschen
Reizen die bunten Traumbilder entstehen lassen, näher zu be stimmen gesucht, also doch wieder das Wesen des Träumens ins Seelische und in eine psychische Aktivität verlegt. Scherner gab nicht nur eine poetisoh nachempfundene, glühend belebte Schil— derung der psychischen Eigentümlichkeiten, die sich bei der Traumbildung entfalten; er glaubte auch das Prinzip erraten zu haben, nach dem die Seele mit den ihr dargebotenen Reizen verfährt. In freier Betätigung der ihrer Tagesfesseln endedigten Phantasie strebt nach Scherner die Traumarbeit dahin, die Natur des Organes, von dem der Reiz ausgeht, und die Art dieses Reizes symbolisch darzustellen. Es ergibt sich so eine Art von Traumbuch als Anleitung zur Deutung der Träume, mittels dessen aus Traumbildern auf Körpergefühle, Organzustände und Beizzustände geschlossen werden dar}. „So drückt das Bild der Katze die ärgerliche Mißstimmung des Gemütes aus, das Bild des hellen und glatten Gebäcks die Leihesnacktheit. Der menschliche Leib als Ganzes wird von der Traumphantasie als Haus vorgestellt, das einzelne Körperorgan durch einen Teil des Hauses. In den „Zahnreizträumen“ entspricht dem Mundorgan ein hochgewölbter Hausflur, und dem Hinabfall des Schlundes zm" Speiseröhre eine Treppe, im „Kopfschmerztraum“ wird zur Bezeichnung der Höhenstellung des Kopfes die Decke eines Zimmers gewählt, welche mit ekelhaften, krötenartigen Spinnen bedeckt ist“ (Volkelt, S. 59). „Diese Symbole werden vom Traum in mehrfacher Auswahl für das nämliche Organ verwendet; so findet die atmende Lunge in dem flammenerfiillten Ofen mit seinem Brausen ihr Symbol, das Heli in hohlen Kisten und Körben, die Harnblase in runden, beutelförmigen oder überhaupt nur ausgehühlten Gegenständen. Besonders wichtig ist es, daß am Schlusse des Traumes öfters das erregende Organ oder dessen Funktion unverhüllt hingestellt wird7 und zwar zumeist an dem eigenen Leib des Träumers. So endet der „Zahnreiztraum“ ge— § 1146§ 1147
Die Soluerst Leibreiztheorie „7
§ 1148wöhnlich damit, daß der Träumer sich einen Zahn aus dem
Munde zieht“ (S. 55). Man kann nicht sagen, daß diese Theorie der Traumdeutung viel Gunst bei den Autoren gefunden hat. Sie erschien vor allem extravagant; man hat selbst gezögert, das Stück Berechtigung heramzufinden, das sie nach meinem Urteil beanspruchen darf. Sie führt, wie man sieht, zur Wiederbelebung der Traumdeutung mittels Symbolik, deren sich die Alten be dienten, nur daß das Gebiet, aus welchem die Deutung geholt werden soll, auf den Umfang der menschlichen Leiblichkeit be— schränkt wird. Der Mangel einer wissenschaftlich faßbaren Technik bei der Deutung muß die Anwendbarkeit der Schernerschen Lehre schwer beeinträchtigen. Willkür in der Traumdeutung scheint keineswegs ausgeschlossen, zumal da auch hier ein Reiz sich in mehrfachen Vertretungen im Trauminhalt äußern kann; so hat bereits Scherners Anhänger Volkelt die Darstellung des Körpers als Haus nicht bestätigen können. Es muß auch Anstoß erregen, daß hier wiederum der Seele die Traumarbeit als nutz und ziellose Betätigung auferlegt ist, da sich doch nach der in Rede stehenden Lehre die Seele damit begnügt, über den sie beschäftigenden Reiz zu phantasieren, ohne daß etwas wie eine Erledigung des Reizes in der Ferne winkte. § 1149Von einem Einwand aber wird die Schernersche Lehre der
Symbolisiemng von Leibreizen durch den Traum schwer getroifen. Diese Leibreize sind jederzeit vorhanden, die Seele ist für sie nach allgemeiner Annahme während des Schlafens zugänglicher als im Wachen. Man versteht dann nicht, warum die Seele nicht kontinuierlich die Nacht hindurch träumt, und zwar jede Nacht von allen Organen. Will man sich diesem Einwand durch die Bedingung entziehen, es müßten vom Auge, Ohr, von den Zähnen, Därmen usw. besondere Erregungen ausgeben, um die Traum— tätigkeit zu wecken, so steht man vor der Schwierigkeit, diese Reizsteigerungeu als objektiv zu erweisen, was nur in einer ge ringen Zahl von Fällen möglich ist. Wenn der Traum vom § 1150.,;
§ 1151§ 1152
228 V. Das Traummatzrial und die Traumquellen
§ 1153Fliegen eine Symbolisierung des Auf- und Niedersteigens der
Lungenflügel bei der Atmung bedeutet, so müßte entweder dieser Traum, wie schon Strümpell bemerkt, weit häufiger ge< träumt werden oder eine gesteigerte Atmungstätigkeit während dieses Traumes nachweisbar sein. Es ist noch ein dritter Fall möglich, der wahrscheinliehste von allen, daß nämlich zeitweise besondere Motive wirksam sind, um den gleichmäßig vorhandenen viszeralen Sensationen Aufmerksamkeit zuzuwenden, aber dieser Fall führt bereits über die Schernersche Theorie hinaus. § 1154Der Wert der Erörterungen von Scherner und Volkelt liegt
darin, daß sie auf eine Reihe von Charakteren des Trauminhaltes aufmerksam machen, welche der Erklärung bedürftig sind und neue Erkenntnisse zu verdecken scheinen. Es ist ganz richtig, daß in den Träumen Symbolisierungen von Körperorganen und Funktionen enthalten sind, daß Wasser im Traum häufig auf Harnreiz deutet, daß das männliche Genitale durch einen aufrecht stehenden Stab oder eine Säule dargestth werden kann usw. In Träumen, welche ein sehr bewegtes Gesichtsfeld und leuchtende Farben zeigen, im Gegensatz zu der Mattigkeit anderer Träume, kann man die Deutung als „Gesichtsreiztraum“ kaum abweisen, ebensowenig den Beitrag der Illusionsbildung in Träumen be streiten, welche Lärm und Stimmengewirr enthalten. Ein Traum wie der von Schern er, daß zwei Reihen schöner blonder Knaben auf einer Brücke einander gegenüberstehen, sich gegenseitig an greifen, dann wieder ihre alte Stellung einnehmen, bis endlich der Träumer sich auf eine Brücke setzt und einen langen Zahn aus seinem Kiefer zieht; oder ein ähnlicher von Vulkelt, in dem zwei Reihen von Schubladen eine Rolle spielen, und der wiederum mit dem Ausziehen eines Zahnes endigt: dergleichen bei beiden Autoren in großer Fülle mitgeteilte Traumbildungen lassen es nicht zu, daß man die Schernersche Theorie als mäßige Erfindung beiseite wirft, ohne nach ihrem guten Kern zu forschen. Es stellt sich dann die Aufgabe, für die vermeintliche § 1155§ 1156
Die Szhznwrsche Symbolik 929
§ 1157Symbolisierung des angeblichen Zahnreizes eine andersartige Auf
klärung zu erbringen. § 1158Ich habe es die ganze Zeit über, welche uns die Lehre von
den somatischen Traumquellen beschäftigte, unterlassen, jenes Argument geltend zu machen, welches sich aus unseren Traum— analysen ableitet. Wenn wir durch ein Verfahren, das andere Autoren auf ihr Material an Träumen nicht angewendet haben, erweisen konnten, daß der Traum einen ihm eigenen Wert als psychische Aktion besitzt, daß ein Wunsch das Motiv seiner Bildung wird1 und daß die Erlebnisse des Vortages das nächste Material für seinen Inhalt abgeben, so ist jede andere Traum lehre, welche ein so wichtiges Untersuchungsverfahren vernach lässigt und dementsprechend den Traum als eine nutzlose und rätselhafte psychische Reaktion auf somatische Reize erscheinen läßt7 auch ohne besondere Kritik gerichtet. Es müßte denn, was sehr unwahrscheinlich ist, zwei ganz verschiedene Arten von Träumen geben, von denen die eine nur uns, die andere nur den früheren Beurteilern des Traumes untergekommen ist. Es er übrigt nur noch, den Tatsachen, auf welche sich die gebräuch» liche Lehre von den somatischen Traumreizen stützt, eine Unten bringung innerhalb unserer Traumlehre zu verschaffen. § 1159Den ersten Schritt hiezu haben wir bereits getan, als wir den
Satz aufstellten, daß die Traumerbeit unter dem Zwange stehe, alle gleichzeitig vorhandenen Traumanregungen zu einer Einheit zu verarbeiten (S. 179), Wir sahen, daß, wenn zwei oder mehr eindrucksf'cihige Erlebnisse vom Vortage übn'ggeblieben sind7 die aus ihnen sich ergebenden Wünsche in einem Traume vereinigt werden, desgleichen, daß zum Traummaterial der psychisch werte volle Eindruck und die indifi'erenten Erlebnisse des Vor-tages zu— sammentreten, vorausgesetzt, daß sich kommunizierende Vor— stellungen zwischen beiden herstellen lassen. Der Traum erscheint somit als Reaktion auf alles, was in der schlafenden Psyche gleich zeitig als aktuell vorhanden ist. Soweit wir also das Traum» § 1160§ 1161
250 V. Das Traummatzrial und die Traumquellzll
§ 1162material bisher analysiert habeny erkannten wir es als eine Samm
lung von psychischen Resten, Erinnerungsspureu, denen wir (wegen der Bevorzugung des rezenten und des infantilen Materials) einen psychologisch derzeit unbestimmbaren Charakter von Aktualität zusprechen mußten. Es schafft uns nun nicht viel Verlegenheit vorherzusagen, was geschehen wird, wenn zu diesen Erinnerungs aktualitäten neues Material an Sensationen während des Schlaf zustandes hinzutritt. Diese Exregungen erlangen wiederum eine Wichtigkeit für den Traum dadurch, daß sie aktuell sind; sie werden mit den anderen psychischen Aktualitäten vereinigt, um das Material für die Traumbildung abzugeben. Die Reize während des Schlafes werden, um es anders zu sagen, in eine Wunsch erfüllung verarbeitet, deren andere Bestandteile die uns bekannten psychischen Tagesreste sind. Diese Vereinigung muß nicht voll zogen werden; wir haben ja gehört, daß gegen körperliche Reize während des Schlafes mehr als eine Art des Verhaltens möglich ist. Wo sie vollzogen wird, da ist es eben gelungen, ein Vorstellungs— material für den Trauminhalt zu finden, welches für beiderlei Traumquellen, die sometischen wie die psychischen, eine Ver— tretung darstellt. § 1163Das Wesen des Traumes wird nicht verändert, wenn zu den
psychischen Traumquellen snmatisches Material hinzutn'tt; er bleibt eine VVunscherfüllung, gleichgültig wie deren Ausdruck durch das aktuelle Material bestimmt wird. § 1164Ich will hier gerne Raum lassen für eine Reihe von Eigen
tümlichkeiten, welche die Bedeutung äußerer Reize für den Traum veränderlich gestalten können. Ich stelle mir vor, daß ein Zusammenwirken individueller, physiologischer und zufällige}, in den jeweiligen Umständen gegebener Momente darüber ent scheidet, wie man sich in den einzelnen Fällen von intensiverer objektiver Reizung während des Schlafes benehmen wird; die habituelle akzidentelle Schlaftiefe im Zusammenhalt mit der In tensität des Reizes wird es das eine Mal ermöglichen, den Reiz § 1165§ 1166
Der Traum vom Reiten 951
§ 1167so zu unterdrücken, daß er im Schlaf nicht stört, ein anderes
Mal dazu nötigen aulzuwachen, oder den Versuch unterstützen, den Reiz durch Verwebung in einen Traum zu überwinden. Der l\lannigfaltigkeit dieser Konstellationen entsprechend, werden äußere objektive Reize bei dem einen häufiger oder seltener im Traum zum Ausdruck kommen als bei dem anderen. Bei mir, der ich ein ausgezeichneter Schläfer bin und hartnäckig daran festhalte, mich durch keinen Anlaß im Schlaf stören zu lassen, ist die Einmengung äußerer Erregungsursachen in die Träume sehr selten, während psychische Motive mich doch offenbar sehr leicht zum Träumen bringen. Ich habe eigentlich nur einen einzigen Traum aufgezeichnet, in dem eine objektive, schmerzhafte Reiz quelle zu erkennen ist, und gerade in diesem Traum wird es sehr lehrreich werden nachzusehen, welchen Traumerfolg der äußere Reiz gehabt hat. § 1168Ich reife auf einem grauen Pferd, zuerst zaghaft und un—
geschickt, als ab ich nur angelehnt wäre. Da hegegne ich einem Kollegen P., der im Lodenanzug hoch zu Roß sit” und mich an etwas mahnt (wahrscheinlich, daß ich schlecht sitze), Nun finde ich mich auf dem höchst intelligenten Haß immer mehr zurecht, sitze bequem und merke, daß ich eben ganz heimisch bin. Als Sattel habe ich eine Art Polster, das den Raum zwischen Hals und Kruppß des Pferdes vollkommen ausfiillt. Ich reite so knapp zwischen zwei Lastwagen hindurch. Nachdem ich die Straße eine Strecke weit geritten bin, kehre ich um und will absteigen, zu ru2'chst vor einer kleinen ofl‘enen Kapelle, die in der Straßenfront liegt. Dann steige ich wirklich vor einer Ülr nahestehenden ab, das Hotel ist in derselben Straße,- ich könnte das Pferd allein hingehen lassen, ziehe es aber nur, es bis dahin zu fiihren. Es ist, als ab ich mich schämen würde, dort als Reiter anzukammen. Vor dem Hotel steht ein Hotelbursche, der mir einen Zettel zeigt, der von mir gefunden wurde, und mich darum verspattet. Auf dem Zeltel steht, zweimal unterstrichen: Nichts essen und dann § 1169§ 1170
959 V. Das Trawmnaterial mal die Traumquellen
§ 1171ein zweiter Vorsatz (undeutlich) wie: nichts arbeiten; dazu eine
dumpfe Idee, daß ich in einer fremden Stadt bin, in der in}: nichts arbeite. § 1172Dem Traum wird man zunächst nicht anmerken, daß er unter
dem Einflusse, unter dem Zwange vielmehr, eines Schmerzreizes entstanden ist. Ich hatte aber tags vorher an Furunkeln gelitten, die mir jede Bewegung zur Qual machten, und zuletzt war ein Furunkel an der Wurzel des Skrotum zur Apfelgröße heran gewachsen7 hatte mir bei jedem Schritt die unerträglichsten Schmerzen bereitet, und fieberhafte Müdigkeit, Eßunlust, die trotzdem festgehaltene schwere Arbeit des Tages hatten sich mit den Schmerzen vereint, um meine Stimmung zu stören, Ich war nicht recht fähig, meinen ärztlichen Aufgaben nachzukommen, aber bei der Art und bei dem Sitz des Übels ließ sich an eine andere Ver-richtung denken, für die ich sicherlich so untauglich gewesen wäre wie für keine andere, und diese ist das Reiten. Gerade in diese Tätigkeit versetzt mich nun der Traum; es ist die energischeste Negation des Leidens, die der Vorstellung zugäng lich ist. Ich kann überhaupt nicht reiten, träume auch sonst nicht davon, bin überhaupt nur einmal auf einem Pferd gesessen und damals ohne Sattel, und es behagte mir nicht. Aber in diesem Traum reite ich, als ob ich keinen Furunkel am Damm hätte, nein gerade weil ich keinen haben will. Mein Sattel ist der Beschreibung gemäß der Breiumschlag, der mir das Ein schlafen ermöglicht hat. Wahrscheinlich habe ich durch die ersten Stunden des Schlafes — so verwahrt —— nichts von meinem Leiden verspürt. Dann meldeten sich die schmerzhaften Empfin dungen und wollten mich aufwecken, da kam der Traum und sagte beschwichtigend: „Schlaf doch weiter, du wirst doch nicht — aufwachen! Du hast ja gar keinen Furunkel, denn du reitest ja auf einem Pferd, und mit einem Furun.kel an der Stelle kann man doch nicht reiten!“ Und es gelang ihm so; der Schmerz wurde übertäubt, und ich schlief weiter. § 1173§ 1174
Analyse des Traumzs wm Reiten 955
§ 1175Der Traum hat sich aber nicht damit begnügt, mir durch die
hartnäckige Festhaltung einer mit dem Leiden unverträglichen Vorstellung, den Furunkel „abzusuggerieren“, wobei er sich be nommen wie der halluzinatorische Wahnsinn der Mutter, die ihr Kind verloren hat,‘ oder des Kaufmannes, den Verluste um sein Vermögen gebracht haben; sondern die Einzelheiten der abgeleug— neten Sensation und des zu ihrer Verdrängung gebrauchten Bildes dienen ihm auch als Material, um das, was sonst in der Seele aktuell vorhanden ist, an die Situation des Traumes anzuknüpfen und zur Darstellung zu bringen. Ich réite ein graues Pferd, die Farbe des Pferdes entspricht genau dem pfeffer— und salz'farbigen Dreß, in dem ich dem Kollegen P. zuletzt auf dem Lande be gegnet bin. Scharfgewürzte Nahrung ist mir als die Ursache der Furunkulose vorgehalten worden, immerhin als Ätiologie dem Zucker vorzuziehen, an den man bei Furun.kulose denken kann. Freund P. liebt es, sich mir gegenüber aufs hohe Kofi zu setzen, seitdem er mich bei einer Patientin abgelöst, mit der ich große Kunststücke ausgeführt hatte (ich sitze im Traum auf dem Pferd zuerst wie ein Kunstreiter tangential), die mich aber wirklich, wie das Roß in der Anekdote den Sonntags-eher, geführt hat, wohin sie wollte. So kommt das Roß zur symbolischen Bedeu tung einer Patientin (es ist im Traum höchst intelligent). „Ich fühle mich ganz heimisch oben“ geht auf die Stellung, die ich in dem Hause inne hatte, ehe ich durch P. ersetzt wurde. „Ich habe gemeint, Sie sitzen chen fest im Sattel“, hat mir mit Beziehung auf dasselbe Haus einer meiner wenigen Gönner unter den großen Ärzten dieser Stadt vor kurzem gev sagt. Es war auch ein Kunststüok, mit solchen Schmerzen acht bis zehn Stunden täglich Psychotherapie zu treiben, aber ich weiß, daß ich ohne volles körperliches Wohlbefinden meine be § 1176,) Vergleiche die Stelle bei Grialinger und die Bemerkung in meinem zweiten
§ 1177Aufsatz über die Abwehr-Neuroplycholen, Nu\urologiwhes Zentralblatt 1896. [Sa.
Schriften, aa. 1.1 § 1178§ 1179
954 V. Das Traummaterial und di; Traumquellen
§ 1180sonders schwierige Arbeit nicht lange fortsetzen kann, und der
Traum ist voll düsterer Anspielungen auf die Situation, die sich dann ergeben muß (der Zettel, wie ihn die Neurastheniker haben und dem Arzte vorzeigen): — Nicht arbeiten und nicht essen Bei weiterer Deutung sehe ich, daß es der Traumarbeit gelungen ist, von der Wunschsituatiun des Reitens den Weg zu finden zu sehr frühen Kinderstreitszenen, die sich zwischen mir und einem jetzt in England lebenden, übrigens um ein Jahr älteren Neffen abgespielt haben mußten. Außerdem hat er Elemente aus meinen Reisen in Italien aufgenommen; die Straße im Traum ist aus Eindrücken von Verona und von Siena zusammengesetzt. Noch tiefer gehende Deutung führt zu sexuellen Traumgedanken, und ich erinnere mich, was bei einer Patientin, die nie in Italien war, die Traumanspielungen an das schöne Land bedeuten sollten (gen Italien — Genitalien), nicht ohne Anknüpfung gleichzeitig an das Haus, in dem ich vor Freund P. Arzt war, und an die Stelle, an welcher mein Furunkel sitzt. [517] § 1181Unter den in den vorstehenden Abschnitten erwähnten Träu
men fa'nden sich bereits mehrere, die als Beispiele für die Ver arbeitung sogenannter Nervenreize dienen können. Der Traum vom Trinken in vollen Zügen ist ein solcher, in ihm ist der somatische Reiz anscheinend die einzige Traumquelle, der aus der Sensation entspringende Wunsch 7 der Durst * das ein zige Traummotiv. Ähnlich ist es in anderen einfachen Träumen, wenn der somatische Reiz für sich allein einen Wunsch zu bilden vermag. Der Traum der Kranken, die nachts den Kühlapparat von der Wange abwirft, zeigt eine ungewöhnliche Art, auf Schmerzens reize mit Wunscherfüllung zu reagieren; es scheint, daß es der Kranken vorübergehend gelungen war, sich analgisch zu machen, wobei sie ihre Schmerzen einem Fremden zuschob. § 1182Mein Traum von den drei Par-zen ist ein offenbarer Hunger
traum, aber er weiß das Nahrungsbedürfnis bis auf die Sehnsucht des Kindes nach der Mutterbrust zurückzusehieben, und die harm § 1183§ 1184
Vaarbeinmg von Reizen im Traum: 955
§ 1185lose Begierde zur Decke für eine ernstere, die sich nicht so un—
verhüllt äußern darf, zu benützen. Im Traume vom Grafen Thun konnten wir sehen, auf welchen Wegen ein akzidentell gegebenes körper-liches Bedürfnis mit den stärksten aber auch stärkst unterdrückten Regungen des Seelenlebens in Verbindung gebracht wird. Und wenn, wie in dem von Garnier berichteten Falle, der Erste Konsul das Geräusch der explodierenden Hüllen— masehine in einen Schlachtenttaum verwebt, ehe er davon erwacht, so offenbart sich darin ganz besonders klar das Bestreben, in dessen Dienst die Seelentätigkeit sich überhaupt um die Sensa tionen während des Schlafes kümmert. [E18] § 1186Halten wir diesen Traum des ersten Napoleon, der übrigens
ein ausgezeichneter Sohläfer war, und jenen anderen des lang schläfrigen Studenten zusammen, der von seiner Zimmerfrau ge weckt, er müsse ins Spital, sich in ein Spitalsbelt träumt und dann mit der Motiv-ierung weiterschläft: Wenn ich schon im Spital bin, brauche' ich ja nicht aufzustehen, um hinzugehen. Der letztere ist ein offenbarer Bequemlichkeitstraum, der Schläfer gesteht sich das Motiv seines Träumens unverhohlen ein, deckt aber damit eines der Geheimnisse des Träumens überhaupt auf. In gewissem Sinne sind alle Träume — Bequemlichkeits— träume; sie dienen der Absicht, den Schlaf fortzusetzen, anstatt zu erwachen. Der Traum ist der Wächter des Schlafes, nicht sein Störer. Gegen die psychisch erweckenden Momente werden wir diese Auffassung an anderer Stelle rechtfertigen; ihre Anwendbarkeit auf die Rolle der objektiven äußeren Reize können wir hier bereits begründen. Die Seele kümmert sich entweder überhaupt nicht um die Anlässe zu Sensationen während des Schlafens, wenn sie dies gegen die Intensität und die von ihr wohl— verstandene Bedeutung dieser Reize vermag; oder sie verwendet den Traum dazu, diese Reize in Abrede zu stellen, oder drittens, wenn sie dieselben anerkennen muß, so sucht sie jene Deutung derselben auf, welche die aktuelle Sensation als einen Teilbestand § 1187§ 1188
256 V. Das Trwmrmzterial und die Traumquzllen
§ 1189einer gewünschten und mit dem Schlafen verträglichen Situation
hinstellt. Die aktuelle Sensation wird in einen Traum verflochten, um ihr die Realität zu rauhen. Napoleon darf weiter schlafen; es ist ja nur eine Traumerinnerung an den Kanonendonner von Areale, was ihn stören will.‘ § 1190Der Wunsch zu schlafen [Eis] muß so als Motiv der
Traumbildung jedesmal eingerechnet werden, und jeder gelungene Traum ist eine Erfüllung desselben. Wie dieser allgemeine, regelmäßig vorhandene und sich gleichbleibende Schlaf wunsch sich zu den anderen Wünschen stellt, von denen bald der, bald jener durch den Trauminhalt erfüllt werden, dies wird Gegenstand einer anderen Auseinandersetzung sein. In dem Schlaf wunsch haben wir aber jenes Moment aufgedeckt, welches die Lücke in der StrümpelbWundtschen Theorie auszufüllen, die Schieiheit und Launenhaftigkeit in der Deutung des äußeren Reizes aufzuklären vermag. Die richtige Deutung, deren die schlafende Seele sehr wohl fähig isg nähme ein tätiges Interesse in Anspruch, stellte die Anforderung, dem Schlaf ein Ende zu machen; es werden darum von den überhaupt möglichen Deutungen nur solche zugelassen, die mit der absolutistisch geübten Zensur des Schlafwunsches vereinbart sind. Etwa: Die Nachtigall ist’s und nicht die Lerche. Denn wenn's die Lerche ist, so hat die Liebee nacht ihr Ende gefunden. Unter den nun zulässigen Deutungen des Reizes wird dann jene ausgewählt, welche die beste Ver knüpfung rnit den in der Seele lauernden Wunschregungen er werben kann. So ist alles eindeutig bestimmt und nichts der Willkür überlassen. Die Mißdeutung ist nicht Illusion, sondern * wenn man so will — Ausrede. Hier ist aber wiederum, wie bei dem Ersatz durch Verschiebung zu Diensten der Traumzensur, ein Akt der Beugung des normalen psychischen Vorganges zu zugeben. § 11911) Der Inhalt dieses Traumes wird in den zwei Quellen, aus denen ich ihn kanns,
nicht übereinstimmend „um. § 1192§ 1193
Dzr Wunsch zu schlafe")! ' 957
§ 1194Wenn die äußeren Nerven- und inneren Le1'breize intensiv
genug sind7 um sich psychische Beachtung zu envvingen, so stellen sie — falls überhaupt Träumen und nicht Erwachen ihr Erfolg ist , einen festen Punkt für die Traumbildung der, einen Kern im Traummaterial, zu dem eine entsprechende Wunscherl'üllung in ähnlicher Weise gesucht wird, wie (siehe oben) die vermit— telnden Vorstellungen zwischen zwei psychischen Traumreizen. Es ist insofern für eine Anzahl von Träumen richtig, daß in ihnen das sometische Element den Traumi.nhelt kommandiert. In diesem extremen Falle wird selbst hehufs der Treumbildung ein gerade nicht aktueller Wunsch geweckt. Der Traum kann aber nicht enden als einen Wunsch in einer Situation als erfüllt der» stellen; er ist gleichsam vor die Aufgabe gestth zu suchen, welcher Wunsch durd1 die nun 'aktuelle Sensation als erfüllt dar gestellt werden kann. Ist dies aktuelle Material von schmerzlichem oder peinlichern Charakter, so ist es doch darum zu: Traum § 1195hildung nicht unbrauchbar. Das Seelenleben verfügt auch über‘
§ 1196Wünsche, deren Erfüllung Unlust hervorrqu was ein Wider—
spruch scheint, aber durch die Berufung auf das Vorhandensein § 1197zweier psychischer Instanzen und die zwischen ihnen bestehende'
§ 1198Zensur erklärlich wird.
§ 1199Es gibt, wie wir gehört haben, im Seelenleben verdrängte
§ 1200Wünsche, die dem ersten System angehören, gegen deren Er- "
§ 1201füllung das zweite System sich sträubt. Es gibt, ist nicht etwa ?
§ 1202historisch gemeint, daß es solche Wünsche gegeben und diese
dann vernichtet werden sind; sondern die Lehre von der Ver drängung, deren man in der Psychoneurotik bedarf, behauptet, daß solche verdrängte Wünsche nach existieren, gleichzeitig aber eine Hemmung, die auf ihnen lastet. Die Sprache trifft das § 1203Richtige, wenn sie vom „Unterdrücken“ solcher Impulse redet. =
§ 1204Die psychische Veranstaltung, damit solche unterdrückte Wünsche
zur Realisierung durchdringen, bleibt erhalten und gebrauchsfähig. § 1205Ereignet es sich aber, daß solch ein unterdrückter Wunsch doch _
§ 1206§ 1207
958 V. Das Traummaterial und die Traumqueüm
§ 1208vollzogen wird, so äußert sich die überwundene Hemmung des
zweiten (bevvmßtseinsfa'higen) Systems als Unlust. Um nun diese Erörterung zu schließen: wenn Sensaüonen mit Unlustcharakter im Schlafe aus sumatischen Quellen vorhanden sind7 so wird diese Konstellation von der Traumarbeit benützt, um die Erfüllung eines sonst unterdrückten Wunsches — mit mehr oder weniger Bei— hehalt der Zensur —— darzustellen. § 1209Dieser Sachverhalt ermöglicht eine Reihe von An.gsttri-iumen7
während eine andere Reihe dieser der Wunschtheorie ungünstigen Traumbildungen einen anderen Mechanismus erkennen läßt. Die Angst in den Träumen kann nämlich eine psychoneuron'sche sein, aus psychusexuellen Erregungen stammen, wobei die Angst verdrängter Libido entspricht. Dann hat diese Angst wie der ganze Angsttraum die Bedeutung eines neurotischen Symptoms, und wir stehen an der Grenze, wo die wunscherfüllende Tendenz des Traumes scheitert. In anderen Angstträumen aber ist die Angst empfindung somatisch gegeben (etwa wie bei Lungen- und Hen kranken bei Zufälliger Atembehinderung), und dann wird sie dazu benützg solchen energisch unterdrückten Wünschen zur Erfüllung als Traum zu verhelfen, deren Träumen aus psychischen Motiven die gleiche Angstentbindung zur Folge gehabt hätte. Es ist nicht schwer, die beiden scheinbar gesonderten Fälle zu vereinigen. Von zwei psychischen Bildungen, einer Affektneigung und einem Vor stellungsinhalt, die innig zusammen gehören, hebt die eine, die aktuell gegeben ist, auch im Traum die andere; bald die somatisch gegebene Angst den unterdrückten Vorstellungsinhalt, bald der aus der Verdrängung befreite, mit'sexueller Erregung einhergehende Vor stellungsinhalt, die Angstentbindung. Von dem einen Fall kann man sagen, daß ein sumatisch gegebener Affekt psychisch gedeutet wird; im anderen Falle ist alles psychisch gegeben, aber der unter» drückt gewesene Inhalt ersetzt sich leicht durch eine zur Angst passende sumatische Deutung. Die Schwierigkeiten, die sich hier für das Verständnis ergeben, haben mit dem Traum nur wenig § 1210§ 1211
Die Verarbeitung mmatitchzr Semanan 259
§ 1212zu tun; sie rühren daher, daß wir mit diesen Erörterungen die
Probleme der Angstentwicklung und der Verdrängung streifen. § 1213Zu den kommandierenden Traumreizen aus der inneren Leib
lichkeit gehört unzweifelhaft die körperliche Gesamtsümrnung. Nicht daß sie den Trauminhalt liefern könnte, aber sie nötigt den Traumgedanken eine Auswahl aus dem Material auf, welches zur Darstellung im Trauminhalt dienen soll, indem sie den einen Teil dieses Materials, als zu ihrem Wesen passend, nahe legt, den anderen ferne hält. Überdies ist ja wohl diese Allgemeinstinumung vom Tage her mit den für den Traum bedeutsamen psychischen Resten verknüpft. [520] § 1214Wenn die sometischen Reizquellen während des Schlafes *
die Schlafsensationen also — nicht von ungewöhnlicher Intensität sind, so spielen sie nach meiner Schätzung für die Traumbildlmg eine ähnliche Rolle wie die als rezent verbliebenen, aber indifle— renten Eindrücke des Tages. Ich meine nämlich, sie werden zur Traumbildung herangezogen, wenn sie sich zur Vereinigung mit dem Vorstellungsinhalt der psychischen Traumquellen eignen, im anderen Falle aber nicht. Sie werden wie ein wohlfeiles, allezeit bereitliegendes Material behandelt, welches zur Verwendung kommt, so oft man dessen bedarf, anstatt daß ein kostbares Material die Art seiner Verwendung selbst mit vorschreibt. Der Fall ist. etwa ähnlich, wie wenn der Kunstgönner dem Künstler einen seltenen Stein, einen Onyx, bringt, aus ihm ein Kunst werk zu gestalten. Die Größe des Steines, seine Farbe und Fleckung helfen mit entscheiden, :welcher Kopf oder welche Szene in ihm dargestellt werden soll, während bei 'gleiehmäßigem und reich— lichem Material von Marmor oder Sandstein der Künstler allein der Idee nachfolgt, die sich in seinem Sinn gestaltet. Auf diese Weise allein scheint mir die Tatsache verständlich, daß jener Trauminhalt, der von den nicht ins Ungewohnte gesteigerten Reizen aus unserer Leiblichkeit geliefert wird, doch nicht in allen Träumen und nicht in jeder Nacht im Trauma erscheint. [E 27] § 1215§ 1216
240 V. Das Traummmerial und die Traumquellen
§ 1217Vielleicht wird ein Beispiel, das uns wieder zur Traumdeutung
zurückführt, meine Meinung am besten erläutern. Eines Tages mühte ich mich ab zu verstehen, was die Empfindung von Gehemmtsein, nicht von der Stelle können, nicht fertig werden u. dgl., die so häufig geträumt wird und die der Angst so nahe verwandt ist, wohl bedeuten mag. In der Nacht darauf hatte ich folgenden Traum: Ich gehe in sehr unvollständiger Toilette aus einer Wohnung im Parterre über die Treppe in ein höheres Stan/e werk. Dabei überspringe ich jedesmal drei Stufen, freue mich, daß ich so flink Treppen neigen kann. Plötzlich sehe ich, daß ein Dienrzmädchen die Treppen herab- und also mir entgegen lwmmz. Ich schäme mich, will mich eilen, und nun tritl jenes Gehemmlsein anf, ich klebe an den Stufen und komme nich! von der Stelle. § 1218Analyse: Die Situation des Traumes ist der alltäglichen Wirk»
lichkeit entnommen. Ich habe in einem Hause in Wien zwei Wohnungen, die nur durch die Treppe außen verbunden sind. Im Hochparterre befindet sich meine ärztliche Wohnung und mein Arbeitszimmer, einen Stuck höher die Wohnräume. Wenn ich in später Stunde unten meine Arbeit vollendet habe, gehe ich über die Treppe ins Schlafzimmer. An dem Abend vor dem Traum hatte ich diesen kurzen Weg wirklich in etwas demn— gierter Toilette gemacht, d. h. ich hatte Kragen, Krawatte und Manschetten abgelegt; im Traum war daraus ein höherer, aber, wie gewöhnlich, unbestimmter Grad von Kleiderlosigkeit ge— worden. Das Überspringen von Stufen ist meine gewöhnliche Art, die Treppe zu gehen, übrigens eine bereits im Traum anf erkannte Wunscherfüllung, denn mit der Leichtigkeit dieser Leistung hatte ich mich ob des Zustandes meiner Henarbeit ge— tröstet. Ferner ist diese Art, die Treppe zu gehen, ein wirksamer Gegensatz zu der Hemmung in der zweiten Hälfte des Traumes. Sie zeigt mir — was des Beweises nicht bedurfte —* daß der Traum keine Schwierigkeit hat, sich motorische Aktionen in aller § 1219§ 1220
Ein. Traum von motorischzr Hemmung 24.1
§ 1221Vellkommenheit ausgeführt vorzustellen; man denke an das Fliegen
im Traum! § 1222Die Treppe, über die ich gehe, ist aber nicht die meines
Hauses; ich erkenne sie zunächst nicht, erst die mir entgegen kommende Person klärt mich über die gemeinte Örtlichkeit auf. Diese Person ist das Dienstmädchen der alten Dame, die ich täglich zweimal besuche, um ihr Injektionen zu machen; die Treppe ist auch ganz ähnlich jener, die ich zweimal im Tage dort zu ersteigen habe. § 1223Wie gelangt nun diese Treppe und diese Frauensperson in
meinen Traum? Das Schämen, weil man nicht voll angekleidet ist, hat unzweifelhaft sexuellen Charakter; das Dienstmädchen, von dem ich träume, ist älter als ich, mürrisch und keineswegs anreizend. Zu diesen Fragen fällt mir nun nichts anderes ein als das Folgende: Wenn ich in diesem Hause den Morgenbesuch mache, werde ich gewöhnlich auf der Treppe von Räuspern be fallen; das Produkt der Expektoration gerät auf die Stiege. In diesen beiden Stockwerken befindet Sich nämlich kein Spucknapf, und ich vertrete den Standpunkt, daß die Beinhaltung der Treppe nicht auf meine Kosten erfolgen darf, sondern durch die An bringung eines Spucknapfes ermöglicht werden soll. Die Haus— meisterin, eine gleichfalls ältliche und mürrische Person, aber von reinlichen lnstinkten, wie ich ihr zuzugestehen bereit bin, nimmt in dieser Angelegenheit einen anderen Standpunkt ein. Sie lauert mir auf, ob ich mir wieder die besagte Freiheit erlauben werde, und wenn sie das konstatiert hat, höre ich sie vemehrnlich brummen. Auch versagt sie mir dann für Tage die gewohnte Hochachtung, wenn wir uns begegnen. Am Vortag des Traumes bekam nun die Partei der Hausmeisterin eine Verstärkung durch das Dienstmädchen. Ich hatte eilig, wie immer, meinen Besuch bei der Kranken abgemacht, als die Dienerin mich im Vorzimmer stellte und die Bemerkung von sich gab: „Herr Doktor hätten sich heute schon die Stiefel abputzen können, ehe Sie ins Zimmer § 1224r„mt IL .s
§ 1225§ 1226
242 V. Das Traumrruzterial und die Traumquellen
§ 1227kommen. Der rote Teppich ist wiederum ganz schmutzig von
Ihren Füßen." Dies ist der ganze Anspruch, den Treppe und Dienstrnädchen geltend machen können, um in meinem Traum zu erscheinen. § 1228Zwischen meinem Über—die»Treppe-fliegen und dem Auf-der
Treppe-spucken besteht ein inniger Zusammenhang. Rachenkatarrh wie Herzbeschwerden sollen beide die Strafen für das Laster des Rauchens darstellen, wegen dessen ich natürlich auch bei meiner Hausfrau nicht den Ruf der größten Nettigkeit genieße, in dem einen Haus so wenig wie in dem anderen, die der Traum zu einem Gebilde verschmilzt. § 1229Die weitere Deutung des Traumes muß ich verschieben, bis
ich berichten kann, woher der typische Traum von der unvoll— ständigen Bekleidung rührt. Ich bemerke nur als vnrläufiges Er— gebnis des mitgeteilten Traumes, daß die Traumsensation der ge— hemmten Bewegung überall dort hervorgerufen wird, wo ein ge wisser Zusammenhang ihrer bedarf. Ein besonderer Zustand meiner Motilität im Schlafe kann nicht die Ursache dieses Trauminhaltes sein, denn einen Moment vorher sah ich mich ja wie zur Sicherung dieser Erkenntnis leichtfüßig über die Stufen eilen. § 1230D
Typische Träume § 1231Wir sind im allgemeinen nicht imstande, den Traum eines
anderen zu deuten, wenn derselbe uns nicht die hinter dem Traum— inhalt stehenden unbewußten Gedanken ausliefern will, und da durch wird die praktische Verwertbarkeit unserer Methode der Traumdeutung schwer beeinträchtigt, [E 22] Nun gibt es aber, so recht im Gegensatz zu der sonstigen Freiheit des Einzelnen, sich seine Traumwelt in individueller Besonderheit auszustatten und dadurch dem Verständnis der anderen unzugänglich zu machen, eine ge wisse Anzahl von Träumen, die fast jedermann in derselben § 1232§ 1233
Typische Träume 943
§ 1234Weise geträumt hat, von denen wir anzunehmen gewohnt sind,
daß sie auch bei jedermann dieselbe Bedeutung haben. Ein be sonderes Interesse wendet sich diesen typischen Träumen auch darum zu, weil sie vermutlich bei allen Menschen aus den gleichen Quellen stammen, also besonders gut geeignet scheinen, uns über die Quellen der Träume Aufschluß zu geben. § 1235In der Behandlung dieser typischen Träume finde ich mich
durch den zufälligen Umstand behindert, daß nicht genug der selben für meine Erfahrung zugänglich geworden sind. Ich werde also nur Muster dieser Gattung eingehender würdigen und wähle hiefür den sogenannten Verlegenheitstraum der Nacktheit und den Traum vom Tod teurer Verwandter. [523] § 1236Der Traum, daß man nackt oder schlecht bekleidet in Gegen
wart Fremder sei, kommt auch mit der Zutat vor, man habe sich dessen gar nicht geschämt u. dgl. Unser Interesse gebührt aber dem Nacktheitstraum nur dann, wenn man in ihm Scham und Verlegenheit empfindet, entfliehen oder sich verbergen will und dabei der eigentürnlichen Hemmung unterliegt, daß man nicht von der Stelle kann und sich unvermögend fühlt, die peinliche Situation zu verändern. Nur in dieser Verbindung ist der Traum typisch; der Kern seines Inhaltes mag sonst in allerlei andere Verknüpfungen einbezogen werden oder mit individuellen Zutaten versetzt sein. Es handelt sich im wesentlichen um die peinliche Empfindung von der Natur der Scham, daß man seine Nacktheit, meist durch Lokomotion, verbergen möchte und es nicht zustande bringt Ich glaube, die allermeisten meiner Leser werden sich in dieser Situation im Traume bereits befunden haben. § 1237Für gewöhnlich ist die Art und Weise der Entkleidung wenig
deutlich, Man hört etwa erühlen, ich war im Hemd, aber dies ist selten ein klares Bild; meist ist die Unbekleidung so unbe stimmt, daß sie durch eine Alternative in der Erzählung wieder— gegeben wird: „Ich war im Hemd oder im Unter-rock.“ In der Regel ist der Defekt der Toilette nicht so arg, daß die daqu § 123815'
§ 1239§ 1240
„., V. Das Traummaterial und die Trmmqwllzn
§ 1241gehörige Scham gerechtfertigt schiene. Für den, der den Rock
des Kaisers getragen hat. ersetzt sich die Nacktheit häufig durch eine vorschriftswidrige Adjustierung. „Ich bin ohne Säbel auf der Straße und sehe Offiziere näher kommen, oder ohne Halsbinde, oder trage eine karrierte Zivilhuse u. tig.“ § 1242Die Leute, vor denen man sich schämt, sind fast immer Fremde
mit unbestimmt gelassenen Gesichtern. Niemals ereignet es sich im typischen Traum, daß man wegen der Kleidung, die einem selbst solche Verlegenheit bereitet, beanstandet oder auch nur be— merkt wird. Die Leute machen ganz im Gegenteil gleichgültige, oder wie ich es in einem besonders klaren Traum wahrnehmen konnte, feierlich steife Mienen. Das gibt zu denken. § 1243Die Schamverlegen.heit des Träumers und die Gleichgültigkeit
der Leute ergeben mitsammen einen Widerspruch, wie er im Traume häufig vorkommt. Zu der Empfindung des Träumenden würde doch nur passen, daß die Fremden ihn erstaunt ansehen und verlachen, oder sich über ihn entrüsten. Ich meine aber, dieser anstößige Zug ist durch die Wunscherfüllung beseitigt werden, während der andere, durch irgendwelche Macht ge halten, stehen blieb, und so stimmen die beiden Stücke dann schlecht zueinander. Wir besitzen ein interessantes Zeugnis dafür, daß der Traum in seiner durch Wunscherfüllung partiell ent stellten Form das richtige Verständnis nicht gefunden hat. Er ist nämlich die Grundlage eines Märchens geworden, welches uns allen in der Andersenschen Fassung („Des Kaisers neue Kleider“) bekannt ist, und in der jüngsten Zeit durch L. Fulda im „Talis man“ poetischer Verwertung zugeführt werden ist. Im Ander senschen Märchen wird von zwei Betrügern erzählt, die für den Kaiser ein kostbares Gewand weben, das aber nur den Guten und Treuen sichtbar sein soll. Der Kaiser geht in diesem un sichtbaren Gewand bekleidet aus, und durch die pfiifsteinartige Kraft des Gewebes erschreckt, tun alle Leute, als ob sie die Nacktheit des Kaisers nicht merken. § 1244§ 1245
Der Nackzhzimmum 945
§ 1246Letzteres ist aber die Situation unseres Traumes. Es gehört wohl
nicht viel Kühnheit dazu anzunehmen, daß der unverständliche Trauminhalt eine Anregung gegeben hat, um eine Einkleidung zu erfinden, in welcher die vor der Erinnerung stehende Situation sinnreich wird. Dieselbe ist dabei ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt und fremden Zwecken dienstbar gemacht werden. Aber wir werden hören, daß solches Mißversn‘indnis des Trauminhalres durch die hewußbe Denktätigkeit eines zweiten psychischen Systems häufig vorkommt und als ein Fakmr für die endgültige Traumgestaltung anzuerkennen ist; ferner, daß bei der Bildung von Zwangsvorstellungen und Phobien ähnliche Mißverständnisse — gleichfalls innerhalb der nämlichen psychischen Persönlichkeit — eine Hauptrolle spielen. Es läßt sich auch für unseren Traum angeben, woher das Material für die Umdeutung genommen wird. Der Betn'lger ist der Traum, der Kaiser der Träumer selbst, und die moralisierende Tendenz verrät eine dunkle Kenntnis davon, daß es sich» im latenten Trauminhalt um unerlaubte, der Ver drängung geopferte Wünsche handelt. Der Zusammenhang, in welchem solche Träume während meiner Analysen bei Neurotikern auftreten, läßt nämlich keinen Zweifel darüber, daß dem Traume eine Erinnerung aus der frühesten Kindheit zugrunde liegt.' Nur in unserer Kindheit gab es die Zeit, daß wir in mangelhafter Bekleidung von unseren Angehörigen wie von fremden Pflege— personen, Dienstmädchen, Besuchern gesehen wurden, und wir haben uns damals unserer Nacktheit nicht geschämt.‘ An vielen Kindern noch in späteren Jahren kann man beobachten, daß ihre Entkleidung wie berauschend auf sie wirkt, anstatt sie zur Scham zu leiten. Sie lachen, springen herum, schlagen sich auf den Leib, die Mutter oder wer dabei ist, verweist es ihnen, sagt: Pfui, das ist eine Schande, das darf man nicht. Die Kinder zeigen häufig Exhibitionsgelüste; man kann kaum durch ein Dorf in unseren § 12471) Du Kind um aber „ich im Märchen auf, denn dan „n namen ein klein-:
Kind: „Aber er im in ger nicht: an.“ § 1248§ 1249
245 V, Das Traumarerial und die Traumquellm
§ 1250Gegenden gehen, ohne daß man einem zwei- bis dreijährigen
Kleinen begegnete, welches vor dem Wanderer, vielleicht ihm zu Ehren, sein Hemdohen hoch hebt Einer meiner Patienten hat in seiner bewußten Erinnerung eine Szene aus seinem achten Lebensjahr bewahrt, wie er nach der Entkleidung vor dem Schlafen gehen im Hemd zu seiner kleinen Schwester im nächsten Zimmer hinaustanzen will, und wie die dienende Person es ihm verwehrt. In der Jugendgeschichte von Neurotikern spielt die Entblößung vor Kindern des anderen Geschlechtes eine große Rolle; in der Paranoia ist der Wahn, beim An- und Auskleiden beobachtet zu werden, auf diese Erlebnisse zurückzuführen; unter den pervers Gebliebenen ist eine Klasse, bei denen der infantile Impuls zum Symptome erhoben worden ist, die der Exhibitio— nisten. § 1251Diese der Scham entbehrende Kindheit erscheint unserer Rück
schau später als ein Paradies, und das Paradies selbst ist nichts anderes als die Massenphantasie von der Kindheit des einzelnen. Darum sind auch im Paradies die Menschen nackt und schämen sich nicht voreinander, bis ein Moment kommt, in dem die Scham und die Angst erwachen, die Vertreibung erfolgt, das Geschlechtsleben und die Kulturarbeit beginnt. In dieses Paradies kann uns nun der Traum allnächtlich zurückführen; wir haben bereits der Vermutung Ausdruck gegeben, daß die Eindrücke aus der ersten Kindheit (der prähistorischen Periode bis etwa zum vollendeten dritten Jahr) an und für sich, vielleicht ohne daß es auf ihren Inhalt weiter ankäme, nach Reproduktion verlangen, daß deren Wiederholung eine Wunscherfüllung ist. Die Nacktheits— träume sind also Exhibitionsträume. [524] § 1252Den Kern des Exhibitionstraumes bildet die eigene Gestalt,
die nicht als die eines Kindes, sondern wie in der Gegenwart gesehen wird, und die mangelhafte Bekleidung, welche durch die Überlagerung so vieler späterer Negligéerinnerungen oder der Zensur zu Liebe undeutlich ausfällt, dazu kommen nun die Pen § 1253§ 1254
Die kindliche Erhibitinmlust 947
§ 1255sonen, vor denen man sich schärnt. Ich kenne kein Beispiel, daß
die tatsächlichen Zuschauer bei jenen infantilen Exhibitionen im Träume wieder auftreten, Der Traum ist eben fast niemals eine einfache Erinnerung. Merkwürdigerweise werden jene Personen, denen unser sexuelles Interesse in der Kindheit galt, in allen Reproduktionen des Traumes, der Hysterie und der Zwangs— neurose ausgelassen; erst die Paranoia setzt die Zuschauer wieder ein und schließt, obwohl sie unsichtbar geblieben sind, mit fanatischer Überzeugung auf ihre Gegenwart. Was der Traum für sie einsetzt, „viele fremde Leute“, die sich nicht um das gehotene Schaupiel kümmern, ist geradezu der Wunschgegensatz zu jener einzelnen, wohlverlrauten Person, der man die Enthlößung bot. „Viele fremde Leute“ finden sich in Träumen übrigens auch häufig in beliebigem anderen Zusammenhang; sie bedeuten immer als Wunschgegensatz „Geheimnis“. [E25] Man merkt, wie auch die Restitution des alten Sachverhaltes, die in der Paranoia vor sich geht, diesem Gegensatze Rechnung trägt. Man ist nicht mehr allein, man wird ganz gewiß beobachtet, aber die Beobachter sind „viele, fremde, merkwürdig unbestimmt ge— lassene Leute“. § 1256Außerdem kommt im Exhibitionstraum die Verdrängung zur
Sprache. Die peinliche Empfindung des Traumes ist ja die Reaktion des zweiten psychischen Systems dagegen, daß der von ihr ver worfene Inhalt der Exhibitionszene dennoch zur Vorstellung gelangt ist. Um sie zu ersparen, hätte die Szene nicht wieder belebt werden dürfen. § 1257Von der Empfindung des Gehemmtseins werden wir später
nochmals handeln. Sie dient im Traum vortrefilich dazu, den Willenskonflikt, das Nein, darzustellen. Nach der unhewußten Absicht soll die Exhibition fortgesetzt, nach der Forderung der Zensur unterbrochen werden. § 1258Die Beziehungen unserer typischen Träume zu den Märchen
und anderen Dichtungsstaffen sind gewiß weder vereinzelte noch § 1259§ 1260
„a V. Das Traummatzrial und die Traumuzllen
§ 1261zufällige. Gelegentlich hat ein scharfes Dichterauge den Um
wandlungsprozeß, dessen Werkzeug sonst der Dichter ist, ana lytisch erkannt und ihn in umgekehrter Richtung verfolgt, also die Dichtung auf den Traum zurückgeführt. Ein Freund macht mich auf folgende Stelle aus Gottfried Kellers „Grünem Hein— rich“ aufmerksam: „Ich wünsche Ihnen nicht, lieber Lee, daß Sie jemals die ausgesuchte pikante Wahrheit in der Lage des Odysseus, wo er nackt und mit Schlamm bedeckt vor Nausikaa und ihren Gewielen erscheint7 so recht aus Erfahrung empfinden lernen! Wollen Sie wissen, wie das zugeht? Halten wir das Bei spiel einmal fest. Wenn Sie einst getrennt von Ihrer Heimat und allem, was Ihnen lieb ist, in der Fremde umherschweifen und Sie haben viel gesehen und viel erfahren, haben Kummer und Sorge, sind wohl gar elend und verlassen, so wird es Ihnen des Nachts unfehlbar träumen, daß Sie sich Ihrer Heimat nähern; Sie sehen sie glänzen und leuchten in den schönsten Farben, holde, feine und liebe Gestalten treten Ihnen entgegen; da ent— decken Sie plötzlich, daß Sie zerfetzt, nackt und staubbedeckt umhergehen. Eine namenlose Scham und Angst faßt Sie, Sie suchen sich zu bedecken, zu verbergen und erwerben im Schweiße gebadet. Dies ist, so lange es Menschen gibt, der Traum des kummervollen, umhergeworfenen Mannes, und so hat Homer jene Lage aus dem tiefsten und ewigen Wesen der Menschheit herausgenommen.“ § 1262Das tiefste und ewige Wesen der Menschheit, auf dessen Er—
weckung der Dichter in der Regel bei seinen Hörern baut, das sind jene Regungen des Seelenlebens, die in der später prä historisch gewordenen Kinderzeit Wurzeln. Hinter den bewußt seinsfa'higen und einwandfreien Wünschen des Heimatlosen brechen im Traum die unterdrückten und unerlaubt gewurdenen Kinder Wünsche hervor, und darum schlägt der Traum, den die Sage von der Nausikaa Dbjektiviert, regelmäßig in einen Angst— traum um. § 1263§ 1264
Infantilcs zwn Nackthziutraum 949
§ 1265Mein eigener auf S. 24.0 erwähnter Traum von dem Eilen
über die Treppe, das sich bald nachher in ein An-den-Stufen kleben verwandelt, ist gleichfalls ein Exhibitionstraum, da er die wesentlichen Bestandstücke eines solchen aufweist. Er müßte sich also auf Kindererlebnisse zurückfiibren lassen, und die Kenntnis derselben müßte einen Aufschluß darüber geben, inwiefern das Benehmen des Dienstmädchens gegen mich, ihr Vorwurf, daß ich den Teppich schmutzig gemacht habe, ihr zur Stellung verhilft, die sie im Traum einnimmt. Ich kann die gewünschten Auf klärungen nun wirklich beibringen. In einer Psychoanalyse lernt man die zeitliche Annäherung auf sachlichen Zusammenhang umdeuten; zwei Gedanken, die, anscheinend zusammenhanglos, unmittelbar aufeinander folgen, gehören zu einer Einheit, die zu erraten ist, ebenso wie ein a und ein b, die ich nebeneinander hinschreibe, als eine Silbe: ab ausgesprochen werden sollen. Ähnlich mit der Aufeinanderbeziehung der Träume. Der erwähnte Traum von der Treppe ist aus einer Traumreihe herausgegriffen, deren andere Glieder mir der Deutung nach bekannt sind. Der von ihnen eingeschlossene Traum muß in denselben Zusammenhang gehören. Nun liegt jenen anderen einschließenden Träumen die Erinnerung an eine Kinder£r8u zugrunde, die mich von irgend— einem Termin der Säuglingszeit bis zum Alter von zweieinhalb Jahren betreut hat, von der mir auch eine dunkle Erinnerung im Bewußtsein geblieben ist. Nach den Auskünften, die ich unlängst von meiner Mutter eingeholt habe, war sie alt und häßlich, aber sehr klug und tüchtig; nach den Schlüssen, die ich aus meinen Träumen ziehen darf, hat sie mir nicht immer die liebevollste Behandlung angedeihen und mich harte Worte hören lassen, wenn ich der Erziehung zur Reinlichkeit kein genügendes Verständnis entgegenbrachte. Indem also das Dienst— mädchen dieses Erziehungswerk fortzusetzen sich bemüht, erwirbt sie den Anspruch, von mir als Inkarnation der prähistorischen Alten im Traum behandelt zu werden. F.; ist wohl anzunehmen, § 1266§ 1267
250 V. Dax Trmnnmllterial und die Traumquellen
§ 1268daß das Kind dieser Erzieherin, trotz ihrer schlechten Behandlung,
seine Liebe geschenkt hat.‘ § 1269Eine andere Reihe von Träumen, die typisch genannt werden
dürfen, sind die mit dem Inhalt, daß ein teurer Verwandter, Eltern oder Geschwister, Kinder usw. gestorben ist. Man muß sofort von diesen Träumen zwei Klassen unterscheiden, die einen, bei welchen man im Traum von Trauer unberührt bleibt, so daß man sich nach dem Erwachen über seine Gefühllosigkeit wundert, die anderen, bei denen man tiefen Schmerz über den Todesfall empfindet, ja ihn selbst in heißen Tränen während des Schlafes äußert. § 1270Die Träume der ersten Gruppe dürfen wir beiseite lassen; sie
haben keinen Anspruch, als typisch zu gelten. Wenn man sie analysiert, findet man, daß sie etwas anderes bedeuten, als sie ent halten, daß sie dazu bestimmt sind, irgendeinen anderen Wunsch zu verdecken. So der Traum der Tante, die den einzigen Sohn ihrer Schwester aufgebahrt vor sich sieht. (S. 155.) Das bedeutet nicht, daß sie dem kleinen Neffen den Tod wünscht, sondern ver birgt nur, wie wir erfahren haben, den Wunsch, eine gewisse geliebte Person nach langer Entbehrung wieder zu sehen, dieselbe, die sie früher einmal nach ähnlich langer Pause bei der Leiche eines anderen Neffen wiedergesehen hat. Dieser Wunsch, welcher der eigentliche Inhalt des Truumes ist, gibt keinen Anlaß zur Trauer, und darum wird auch im Traum keine Trauer verspürt. Man merkt es hier, daß die im Traum enthaltene Empfindung nicht zum manifesten Trauminhalt gehört, sondern zum latenten, daß der Affekrinhalt des Traumes von der Entstellung frei ge blieben ist, welche den Vorstellungsinhalt betroffen hat. § 1271Anders die Träume, in denen der Tod einer geliebten ver
wandten Person vorgestellt und dabei scl1n'ierzlicher Affekt verspürt § 1272;) Eine Überdeutung dieses '1‘remnes: Auf der Trappe spucken, das fiihm, de
„Spuken“ eine Tätigkeit der Geist91 ist, bei loser Übersetzung zum „esprit d’::cnlizr". Treppenwitz heißt snviel als Mangel „. Sehlag-fertigkeit. Den habe ich mir wirklich vunuwerfen. oa a]mr die Kinderfran es im „Schlngfertigkeit" im fehlm lassen? § 1273§ 1274
Träume vom Tod teurer Verwandter 951
§ 1275wird. Diese bedeuten, was ihr Inhalt besagt, den Wunsch, daß die
betreffende Person sterben möge, und da ich hier erwarten darf, daß sich die Gefühle aller Leser und aller Personen, die Ähnliches geträumt haben, gegen meine Auslegung sträuben werden, muß ich den Beweis auf der breitesten Basis anstreben. § 1276Wir haben bereits einen Traum erläutert, aus dem wir lernen
konnten, daß die Wünsche, welche sich in Träumen als erfüllt darstellen, nicht immer aktuelle Wünsche sind. Es können auch verfiosseue, abgetane, überlagerte und verdrängte Wünsche sein, denen wir nur wegen ihres Wiederauftauchens im Traum doch eine Art von Furtexistenz zusprechen müssen. Sie sind nicht tot wie die Verstorbenen nach unserem Begriff, sondern wie die Schatten der Odyssee, die, sobald sie Blut getrunken haben, zu einem gewissen Leben erwachen. In jenem Traum vom toten Kind in der Schachtel (S. 158) handelte es sich um einen Wunsch, der vor fünfzehn Jahren aktuell war und von damals her unumwunden eingestanden wurde. Es ist vielleicht für die Theorie des Traumes nicht gleichgültig, wenn ich hinzufüge, daß selbst diesem Wünsche eine Erinnerung aus der frühesten Kind heit zugrunde liegt. Die Träumerin hatte als kleines Kind , wann, ist nicht sicher festzustellen —— gehört, daß ihre Mütter in der Schwangerschaft, deren Frucht sie wurde, in eine schwere Verstirnmung verfallen war und dem Kinde in ihrem Leibe sehnlichst den Tod gewünscht hatte. Selbst erwachsen und gravid geworden, folgte sie nur dem Beispiele der Mutter. § 1277Wenn jemand unter Schmerzensäußerungen davon träumt, sein
Vater oder seine Mutter, Bruder oder Schwester seien gestorben, so werde ich diesen Traum niemals als Beweis dafür verwenden, daß er ihnen jetzt den Tod wünscht. Die Theorie des Traumes fordert nicht so viel; sie begnügt sich zu schließen, daß er ihnen v irgendeinmal in der Kindheit — den Tod gewünscht habe. Ich fürchte aber, diese Einschränkung wird noch wenig zur Be ruhigung der Beschwerdeführer beitragen; diese dürften ebenso § 1278§ 1279
252 V. Das Traummatzrial und die Traumquellzn
§ 1280energisch die Möglichkeit bestreiten, daß sie je so gedacht haben,
wie sie sich sicher fühlen, nicht in der Gegenwart solche Wünsche zu hegen. Ich muß darum ein Stück vom untergegangenen Kinder seelenlehen nach den Zeugnissen, die noch die Gegenwart auf weist, wieder herstellen. [E 26] § 1281F assen wir zunächst das Verhältnis der Kinder zu ihren Geschwistern
ins Auge. Ich weiß nicht, warum wir voraussetzeu, es müsse ein liebevolles sein, da doch die Beispiele von Geschwisterfeindschaft unter Erwachsenen in der Erfahrung eines jeden sich drängen, und wir so oft feststellen können, diese Entzweiu.ng rühre noch aus der Kindheit her, oder habe von jeher bestanden. Aber auch sehr viele Erwachsene, die heute an ihren Geschwistern zärtlich hängen und ihnen beistehen, haben in ihrer Kindheit in kaum unterbrochener Feindschaft mit ihnen gelebt. Das ältere Kind hat das jüngere mißhandelt, angeschwärzt, es seiner Spielsachen be raubt; das jüngere hat sich in ohnmächtiger Wut gegen das ältere verzehrt, es beneidet und gefürchtet, oder seine ersten Regungen von Freiheitsdrang und Rechtsbewußtsein haben sich gegen den Unterdrücker gewendet. Die Eltern sagen, die Kinder vertragen sich nicht, und wissen den Grund hiefür nicht zu finden. Es ist nicht schwer zu sehen, daß auch der Charakter des braven Kindes ein anderer ist, als wir ihn bei einem Erwachsenen zu finden wünschen. Das Kind ist absolut egoistisch, es empfindet seine Bedürfnisse intensiv und strebt rücksiehtslos nach ihrer Befriedigung, insbesondere gegen seine Mitbewerber, andere Kinder, und in erster Linie gegen seine Geschwister. Wir heißen das Kind aber darum nicht „schlecht“, wir heißen es „schlimm“; es ist unver antwcrtlich für seine bösen Taten vor unserem Urteil wie vor dem Strafgesetz. Und das mit Recht; denn wir dürfen erwarten, daß noch innerhalb von Lebenszeiten, die wir der Kindheit zu rechnen, in dem kleinen Egnisten die altruistischen Regungen und die Moral erwachen werden, daß, mit Meynert zu reden, ein sekundäres Ich das primäre über]agern und hemmen wird. § 1282§ 1283
Der Egoirmus des Kinder 955
§ 1284Wohl entsteht die Moralität nicht gleichzeitig auf der ganzen
Linie, auch ist. die Dauer der morallosen Kindheitsperiode beiden einzelnen Individuen verschieden lang. Wo die Entwicklung dieser Moralität susbleibt, sprechen wir gerne von „Degeneration“; es handelt sich oifenbar um eine Entwicklungshemmung. Wo der primäre Charakter durch die spätere Entwicklung bereits über lagert ist, kann er durch die Erkrankung an Hysterie wenigstens partiell wieder freigelegt werden. Die Übereinstimmung des soge- ‘ nannten hysterischen Charakters mit dem eines schlimmen Kindes ist geradezu auffällig. Die Zwangsneurose hingegen entspricht einer Übermoralität, als verstärkende Belastung dem sich wieder regenden primären Charakter auferlegt. § 1285Viele Personen also, die heute ihre Geschwister lieben und sich
durch ihr Hinsterhen beraubt fühlen würden, tragen von früher her böse Wünsche gegen dieselben in ihrem Unbewußten, welche sich in Träumen zu realisieren vermögen. Es ist aber ganz besonders interessant, kleine Kinder bis zu drei Jahren oder wenig darüber in ihrem Verhalten gegen jüngere Geschwister zu beuhachten. Das Kind war bisher das einzige; nun wird ihm angekündigt, daß der Storch ein neues Kind gebracht hat. Das Kind mustert den Ankömmling und äußert dann entschieden: „Der Storch soll es wieder mitnehmen.“ [: 27] Ich bekenne mich in allem Ernst zu: Meinung, daß das Kind abzuschätzen weiß, welche Benachteiligung es von dem Fremdling zu erwarten hat, Von einer mir nahe— stehenden Dame, die sich heute mit ihrer um vier Jahre jüngeren Schwester sehr gut verträgt, weiß ich, daß sie die Nachricht von deren Ankunft mit dem Vorbehalt beantwortet hat: „Aber meine rote Kappe werde ich ihr doch nicht geben.“ Sollte das Kind erst später zu dieser Erkenntnis kommen, so wird seine Feindseligkeit in diesem Zeitpunkt erwachen. Ich kenne einen Fall, daß ein nicht dreijähriges Mädchen den Säugling in der Wiege zu er— würgen versuchte, von dessen weiterer Anwesenheit ihr nichts Gutes ahnte. Der Eifersucht sind Kinder um diese Lebenszeit in § 1286§ 1287
954 V. Das Traummatzrial und die Traumquellen
§ 1288aller Stärke und Deutlichkeit fähig. Oder das kleine Geschwisterchen
ist wirklich bald wieder verschwunden, das Kind hat wieder alle Zärtlichkeit im Hause auf sich vereinigt, nun kommt ein neues vom Storch geschickt; ist es da nicht korrekt, daß unser Liebling den Wunsch in sich erschaffen sollte, der neue Konkurrent möge dasselbe Schicksal haben wie der frühere, damit es ihm wieder so gut gehe wie vorhin und in der Zwischenzeit? [Em] Natürlich ist dieses Verhalten des Kindes gegen die Nachgeborenen in nor malen Verhältnissen eine einfache Funktion des Altersunterschiedes. Bei einem gewissen Intervall werden sich in dem älteren Mädchen bereits die mütterlichen Instinkte gegen das hilflose Neugeborene regen. § 1289Empfindungen von Feindseligkeit gegen die Geschwister müssen
im Kindesalter noch weit häufiger sein als sie der stumpfen Be» obachtung Erwachsener auffallen. [529] § 1290Bei meinen eigenen Kindern, die einander rasch folgten, habe
ich die Gelegenheit zu solchen Beobachtungen versäumt; ich hole sie jetzt bei meinem kleinen Neffen nach, dessen Alleinherrschaft nach fünfzehn Monaten durch das Auftreten einer Mitbewerberin gestört wurde. Ich höre zwar, daß der junge Mann sich sehr ritterlich gegen das Schwesterchen henirnmt, ihr die Hand küßt und sie streichelt; ich überzeuge mich aber, daß er schon vor seinem vollendeten zweiten Jahr seine Sprachfähigkeit dazu benützt, um Kritik an der ihm doch nur überflüssig erscheinenden Person zu üben. So oft die Rede auf sie komn1t7 meng1. er sich ins Gespräch und ruft unwillig: Zu k(l)ein, zu k(l)ein. In den letzten Monaten, seitdem das Kind sich durch Vortreffliche Entwicklung dieser Geringschätzung entzogen hat7 weiß er seine Mahnung, daß sie so viel Aufmerksamkeit nicht verdient, anders zu begründen. Er erinnert bei allen geeigneten Anlässen daran: Sie hat keine Zähne. [E 30] Von dem ältesten Mädchen einer anderen Schwester haben wir alle' die Erinnerung bewahrt, wie das damals sechs jählige Kind sich eine halbe Stunde lang von allen Tanten be— § 1291§ 1292
Die Febndseliglrziz gegen Gerehwiszzr 955
§ 1293stätigen ließ: „Nicht wahr, das kann die Lucie noch nicht verstehen?“
Lucie war die um zweieinhalb Jahre jüngere Konkurrentin. § 1294Den gesteigerter Feindseligkeit entsprechenden Traum vom
Tod der Geschwister habe ich z. B. bei keiner meiner Patientinnen vermißt. Ich fand nur eine Ausnahme, die sich leicht in eine Bestätigung der Regel umdeuten ließ. Als ich einst einer Dame während einer Sitzung diesen Sachverhalt erklärte, der mir bei dem Symptom an der Tagesordnung in Betracht zu kommen schien7 antwortete sie zu meinem Erstaunen, sie habe solche Träume nie gehabt. Ein anderer Traum fiel ihr aber ein, der angeblich damit nichts zu schaffen hatte, ein Traum, den sie mit vier Jahren zuerst, als damals Jüngste, und dann wiederholt ge— träumt hatte. „Eine Menge Kinder, alle ihre Brüder, Schwestern, Cousin; und Causinen tummelten sich auf einer }Viese. Plötzlich bekamen sie Flügel, flogen anf und waren weg.“ Von der Be deutung dieses Traumes hatte sie keine Ahnung; es wird uns nicht schwer fallen, einen Traum vom Tod aller Geschwister in seiner ursprünglichen, durch die Zensur wenig beeinflußten Form darin zu erkennen. Ich getraue mich folgende Analyse unterm schieben. Bei dem Tode eines aus der Kinderschar — die Kinder zweier Brüder wurden in diesem Falle in geschwisterlicher Ge meinschaft aufgezogen — wird unsere noch nicht vieriähri.ge Träumerin eine weise erwachsene Person gefragt haben: was wird denn aus den Kindern, wenn sie tot sind? Die Antwort wird gelautet haben: Dann bekommen sie Flügel und werden Engerln. Im Traum nach dieser Aufklärung haben nun die Geschwister alle Flügel wie die Engel und —— was die Haupt sache ist —— sie fliegen weg. Unsere kleine Engelmacherin bleibt allein, man denke, das einzige nach einer solchen Schar! Daß sich die Kinder auf einer Wiese tummeln, von der sie wegfliegen, deutet kaum mißverständlich auf Schmetterlinge hin, als ob dieselbe Gedankenverbindung das Kind geleitet hätte, welche die Alten bewog, die Psyche mit Schmetterlingsflügeln zu bilden. § 1295§ 1296
956 V. Das Traunumzterial und di; fl‘raumquellm
§ 1297Vielleicht wirft nun jemand ein, die feindseligen Impulse der
Kinder gegen ihre Geschwister seien wohl zuzugeben, aber wie käme das Kindergemüt zu der Höhe von Schlechtigkeit, dem Mitbewerber oder stärkeren Spielgenossen den Tod zu wünschen, als ob alle Vergehen nur durch die Todesstrafe zu sühnen seien? Wer so spricht, erwägt nicht, daß die Vorstellung des Kindes vom „Totsein“ mit der unsrigen das Wort und dann nur noch wenig anderes gemein hat. Das Kind weiß nichts von den Greueln der Verwesung, vom Frieren im kalten Grab, vom Schrecken des endlosen Nichts, das der Erwachsene, wie alle Mythen vom Jenseits zeugen, in seiner Vorstellung so schlecht verträgt. Die Furcht vor dem Tode ist ihm fremd, darum spielt es mit dem gräßl.ichen Wort und droht einem anderen Kind: „Wenn du das noch einmal tust, wirst du sterben, wie der Franz gestorben ist“, wobei es die arme Mutter schandernd überläufg die vielleicht nicht daran vergessen kann, daß die größere Hälfte der erdgeborenen Menschen ihr Leben nicht über die Jahre der Kindheit bringt. Noch mit acht Jahren kann das Kind, von einem Gang durch das Naturhistorische Museum heimgekehrt7 seiner Mutter sagen: „Mama, ich habe dich so lieb, wenn du einmal stirbst, lasse ich dich ausstopfen und stelle dich hier im Zimmer auf, damit ich dich immer, immer sehen kann!“ So wenig gleicht die kindliche Vorstellung vom Gestorbensein der unsrigen. [E 31] § 1298Gestorben sein heißt für das Kind, welchem ja überdies die
Szenen des Leidens vor dem Tode zu sehen erspart wird, so viel als „fort sein“, die Überlebenden nicht mehr stören. Es unter scheidet nicht, auf welche Art diese Abwesenheit zustande kommt, ob durch Verreisen, Entfremdung oder Tod. [: 32] Wenn in den prä historischen Jahren eines Kindes seine Kinderfran weggeschickt werden und einige Zeit darauf seine Mutter gestorben ist, so liegen für seine Erinnerung, wie man sie in der Analyse auf— deckt, beide Ereignisse in einer Reihe übereinander. Daß das Kind die Abwesenden nicht sehr intensiv vermißt, hat manche § 1299§ 1300
Todeswiinsche gegen Garhwivtzr und Eltern 957
§ 1301Mutter zu ihrem Schmerz erfahren, wenn sie nach mehrwöchent—
licher Sommerreise in ihr Haus zurückkehrte und auf ihre Er kundigung hören mußte: Die Kinder haben nicht ein einziges Mal nach der Mama gefragt. Wenn sie aber wirklich in jenes „unentdeckte Land“ verreist ist, „von des Bezirk kein Wanderer wieder-kehrt“, so scheinen die Kinder sie zunächst vergessen zu haben und erst nachträglich beginnen sie, sich an die Tote zu ‘_ erinnern. § 1302Wenn das Kind also Motive hat, die Abwesenheit eines anderen
Kindes zu wünschen, so mangelt ihm jede Abhaltung, diesen Wunsch in die Form zu kleiden, es möge tot sein, und die psychische Reaktion auf den Todeswunschtraum beweist, daß trotz aller Verschiedenheit im Inhalt der Wunsch beim Kinde doch irgendwie das nämliche ist wie der gleichlautende Wunsch des Erwachsenen. § 1303Wenn nun der Todeswunsch des Kindes gegen seine Geschwister
erklärt wird durch den Egoismus des Kindes, der es die Geschwister als Mitbewerber auffassen läßt, wie soll sich der Todeswunsch gegen die Eltern erklären, die für das Kind die Spender von Liebe und Erfüller seiner Bedürfnisse sind, deren Erhaltung es gerade aus egoistischen Motiven wünschen sollte? § 1304Zur Lösung dieser Schwierigkeit leitet uns die Erfahrung, daß
die Träume vom Tode der Eltern überwiegend häufig den Teil des Elternpaares betreffen, der das Geschlecht des Träumers teilt, daß also der Mann zumeist vom Tode des Vaters, das Weib vom Tode der Mutter träumt. Ich kann dies nicht als regelmäßig hin stellen, aber das Überwiegen in dem angedeuteten Sinne ist so deutlich, daß es eine Erklämng durch ein Moment von all— gemeiner Bedeutung fordert. [E 53] Es verhält sich —— grob ausge sprochen —— so, als ob eine sexuelle Vorliebe sich frühzeitig geltend machen würde, als ob der Knabe im Vater, das Mädchen in der Mutter den Mitbewerber in der Liebe erblickte, durch dessen Beseitigung ihm nur Vorteil erwachsen kann. § 1305Frau; 11.
§ 1306§ 1307
g5ß V. Das Traummaterial und die Tram/[quellen
§ 1308Ehe man diese Vorstellung als ungeheuerlich verwirft, möge
man auch hier die realen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ins Auge fassen. Man hat zu sondern, was die Kultur forderung der Pietät von diesem Verhältnis verlangt, und was die tägliche Beobachtung als tatsächlich ergibt. In der Beziehung zwischen Eltern und Kindern liegen mehr als nur ein Anlaß zur Feindseligkeit verborgen; die Bedingungen für das Zustandekommen von Wünschen, welche vor der Zensur nicht bestehen, sind im reichsten Ausmaße gegeben. Verweilen wir zunächst bei der Relation zwischen Vater und Sohn. Ich meine, die Heiligkeit, die wir den Voischriften des Dekalogs zuerkannt haben, stumpft unseren Sinn für die Wahrnehmung der Wirklichkeit ab. Wir ge trauen uns vielleicht kaum zu merken, daß der größere Teil der Menschheit sich über die Befolgung des vierten Gebotes hinaus setzt. In den tiefsten wie in den höchsten Schichten der mensch lichen Gesellschaft pflegt die Pietät gegen die Eltern vor anderen Interessen zurückzutreten. Die dunklen Nachrichten, die in Mytho logie u.nd Sage aus der Urzeit der menschlichen Gesellschaft auf uns gekommen sind, geben von der Machtfülle des Vaters und von der Rücksichtslosigkeit, mit der sie gebraucht wurde, eine un erfreuliche Vorstellung. Kronos verschlingt seine Kinder, etwa wie der Eher den Wurf des Mutterschweines, und Zeus entmannt den Vater [5 34] und setzt sich als Herrscher an seine Stelle. Je unumA schränkter der Vater in der alten Familie herrschte, desto mehr muß der Sohn als berufener Nachfolger in die Lage des Feindes gerückt, desto größer muß seine Ungeduld geworden sein, durch den Tod des Vaters selbst zur Herrschaft zu gelangen. Noch in unserer bürgerlichen Familie pflegt der Vater durch die Ver weigerung der Selbstbestimmung und der dazu nötigen Mittel an den Sohn dem natürlichen Keim zur Feindschaft, der in dem Verhältnisse liegt, zur Entwicklung zu verhelfen. Der Arzt kommt oft genug in die Lage zu bemerken, daß der Schmerz über den Verlust des Vaters beim Sahne die Befriedigung über die endlich § 1309§ 1310
Die Quellen der Todeswü'nsche gegen die Eltern 5259
§ 1311erlangte Freiheit nicht unterdrücken kann. Den Rest der in
unserer heutigen Gesellschaft arg antiquierten potestas patris familias pflegt jeder Vater krampfhaft festzuhalten, und jeder Dichter ist. der Wirkung sicher, der wie Ibsen den uralten Kampf zwischen Vater und Sohn in den Vordergrund seiner Fabeln rückt. Die Anlässe zu Konflikten zwischen Tochter und Mutter ergeben sich, wenn die Tochter heranwächst und in der Mutter die Wächterin findet, während sie nach sexueller Freiheit begehrt, die Mutter aber durch das Aufblühen der Tochter ge mahnt wird, daß für sie die Zeit gekommen ist, sexuellen An— sprüchen zu entsagen. § 1312Alle diese Verhältnisse liegen offenkundig da vor jedermanns
Augen, Sie fördern uns aber nicht bei der Absicht, die Träume vom Tod der Eltern zu erklären, welche sich bei Personen finden, denen die Pietät gegen die Eltern längst etwas Unantastbares ge worden ist. Auch sind wir durch die vorhergehenden Erörterungen darauf vorbereitet, daß sich der Todeswunsch gegen die Eltern aus der frühesten Kindheit ableiten wird. § 1313Mit einer alle Zweifel aussehließenden Sicherheit bestätigt sich
diese Vermutung für die Psychoneurotiker bei den mit ihnen vorgenommenen Analysen, Man lernt hiebei, daß sehr frühzäü'g die sexuellen Wünsche des Kindes erwachen, —— soweit sie im keimenden Zustande diesen Namen verdienen * und daß die erste Neigung des Mädchens dem Vater, die ersten infantilen Begierden des Knaben der Mutter gelten. Der Vater wird somit für den Knaben, die Mutter für das Mädchen zum störenden Mitbewerber, und wie wenig für das Kind dazugehört, damit diese Empfindung zum Todeswunseh führe, haben wir bereits für den Fall der Geschwister ausgeführt. Die sexuelle Auswahl macht sich in der Regel bereits bei den Eltern geltend; ein natürlicher Zug sorgt dafür, daß der Mann die kleinen Töchter veizärtelt, die Frau den Söhnen die Stange häln während beide, wo der Zauber des Geschlechts ihr Urteil nicht verstört, mit Strenge für die Er § 13141?“
§ 1315§ 1316
960 V. Das Traummazerial und die Traumquelkn
§ 1317ziehung der Kleinen wirken. Das Kind bemerkt die Bevorzugung
sehr wohl und lehnt sich gegen den Teil des Elternpaares auf, der sich ihr widersetzt. Liebe bei dem Erwachsenen zu finden ist ihm nicht nur die Befriedigung eines besonderen Bedürfnisses, sondern bedeutet auch, daß in allen anderen Stücken seinem Willen nachgegeben wird. So folgt es dem eigenen sexuellen Triebe und erneuert gleichzeitig die von den Eltern ausgehende Anregung, wenn es seine Wahl zwischen den Eltern im gleichen Sinne wie diese trifft. § 1318Von den Zeichen dieser infantilen Neigungen seitens der Kinder
pflegt man die meisten zu übersehen; einige kann man auch nach den ersten Kinderjah.ren bemerken. Ein achtjährigec Mädchen meiner Bekanntschaft benützt die Gelegenheit, wenn die Mutter vom Tische abbemfen wird, um sich als ihre Nachfolgerin zu proklamieren. „Jetzt will ich die Mama sein. Karl, willst du noch Gemüse? Nimm doch, ich bitte dich“ usw. Ein besonderes be gabtes und lehhaftes Mädchen von vier Jahren, an der dies Stück Kinderpsychulogie besonders durchsichtig ist; äußert direkt: „Jetzt kann das Muatterl einmal fortgehen, dann muß das Vater] mich heiraten, und ich will seine Frau sein.“ Im Kinderleben schließt dieser Wunsch durchaus nicht aus, daß das Kind auch seine Mutter zärtlich liebe. Wenn der kleine Knabe neben der Mutter schlafen darf, sobald der Vater verreist ist, und nach dessen Rückkehr ins Kinderzimmer zurück muß zu einer Person, die ihm weit weniger gefällt, so mag sich leicht der Wunsch bei ihm gestalten, daß der Vater immer abwesend sein möge, damit er seinen Platz bei der lieben, schönen Mama behalten kann, und ein Mittel zur Erreichung dieses Wunsches ist es offenbar, wenn der Vater tot ist, denn das eine hat ihn seine Erfahrung gelehrt: „Tote“ Leute, wie der Großpapa z. B., sind immer abwesend, kommen nie wieder. § 1319Wenn sich solche Beobachtungen an kleinen Kindern der vor—
geschlagenen Deutung zwanglos fügen, so ergeben sie allerdings § 1320§ 1321
Die Queüen der Tadeswiz'nsche gegen die Eltern 261
§ 1322nicht die volle Überzeugung, welche die Psychoanalysen erwachsener
Neurotiker dem Arne aufdrängen. Die Mitteilung der betreffenden Träume erfolgt hier mit solchen Einleitungen, daß ihre Deutung als Wunschträume unausweichlich wird. Ich finde eines Tages eine Dame ben-übt und verweint„ Sie sagt: Ich will meine Ver wandten nicht mehr sehen, es muß ihnen ja vor mir grausen. Dann erzählt sie fast ohne Übergang, daß sie sich an einen Traum erinnert, dessen Bedeutung sie natürlich nicht kennt. Sie hat ihn mit vier Jahren geträqu er lautet folgendermaßen: Ein Luchs oder Fuchs geht auf dem Dan/le spazieren, dann fällt nwm her unler oder sie fällt herunter, und dann trägt man die Mutter zur aus dem Hause, wobei sie schmerzlich weint. Ich habe ihr kaum mitgeteilt, daß dieser Traum den Wunsch aus ihrer Kindheit be— deuten muß, die Mutter tot zu sehen, und daß sie dieses Traumes wegen meinen muß, die Verwandten grausen sich vor ihr, so liefert sie bereits etwas Material, den Traum aufzuklären. „Luchs— flug“ ist ein Schimpfwort, mit. dem sie einmal als ganz kleines Kind von einem Gassenjungen belegt wurde; ihrer Mutter ist1 als das Kind drei Jahre alt. war, ein Ziegelstei.n vom Dach auf den Kopf gefallen, so daß sie hefiig hlutete. § 1323Ich hatte einmal Gelegenheit, ein junges Mädchen, das ver
schiedene psychische Zustände durchmachte, eingehend zu studieren. In einer tobsüchtigen Verworrenheit, mit der die Krankheit he gann, zeigte die Kranke eine ganz besondere Abneigung gegen ihre Mutter, schlug und beschimpfte sie, sobald sie sich dem Bette näherte, Während sie gegen eine um vieles ältere Schwester zu derselben Zeit liebevoll und gefügig blieb. Dann folgte ein klarer, aber etwas apathischer Zustand mit sehr gestörtem Schlaf; in dieser Phase begann ich die Behandlung und analysierte ihre Träume. Eine Unzahl derselben handelte mehr oder minder ver hüllt vom Tode der Mutter; bald wohnte sie dem Leichenbe gängnis einer alten Frau bei, bald sah sie sich und ihre Schwester in Trauerkleidern bei Tische sitzen; es blieb über den Sinn dieser § 1324§ 1325
169 V. Das Traummatn'ial und die Traumquellen
§ 1326Träume kein Zweifel. Bei noch weiter fortschreitender Besserung
traten hysterische Phobien auf; die quälendste darunter war, daß der Mutter etwas geschehen sei. Von wo sie immer sich befand, mußte sie dann nach Hause eilen, um sich zu überzeugen, daß die Mutter noch lebe. Der Fall war nun, zusammengehalten mit meinen sonstigen Erfahrungen, sehr lehrreich; er zeigte in gleich sam mehrsprachiger Übersetzung verschiedene Reaktionsweisen des psychischen Apparates auf dieselbe erregende Vorstellung. In der Verwor1'enheit, die ich als Überwältigung der zweiten psychi schen Instanz durch die sonst unterdrückte erste auffasse, wurde die unbewußte Feindseljgkeit gegen die Mutter motorisch mächtig; als dann die erste Beruhigung eintrat7 der Aufruhr unterdrückt, die Herrschaft der Zensur wieder hergestellt war, blieb dieser Feindseljgkeit nur mehr das Gebiet des Träumens offen, um den Wunsch nach ihrem Tod zu verwirklichen; als das Normale sich noch weiter gestärkt hatte, schuf es als hysterische Gegensatz— reaktion und Abwehrerscheinung die übermäßige Sorge um die Mutter. In diesem Zusammenhange ist es nicht mehr unerk1är lich, warum die hysterischen Mädchen so oft überzärtlich an ihren Müttern hängen. § 1327Ein andermal hatte ich Gelegenheit, tiefe Einblicke in das un
bewußte Seelenleben eines jungen Mannes zu tun, der durch Zwangsneurose fast existenzunfähig, nicht auf die Straße gehen konnte, weil ihn die Sorge quälte, er bringe alle Leute, die an ihm vorbeigingen, um. Er verbrachte seine Tage damit, die Be» weisstücke für sein Alibi in Ordnung zu halten, falls die Anklage wegen eines der in der Stadt vorgefallenen Morde gegen ihn erhoben werden sollte. Überflüssig zu bemerken, daß er ein ebenso moralischer wie fein gebildeter Mensch war. Die * übrigens zur Heilung führende * Analyse deckte als die Begrün dung dieser peinlichen Zwangsvorstellung Mordimpulse gegen seinen etwas überstrengen Vater auf, die sich, als er sieben Jahre alt war, zu seinem Erstaunen bewußt geäußert hatten, aber natür § 1328§ 1329
Die Quellen der Todem'e'mehe gegen die Eltern 965
§ 1330lich aus weit früheren Kindesjahren stammten. Nach der qual—
vnllen Krankheit und dem Tode des Vaters trat im 51. Lebens— jahre der Zwangsvorwurf auf, der sich in Form jener Phobie auf Fremde übertrug. Wer imstande war, seinen eigenen Vater von einem Berggipfel in den Abgrund stoßen zu wollen, dem ist aller— dings zuzutrauen, daß er auch das Leben ferner Stehender nicht schone; der tut darum recht daran, sich in seine Zimmer einzu schließen. § 1331Nach meinen bereits zahlreichen Erfahrungen spielen die Eltern
im Kinderseelenleben aller späteren Psychoneurotiker die Haupt rolle, und Verliebtheit gegen den einen, Haß gegen den andern Teil des Elternpaares gehören zum eisernen Bestand des in jener Zeit gebildeten und für die Symptomatik der späteren Neurose so bedeutsamen Materials an psychischen Regungen. Ich glaube aber nicht, daß die Psychoneurotiker sich hierin von anderen normal verbleibenden Menschenkindern scharf sondern, indem sie absolut Neues und ihnen Eigentümliches zu schaffen vermögen. F; ist bei weitem wahrscheinlicher und wird durch gelegentliche Beobachtungen an normalen Kindern unterstützt, daß sie auch mit diesen verliebten und feindseligen Wünschen gegen ihre Eltern uns nur durch die Vergrößerung kenntlich machen, was minder deutlich und weniger intensiv in der Seele der meisten Kinder vorgeht. Das Altertum hat uns zur Unterstützung dieser Erkenntnis einen Sagenstoi‘l überliefert, dessen durchgreifende und allgemeingültige Wirksamkeit nur durch eine ähnliche Allgemein gültigkeit der besprochenen Voraussetzung aus der Kinderpsyeho logie verständlich wird. § 1332Ich meine die Sage vom König Ödipus und das gleichnamige
Drama des Sophokles. Ödipus, der Sohn des Laios, Königs von Theben, und der Jokaste, wird als Säugling ausgesetzt, weil ein Orakel dem Vater verkündet hatte, der noch ungeborene Sohn werde sein Mörder sein. Er wird gerettet und wächst als Königs— sohn an einem fremden Hofe auf, bis er, seiner Herkunft unsicher, § 1333§ 1334
964 V. Das Traummaterial und die Traumquellzn
§ 1335selbst das Orakel befragt und von ihm den Rat erhält, die Heimat
zu meiden, weil er der Mörder seines Vaters und der Ehegemahl seiner Mutter werden müßte. Auf dem Wege von seiner ver meintlichen Heimat weg trifft er mit König Lai'0s zusammen und erschlägt ihn in rasch entbranntem Streit. Dann kommt er vor Theben, wo er die Rätsel der den Weg sperrenden Sphinx löst und zum Dank dafür von den Thebanem zum König gewählt und mit Jokastes Hand beschenkt wird. Er regiert lange Zeit in Frieden und Würde und zeugt mit der ihm unbekannten Mutter zwei Söhne und zwei Töchter, bis eine Pest ausbricht, welche eine neuerliche Befragung des Orakels von seiten der Thebaner veranlaßt. Hier setzt die Tragödie des Sophokles ein. Die Boten bringen den Bescheid, daß die Pest aufhören werde, wenn der Mörder des La'1'os aus dem Lande getrieben sei. Wo aber weilt der? § 1336„Wo findet sich
die schwer erkennbar dunkle Spur der alten Schuld?“ § 1337(Übersetzung vun Donner. v. log)
§ 1338Die Handlung des Stückes besteht nun in nichts anderem als
in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Ent hüllung — der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar — daß Ödipus selbst der Mörder des La‘1'ns, aber auch der Sohn des Ermordeten und der Jokaste ist. Durch seine unwissentlich ver übten Greuel erschüttert, blendet sich Ödipus und verläßt die Heimat. Der Orakelspruch ist erfüllt. § 1339„König Ödipus“ ist eine sogenannte Schicksalstragödie; ihre
tragische Wirkung soll auf dem Gegensatz zwischen dem über mächtigen Willen der Götter und dem vergeblichen Sträuben der vom Unheil bedrohten Menschen beruhen; Ergebung in den Willen der Gottheit, Einsicht in die eigene Ohnmacht soll der tief ergriffene Zuschauer aus dem Trauerspiele lernen. Folgerichtig haben moderne Dichter es versucht7 eine ähnliche tragische Wir kung zu erzielen, indem sie den nämlichen Gegensatz mit einer § 1340§ 1341
Die Sage um König Ödipus n65
§ 1342selbsterfundenen Fabel verwoben. Allein die Zuschauer haben un—
gerührt zugesehen, wie trotz alles Sträubens schuldloser Menschen ein Fluch oder Orakelspruch sich an ihnen vollzog; die späteren Schicksalstragödien sind ohne Wirkung geblieben. § 1343Wenn der König Ödipus den modernen Menschen nicht minder
zu erschüttem weiß als den zeitgenössischen Griechen, so kann die Lösung wohl nur darin liegen, daß die Wirkung der griechi» schen Tragödie nicht auf dem Gegensatz zwischen Schicksal und Menschenwülen ruht, sondern in der Besonderheit des 81,03% zu suchen ist, an welchem dieser Gegensatz erwiesen wird. Es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen wie in der „Ahnfrau“ oder in anderen Schicksals tragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen. Und ein solches Moment ist in der Tat in der Geschichte des Königs Ödipus ent halten. Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch des unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn, Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat; ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. Aber glücklicher als er, ist es uns seitdem, insofern wir nicht Psychoneurotiker geworden sind’ gelungen, unsere sexuellen Regungen von unseren Müttern abzu— lösen, unsere Eifersucht gegen unsere Väter zu vergessen. Vor der Person, an welcher sich jener uneitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten haben. Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vor handen sind. Die Gegenüberstellung, mit der uns der Chor verläßt, § 1344§ 1345
966 V. Das Traummatzrial und die 73-aumquellen
§ 1346.. „sehet, das ist Ödipus,
der entwim die hohen Rätsel und der erste war an Macht. dessen Glück die Bürger alle prieuen und beneideten; Seht, in welches Mißgeschickes granse Wegen er versankl“ § 1347diese Mahnung trifft uns selbst und unseren Stolz, die wir seit
den Kindesjahren so weise und so mächtig geworden sind in unserer Schätzung. Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufge— nötigt hau und nach deren Enthüllung möchten wir wohl alle den Blick abwenden van den Szenen unserer Kindheit. [ses] Daß die Sage von Ödipus einem uralten Traumstoff entsprossen § 1348ist, welcher jene peinliche Störung des Verhältnisses zu den
Eltern durch die ersten Regungen der Sexualität zum Inhalte hat, dafür findet sich im Texte der Sophokleischen Tragödie selbst ein nicht mißzuverstehender Hinweis. Jokaste tröstet den noch nicht aufgeklärten, aber durch die Erinnerung der Orakel— sprüche besorgt gemachten Ödipus durch die Erwähnung eines Traumes, den ja so viele Menschen träumen, ohne daß er, meint sie, etwas bedeute: § 1349„Denn viele Menschen sahen auch in Träumen schon
§ 1350Sich zugesellt der Mutter: Doch wer alles dies
§ 1351Fiir nichtig achtet, trägt die Last des Lebens leicht.“ (v, 9553]
§ 1352Der Traum, mit der Mutter sexuell zu verkehren, wird ebenso
§ 1353wie damals auch heute vielen Menschen zuteil, die ihn empört
und verwundert erzählen. Er ist, wie begreiflich, der Schlüssel der Tragödie und das Ergänzungsstüek zum Traum vom Tod des Vaters. Die Ödipus-Fabel ist die Reaktion der Phantasie auf diese beiden typischen Träume, und wie die Träume vom Erwachsenen mit Ablehnungsgefühlen erlebt werden, so muß die Sage Schreck und Selbstbestrefung in ihren Inhalt mit aufnehmen. Ihre weitere Gestaltung rührt wiederum von einer mißverständlichen sekundären Bearbeitung des Stoffes her, welche ihn einer theologisierentlen Absicht dienstbar zu machen sucht. (Vgl. den Traumstoi'l' von der § 1354§ 1355
Der Ödipus-Kanflikt a57
§ 1356Exhibition, S. 246.) Der Versuch, die göttliche Allmacht rnit der
menschlichen Verantwortlichkeit zu vereinigen, muß natürlich an diesem Material wie an jedem andern mißiingen.‘ § 1357Ich kann die typischen Träume vom Tode teurer Verwandten
nicht verlassen, ohne daß ich deren Bedeutung für die Theorie des Traumes überhaupt noch mit einigen Worten beleuchte. Diese Träume zeigen uns den recht ungewöhnlichen Fall verwirklicht, daß der durch den verdrängten Wunsch gebildete Traumgeclanke jeder Zensur entgeht und unverändert in den Traum übertritt. Es müssen besondere Verhältnisse sein, die solches Schicksal er« möglichen. Ich finde die Begünstigung für diese Träume in folgenden zwei Momenten: Erstens gibt es keinen Wunsch, von dem wir uns ferner glauben; wir meinen, das zu wünschen könnte „uns auch im Träume nicht einfallen“, und darum ist die Traum» zensur gegen dieses Ungeheuerliche nicht gerüstet, ähnlich etwa § 1358;) Auf demselben Boden wie „König Ödipus“ wurzelt eine andere der großen
tragischen Dichterschöpfungen, der „Humlet“ Shakesyenres. Aher in der ver änderten Behandlung des nämlichen Stufe: ofi'enhm sich der ganze Unterschied im Seelenleben der heiden weit auseinander liegenden Kulturperioden, des Säkulnre Fortschreiten der Verdrängung im Gemütalehen der Menschheit lm „Ödiyus“ wird die zugrunde liegende Wunschphantaaie del Kind . wie im Traum ans Licht gezogen und realisiert; im „Hamlet“ hleiht sie verdr gt, und wir erfahren von ihrer Existenz 7 dem Sachverhalt bei einer Neurzne lich — nur durch die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen. Mit der überwältigenden Wirkung des modemeren Dramas hat er rich eigentiimlieherweiae ala vereinbar gezeigt. daß man iiher den Charakter des Helden in voller Unklarheit verhleihen könne Das Stück ist auf die Zögerung Hamlets gebaut, die ihm zugeteilte Aufgabe der Rache zu erfüllen; welchen die Gründe oder Moh've dieser Zägerung sind, gesteht der Text nicht ein; die viel i‘dltigsten Deutungsversuche haben es nicht anzugeben vermocht. Nach der heu'le noch herrschenden, durch Goethe begründeten Auffassung stellt Hamlet den Typus des Menschen dar. dessen frische Tetkrafi durch die überwuchernde Entwicklung der Gedunkentätigkeil: gela'hmt wird („Von des Gedenkens Blässe engeln'änkelt“), Nach anderen hat der Dichter einen krankhaften, unenuchlossenen, in das Bereich der Neurutherlie fallenden Charakter zu schildern versucht. Allein die Fabel des Stückes lehrt, daß Hamlet uns keineswegs als eine PE!SDYI erscheinen soll, die des Handehis überhaupt unfähig ist. Wir sehen ihn zweimal handelnd auftreten, das cinema] in rasch auflahrender Leidenschaft, wie er den Lausnher hinter der Tayete niederstößt, ein enderesmel planmäßig, iu aeLhrt argliatig, indem er mit der vollen Unbedenklichkeit des l\euaieseneepriuzen die zwei Höflingu in den ihm selbst zuge dachten Tod schickt. WVas hemmt ihn also hei der Erfüllung der Aufgabe. die der Geist seines Vaters ihm gestellt hat? Hier bietet sich wieder die Auskunft, daß es § 1359§ 1360
968 V. Das Traummawrial und die Traumquelkn
§ 1361wie die Gesetzgebung Salons keine Strafe für den Vatermord
aufzusnellen wußte. Zweitens aber kommt dem verdrängten und nicht geahnten Wunsch gerade hier besondexs häufig ein Tages rest entgegen in Gestalt einer Sorge um das Leben der teuren Person. Diese Sorge kann sich nicht anders in den Traum ein tragen, als indem sie sich des gleichlautenden Wunsches bedient.; der Wunsch aber kann sich mit. der am Tage rege gewordenen Sorge maskieren. Wenn man meint, daß dies alles einfacher zu geht, daß man eben bei Nacht und im Traum nur fonsetzt, was man bei Tag angesponnen hat, so läßt man die Träume vom Tode teurer Personen eben außer allem Zusammenhang mit der Traumerklärung und hält ein sehr wohl reduzierbares Rätsel überflüssigerweise fest. § 1362Lehrreich ist es auch, die Beziehung dieser Träume zu den
Angstträumen zu verfolgen. In den Träumen vom Tnde teurer § 1363die hesundere Natur dieser Aufgahe ist. Hamlet kann alles, nur nieht die Rache an
dem Mann vollziehen, der seinen Vater heseitigt und hei seiner Mutter dessen Stelle eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Keali:ierung seiner verdrängten Kinder vviinsohe zeigt Der Ableben, der ihn zur Rache drängen sollte, ersetzt sich so bei ihm dureh Selhstvorwiirfe, durch Gewissenakxupel, die ihm vorhalten, daß er, wörtlich verstanden, selbst nicht besser sei als der von ihn zu sh'ufende Sünden ieh habe dshei ins Bewußte übersetzt, wu in der Seele des Helden unhev-nlßt hleihen muß; wenn jemand Hamlet einen Hysterikel' nennen will, kun ich es nur als Fnlgerung aus meiner Deutung anerkennen. Die Sexualalmeigung stimmt sehr wohl dazu, die Hamlet dann im Gespräch mit Ophelia äußert, die nämliche Sexualabneigung, die vurl der Seele des Dichters in den nächsten Jahren immer mehr Besitz nehmen sollte, his zu ihren Gipfelällfierlmgen im „Timun von Athen.“ Es kann natürlich nur das eigene Seelenlehen des Dichters gewesen sein, das uns im Humlet entgegen. tritt; ieh entnehme dem Werk von Gesrg Brnndell über Sh.lse.„enre (1896) die Notiz, daß das Drama unmittellsar naeh dem Tode vun Shakespesres Vater (1651), also in der irischen Trauer um ihn, in der Wiederholehung, dürfen wir annehmen, der auf den Vater heziigl_iohen Kindheitlemyfindungen gedichtet werden ist. Bekannt ist aueh, dsli Shakespeares iriih verstorhener Sohn den Namen Hunsnet (identisoh mit Hamlet) trug. Wie Hamlet das Verhältnis der Sohnes zu den Eltern behandelt, so mlst der in der Zeit nshestehende „Macbeth“ euf dem Them. der Kinder losigkeit. Wie übrigens jedes neurotisehe Symptom, wie selhst der Tnurn, der Uber deutung fähig ist, ja dieselhe zu seinem vollen Verständnil fordert, so wird. auch jede echte dio-hterisohe Schäpfung aus mehr als aus einen. Motiv und einer Anre gung in der Seele des Dichters hervurgegsngen sein und mehr als eine Deutung zulassen. Ich habe hier nur die Deutung der tiefsten Schicht von heguugen in der Seele des schafienden Dichters venucht. [: as] § 1364§ 1365
Der Egoismus der Träume 969
§ 1366Personen hat der verdrängte Wunsch einen Weg gefunden1 auf
dem er sich der Zensur — und der durch sie bedingten Ent— stellung — entziehen kann. Die nie fehlende Begleiterscheinung ist dann, daß schmerzliche Empfindungen im Traume verspürt werden. Ebenso kommt der Angsttraum nur zustande, wenn die Zensur ganz oder teilweise überwältigt wird, und anderseits er leichtert es die Überwältigung der Zensur, wenn Angst als aktuelle Sensation aus somatischen Quellen bereits gegeben ist. Es wird “ so handgreiflich, in welcher Tendenz die Zensur ihres Amtes waltet, die Traumentstellung ausübt; es geschieht, um die Ent wicklung von Angst oder anderen Formen peinlichen Affekts zu verhüten. § 1367Ich habe im vorstehenden von dem Egoismus der Kinderseele
gesprochen und knüpfe nun daran mit der Absicht, hier einen Zusammenhang ahnen zu lassen, daß die Träume auch diesen Charakter bewahrt haben. Sie sind sämtlich absolut egoistisch, in allen tritt das liebe Ich auf, wenn auch verkleidet. Die Wünsche, die in ihnen erfüllt werden, sind regelmäßig Wünsche dieses Ichs; es ist nur ein täuschender Anschein, wenn ie das Interesse für einen anderen einen Traum hervorgerufen haben sollte. Ich will § 1368einige Beispiele, welche dieser Behauptung widersprechen, der Analyse
unterziehen. I Ein noch nicht vierjähriger Knabe erzählt: Er luzt eine große garnierle Schüssel gesehen, worauf ein großes Stück Fleisch ge bralen war, und das Stück war auf einmal ganz , nicht zer § 1369schnitten , aufgegessen. Die Permn, die es gegessen hat, hat er
nicht gesehen.‘ § 13701) Auch das Große, Überreiclze, Ilka-mäßige und Uhemiebene der Träume könnte
ein Kindheitschnrullter „in. Das Kind kennt keinen sehnlicherm Wunsch ah groß zu werden, von allem so viel in hekommen wie die Großen; „ in lchwer zu be firiucligeu, kennt kein Genug, verlangt unerlittlich nach Wiederholung dessen, was ihm gefallen oder geschmeckt hat, Maß halten, sich helcheiden, resignieren lernt es erst durch die Kultur der Erziehung, Bekanntlich neigt auch der Neurotil-ler zur Maßlalligkzit und Unmißigkeit. § 1371§ 1372
270 V. Das Traurrunaterial und die Traumquzlkn
§ 1373Wer mag der fremde Mensch sein, von dessen üppiger Fleisch
mahlzeit unser Kleiner träumt? Die Erlebnisse des Traumtages müssen uns darüber aufklären. Der Knabe bekommt seit einigen Tagen nach ärztlicher Vorschrift Milchdiät; am Abend des Traun» tages war er aber unartig, und da wurde ihm zur Strafe die Abendmahlzeit entzogen. Er hat schon früher einmal eine solche Hungerkur durchgemacht und sich sehr tapfer dabei benommen, Er wußte, daß er nichts bekommen wird, getraute sich aber auch nicht, mit einem Worte anzudeuten, daß er Hunger hat. Die Erziehung fängt an, bei ihm zu wirken, sie äußert sich bereits im Traum, der einen Anfang von Traumentstellung zeigt. Es ist kein Zweifel, daß er selbst die Person ist, deren Wünsche auf eine so reiche Mahlzeit, und zwar eine Bratenmahlzeit, zielen. Da er aber weiß, daß diese ihm verboten ist, wagt er es nicht, wie die hungrigen Kinder es im Traum tun (vgl. den Erdbeertraum meiner kleinen Anna, S. 155), sich selbst zur Mahl zeit hinzusetzen. Die Person bleibt anonym. § 1374II
§ 1375Ich träume einmal, daß ich in der Auslage einer Buch
handlung ein neues Heft jener Sammlung im Liebhabereinband sehe, die ich sonst zu kaufen pflege (Künstlerrnonographien, Mono— graphien zur Weltgeschichte, berühmte Kunststätten usw.). Die neue Sammlung nennt sich: Berühmte Redner (oder Reden) und das Heft I derselben trägt den Namen Dr. Lecher. § 1376In der Analyse wird es mir unwahrscheinlich, daß mich der
Ruhm Dr. Lechers, des Dauerredners der deutschen Obstruktion im Parlamente, während meiner Träume beschäftige. Der Sach verhalt ist der, daß ich vor einigen Tagen neue Patienten zur psychischen Kur aufgenommen habe, und nun zehn bis elf Stunden täglich zu sprechen genötigt bin. Ich bin also selbst so ein Dauer'redner. § 1377§ 1378
D„ Egoismus der „im „;
§ 1379III
§ 1380Ich träume ein andemal, daß ein mir bekannter Lehrer an
unserer Universität sagt: Mein Sohn, der Myop. Dann folgt ein Dialog aus kurzen Reden und Gegenreden bestehend. Es folgt aber dann ein dn'ttes Traumtück, in dem ich und meine Söhne vorkommen, und für den latenten Trauminhalt sind Vater und Sohn, Professor M„ nur Strohmänner, die mich und meinen Ältesten decken. Ich werde diesen Traum wegen einer anderen Eigentümlichkeit noch weiter unten behandeln. § 1381IV
§ 1382Ein Beispiel von wirklich niedrigen egoistischen Gefühlen, die
sich hinter zärtlicher Sorge verbergen, gibt folgender Traum. § 1383Mein Freund Otto schaut schlecht aus, ist braun im Gesicht
und ha! vorlretende Augen. § 1384Otto ist mein Hausarzt, in dessen Schuld ich hofl‘nungslos ver
bleibe, weil er seit Jahren die Gesundheit meiner Kinder iiber— wacht, sie erfolgreich behandelt, wenn sie erkranken, und sie überdies zu allen Gelegenheiten, die einen Vorwand abgeben können, beschenkt. Er war am Traumtage zu Besuch, und da bemerkte meine Frau, daß er müde und abgespannt aussehe. Nachts kommt mein Traum und Ieiht ihm einige der Zeichen der Basedowschen Krankheit„ Wer sich in der Traumdeutung von meinen Regeln freimacht7 der wird diesen Traum so verstehen, daß ich um die Gesundheit meines Freundes besorgt hin, und daß diese Besorgnis sich im Traum realisiert. Es wäre ein Wider spruch nicht nur gegen die Behauptung, daß der Traum eine Wunscherfüllung ist, sondern auch gegen die andere, daß er nur egoistischen Regungen zugänglich ist. Aber wer so deutet, möge mir erklären, warum ich bei Otto die Basedowsche Krankheit befürchte, zu welcher Diagnose sein Aussehen auch nicht den leisesten Anlaß gibt? Meine Analyse liefert hingegen folgendes § 1385§ 1386
279 V. Das Traumnmterial und die Traumquzllzn
§ 1387Material aus einer Begebenheit, die sich vor sechs Jahren zu—
getragen hat. Wir fuhren, eine kleine Gesellschaft7 in der sich auch Professor R. befand, in tiefer Dunkelheit durch den Wald von N., einige Stunden weit von unserem Sommeraufenthalt ent fernt. Der nicht ganz nüchterne Kutscher warf uns mit dem Wagen einen Abhang hinunter, und es war noch glücklich, daß wir alle heil davon kamen. Wir waren‘aher genötig11 im nächsten Wirtshause zu übernachten, wo die Kunde von unserem Unfall große Sympathie für uns erweckte. Ein Herr, der die unverkenn baren Zeichen des Morbus Basedowii an sich trug — übrigens nur Bräunung der Gesichtshaut und vortretende Augen, ganz wie im Traum, kein Struma * stellte sich ganz zu unserer Verfügung und fragte, was er für uns tun könne. Professur R. in seiner bestimmten Art antwortete: Nichts anderes, als daß Sie mir ein Nachthemd leihen. Darauf der Edle: Das tut mir leid, das kann ich nicht, und ging von dannen. § 1388Zur Fortsetzung der Analyse fällt mir ein, daß Basedow nicht
nur der Name eines Arztes ist, sondern auch der eines berühmten Pädagogen. (Im Wachen fühle ich mich jetzt dieses Wissens nicht recht sicher.) Freund Otto ist aber diejenige Person, die ich ge beten habe, Iür den Fall, daß mir etwas zustößt, die körperliche Erziehung meiner Kinder, speziell in der Pubertätszeit (daher das Nachthemd) zu überwachen. Indem ich nun Freund Otto im Traum mit den Krankheitssy-mptumen jenes edlen Helfers sehe, will ich offenbar sagen: Wenn mir etwas zustößt, wird von ihm ebensowenig etwas für die Kinder zu haben sein, wie damals von Herrn Baron L. trotz seiner Iiebenswürdigen Anerbietungen. Der egoistische Einschlag dieses Traumes dürfte nun wohl auf gedeckt sein. [E37] § 1389Wo steckt aber hier die Wunscherfüllung? Nicht in der Rache
an Freund Otto, dessen Schicksal es nun einmal ist, in meinen Träumen schlecht behandelt zu werden, sondern in folgender Beziehung. Indem ich Otto als Baron L. im Traum darstelle, § 1390§ 1391
Amin: typische Träume 275
§ 1392habe ich gleichzeitig meine eigene Person mit. einer anderen
identifiziert, nämlich mit der des Professors R., denn ich fordere ja etwas von Otto, wie in jener Begebenheit B. von Baron L. gefordert hat. Und daran liegt es. Professor B., dem ich mich sonst wirklich nicht zu vergleichen wage, hat ähnlich wie ich seinen Weg außerhalb der Schule selbständig verfolgt und ist erst in späten Jahren zu dem längst verdienten Titel gelangt. Ich will also wieder einmal Professor werden! Ja selbst das „in späten Jahren“ ist eine Wunscherlüllung, denn es besagt, daß ich lange genug lebe, um meine Knaben selbst durch die Pubertät zu geleiten. * § 1393Von anderen typischen Träumen, in denen man mit Behagen
fliegt oder mit Angstgefühlen fällt, weiß ich nichts aus eigener Erfahrung, und verdanke alles, was ich über sie zu sagen habe, den Psychoanalysen. Aus den Auskünften, die man dort erhält, muß man schließen, daß auch diese Träume Eindrücke der Kindeneit wiederholen, nämlich sich auf die Bewegungsspiele beziehen, die für das Kind eine so außerordentliche Anziehung haben. Welcher Onkel hat nicht schon ein Kind fliegen lassen, indem er die Arme aussueckend durchs Zimmer mit ihm eilte, oder Fallen mit ihm gespielt, indem er es auf den Knien schaukelte und das Bein plötzlich streckte, oder es hoch hob und plötzlich tat, als ob er ihm die Unterstützung entziehen wollte. Die Kinder jauchzen dann und verlangen unermüdlich nach Wiederholung, besonders wenn etwas Schreck und Schwindel mit dabei ist; dann schaffen sie sich nach Jahren die Wiederholung im Traum, lassen aber im Traum die Hände weg, die sie gehalten haben, so daß sie nun frei schweben und fallen. Die Vorliebe aller kleinen Kinder fiir solche Spiele wie für Schaukeln und Wippen ist bekannt; wenn sie dann gymnastische Kunststücke im Zirkus sehen, wird die Erinnerung von neuem aufgefrischt. [538] Bei manchen Knaben besteht dann der hysterische Anfall nur aus Reproduktionen solcher § 1394Freud. II, 15
§ 1395§ 1396
274 V. Das Traummatzrial und die Traumquellen
§ 1397Kunststücke, die sie mit großer Geschicklichkeit ausführen. Nicht
selten sind bei diesen an sich harmlosen Bewegungspielen auch sexuelle Empfindungen wachgerufen worden.‘ Um es mit einem bei uns gebräuchlichen, all diese Veranstaltungen deckenden Worte zu sagen: es ist das „Hetzen“ in der Kindheit, welches die Träume vom Fliegen, Fallen, Schwindeln u. dgl. wiederholen, dessen Lust gefühle jetzt in Angst verkehrt sind. Wie aber jede Mutter weiß, ist auch das Hetzen der Kinder in der Wirklichkeit häufig genug in Zwist und Weinen ausgegangen. § 1398Ich habe also guten Grund, die Erklärung abzulehnen, daß der
Zustand unserer Hautgefühle während des Schlafes, die Sensationen von der Bewegung unserer Lungen u. dgl. die Träume vom Fliegen und Fallen hervorrufen. Ich sehe, daß diese Sensationeu selbst aus der Erinnerung reproduziert sind, auf welche der Traum sich bezieht, daß sie also Trauminhalt sind und nicht Traum quellen. [53.9] § 1399Jeder, der mit der Maturitätsprüfimg seine Gymnasialstudien
abgeschlossen hat, klagt über die Hartuäckigkeit, mit welcher der Angsttraum, daß er durchgefallen sei, die Klasse wiederholen müsse u„ dgl. ihn verfolgt. Für den Besitzer eines akademischen Grades ersetzt sich dieser typische Traum durch einen anderen, der ihm verhält3 daß er beim Bigorosum nicht bestanden habe, und gegen den er vergeblich noch im Schlaf einwendet, daß er ja schon seit Jahren praktiziere, Privatdozent sei oder Kanzlei leiter. Es sind die unauslöschlichen Erinnerungen an die Strafen, die wir in der Kindheit für verübte Untaten erlitten § 1400]) Ein junger, von Nemeität völlig freier Kollege teilt mir hiezu mit: „Ieh
weiß au: eigener Erfahrung, daß ieh früher heim Schenkein, und zwar in der.. Mement, we die Abwärtshewegung die größte Wucht het, ein eigentümliches Gefühl in den Geniul_ien bekam, der ich, obwohl es mir eigentiieh nicht angenehm war, doch als Luitgefühl bezeichnen muB.“ _ Von Patienten habe 'ich of1mals gehört, den die ersten Erektionen mit Lustgefüh'l, die sie erinnern, in der Knabenzeit beim Klettern aufgeketen sind. , Aus den Psychoanalysen ergibt sich mit aller Sicherheit, den häufig die ersten sexuellen Begu.ngen in den Bauf- und Ringspielni der Kinder jahre Wurzeln. § 1401§ 1402
Der Prüfungslraum !! 7 5
§ 1403haben, die sich so an den beiden Knotenpunkten unserer Studien,
an dem „dies irae, dies illa“ der strengen Prüfungen in unserem Inneren wieder geregt haben. Auch die „Prüfungsangst" der Neu— rotiker findet in dieser Kinderangst ihre Verstärkung, Nachdem wir aufgehört haben, Schüler zu sein, sind es nicht mehr wie zu— erst die Eltern und Erzieher oder später die Lehrer, die unsere Bestrafung besorgen, die unerhittliche Kausalverkettung des Lebens hat unsere weitere Erziehung übernommen, und nun träumen wir von der Matura oder von dem Rigorosum, * und wer hat damals nicht selbst als Gerechter gezagt? — so oft wir erwarten, daß der Erfolg uns bestrafen werde, weil wir etwas nicht recht gemacht, nicht ordentlich zustande gebracht haben, so oft wir den Druck einer Verantwortung fühlen. [Elfi] § 1404Ich verhehle mir aber keineswegs, daß ich für diese Reihe von
typischen Träumen eine volle Aufklärung nicht erbringen kann. Mein Material hat mich gerade hiebei irn Stiche gelassen. Den allgemeinen Gesichtspunkt, daß alle die Haut- und Bewegungs sensationell dieser typischen Träume wacbgerufen werden, sobald irgendein psychisches Motiv ihrer bedarf, und daß sie vernacly lässigt werden können, wenn ihnen ein solches Bedürfnis nicht entgegenkommt, muß ich festhalten, Auch die Beziehung zu den infantilen Erlebnissen scheint mir aus den Andeutungen, die ich in der Analyse der Psychoneurotiker erhalten habe, sicher hervor zugehen. Aber welche anderen Bedeutungen sich im Laufe des Lebens an die Erinnerung jener Sensationen geknüpft haben mögen, — vielleicht bei jeder Person andere trotz der typischen Erscheinung dieser Träume —— weiß ich nicht anzugeben, und möchte gerne in die Lage kommen, diese Lücke durch sorg fältige Analyse von guten Beispielen auszufüllen. Wer sich dariiber verwundert, daß ich trotz der Häufigkeit gerade der Träume vom Fliegen, Fallen, Zabnausziehen u. dgl. mich über Mangel an Material beklagte, dem bin ich die Aufklärung schuldig, daß ich an mir selbst solche Träume nicht erfahren habe, seitdem ich § 1405nt
§ 1406§ 1407
976 V. Das T7'aummaterial und die Trawnquellen
§ 1408dem Thema der Traumdeutung Aufmerksamkeit schenke. Die
Träume der Neurotiker, die mir sonst zu Gebote stehen' sind aber nicht alle und oft nicht bis an das Ende ihrer verborgenen Absicht deutbar; eine gewisse psychische Macht, die beim Aufbau der Neurose beteiligt war und bei deren Auflösung wieder zur Wirksamkeit gebracht wird, stellt sich der Deutung bis zum letzten Rätsel entgegen. [E 41] § 1409§ 1410
VI
DIE TRAUMARBEIT § 1411Alle anderen bisherigen Versuche, die Traumprobleme zu er—
ledigen, knüpften direkt an den in der Erinnerung gegebenen manifesten Trauminhalt an und bemühten sich, aus diesem die Traumdeutung zu gewinnen, oder, wenn sie auf eine Deutung venichteten, ihr Urteil über den Traum durch den Hinweis auf den Trauminhalt zu begründen. Nur wir allein stehen einem anderen Sachverhalt gegenüber; für uns schiebt sich zwischen dem Trauminhalt und die Resultate unserer Betrachtung ein neues psychisches Material ein: der durch unser Verfahren gewonnene latente Trauminhalt oder die Traumgedanken. Aus diesem letzteren, nicht aus dem menifesten Trauminhalt entwickelten wir die Lösung des Traumes. An uns tritt darum auch als neu eine Aufgabe heran, die es vordem nicht gegeben hat, die Auf— gabe, die Beziehungen des manifesten Trauminhaltes zu den latenten Traumgedanken zu untersuchen und nachzuspüren, durch welche Vorgänge aus den letzteren der erstere geworden ist. § 1412Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei
Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Über tragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung vun Original und Übersetzung kennen lernen sollen. Die Traum § 1413§ 1414
278 VI. Die Traumarbeit
§ 1415gedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie er
fahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rehus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist u. dgl. Ich könnte nun in die Kritik verfallen, diese Zusammenstellung und deren Bestandteile für un— sinnig zu erklären. Ein Boot gehört nicht auf das Dach eines Hauses, und eine Person ohne Kopf kann nicht laufen; auch ist die Person größer als das Haus, und wenn das Ganze eine Land schaft darstellen soll, so fügen sich die einzelnen Buchstaben nicht ein, die ja in freier Natur nicht vorkommen. Die richtige Be urteilung des Bebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten desselben keine solchen Einspn'iche erhebe, sondern mich hemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, welches nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreicbsten Dichterspruch ergeben. Ein solches Bilderrätsel ist nun der Traum, und unsere Vorgänger auf dem Gebiete der Traumdeutung haben den Fehler begangen, den Rebus als zeichnerische Komposition zu beurteilen. Als solche er— schien er ihnen unsinnig und wertlos. § 1416A
Die Wrdichtungsarbeit § 1417Das erste, was dem Untersucher bei der Vergleichung von
Trauminhalt und Traumgedanken klar wird, ist, daß hier eine großartige Verdichtungsarbeit geleistet wurde. Der Traum ist § 1418§ 1419
Die Verdichtung 979
§ 1420knapp, armselig, lakonisch im Vergleich zu dem Umfang und zur
Reichhaltigkeit der Traumgedanken. Der Traum füllt nieder geschrieben eine halbe Seite; die Analyse, in der die Traum gedanken enthalten sind, bedarf das sechs—, acht-, zwölffache an Schriftraum. Die Relation ist für verschiedene Träume wechselnd; sie ändert, soweit ich es kontrollieren konnte, niemals ihren Sinn. In der Regel unterschätzt man das Maß der statthabenden Korn pression, indem man die ans Licht gebrachten Traumgedanken für das vollständige Material hält, während weitere Deutungsarbeit neue, hinter dem Traum versteckte Gedanken enthüllen kann. Wir haben bereits anführen müssen, daß man eigentlich niemals sicher ist, einen Traum vollständig gedeutet zu haben; selbst wenn die Auflösung befriedigend und lückenlos erscheint, bleibt es doch immer möglich, daß sich noch ein anderer Sinn durch denselben Traum kundgibt. Die Verdichtungsquote ist also —— streng genommen — unbestimmbar. Man könnte gegen die Be hauptung, daß aus dem Mißverh'a'ltnis zwischen Trauminhalt und Traumgedanken der Schluß zu ziehen sei, es finde eine ausgiebige Verdichtung des psychischen Materials bei der Traumhildung statt, einen Einwand geltend machen, der für den ersten Eindruck recht bestechend scheint. Wir haben ja so oft die Empfindung, daß wir sehr viel die ganze Nacht hindurch geträumt und dann das meiste wieder vergessen haben. Der Traum, den wir beim Erwachen erinnern, Wäre dann bloß ein Rest der gesamten Traumarbeit, welche wohl den Traumgedanken an Umfang gleich— käme, wenn wir sie eben vollständig erinnern könnten. Daran ist ein Stück sicherlich richtig, man kann sich nicht mit der Beobachtung täuschen, daß ein Traum am getreuesten reproduziert wird, wenn man ihn bald nach dem Erwachen zu erinnern ver— sucht, und daß seine Erinnerung gegen den Abend hin immer mehr und mehr lückenhaft wird. Zum andern Teil aber läßt sich erkennen, daß die Empfindung, man habe sehr viel mehr geträumt als man reproduzieren kann, sehr häufig auf einer § 1421§ 1422
280 VI. Die Traumbeit
§ 1423Illusion beruht, deren Entstehung späterhin erläutert werden soll.
Die Annahme einer Verdichtung in der Traumarbeit wird über— dies von der Möglichkeit des Traumvergessens nicht berührt, denn sie wird durch die Vorstellungsmassen erwiesen, die zu den einzelnen erhalten gebliebenen Stücken des Traumes gehören. Ist tatsächlich ein großes Stück des Traumes für die Erinnerung verloren gegangen, so bleibt uns hiedurch etwa der Zugang zu einer neuen Reihe von Traumgedanken versperrt. Es ist eine durch nichts zu rechtfertigende Erwartung, daß die unter— gegangenen Traumstücke sich gleichfalls nur auf jene Gedanken bezogen hätten, die wir bereits aus der Analyse der erhalten ge bliebenen kennen. [EI] § 1424Angesichts der überreichen Menge von Einflülen, welche die
Analyse zu jedem einzelnen Element des Trauminhaltes heibringt, wird sich bei manchem Leser der prinzipielle Zweifel regen, ob man denn all das, was einem bei der Analyse nachträglich ein fällt, zu den Traumgedanken rechnen darf, d. h. annehmen darf, all diese Gedanken seien schon während des Schlafzustandes tätig gewesen und hätten an der Traumbildung mitgewirkt? Ob nicht vielmehr während des Analysierens neue Gedankenverbindungen entstehen, die an der Traumbildung unbeteiligt waren? Ich kann diesem Zweifel nur bedingt beitreten. Daß einzelne Gedanken verbindungen erst während der Analyse entstehen, ist allerdings richtig; aber man kann sich jedesmal überzeugen, daß solche neue Verbindungen sich nur zwischen Gedanken herstellen, die schon in den Traumgedanken in anderer Weise verbunden sind; die neuen Verbindungen sind gleichsam Nebenschließungen, Kurz— schlüsse, ermöglicht durch den Bestand anderer und tiefer liegender Verbindungswege. Für die Überall] der bei der Analyse aufgedeckten Gedankenmassen muß man zugestehen, daß sie schon bei der Traumbildung tätig gewesen sind, denn wenn man sich durch eine Kette solcher Gedanken, die außer Zusammenhang mit der Traumbildung scheinen, durchgearbeitet hat, stößt man § 1425§ 1426
Die Verdichtung 981
§ 1427dann plötzlich auf einen Gedanken, der, im Trauminhalt vertreten,
für die Traumdeutung unentbehrlich ist und doch nicht anders als durch jene Gedankenkette zugänglich war. Man vergleiche hiezu etwa den Traum von der botanischen Monographie, der als das Ergebnis einer erstaunlichen Verdichtungsleistung erscheint, wenngleich ich seine Analyse nicht vollständig mitgeteilt habe. § 1428Wie soll man sich aber dann den psychischen Zustand während
des Schlafens, der dem Träumen vorangeht, vorstellen? Bestehen alle die Traumgedanken nebeneinander, oder werden sie nach— einander durchlaufen, oder werden mehrere gleichzeitige Gedanken— gänge von verschiedenen Zentren aus gebildet, die dann zusammen treffen? Ich meine, es liegt noch keine Nötigung vor, sich von dem psychischen Zustand bei der Traumbildung eine plastische Vorstellung zu schaffen. Vergessen wir nur nicht, daß es sich um unbewußtes Denken handelt, und daß der Vorgang leicht ein anderer sein kann als der, welchen wir beim absichtlichen, von Bewußtsein begleiteten, Nachdenken in uns wahrnehmen. § 1429Die Tatsache aber, daß die Traumbildung auf einer Verdich—
tung beruht, steht unemchütterlich fest. Wie kommt diese Ver dichtung nun zustande? § 1430Wenn man erwägt, daß von den aufgefundenen Traumgedanken
nur die wenigsten durch eines ihrer Vorstellungselemente im Traum vertreten sind, so sollte man schließen, die Verdichtung geschehe auf dem Wege der Auslassung, indem der Traum nicht eine getreuliche Übersetzung oder eine Projektion Punkt für Punkt der Traumgedanken, sondem eine höchst unvollständige und lückenhafte Wiedergabe derselben sei. Diese Einsicht ist, wie wir bald finden werden, eine sehr mangelhafte. Doch fußen wir zunächst auf ihr und fragen uns weiter: Wenn nur wenige Elerriente aus den Traumgedanken in den Trauminhalt gelangen, welche Bedingungen bestimmen die Auswahl derselben? § 1431Um hierüber Aufschluß zu bekommen, wendet man nun seine
Aufmerksamkeit den Elementen des Trauminhaltes zu, welche die § 1432§ 1433
282 VI. Die Traumarbeit
§ 1434gesuchten Bedingungen ia erfüllt haben müssen. Ein Traum, zu
dessen Bildung eine besonders starke Verdichtung beigetragen, wird für diese Untersuchung das günstigste Material sein. Ich wähle § 1435I
den auf S. 168 mitgeteilten Traum von der botanischen Monographie. § 1436Trauminhalt: Ich habe eine Monographie über eine (unbestimmt
gelassene) Pflanzenart geschrieben. Das Buch liegt vor mir, ich blättere eben eine eingeschlagene farbige Tafel um. Dem Exemplar ist ein getrocknetes Spezimen der Pflanze beigebunden. § 1437Das augeniälligste Element dieses Traumes ist die botanische
Monographie. Diese stammt aus den Eindrücken des Traum— tages; in einem Schaufenster einer Buchhandlung hatte ich tat sächlich eine Monographie über die Gattung „Zyklarnen“ gesehen. Die Erwähnung dieser Gattung fehlt im Trauminhalt, in dem nur die Monographie und ihre Beziehung zur Botanik übrig geblieben sind. Die „botanische Monographie“ erweist sofort ihre Beziehung zu der Arbeit über Kokain, die ich einmal geschrieben habe; vom Kokain aus geht die Gedankenverbindung einerseits zur Festschrift und zu gewissen Vorgängen in einem Universitätslaboratorium, anderseits zu meinem Freund, dem Augenarzt Dr. Königstein, der an der Verwertung des Kokains seinen Anteil gehabt hat. An die Person des Dr. K. knüpft sich weiter die Erinnerung an das unterbrochene Gespräch, das ich abends zuvor mit ihm geführt, und die vielfältigen Gedanken über die Entlohnung ärztlicher Leistungen unter Kollegen. Dieses Gespräch ist nun der eigentliche aktuelle Traumerreger; die Monographie über Zyklamen ist gleichfalls eine Aktualität, aber indifferenter Natur; wie ich sehe, erweist sich die „botanische Monographie“ des Traumes als ein mittleres Gemeinsames zwischen beiden Erlebnissen des Tages, von dem indifferenten Eindruck unverändert übernommen, mit dem psychisch bedeut § 1438§ 1439
Die Verdichtung im Traum von der botanischen Monographie 285
§ 1440samen Erlebnis durch ausgiebigste Assoziationsverbindungen ver—
knüpft. § 1441aber nicht nur die Zusammengesetzte Vorstellung „botanische
Monographie“, sondern auch jedes ihrer Elemente „botanisch“ und „Monographie“ gesondert geht durch mehrfache Ver— bindungen tiefer und tiefer in das Gewirre der Traumgedanken ein. Zu „botanisch“ gehören die Erinnerungen an die Person des Professors Gärtner, an seine blühende Frau, an meine Patientin, die Flora heißt, und an die Dame, von der ich die Geschichte mit den vergessenen Blumen erzählt habe. Gärtner führt neuerdings auf das Laboratorium und auf das Gespräch mit Königstein; in dasselbe Gespräch gehört die Erwähnung der beiden Patientinnen. Von der Frau mit den Blumen zweigt ein Gedankenweg zu den Lieblingsblumen meiner Frau ab, dessen anderer Ausgang im Titel der bei Tag flüchtig gesehenen Mono graphie liegt. Außerdem erinnert „botanisch“ an eine Gymnasial episode und an ein Examen der Universitätszeit, und ein neues, in jenem Gespräch angeschlagenes Thema, das meiner Lieb— habereien, knüpft sich durch Vermittlung meiner schemhaft so genannten Lieblingsblume, der Artischocke, an die von den vergessenen Blumen ausgehende Gedankenkette an; hinter „Arti schocke“ steckt die Erinnerung an Italien einerseits und an eine Kinderszene anderseits, in der ich meine seither intim gewordenen Beziehungen zu Büchern eröffnet habe. „Botanisch“ ist also ein wahrer Knotenpunkt, in welchem für den Traum zahlreiche Ge— dankengänge zusammentrei‘fen, die, wie ich versichern kann, in jenem Gespräch mit Fug und Recht in Zusammenhang gebracht werden sind. Man befindet sich hier mitten in einer Gedanken— fabrik, in der wie im Weber-Meisterstück § 1442„Ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein berüber, hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.“ § 1443§ 1444
284. VI. Die Traumar52it
§ 1445„Monographie“ im Traume rührt wiederum an zwei Themata,
an die Einseitigkeit meiner Studien und an die Kostspieligkeit meiner Liebhabereien. § 1446Aus dieser ersten Untersuchung holt man sich den Eindruck,
daß die Elemente „botanisch“ und „Monographie“ darum in den Trauminhalt Aufnahme gefunden haben, weil sie mit den meisten Traumgedanken die ausgiebigsten Berührungen aufweisen können, also Knotenpunkte darstellen, in denen sehr viele der Traum gedanken zusammentreffen, weil sie mit Bezug auf die Traum deutung vieldeutig sind. Man kann die dieser Erklärung zu grunde liegende Tatsache auch anders aussprechen und dann sagen: Jedes der Elemente des Trauminhaltes erweist sich als überdeterminiert, als mehrfach in den Traumgedanken ver— treten. § 1447Wir erfahren mehr, wenn wir die übrigen Bestandteile des
Traumes auf ihr Vorkommen in den Traumgedanken prüfen. Die farbige Tafel, die ich aufsehlage, geht (vgl. die Analyse 8.171) auf ein neues Thema, die Kritik der Kollegen an meinen Arbeiten, und auf ein bereits im Traum vertretenes, meine Lieb habereien, außerdem auf die Kindererinnerung, in der ich ein Buch mit farbigen Tafeln zerpflücke; das getrocknete Exemplar der Pflanze rührt_an das Gymnasialerlebnis vom Herbarium} und hebt diese Erinnerung besonders hervor. Ich sehe also, welcher Art die Beziehung zwischen Trauminhalt und Traumgedanken ist: Nicht nur die Elemente des Traumes sind durch die Traum— gedanken mehrfach determiniert, sondern die einzelnen Traum gedanken sind auch im Traum durch mehrere Elemente ver treten. Von einem Element des Traumes führt der Assoziations weg zu mehreren Traumgedanken, von einem Traumgedanken zu mehreren Traumelementen. Die Traumbildung erfolgt also nicht so, daß der einzelne Traumgedanke oder eine Gruppe von solchen eine Abkürzung für den Trauminhalt liefert, und dann der nächste Traumgedanke eine nächste Abkürzung als Vertretung, § 1448§ 1449
Die Überdeterminierung 28 5
§ 1450etwa wie aus einer Bevölkerung Volksvertreter gewählt werden,
sondern die ganze Masse der Traumgedanken unterliegt einer gewissen Bearbeitung, nach welcher die meist— und bestunter Stützten Elemente sich für den Eintritt in den Trauminhalt herausheben, etwa der Wahl durch Listenskrutinium analog. Welchen Traum immer ich einer ähnlichen Zergliederung unter ziehe, ich finde stets die nämlichen Grundsätze bestätigt, daß die Traumelemente aus der ganzen Masse der Traumgedanken ge— bildet werden, und daß jedes von ihnen in bezug auf die Traumgedanken mehrfach determiniert erscheint. § 1451Es ist gewiß nicht überflüssig, diese Relation von Trauminhalt
und Traumgedanken an einem neuen Beispiel zu erweisen, welches sich durch besonders kunstvolle Verschlingung der wechselseitigen Beziehungen 'auszeichnet. Der Traum rührt von einem Patienten her, den ich wegen Angst in geschlossenen Räumen behandle. Es wird sich bald ergeben, weshalb ich mich veranlaßt finde, diese § 1452ausnehmend geistreiche Traumleistung in folgender Weise zu
überschreiben: § 1453II
§ 1454„Ein schöner Traum“
§ 1455Er fährt mit großer Gesellschaft in die X—Straße, in der sich
ein besehez'denes Einkehrwirtshaus befindet (was nicht richtig ist). In den Räumen desselben wird Theater gespielt; er ist bald Publikum, bald Schauspieler. Am Ende heißt es, man müsse sich umziehen, um wieder in die Stadt zu kommen. Ein Teil des Personal; wird in die Parterreriz'ume verwiesen, ein anderer in die des ersten Stockes. Dann entsteht ein Streit. Die oben ärgern sich, daß die unten noch nicht fertig sind, so daß sie nicht herunter können. Sein Bruder ist oben, er unten, und er ärgert sich über den Bruder, daß man so gedrängt wird. (Diese Partie ist unklar.) Es war übrigens schon beim Ankommen bestimmt und eingeteilt, wer oben und wer unten sein solL Dann geht er allein § 1456§ 1457
286 VI. Die Traumarßeit
§ 1458über die Anhöhe, welehe die X-Straße gegen die Stadt hin macht,
und geht so schwer, so mühselz'g, daß er nicht von der Stelle _ kommt. Ein älterer Herr gesellt sich zu ihm und schimpft über den König von Italien. Am Ende der Anhöhe geht er dann viel leichter. § 1459Die Beschwerden beim Steigen waren so deutlich, daß er nach
dem Erwachen eine Weile zweifelte, ob es Traum oder Wirklich keit war. § 1460Dem manifesten Inhalt nach wird man diesen Traum kaum
leben können. Die Deutung will ich regelwidrig mit jenem Stück beginnen, welches vom Träumer als das deutlichste bezeichnet wurde. § 1461Die geträumte und wahrscheinlich im Traum verspürte Be—'
schwerde, das mühselige Steigen unter Dyspnoe, ist eines der Symptome, die der Patient vor Jahren wirklich gezeigt hatte, und wurde damals im Verein mit anderen Erscheinungen auf eine (wahrscheinlich hysterisch vorgetäuschte) Tuberkulose bezogen. Wir kennen bereits diese dem Traum eigentümliche Sensation der Gehhemxnung aus den Exhibitionsträumen und finden hier wieder, daß sie als ein allezeit bereit liegendes Material zu Zwecken irgendwelcher anderen Darstellung verwendet wird. Das Stück des Trauminhaltes, welches beschreibt, wie das Steigen anfänglich schwer war, und am Ende der Anhöhe leicht wurde, erinnerte mich bei der Erzählung des Traumes an die bekannte meister— hafte Introduktion der „Sappho“ von Alphonse Daudet. Dort trägt ein junger Mann die Geliebte die Treppen hinauf, anfänglich“ wie federleicht; aber je weiter er steigt, desto schwerer lastet sie auf seinen Armen, und diese Szene ist vorbildlich für den Ver lauf des Verhältnisses, durch dessen Schilderung Daudet die Jugend mahnen will, eine ernstere Neigung nicht an Mädchen von niedriger Herkunft und zweifelhaften- Vergangenheit zu ver schwenden. [E 2] Obwohl ich wußte, daß mein Patient vor kurzem ein Liebesverhältnis mit einer Dame vom Theater unterhalten § 1462§ 1463
Ein „schäner“ Traum 987
§ 1464und gelöst hatte, erwartete ich doch nicht, meinen Deutungseinfall
berechtigt zu finden. Auch war es ja in der Sappho umgekehrt wie im Traum; in letzterem war das Steigen anfänglich schwer und späterhin leicht; im Roman diente es der Symbolik nur, wenn das, was zuerst leicht genommen wurde, sich am Ende als eine schwere Last erwies. Zu meinem Erstaunen bemerkte der Patient, die Deutung stimme sehr wohl zum Inhalte des Stückes, das er am Abend vorher im Theater gesehen. Das Stück hieß „Rund um Wien“ und behandelte den Lebenslauf eines Mädchens, das zuerst anständig, dann zur Demimonde übergeht, Verhältnisse mit hochstehenden Personen anknüpr dadurch „in die Höhe kommt“, endlich aber immer mehr „herunter kommt“. Das Stück hatte ihn auch an ein anderes vor Jahren gespiele erinnert, welches den Titel trug „Von Stufe zu Stufe“, und auf dessen Ankündigung eine aus mehreren Stufen bestehende Stiege zu sehen war. § 1465Nun die weitere Deutung. In der X-Straße hatte die Schau
spielerin gewohnt, mit welcher er das letzte, beziehungsreiche Ver— hältnis unterhalten. Ein Wirtshaus gibt es in dieser Straße nicht. Allein, als er der Dame zuliebe einen Teil des Sommers in Wien verbrachte, war er in einem kleinen Hotel in der Nähe ab gestiegen. Beim Verlassen des Hotels sagte er dem Kutscher: Ich bin froh, daß ich wenigstens kein Ungeziefer bekommen habe! (Übrigens auch eine seiner Phobien.) Der Kutsche'r darauf: Wie kann man aber da absteigen! Das ist ja gar kein Hotel, eigentlich nur ein Einkehrwirtshaus. § 1466An das Einkehrwirtshaus knüpft sich ihm sofort die Er
innerung eines Zitates: § 1467„Bei einem Wirte wundermilrl,
Da war ich jüngst zu Geste.“ § 1468Der Wirt im Uhlandschen Gedicht ist aber ein Apfelbaum.
Nun setzt ein zweites Zitat die Gedankenkette fot't: § 1469§ 1470
288 VI. Die Traumath
§ 1471Faust (mit der Jurigen tanzend)
Einst hat’ ich einen schönen Traum; Da sah ich eineh Apfelbaum, § 1472Zwei schöne Äpfel glänzten dran,
Sie reinen mich, ich stieg hinan. § 1473Die Schöne
§ 1474Der Äpfelchen begehrt ihr sehr,
Und schon vom Paradiese her. § 1475Von Freuden fühl ich mich bewegt,
Daß auch mein Garten solche tägl. § 1476Es ist nicht der leiseste Zweifel möglich, was unter dem Apfel
baum und den Äpfelchen gemeint ist. Ein schöner Busen stand auch obenan unter den Reizen, durch welche die Schauspielerin meinen Träumer gefesselt hatte. § 1477Wir hatten nach dem Zusammenhang der Analyse allen Grund
anzunehmen, daß der Traum auf einen Eindruck aus der Kind heit zurückgehe. Wenn dies richtig war, so mußte er sich auf die Anime des jetzt bald dreißigjährigen Mannes beziehen. Für das Kind ist der Busen der Amme tatsächlich das Einkehrwirts— haus. Die Anime sowohl als die Sappho Daudets erscheinen als Anspielung auf die vor kurzem verlassene Geliebte. § 1478Im Trauminhalt erscheint auch der (ältere) Bruder des Patienten,
und zwar ist dieser oben, er selbst unten. Dies ist wieder eine Umkehrung des wirklichen Verhältnisses, denn der Bruder hat, wie mir bekannt ist, seine soziale Position verloren, mein Patient sie erhalten. Der Träumer vermied bei der Reproduktion des Trauminhaltes zu sagen: Der Bruder sei oben. er selbst „parterre“ gewesen. Es wäre eine zu deutliche Äußerung geworden, denn man sagt bei uns von einer Person, sie ist „parterre“, wenn sie Vermögen und Stellung eingebüßt hat, also in ähnlicher Über tragung, wie man „heruntergekommen“ gebraucht. Es muß nun einen Sinn haben, daß an dieser Stelle im Traum etwas umgekehrt dargestth ist. Die Umkehrung muß auch für eine § 1479'.
§ 1480§ 1481
Ein „schöner“ Traum 289
§ 1482andere Beziehung zwischen Traumgedanken und Trauminhalt
gelten. Es liegt der Hinweis darauf vor, wie diese Umkehrung vorzunehmen ist. Offenbar am Ende des Traumes, wo es sich mit dem Steigen wiederum umgekehrt verhält wie in der Sappho. Dann ergibt sich leicht, welche Umkehrung gemeint ist: In der Sappho trägt der Mann das zu ihm in sexuellen Beziehungen stehende Weib; in den Traumgedanken handelt es sich also um gekehrt um ein Weib, das den Mann trägt, und da dieser Fall sich nur in der Kindheit ereignen kann, bezieht es sich wieder auf die Amine, die schwer an dem Säugling trägt. Der Schluß des Traumes trith es also, die Sappho und die Amme in der nämlichen Andeutung darzustellen. § 1483Wie der Name Sappho vom Dichter nicht ohne Beziehung
auf eine lesbische Gewohnheit gewählt ist, so deuten die Stücke des Traumes, in denen Personen oben und unten beschäftigt sind, auf Phantasien sexuellen Inhalts, die den Träumer be schäftigen und als unterdrückte Gelüste nicht außer Zusammen hang mit seiner Neurose stehen. Daß es Phantasien und nicht Erinnerungen der tatsächlichen Vorgänge sind, die so im Traum dargestellt werden, zeigt die Traumdeutung selbst nicht an; dieselbe liefert uns nur einen Gedankeninhalt und überläßt es uns, dessen Realitätswert_ festzustellen. Wirkliche und phanta § 1484sierte Begebenheiten erscheinen hier —— und nicht nur hier,
auch bei der Schöpfung wichtigerer psychischer Gebilde als der Träume —— zunächst als gleichwertig. Große Gesellschaft be § 1485deutet, wie wir bereits Wissen, Geheimnis. Der Bruder ist nichts
anderes, als der in die Kindheitsszene durch „Zurückphantasieren“ eingetragene Vertreter aller späteren Nebenbuhler beim Weihe. Die Episode von dem Herrn, der auf den König von Italien schimpft, bezieht sich durch Vermittlung eines rezenten und an sich gleichgültigen Erlebnisses wiederum auf das Eindrängen von Personen niederen Standes in höhere Gesellschaft. Es ist, als § 1486ob der Warnung, welche Daudet dem Jüngling erteilt, eine
§ 1487Freud. II. 19
§ 1488§ 1489
290 VI. Die Traumarbeit
§ 1490ähnliche, für das säugende Kind gültige, an die Seite gestellt
werden sollte.’ § 1491Um ein drittes Beispiel für das Studium der Verdichtung bei
der Traumbildung bereit zu haben, teile ich die partielle Analyse eines anderen Traumes mit, den ich einer älteren, in psycho— analytischer Behandlung stehenden Dame verdanke. Den schweren Angstzust'a'nden entsprechend, an denen die Kranke litt, enthielten ihre Träume überreichlich sexuelles Gedankenmaterial, dessen Kenntnisnahme sie anfangs ebensosehr überraschte wie erschreckte. Da ich die Traumdeutung nicht bis ans Ende führen kann, scheint das Traummaterial in mehrere Gruppen ohne sichtbaren Zusammen § 1492hang zu zerfallen.
III § 1493„Der Käfertraum“
§ 1494Trauminhalt: Sie besinnt sich, daß sie zwei Maikizfer in einer
Schachtel hat, denen sie die Freiheit geben muß, weil sie sonst ersticken. Sie öflnet die Schachtel, die Käfer sind ganz matt, einer fliegt zum geäflneten Fenster hinaus, der andere aber wird vom Fensterfliigel zerquetscht, während sie das Fenster schließt, wie irgend jemand von ihr verlangt (Äußerungen des Ekels)f § 1495Analyse: Ihr Mann ist verreist, die vierzehnjährige Tochter
schläft im Bette neben ihr. Die Kleine macht sie amAbend auf merksam, daß eine Motte in ihr Wasserglas gefallen ist; sie ver— säumt es aber sie herauszuholen und bedauert das arme Tierchen am Morgen. In ihrer Abendlektüre war erzählt, wie Buben eine Katze in siedendes Wasser werfen, und die Zuckungen des Tieres geschildert. Dies sind die beiden an sich gleichgültigen Traum anlässe. Das Thema von der Grausamkeit gegen Tiere be— § 1496]) Die phantastische Natur der auf die Amine des Träumen bezüglichen Situation
wird durch den objektiv erhobenen Umstand erwiesen, daß die Amine in diesem Fall die Mutter war. Ich erinnere übrigens an das auf S. 206 erwähnte Bedauern des jungen Mannes der Anekdote, die Situation bei seiner Anime nicht besser ausgeniitzt zu haben, welches wohl die Quelle dieses Traumea ist. § 1497§ 1498
Der K fifa-traum ;: 9 )
§ 1499schäftigt sie weiter. Ihre Tochter war vor Jahren, als sie in einer
gewissen Gegend im Sommer wohnten, sehr grausam gegen das Getier. Sie legte sich eine Schmetterlingsarnmlung an und ver— langte von ihr Ars enik zur Tötung der Schmetterlinge. Einmal kam es vor, daß ein Nachtfalter mit der Nadel durch den Leib noch lange im Zimmer herum flog; ein andermal fanden sich einige Raupen, die zur Verpuppung aufbewahrt wurden, verhungert. Das selbe Kind pflegte in noch zarterem Alter Käfern und Schmetter lingen die Flügel auszureißen; heute würde sie vor all diesen grau— samen Handlungen zurückschrecken; sie ist so gutmütig geworden. § 1500Dieser Widerspruch beschäftigt sie. Er erinnert an einen anderen »
§ 1501Widerspruch, den zwischen Aussehen und Gesinnung, wie er
in Adam Bede von der Elliot dargestellt ist. Ein schönes, aber eitles und ganz dummes Mädchen, daneben ein häßliches, aber edles. Der Aristokrat, der das Gänschen verführt; der Arbeiter, der adelig fühlt und sich ebenso benimmt. Man kann das den Leuten nicht ansehen. Wer würde ihr ansehen, daß sie von sinnlichen Wünschen geplagt wird? § 1502In demselben Jahre, als die Kleine ihre Schmetterlingsammlung
anlegte, litt die Gegend arg unter der Maikäferplage. Die Kinder wüteten gegen die Käfer, zerquetschten sie grausam. Sie hat damals einen Menschen gesehen, der den Maikäfern die Flügel ausriß und die Leiber dann verspeiste. Sie selbst ist im Mai ge— boren, hat auch im Mai geheiratet. Drei Tage nach der Hochzeit schrieb sie den Eltern einen Brief nach Hause, wie glücklich sie sei. Sie war es aber keineswegs. § 1503Am Abend vor dem Traum hatte sie in alten Briefen gekramt
und verschiedene ernste und komische Briefe den Ihrigen vorgelesen, so einen höchst lächerlichen Brief eines Klavierlehreres, der ihr als § 1504Mädchen den Hof gemacht hatte, auch den eines aristokratischen
Verehrers.1 § 15051) Dies ist der eigentliche Traumerreger.
§ 150619'
§ 1507§ 1508
292 VI. Die Traunmrbeit
§ 1509Sie macht sich Vorwürfe, daß eine ihrer Töchter ein schlechtes
Buch von Maupassant in die Hand bekommen.‘»Das Arsenik, das ihre Kleine verlangt, erinnert sie an die Arsenikpillen, die dem Duc de More im Nabab die Jugendkraft wiedergeben. § 1510Zu „Freiheit geben“ fällt ihr die Stelle aus der Zauberflöte ein:
§ 1511„Zur Liebe kann ich dich nicht zwingen,
Doch geb ich dir die Freiheit nicht.“ § 1512Zu den „Maikäfern“ noch die Rede des Käthchens:2
§ 1513„Verliebt ja bist du wie ein Käfer mir.“
§ 1514Dazwischen Tannhäuser: „Weil du von böser Lust beseelt —.“
§ 1515Sie lebt in Angst und Sorge um den abwesenden Mann. Die
Furcht, daß ihm auf der Reise etwas zustoße, äußert sich in zahlreichen Phantasien des Tages. Kurz vorher hatte sie in ihren unbewußten Gedanken während der Analyse eine Klage über seine „Greisenhaftigkeit“ gefunden. Der Wunschgedanke, welchen dieser Traum verhüllt7 läßt sich vielleicht am besten erraten, wenn ich erzähle, daß sie mehrere Tage vor dem Traum plötzlich mitten in ihren Beschäftigungen durch den gegen ihren Mann gerichteten Imperativ erschreckt wurde: Häng’ dich auf. Es ergab sich, daß sie einige Stunden vorher irgendwo gelesen hatte, beim Erhängen stelle sich eine kräftige Erektion ein. Es war der Wunsch nach dieser Erektion, der in dieser Schrecken erregenden Verkleidung aus der Verdrängung wiederkehrte. „Häng’ dich auf“, besagte so viel als „Verschafl‘ dir eine Erektion um jeden Preis“. Die Arsenikpillen des Dr. Jenkins im Nabab gehören hieher; es war der Patientin aber auch bekannt, daß man das stärkste Aphrodisiakum, Kanthariden, durch Zerquetschen von Käfern bereitet (sog. spanische Fliegen). Auf diesen Sinn zielt der Haupt— bestandteil des Trauminhaltes. § 1516!) Zu ergänzen: Salehe Lektüre sei Gift für ein junges Mädchen. Sie selbst hat
in ihrer Jugend viel aus verbotenen Büchern gesclxöpft. § 15172) Ein weiterer Gedankengang führt zur Penthesilea desselben Dichters:
Grausamkeit gegen den Geliebten. § 1518§ 1519
Analyre des Käfer1raumes 295
§ 1520Das Fenster öffnen und schließen ist eine der ständigen Difl'e—
renzen mit ihrem Manne. Sie selbst schläft aerophil, der Mann aerophob. Die Mattigkeit ist das Hauptsy'mptom, über das sie in diesen Tagen zu klagen gehabt hat. § 1521In allen drei hier mitgeteilten Träumen habe ich durch die
Schrift hervorgehoben, wo eines der Traumelemente in den Traum— gedanken wiederkehrt7 um die mehrfache Beziehung der ersteren augenfällig zu machen. Da aber für keinen dieser Träume die Analyse bis ans Ende geführt ist, verlohnt es sich Wohl, auf einen Traum mit ausführlicher mitgeteilter Analyse einzugehen, um die Überdeterminierung des Trauminhaltes an ihm zu er— weisen. lch wähle hiefür den Traum von Irmas Injektion. Wir werden an diesem Beispiel mühelos erkennen, daß die Ver— dichtungsarbeit bei der Traumbildung sich mehr als nur eines Mittels bedient. § 1522Die Hauptperson des Trauminhaltes ist die Patientin Irma, die
mit den ihr im Leben zukommenden Zügen gesehen wurde und also zunächst sich selbst darstellt. Die Stellung aber, in welcher ich sie beim Fenster untersuche, ist von einer Erinnerung an eine andere Person hergenommen, von jener Dame, mit der ich meine Patientin vertauschen möchte, wie die Treumgedanken zeigen. Insofern Irma einen diphtheritischen Belag erkennen läßt, bei dem die Sorge um meine älteste Tochter erinnert wird, ge— langt sie zur Darstellung dieses meines Kindes, hinter welchem, durch die Namensgleichheit mit ihm verknüpft, die Person einer durch Intoxikation verlorenen Patientin sich verbirgt. Im weiteren Verlauf des Trauma wandelt sich die Bedeutung von Irinas Persönlichkeit (ohne daß ihr im Traum gesehenes Bild sich änderte); sie wird zu einem der Kinder, die wir in der öffent— lichen Ordination des Kinder—Krankeninstitutes untersuchen, wobei meine Freunde die Verschiedenheit ihrer geistigen Anlagen er— weisen. Der Übergang wurde offenbar durch die Vorstellung meiner kindlichen Tochter vermittelt. Durch das Sträuhen beim § 1523§ 1524
994 VI. Die Traumarbeiz
§ 1525Mundöffnen wird dieselbe Irma zur Anspielung auf eine andere,
einmal von mir untersuchte Dame, ferner in demselben Zu sammenhang auf mei‘ne eigene Frau. In den krankhaflen Ver— änderungen, die ich in ihrem Hals entdecke, habe ich überdies Anspielungen auf eine ganze Reihe von noch anderen Personen zusammengetragen. § 1526All diese Personen, auf die ich bei der Verfolgung von „Irma“
gerate, treten im Traum nicht leibhaftig auf; sie verbergen sich hinter der Traumperson „Irma“, welche so zu einem Sammel bild mit allerdings widerspruchsvollen Zügen ausgestaltet wird. Irma wird zur Vertreterin dieser anderen, bei der Verdichtungs arbeit hingeopferten Personen, indem ich an ihr all das vorgehen V lasse, was mich Zug für Zug an diese Personen erinnert. § 1527Ich kann mir eine Sammelperson auch auf andere Weise
für die Traumverdichtung herstellen, indem ich aktuelle Züge zweier oder mehrerer Personen zu einem Traumbilde vereinige. Solcher Art ist der Dr. M. meines Traumes entstanden, er trägt den Namen des Dr. M., spricht und handelt wie er, seine leib— liche Charakteristik und sein Leiden sind die einer anderen Person, meines ältesten Bruders; ein einziger Zug, das blasse Aussehen, ist doppelt determiniert, indem er in der Realität beiden Personen gemeinsam ist. Eine ähnliche Mischperson ist der Dr. R. meines Onkeltraumes. Hier aber ist das Traumbild noch auf andere Weise bereitet. Ich habe nicht Züge, die dem einen eigen sind, mit den Zügen des anderen vereinigt und dafür das Er— innerungsbild jedes einen um gewisse Züge verkürzt, sondern ich habe das Verfahren eingeschlagen, nach welchem Galton seine Familienporträts erzeugt, nämlich beide Bilder aufeinander proji— ziert, wobei die gemeinsamen Züge verstärkt hervortreten, die nicht zusammenstimmenden einander auslöschen und im Bilde undeutlich werden. Im Onkeltraum hebt sich so als verstärkter Zug aus der zwei Personen gehörigen und darum verschwommenen Physiognomie der blonde Bart hervor, der überdies eine An § 1528§ 1529
Sammelpersonzn und Mischpersonen 295
§ 1530spielung auf meinen Vater und auf mich enthält, vermittelt durch
die Beziehung zum Erg'rauen. § 1531Die Herstellung von Sammel— und Mischpersonen ist eines der
Hauptarbeitsrnittel der Traumverdichtung. Es wird sich bald der An— laß ergeben, sie in einem anderen Zusammenhange zu behandeln. § 1532Der Einfall „Dysenterie“ im Injektionstraum ist gleichfalls
mehrfach deterrniniert, einerseits durch den paraphasischen Gleich— klang mit Diphtherie, anderseits durch die Beziehung auf den von mir in den Orient geschickten Patienten, dessen Hysterie verkannt wird. § 1533Als ein interessanter Fall von Verdichtung erweist sich auch
die Erwähnung von „Propylen“ im Traum. In den Traum gedanken war nicht „Propylen“ sondern „Amylen“ enthalten. Man könnte meinen, daß hier eine einfache Verschiebung bei der Traumbildung Platz gegriffen hat. So ist es auch, allein diese Verschiebung dient den Zwecken der Verdichtung, wie folgender Nachtrag zur Traumanalyse zeigt. Wenn meine Aufmerksamkeit bei dem Worte „Propylen“ noch einen Moment Halt macht, so fällt mir der Gleichklang mit dem Worte „Propyläen“ ein. Die Propyläen befinden sich aber nicht nur in Athen, sondern auch in München. In dieser Stadt habe ich ein Jahr vor dem Traum meinen damals schwerkranken Freund aufgesucht, dessen Erwähnung durch das bald auf Propylen folgende Trimethyl amin des Traumes unverkennbar wird. § 1534Ich gehe über den auffälligen Umstand hinweg, daß hier und
anderswo bei der Traumanalyse Assoziationen von der ver schiedensten Wertigkeit, wie gleichwertig, zur Gedankenverbindung benützt werden, und gebe der Versuchung nach, mir den Vor gang bei der Ersetzung von Amylen in den Traumgedanken durch Propylen in dem Trauminhalt gleichsam plastisch vorzu stellen. " § 1535Hier befinde sich die Vorstellungsgruppe meines Freundes Otto,
der mich nicht versteht, mir Unrecht gibt und mir nach Amylen § 1536§ 1537
296 V I . Die Traumaer
§ 1538duftenden Likör schenkt; dort durch Gegensatz verbunden die;
meines Berliner Freundes, der mich versteht, mir Recht gebt-ml würde, und dem ich soviel wertvolle Mitteilungen, auch über die Chemie der Sexualvorgänge, verdanke. § 1539Was aus der Gruppe Otto meine Aufmerksamkeit besonders
erregen soll, ist durch die rezenten, den Traum erregenden Anlässe bestimmt; das Amylen gehört zu diesen ausgezeichneten, für den Trauminhalt prädestinierten Elementen. Die reiche Vorstellungs gruppe „Wilhelm“ wird geradezu durch den Gegensatz zu Otto belebt und die Elemente in ihr hervorgehoben, welche an die bereits erregten in Otto anklingen. In diesem ganzen Traum rekurriere ich ja von einer Person, die mein Mißfallen erregt, auf eine andere, die ich ihr nach Wunsch entgegenstellen kann, rufe ich Zug für Zug den Freund gegen den Widersacher auf. So erweckt das Amylen bei Otto auch in der anderen Gruppe Erinne— rungen aus dem Kreis der Chemie; das Trimethylamin, von mehreren Seiten her unterstützt, gelangt in den Trauminhalt. Auch „Amylen“ könnte unverwandelt in den Trauminhalt kommen, es unterliegt aber der Einwirkung der Gruppe „Wilhelm“, indem aus dem ganzen Efinnerungsumfang, den dieser Name deckt, ein Element hervorgesucht wird, welches eine doppelte Determinierung für Amylen ergeben kann. In der Nähe von Amylen liegt für die Assoziation „Propylen“; aus dem Kreise „Wilhelm“ kommt ihm München mit den Propyläen entgegen. In Propylen—Propyläen treffen beide Vorstellungskreise zusammen. Wie durch einen Kompromiß gelangt dieses mittlere Element dann in den Traum— inhalt. Es ist hier ein mittleres Gemeinsames geschaffen werden, welches mehrfache Determinierung zuläßt. Wir greifen so mit Händen, daß die mehrfache Determinierung das Durchdringen in den Trauminhalt erleichtern muß. Zum Zwecke dieser Mittel— bildung ist unbedenklich eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von dem eigentlich Gemeinten zu einem in der Assoziation Nahe liegenden vorgenommen werden. § 1540§ 1541
%rtverdichtungen 997
§ 1542Das Studium des Injektionstraumes gestattet uns bereits einige
Übersicht über die Verdichtungsvorgänge bei der Traumbildung zu gewinnen, Wir konnten die Auswahl der mehrfach in den Traum gedanken vorkommenden Elemente, die Bildung neuer Einheiten (Sammelpersonen, Mischgebilde) und die Herstellung von mittleren Gemeinsamen als Einzelheiten der Verdichtungsarbeit erkennen. Wozu die Verdichtung dient und wodurch sie gefordert wird7 werden wir uns erst fragen, wenn wir die psychischen Vorgänge bei der Traumbildung im Zusammenhange erfassen wollen. Be gnügen wir uns jetzt mit der Feststellung der Traumverdichtung als einer bemerkenswerten Relation zwischen Traumgedanken und Trauminhalt, § 1543Am greifbarsten wird die Verdichtungsarbeit des Traumes, wenn
sie Worte und Namen zu ihren Objekten gewählt hat. Worte werden vom Traum überhaupt häufig wie Dinge behandelt und erfahren dann dieselben Zusammensetzungen wie die Dingvor— stellungen. Komische und seltsame Wortschöpfungen sind das Er— gebnis solcher Träume. § 1544I ) Als mir einmal ein Kollege einen von ihm verfaßten Aufsatz
überschickte, in welchem eine physiologische Entdeckung der Neuzeit nach meinem Urteil überschätzt und vor allem in über— schwenglichen Ausdrücken abgehandelt war, da träumte ich die nächste Nacht einen Satz, der sich offenbar auf diese Abhandlung bezog: „Das ist ein wahrhaft norzkdaler Stil.“ Die Auflösung des Wortgebildes bereitete mir anfänglich Schwierigkeiten; es war nicht zweifelhaft, daß es den Superlativen „kolossal, pyramida “ parodistisch nachgeschaffen war; aber woher es stammte, war nicht leicht zu sagen. Endlich zerfiel mir das Ungetü.tn in die beiden Namen Nora und Ekdal aus zwei bekannten Scheuspielen von Ibsen. Von demselben Autor, dessen letztes Opus ich im Traum also kriti sierte, hatte ich vorher einen Zeitungsaufsatz über Ibsen gelesen. § 15452 ) Eine meiner Patientinnen teilt mir einen kurzen Traum mit,
der in eine unsinnige Wortkombination ausläuft. Sie befindet sich § 1546§ 1547
298 VI. Die Traumarbeiz
§ 1548mit ihrem Marme bei einer Bauernfestlichkeit und sagt dann:
Das wird in einen allgemeinen „Maiszallmiitz“ ausgehen. Dabei im Traum der dunkle Gedanke, des sei eine Mehlspeise aus-Mais, eine Art Polenta. Die Analyse zerlegt das Wort in Mais—toll’—— mannstoll—Olmütz, welche Stücke sich sämtlich als Rest einer Konversation bei Tisch mit ihren Verwandten erkennen lassen. Hinter Mais verbergen sich außer der Anspielung auf die eben eröffnete Jubiläumsausstellung die Worte: Meißen (eine Meißner Porzellanfigur, die einen Vogel darstellt), Miß (die Engländerin ihrer Verwandten war nach Olmütz gereist), mies=ekel, übel im schenhaft gebrauchten jüdischen Jargon, und eine lange Kette von Gedanken und Anknüpfungen ging von jeder der Silben des Wortklumpens ab. § 1549}) Ein junger Mann, bei dem ein Bekannter spät abends an
geläutet hat, um eine Besuchskarte abzugeben, träumt in der darauffolgenden Nacht: Ein Geschäftsmann wartet spät abends, um den Zimmertelegraphen zu richten. Nachdem er weggegangen ist, läutet es noch immer nicht kontinuierlich, sondern nur in ein zelnen Schlägen. Der Diener halt den Mann wieder, und der sagt: Es ist doch merkwürdig, daß auch Leute, die sonst zutelrein sind, solche Angelegenheiten nicht zu behandeln verstehen. § 1550Der indifl'erente Traumanlaß deckt, wie man sieht, nur eines
der Elemente des Traumes. Zur Bedeutung ist er überhaupt nur gekommen, indem er sich an ein früheres Erlebnis des Träumers angereiht hat, das, an sich auch gleichgültig, von seiner Phantasie mit stellvertretender Bedeutung ausgestattet wurde. Als Knabe, der mit seinem Vater wohnte, schüttete er einmal schlaftrunken ein Glas Wasser auf den Boden, so daß das Kabel des Zimmertele graphen durchtränkt wurde, und das kontinuierliche Läuten den Vater im Schlaf störte. Da das kontinuierliche Läuten dem Naßwerden entspricht, so werden dann „einzelne Schläge“ zur Darstellung des Tropfenfallens verwendet. Das Wort „tutelrein“ zerlegt sich aber nach drei Richtungen und zielt damit auf drei § 1551§ 1552
Warmmbildungen 999
§ 1553der in den Traumgedanken vertretenen Materien: „Tutel“=
Kuratel bedeutet Vormundschaft; Tutel (vielleicht „Tuttel“) ist eine vulgäre Bezeichnung der weiblichen Brust und der Bestand teil „rein“ übernimmt die ersten Silben des Zimmertelegraphen um „Zimmerrein“ zu bilden, was mit dem Naßmachen des Fußbodens viel zu tun hat und überdies an einen der in der Familie des Träumers vertretenen Namen anklingt.‘ § 15544 ) In einem längeren wüsten Traum von mir, der eine Schiffs—
reise zum scheinbaren Mittelpunkt hat, kommt es vor, daß die nächste Station Hearsing heißt1 die nächst weitere aber Fließ. Letzeres ist der Name meines Freundes in B., der oft. das Ziel meiner Reise gewesen ist. Hearsing aber ist kombiniert aus den Ortsnamen unserer Wiener Lokalstrecke, die so häufig auf ing ausgehen: Hietzing, Liesing, Mödling (Medelitz, made deliciae der alte Name, also „meine Freud“) und dem englischen Hearsay=Hörensagen, was auf Verleumdung deutet und die Be— ziehung zu dem indifferenten Traumerreger des Tages herstellt, einem Gedicht in den „fliegenden Blättern“ von einem ver leumderischen Zwerg, „Sagter Hatergesagt“. Durch Beziehung der Endsilhe „ing“ zum Namen Fließ gewinnt man „Vlissingen“, wirklich die Station der Seereise, die mein Bruder berührt, wenn er von England zu uns auf Besuch kommt. Der englische Name § 1555]) Die nämliche Zerlegung und Zusammensetzung der Silben —— eine wahre
Silhenchemie — dient uns im Wachen zu mannigfachen Schenen. „Wie gewinnt man auf die billigste Art Silber? Man begibt sich in eine Allee. in der Silherpappeln stehen, gehietet Schweigen, dann hört das ,Pappeln‘ (Sehwätzen) auf, und das Silber wird frei.“ Der erste Leser und Kritiker dieses Buches hat mir den Einwand gemacht, den die späteren wahrscheinlich wiederholen werden. „daß der Träurner ofl 111 wit1ig erscheine“. Das ist richtig, so lange es nur auf den Träumer bezogen wird, involviert einen Vorwurf nur dann, wenn es auf den Traumdeuter übergreifen soll. In der wachen Wirklichkeit kann ich wenig Anspruch auf das Prädikat „witzig“ erheben; wenn meine Träume witzig erscheinen, so liegt es nicht an meiner Person. sondern an den eigentümlichen psychologischen Bedingungen. unter denm der Traum gearbeitet wird, und hängt mit der Theorie des Witzigen und Komischen intim zusammen. Der Traum wird witzig, weil ihm der gerade und nächste Weg zum Ausdruck seiner Gedanken gesperrt ist; er wird es nctgedrnngen. Die Leser können sich überzeugen, daß Träume meiner Patienten den Eindruck des Witzigen (Witzelnden) im selben und im höheren Grade machen wie die meinen. [E 3] § 1556§ 1557
500 VI. Die Traumarbeiz
§ 1558von Vlissingen lautet aber F lushing, was in englischer Sprache
Erröten bedeutet und an die Patienten mit „Errötensangst“ mahnt, die ich behandle, auch an eine rezente Publikation Bechterews über diese Neurose, die mir Anlaß zu ärgerlichen Empfindungen gegeben hat. § 15595 ) Ein anderes Mal habe ich einen Traum, der aus zwei ge
sonderten Stücken besteht. Das erste ist das lebhaft erinnerte Wort „Autodidasker“, das andere deckt sich getreu mit einer vor Tagen produzierten, kurzen und harmlosen Phantasie des Inhalts, daß ich dem Professor N., wenn ich ihn nächstens sehe, sagen muß: „Der Patient, über dessen Zustand ich Sie zuletzt kon sultiert habe, leidet wirklich nur an einer Neurose, ganz wie Sie vermutet haben.“ Das neugebildete „Autodidasker“ hat nun nicht nur der Anforderung zu genügen, daß es komprimierten Sinn enthält oder vertritt, es soll auch dieser Sinn in gutem Zusammen hange mit meinem aus dem Wachen wiederholten Vorsatze stehen, dem Professor N. jene Genugtuung zu geben. § 1560Nun zerlegt sich Autodidasker leicht in Autor, Autodidakt
und Lasker, an den sich der Name Lasalle schließt. Die ersten dieser Worte führen zu der —: dieses Mal bedeutsamen — Ver anlassung des Traumes. Ich hatte meiner Frau mehrere Bände eines bekannten Autors mitgebracht, mit dem mein Bruder be— freundet ist, und der, wie ich erfahren habe, aus demselben Orte stammt wie ich (J. J. David). Eines Abends sprach sie mit mir über den tiefen Eindruck, den ihr die ergreifend traurige Ge schichte eines vei'kommenen Talents in einer der Davidschen Novellen gemacht hatte, und unsere Unterhaltung wendete sich darauf den Spuren von Begabung zu, die wir an unseren eigenen Kindern wahrnehmen. Unter der Herrschaft des eben Gelesenen äußerte lsie eine Besorgnis, die sich auf die Kinder bezog, und ich tröstete sie mit der Bemerkung, daß gerade solche Gefahren durch die Erziehung abgewendet werden können. In der Nacht ging mein Gedankengang weiter, nahm die Besorgnisse meiner Frau § 1561§ 1562
W ortneubildungen 5 o 1
§ 1563auf und verwob allerlei anderes damit; Eine Äußerung, die der
Dichter gegen meinen Bruder in bezug auf das Heiraten getan hatte, zeigte meinen Gedanken einen Nebenweg, der zur Dar stellung im Traum führen konnte. Dieser Weg leitete nach Breslau, wohin eine uns sehr hefreundete Dame geheiratet hatte. Für die Besorgnis, am Weihe zugrunde zu gehen, die den Kern meiner Traumgedanken bildete, fand ich in Breslau die Exempel Lasker und Lasalle auf, die mir gleichzeitig die beiden Arten dieser Beeinflussung zum Unheil darzustellen gestatteten.‘ Das „Cherchez la femme“, in dem sich diese Gedanken zusammen fassen lassen, bringt mich in anderem Sinn auf meinen noch un verheirateten Bruder, der Alexander heißt. Nun merke ich, daß Alex, wie wir den Namen abkürzen, fast wie eine Umstellung von Lasker klingt, und daß dieses Moment mitgewirkt haben muß, meinen Gedanken die Umwegsrichtung über Breslau mitzuteilen. § 1564Die Spielerei mit Namen und Silben, die ich hier treibe, ent
hält aber noch einen weiteren Sinn. Sie vertritt den Wunsch eines glücklichen Familienlebens für meinen Bruder, und zwar auf folgendem Weg. In dem Künstlerroman „L’oeuvre“, der meinen Traumgedanken inhaltlich naheliegen mußte, hat der Dichter bekanntlich sich selbst und sein eigenes Familienglück episodisch mitgeschildert und tritt darin unter dem Namen Sandoz auf. Wahrscheinlich hat er bei der Namensverwandlung folgenden Weg eingeschlagen. Zola gibt umgekehrt (wie die Kinder so gerne zu tun pflegen) Aloz. Das war ihm wohl noch zu unverhüllt; darum ersetzte sich ihm die Silbe A1, die auch den Namen Alexander einleitet, durch die dritte Silbe desselben Namens sand, und so kam Sandoz zustande. So ähnlich entstand also auch mein Autodidasker. § 1565Meine Phantasie, daß ich Professor N. erzähle, der von uns
beiden gesehene Kranke leide nur an einer Neurose, ist auf fol § 15661) Lasker starb an pragressiver Paralyse, also an den Folgen der beim Weib
erworbenen Infektion (Lines); Lasalle, wie bekannt, im Duell wegen einer Dame. § 1567§ 1568
50; VI. Die Traumarlzeit
§ 1569gende Weise in den Traum gekommen.'Kurz vor Schluß meines
Arbeitsjahres bekam ich einen Patienten, bei dem mich meine Diagnostik im Stiche ließ. Es war ein schweres organisches Leiden, vielleicht eine Bückenmarksveränderung, anzunehmen, aber nicht zu beweisen. Eine Neurose zu diagnostizieren wäre verlockend gewesen und hätte allen Schwierigkeiten ein Ende bereitet, wenn nicht die sexuelle Anamnese, ohne die ich keine Neurose aner kennen will, vom Kranken so energisch in Abrede gestellt worden wäre. In meiner Verlegenheit rief ich den Arzt zur Hilfe, den ich menschlich am meisten verehre (wie andere auch), und vor dessen Autorität ich mich am ehesten beuge. Er hörte meine Zweifel an, hieß sie berechtigt und meinte dann: „Beobachten Sie den Mann weiter, es wird Neurose sein.“ Da ich weiß, daß er meine Ansichten über die Ätiologie der Neurosen nicht teilt, hielt ich meinen Widerspruch zurück, verbarg aber nicht meinen Unglauben. Einige Tage später machte ich dem Kranken die Mitteilung, daß ich mit ihm nichts anzufangen wisse, und riet ihm, sich an einen anderen zu wenden. Da begann er zu meiner höchsten Überraschung, mich um Verzeihung zu bitten, daß er mich belegen habe; er habe sich so sehr geschämt, und nun ent— hüllte er mir gerade das Stück sexueller Ätiologie, das ich erwartet hatte, und dessen ich zur Annahme einer Neurose bedurfte. Mir war es eine Erleichterung, aber auch gleichzeitig eine Beschämung, ich mußte mir zugestehen, daß mein Consiliarius, durch die Be rücksichtigung der Anamnese unbeirrt, richtiger gesehen hatte. Ich nahm mir vor, es ihm zu sagen, wenn ich ihn wiedersehe, ihm zu sagen, daß er recht gehabt habe und ich unrecht. Gerade das tue ich nun im Traum. Aber was für Wunsch— erfüllnng soll es denn sein, wenn ich bekenne, daß ich unrecht habe? Gerade das ist mein Wunsch.; ich möchte unrecht haben mit meinen Befürchtungen, respektive ich möchte, daß meine Frau, deren Befürchtungen ich in den Traumgedanken mit an— geeignet habe, unrecht behält. Das Thema, auf welches sich das § 1570§ 1571
§ 1572
304. VI. Die Trauth
§ 1573birgt. Dieselbe Phantasie dient unverändert der Darstellung beider
gegensätzlichen Glieder der Alternative. [E 4] § 1574Diese Wortverbildungen des Traumes ähneln sehr den bei der
Paranoia bekannten, die aber auch bei Hysterie und Zwangsvor stellungen nicht vennißt werden. Die Sprachkünste der Kinder, die zu gewissen Zeiten die Worte tatsächlich wie Objekte be handeln, auch neue Sprachen und artefizielle Wortfügungen er finden, sind für den Traum wie für die Psychoneurosen hier die gemeinsame Quelle. [E 5] § 1575Wo in einem Traum Reden vorkommen, die ausdrücklich als
solche von Gedanken unterschieden werden, da gilt als ausnahms— lose Regel, daß Traumrede von erinnerter Rede im Traummaterid abstammt. Der Wortlaut der Rede ist entweder unversehrt er halten oder leise im Ausdruck verschoben; häufig ist die Traum rede aus verschiedenen Redeerinnerungen zusammengestückelt; 'der Wortlaut dabei das sich Gleichgebliebene, der Sinn womöglich mehr- oder andersdeutig verändert. Die Traumrede dient nicht selten als bloße Anspielung auf ein Ereignis, bei dem die erinnerte Rede vorfiel. [E 8] § 1576.. B
Die Verschiebungsarbeit § 1577Eine andere, wahrscheinlich nicht minder bedeutsame Relation
mußte uns bereits auffallen, während wir die Beispiele für die Traumverdichtung sammelten. Wir konnten bemerken, daß die Elemente, welche im Trauminhalt sich als die wesentlichen Be standteile hervordrängen, in den Traumgedanken keineswegs die gleiche Rolle spielen. Als Korrelat dazu kann man auch die Um kehrung dieses Satzes aussprechen. Was in den Traumgedank6n offenbar der wesentliche Inhalt ist, braucht im Traum gar nicht vertreten zu sein. Der Traum ist gleichsam anders zentriert, sein Inhalt um andere Elemente als Mittelpunkt geordnet als die Traumgedanken. So z. B. ist im Traum von der botanischen § 1578§ 1579
Die Tatsache der Verschiebung im Traum 505
§ 1580Monographie Mittelpunkt des Trauminhaltés offenbar das Element
„botanisch“; in den Traumgedanken handelt es sich um die Kom plikationen und Konflikte, die sich aus verpflichtenden Leistungen zwischen Kollegen ergeben, in weiterer Folge um den ‘Vorwurf, daß ich meinen Liebhabereien allzu große Opfer zu bringen pflege, und das Element „botanisch“ findet in diesem Kern der Traum gedanken überhaupt keine Stelle, ‘wenn es nicht durch eine Gegensätzlichkeit locker damit verbunden ist, denn Botanik hatte niemals einen Platz unter meinen Lieblingsstudien. In dem Sapphotraum meines Patienten ist das Auf— und Niedersteigen, Oben- und Untensein zum Mittelpunkt gemacht; der Traum handelt aber von den Gefahren sexueller Beziehungen zu niedrig stehenden Personen, so daß nur eines der Elemente der Traum— gedanken, dies aber in ungebührlicher Verbreiterung, in den Trauminhalt eingegangen scheint. Ähnlich ist. im Traum von den Maikäfern, welcher die Beziehungen der Sexualität zur Grausam— keit zum Thema hat, zwar das Moment der Grausamkeit im Trauminhalt wieder erschienen, aber in andersartiger Verknüpfung und ohne Erwähnung des Sexuellen, also aus dem Zusammen— hang gerissen und dadurch zu etwas Fremdem umgestaltet. In dem Onkeltraum wiederum scheint der blonde Bart, der dessen Mittelpunkt bildet, außer aller Sinnbeziehung zu den Größen wünschen, die wir als den Kern der Traumgedanken erkannt haben. Solche Träume machen dann mit gutem Recht einen „verschobenen“ Eindruck. Im vollen Gegensatz zu diesen Bei spielen zeigt dann der Traum von Irmas Injektion, daß bei der Traumbildung die einzelnen Elemente auch wohl den Platz be— haupten können, den sie in den Traumgedanken einnehmen. Die Kenntnisnahme dieser neuen, in ihrem Sinne durchaus in konstanten Relation zwischen Traumgedanken und Trauminhalt ist zunächst geeignet, unsere Verwunderung zu erregen. Wenn wir bei einem psychischen Vorgang des Normallebens finden, daß eine Vorstellung aus mehreren anderen herausgegriffen wurde § 1581Freud. II. zu
§ 1582§ 1583
506 VI. Die Traumarbeit
§ 1584und für das Bewußtsein besondere Lebhaftigkeit erlangt hat, so
pflegen wir diesen Erfolg als Beweis dafür anzusehen, daß der siegenden Vorstellung eine besonders hohe psychische Wertigkeit (ein gewisser Grad von Interesse) zukommt. Wir machen nun die Erfahrung, daß diese Wertigkeit der einzelnen Elemente in den Traurngedanken für die Traumbildung nicht erhalten bleibt oder nicht in Betracht kommt. Es ist ja kein Zweifel darüber, welches die höchstwertigen Elemente der Traumgedanken sind; unser Urteil sagt es uns unmittelbar. Bei der Traumbildung können diese wesentlichen, mit intensivem Interesse betonten Elemente nun so behandelt werden, als ob sie minderwertig wären, und an ihre Stelle treten im Traum andere Elemente, die in den Traumgedanken sicherlich minderwertig waren. Es macht zunächst den Eindruck, als käme die psychische Intensität‘ der einzelnen Vorstellungen für die Traumauswahl überhaupt nicht in Betracht, sondern bloß die mehr oder minder vielseitige Determiniernng derselben. Nicht was in den Traumgedanken wichtig ist, kommt in den Traum, sondern was in ihnen mehrfach enthalten, könnte man meinen; das Verständnis der Traumbildung wird aber durch diese Annahme nicht sehr gefördert, denn von vornherein wird man nicht glauben können, daß die beiden Momente der mehrfachen Determinierung und der eigenen Wertigkeit bei der Traumauswahl anders als gleichsinnig wirken können. Jene Vorstellungen, welche in den Traumgedanken die wichtigsten sind, werden wohl auch die am häufigsten in ihnen wiederkehrenden sein, da von ihnen wie von Mittelpunkten die einzelnen Traumgedanken ausstrahlen. Und doch kann der Traum diese intensiv betonten und vielseitig unter— stützten Elemente ablehnen und andere Elemente, denen nur die letztere Eigenschaft zukommt, in seinen Inhalt aufnehmen. § 1585Zur Lösung dieser Schwierigkeit wird man einen anderen
Eindruck verwenden, den man bei der Untersuchung der Über § 1586l) Psychische Intensität, Wertigkeit, Interessebetanung einer Vorstellung ist.
natürlich von sinnlicher Intensität, Intensität des Vorgestellten, gesondert zu halten. § 1587§ 1588
Verhältnis von Verschieng und Überdeterminiemng 507
§ 1589determinierung des Trauminhaltes empfangen hat. Vielleicht hat
schon mancher Leser dieser Untersuchung bei sich geurteilt, die Überdetermjnierung der Traumelemente sei kein bedeutsamer Fund, weil sie ein selbstverständlicher ist. Man geht ja bei der Analyse von den Traumelementen aus und verzeichnet alle Ein— falle, die sich an dieselben knüpfen; kein Wunder dann, daß in dem so gewonnenen Gedankenmaterial eben diese Elemente sich besonders häufig wiederfinden. Ich könnte diesen Einwand nicht gelten lassen, werde aber selbst etwas ihm ähnlich Klingendes zur Sprache bringen: Unter den Gedanken, welche die Analyse zutage fördert, finden sich viele, die dem Kern des Traumes ferner stehen und die sich wie künstliche Einschaltungen zu einem gewissen Zwecke ausnehmen. Der Zweck derselben ergibt sich leicht; gerade sie stellen eine Verbindung, oft eine ge— zwungene und gesuchte Verbindung, zwischen Trauminhalt und Traumgedanken her, und wenn diese Elemente aus der Analyse ausgeweth Würden, entfiele für die Bestandteile des Trauminhaltes oftmals nicht nur die Überdeterminierung, sondern überhaupt eine genügende Determ.inierung durch die Traumgedanken. Wir werden so zum Schlusse geleitet, daß die mehrfache Deter minierung, die für die Traumauswahl entscheidet, wohl nicht immer ein primäres Moment der Traumbildung, sondern oft ein sekundäres Ergebnis einer uns noch unbekannten psychischen Macht ist. Sie muß aber bei alledem für das Eintreten der ein zelnen Elemente in den Traum von Bedeutung sein, denn wir können beobachten, daß sie mit einem gewissen Aufwand her gestellt wird, wo sie sich aus dem Traummaterial nicht ohne Nachhilfe ergibt. § 1590Es liegt nun der Einfall nahe, daß bei der Traumarheit eine
psychische Macht sich äußert, die einerseits die psychisch hoch wertigen Elemente ihrer Intensität entkleidet, und anderseits auf dem Wege der Überdeterrninierung aus minder wertigen neue Wertigkeiten schafft, die dann in den Traum— § 1591„.
§ 1592§ 1593
508 VI. Die Traumarbeit
§ 1594inhalt gelangen. Wenn das so zugeht, so hat bei der Traum
bildung eine Übertragung und Verschiebung der psychi schen Intensitäten der einzelnen Elemente stattgefunden, als deren Folge die Textverschiedenheit von Trauminhalt und Traum gedanken erscheint. Der Vorgang, den wir so supponieren, ist geradezu das wesentliche Stück der Traumarbeit: er verdient den Namen der Traumverschiebung. Traumverschiebung uiid Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zu schreiben dürfen. § 1595Ich denke, wir haben es auch leicht, die psychische Macht,
die sich in den Tatsachen der Traumverschiebung äußert, zu erkennen. Der Erfolg dieser Verschiebung ist, daß der Traum— inhalt dem Kern der Traumgedanken nicht mehr gleich sieht7 daß der Traum nur eine Entstellung des Traumwunsches im Unbewußten wiedergibt. Die Traumentstellung aber ist uns bereits bekannt; wir haben sie auf die Zensur zurückgeführt, welche die eine psychische Instanz im Gedankenleben gegen eine andere ausübt. Die Traumverschiebung ist eines der Haupt— mittel‘ zur Erzielung dieser Entstellung. Is feeit, cui profuit. Wir dürfen annehmen, daß die Traumverschiebung durch den Einfluß jener Zensur, der endopsychischen Abwehr, zustande kommt. [E 7] § 1596In welcher Weise die Momente der Verschiebung, Verdich—
tung und Überdeterminierung bei der Traumbildung ineinander spielen, welches der übergeordnete und welches der nebensäch— liche Faktor wird, das würden wir späteren Untersuchungen vor behalten. Vorläufig können wir als eine zweite Bedingung, der die in den Traum gelangenden Elemente genügen müssen, an— geben, daß sie der Zensur des Widerstandes entzogen seien. Die Traumverschiebung aber wollen wir von nun an als unzweifelhafte Tatsache bei der Traumdeutung in Rechnung ziehen. § 1597§ 1598
Die Darstellungsmittel des Traumes 509
§ 1599C
Die Darstellungsmittel des Traumes § 1600Außer den beiden Momenten der Traumverdichtung und
Traumverschiebung, die wir bei der Verwandlung des latenten Gedankenmaterials in den manifesten Trauminhalt als wirksam aufgefunden haben, werden wir bei der Fortführung dieser Unter— suchung noch zwei weiteren Bedingungen begegnen, die un-' zweifelhaften Einfluß auf die Auswahl des in den Traum ge— langenden Materiales üben. Vorher möchte ich7 selbst auf die Ge— fahr hin, daß wir auf unserem Wege haltzumachen scheinen, einen ersten Blick auf die Vorgänge bei der Ausführung der Traumdeutung werfen. Ich verhehle mir nicht, daß es am ehesten gelingen würde, dieselben klarzustellen und ihre Zuver— lässigkeit gegen Einwendungen zu sichern, wenn ich einen einzelnen Traum zum Muster nähme, seine Deutung entwickle, wie ich es in Abschnitt II bei dem Traum von Irmas Injektion gezeigt habe, dann aber die Traumgedanken, die ich aufgedeckt habe, zusainmenstelle, und nun die Bildung des Traumes aus ihnen rekonstruiere, also die Analyse der Träume durch eine Synthese derselben ergänze. Diese Arbeit habe ich an mehreren Beispielen zu meiner eigenen Belehrung vollzogen; ich kann sie aber hier nicht aufnehmen, weil mannigfache und von jedem billig Denkenden gutzuheißende Rücksichten auf das psychische Material zu dieser Demonstration mich daran verhindern.—Bei der Analyse der Träume störten diese Rücksichten weniger, denn die Analyse durfte unvollständig sein und behielt ihren Wert, wenn sie auch nur ein Stück weit in das Gewebe des Traumes hineinführte. Von der Synthese wüßte ich es nicht anders, als daß sie, um zu überzeugen, vollständig sein muß. Eine voll— ständige Synthese könnte ich nur von Träumen solcher Personen geben, die dem lesenden Publikum unbekannt sind. Da aber nur Patienten, Neurotiker, mir dazu die Mittel bieten, so muß dies § 1601§ 1602
510 VI. D'w Traumarbeiz
§ 1603Stück Darstellung des Traumes einen Aufschub erfahren, bis ich —
an anderer Stelle —— die psychologische Aufklärung der Neurosen so weit führen kann, daß der Anschluß an unser Thema her— zustellen ist. [E a] § 1604Aus meinen Versuchen, Träume aus den Traumgedanken
synthetisch herzustellen, weiß ich, daß das bei der Deutung sich ergebende Material von verschiedenartigern Wert ist. Den einen Teil desselben bilden die wesentlichen Traumgedanken, die also den Traum voll ersetzen und allein zu dessen Ersatz hinreichen würden, wenn es für den Traum keine Zensur gäbe. Den anderen Teil kann man unter dem Namen „Kollateralen“ zusammen— fassen; in ihrer Gesamtheit stellen sie die Wege dar, auf denen der wirkliche Wunsch, der sich aus den Traumgedanken erhebt, in den Traumwunsch übergeführt wird. Von diesen „Kollateralen“ besteht ein erster Anteil aus Anknüpfungen an die eigentlichen Traumgedanken, welche, schematisch genommen, Verschiebungen vom Wesentlichen aufs Nebensächliche entsprechen. Ein zweiter Anteil umfaßt die Gedanken, welche diese durch Verschiebung bedeutsam gewordenen, nebensächlichen Materialien unter sich ver binden und von ihnen bis zum Trauminhalt reichen. Ein dritter Anteil endlich enthält die Einfälle und Gedankenverbindungen, durch die man bei der Deutungsarbeit vom Trauminhalt zu den mittleren Kol lateralen gerät, und die nicht notwendig sämtlich auch bei der Traumbildung‘ beteiligt gewesen sein müssen. [E 9] § 1605Uns interessieren an dieser Stelle ausschließlich die wesentlichen
Traumgedanken. Diese enthülleu sich zumeist als ein Komplex von Gedanken und Erinnerungen vom allerverwickeltsten Aufbau mit allen Eigenschaften der uns aus dem Wachen bekannten Gedankengänge. Nicht selten sind es Gedankenzüge, die von mehr als einem Zentrum ausgehen, aber der Berührungspunkte nicht entbehren; fast regelmäßig steht neben einem Gedankengang sein kontradiktorisches Widerspiel, durch Kontrastassoziation mit ihm verbunden. § 1606§ 1607
Die Darstellung der logischen Relationen 511
§ 1608Die einzelnen Stücke dieses komplizierten Gebildes stehen
natürlich in den mannigfaltigsten logischen Relationen zueinander. Sie bilden Vorder— und Hintergrund, Abschweifungen und Er läuterungen, Bedingungen, Beweisgänge und Einsprüche. Wenn dann die ganze Masse dieser Traumgedanken der Pressung der Traumarbeit unterliegt, wobei die Stücke gedreht, zerbröckelt und zusammengeschoben werden, etwa wie treibendes Eis, so entsteht die Frage, was aus den logischen Banden wird, welche bishin das Gefüge gebildet hatten. Welche Darstellung erfahren im Traum das „Wenn, weil, gleichwie, obgleich, entweder—oder“ und alle anderen Präpositionen, ohne die wir Satz und Rede nicht ver stehen können? § 1609Man muß zunächst darauf antworten, der Traum hat für diese
logischen Relationen unter den Traumgedanken keine Mittel der Darstellung zur Verfügung. Zumeist läßt er all diese Präpositionen unberücksichtigt und übernimmt nur den sachlichen Inhalt der Traumgedanken zur Bearbeitung. Der Traumdeutung bleibt es überlassen, den Zusammenhang wieder herzustellen, den die Traum arbeit vernichtet hat. § 1610Es muß am psychischen Material liegen, in dem der Traum
gearbeitet ist, wenn ihm diese Ausdrucksfähigkeit abgeht. In einer ähnlichen Beschränkung befinden sich ja die darstellenden Künste, Malerei und Plastik im Vergleich zur Poesie, die sich der Rede bedienen kann, und auch hier liegt der Grund des Unvermögens in dem Material, durch dessen Bearbeitung die beiden Künste etwas zum Ausdruck zu bringen streben. Ehe die Malerei zur Kenntnis der für sie gültigen Gesetze des Ausdrucks gekommen war, bemühte sie sich noch, diesen Nachteil auszugleichen. Aus dem Munde der gemalten Personen ließ man auf alten Bildern Zettelchen heraushängen, welche als Schrift die Rede brachten, die im Bilde darzustellen der Maler verzweifelte. § 1611Vielleicht wird sich hier ein Einwand erheben, der für den
Traum den Verzicht auf die Darstellung logischer Relationen be § 1612§ 1613
512 V I . Die Traumarbeit
§ 1614streitet. Es gibt ja Träume, in welchen die komphzienesten
Geistesoperationen vor sich gehen, begründet und widersprechen, gewitzelt und verglichen wird wie im wachen Denken. Allein auch hier trägt der Schein; wenn man auf die Deutung solcher _Träume eingeht, erfährt man, daß das alles Traummaterial ist, nicht Darstellung intellektueller Arbeit im Traum. Der Inhalt der Traumgedanken ist durch‘das scheinbare Denken des Traumes wiedergegeben, nicht die Beziehungen der Traum gedanken zueinander, in deren Feststellung das Denken be steht. Ich werde hiefür Beispiele erbringen. Am leichtesten ist es aber zu konstatieren, daß alle Reden, die in Träumen vorkommen, und die ausdrücklich als solche bezeichnet werden, unveränderte oder nur wenig modifizierte Nachbildungen von Reden sind, die sich ebenso in den Erinnerungen des Traummateriales vor-finden. Die Rede ist oft nur eine Anspielung auf ein in den Traum gedanken enthaltenes Ereignis; der Sinn des Traumes ein ganz anderer. § 1615Allerdings werde ich nicht bestreiten, daß auch kritische Denk—
arbeit, die nicht einfach Material aus den Traumgedanken wieder holt, ihren Anteil an der Traumbildung nimmt. Den Einfluß dieses Faktors werde ich zu Ende dieser Erörterung beleuchten müssen. Es wird sich dann ergeben, daß diese Denkarbeit nicht durch die Traumgedanken, sondern durch den in gewissem Sinne bereits fertigen Traum hervorgerufen wird. § 1616Es bleibt also vorläufig dabei, daß die logischen Relationen zwischen
den Traumgedanken im Traume eine besondere Darstellung nicht finden. Wo sich z. B. Widerspruch im Traum findet, da ist es ent weder Widerspruch gegen den Traum oder Widerspruch aus dem Inhalt eines der Traumgedanken; einem Widerspruch zwischen den Traumgedanken entspricht der Widerspruch im Traum nur in höchst indirekt vermittelter Weise. § 1617Wie es aber endlich der Malerei gelungen ist, wenigstens die
Redeabsicht der dargestellten Personen, Zärtlichkeit, Drohung, § 1618§ 1619
Zusammenhang als Gleichzeitigkeiz 515
§ 1620Verwarnung u. dgl. anders zum Ausdruck zu bringen als durch
den flatternden Zettel, so hat sich auch für den Traum die Mög lichkeit ergeben, einzelnen der logischen Relationen zwischen seinen Traumgedanken durch eine zugehörige Modifikation der eigentümlichen Traumdarstellung Rücksicht zuzuwenden. Man. kann die Erfahrung machen, daß die verschiedenen Träume in dieser Berücksichtigung verschieden weit gehen; während sich der eine Traum über das logische Gefüge seines Materials völlig hinaussetzt, sucht ein anderer dasselbe möglichst vollständig anzu deuten. Der Traum entfernt sich hierin mehr oder weniger weit von dem ihm zur Bearbeitung vorliegenden Text. Ähnlich wechselnd benimmt sich der Traum übrigens auch gegen das zeitliche Ge— füge der Traumgedanken, wenn ein solches im Unbewußten her gestellt ist (wie z. B. im Traum von Irmas Injektion). § 1621Durch welche Mittel vermag aber die Traumarbeit die schwer
darstellbaren Relationen im Traummaterial anzudeuten? Ich werde versuchen, sie einzeln aufzuzählen. , § 1622Zunächst wird der Traum dem unleugbar vorhandenen Zu—
sammenhang zwischen allen Stücken der Traumgedanken dadurch im ganzen gerecht, daß er dieses Material in einer Zusammenfassung als Situation oder Vorgang vereinigt. Er gibt logischen Zu sammenhang wieder als Gleichzeitigkeit; er verfährt darin ähnlich wie der Maler, der alle Philosophen oder Dichter zum Bild einer Schule von Athen oder des Parnaß zusammenstellt, die niemals in einer Halle oder auf einem Bergg'ipfel beisammen gewesen sind, wohl aber für die denkende Betrachtung eine Ge— meinschaft bilden. ’ § 1623Diese Darstellungsweise setzt der Traum ins einzelne fort. So
oft er zwei Elemente nahe beieinander zeigt, bürgt er für einenf besonders innigen Zusammenhang zwischen ihren Entsprechendeni in den Traumgedanken. Es ist wie in unserem Schriftsystem‘. ab bedeutet, daß die beiden Buchstaben in einer Silbe ausge sprochen werden sdllen. a und b nach einer freien Lücke läßt a § 1624§ 1625
514. VI. Die Traumbeiz
§ 1626als den letzten Buchstaben des einen Wortes und b als den ersten
eines anderen Wortes erkennen. Demzufolge bilden sich die Traum kombinationen nicht aus beliebigen, völlig disparaten Bestandteilen des Traummaterials, sondern aus solchen, die auch in den Traum— gedanken in innigerem Zusammenhange stehen. § 1627Die _Kausalbeziehungen darzustellen hat der Traum zwei
Verfahren, die im Wesen auf dasselbe hinauslaufen. Die häufigere Darstellungsweise, wenn die Traumgedanken etwa lauten: Weil dies so und so war, mußte dies und jenes geschehen, besteht darin, den Nebensatz als Vortrau.m zu bringen und dann den Hauptsatz als Haupttraum anzufügen. Wenn ich recht gedeutet habe, kann die Zeitfolge auch die umgekehrte sein. Stets entspricht dem Hauptsatz der breiter ausgeführte Teil des Traumes. § 1628Ein schönes Beispiel von solcher Darstellung der Kausalität hat
mir einmal eine Patientin geliefert, deren Traum ich späterhin vollständig mitteilen werde. Er bestand aus einem kurzen Vor spiel und einem sehr weitläufigen Traumstück, das im hohen Grade zentriert war und etwa überschrieben werden konnte: Durch die Blume. Der Vortraum lautete so: Sie geht in die Küche zu den beiden Miigden und tadelt sie, daß sie nicht fertig werden „mit dem bißl Essen“. Dabei sieht sie sehr viel grobes Küchen geschz'rr zum Abtropfen umgestürzt in der Küche stehen, und zwar in Haufen aufeinander gestellt. Die beiden Mägde gehen Wasser holen und müssen dabei wie in einen Fluß steigen, der bis ans Haus oder in den Hof reicht. § 1629Dann folgt der Haupttraum, der sich so einleitet: Sie steigt
vdn hoch herab, über eigenlümlich gebildete Geländer, und freut sich, daß ihr Kleid dabei nirgends hängen bleibt usw. Der Vor traum bezieht sich nun auf das elterliche Haus der Dame. Die Worte in der Küche hat sie wohl oft so von ihrer Mutter gehört. Die Haufen von rohem Geschirr stammen aus der einfachen Geschirrhandlung, die sich in demselben Hause befand. Der zweite Teil des Traumes enthält eine Anspielung auf den Vater, der § 1630§ 1631
Kansalbeziehung 5 1 5
§ 1632sich viel mit Dienstmädchen zu schaffen machte und dann bei
einer Überschwemmung — das Haus stand nahe am Ufer des Flusses — sich eine tödliche Erkrankung holte. Der Gedanke, der sich hinter diesem Vortraum verbirgt, heißt also: Weil ich aus diesem Hause, aus so kleinlichen und unerquicklichen Ver hältnissen stamme. Der Haupttmum nimmt denselben Gedanken wieder auf und bringt ihn in durch Wunscherfüllung verwan— delter Form: Ich bin von hoher Abkunft. Eigentlich also: Weil ich von so niedriger Abkunft bin, war mein Lebenslauf so und so. § 1633Soviel ich sehe, bedeutet eine Teilung des Traumes in zwei
ungleiche Stücke nicht jedesmal eine kausale Beziehung zwischeni den Gedanken der beiden Stücke. Oft scheint es, als ob in den‘ beiden Träumen dasselbe Material von verschiedenen Gesichts— punkten aus dargestellt würde; [E 10] oder die beiden Träume sind aus gesonderten Zentren im Traumrnaterial hervorgegangen und über— schneiden einander im Inhalt, so daß in dem einen Traum Zentrum ist, was im anderen als Andeutung mitwirkt und umgekehrt. In einer gewissen Anzahl von Träumen bedeutet aber die Spaltung in kürzeren Vor— und längeren Nachtraum tatsächlich kausale Beziehung zwischen beiden Stücken. Die andere Darstellungsweise des Kausalverhältnisses findet Anwendung bei minder umfang reichem Material und besteht darin, daß ein Bild im Traume, sei es einer Person oder einer Sache, sich in ein anderes ver— wandelt. Nur wo wir diese Verwandlung im Traume vor sichf gehen sehen, wird der kausale Zusammenhang ernstlich behauptet; ‘ nicht wo wir bloß merken, es sei an Stelle des einen jetzt das andere gekommen. Ich sagte, die beiden Verfahren, Kausalbeziehung ‘. darzustellen, liefen auf dasselbe hinaus; in beiden Fällen wird die Verursachung dargestellt durch ein Nacheinander, einmal durch das Aufeinanderfolgen der Träume, das andere Mal durch die unmittelbare Verwandlung eines Bildes in ein anderes. In den allermeisten Fällen freilich wird die Kausalrelation überhaupt nicht § 1634§ 1635
5) 6 V I . Die Trawnarbeit
§ 1636dargestellt, sondern fällt unter das auch im Traumvorgang un
vermeidliche Nacheinander der Elemente. § 1637Die Alternative „Entweder—Oder“ kann der Traum überhaupt
nicht ausdrücken; er pflegt die Glieder derselben wie gleichbe— rechtigt in einen Zusammenhang aufzunehmen. Ein klassisches Beispiel hiefür enthält der Traum von Irmas Injektion. In dessen latenten Gedanken heißt es oflenbar: Ich bin unschuldig an dem Fortbestand von Irmas Schmerzen; die Schuld liegt entweder an ihrem Sträuben gegen die Annahme der Lösung, oder daran, daß sie unter ungünstigen sexuellen Bedingungen lebt, die ich nicht ändern kann, oder ihre Schmerzen sind überhaupt nicht hysterischer, sondern organischer Natur. Der Traum vollzieht aber alle diese einander fast ausschließenden Möglichkeiten und nimmt keinen Anstoß, aus dem Traumwunsch eine vierte solche Lösung hinzuzufügen. Das Entweder—Oder habe ich dann nach der Traumdeutung in den Zusam.rnenhang der Traumgedanken ein gesetzt. § 1638Wo aber der Erzähler bei der Reproduktion des Traumes ein
Entweder—Oder gebrauchen möchte: Es war entweder ein Garten oder ein Wohnzimmer usw., da kommt in den Traumgedanken nicht etwa eine Alternative, sondern ein „und“, eine einfache Anreihung, vor. Mit Entweder—Oder beschreiben wir zumeist einen noch auflösbaren Charakter von Verschwommenheit an einem Traumelemente. Die Deutungsregel für diesen Fall lautet: Die einzelnen Glieder der scheinbaren Alternative sind einander gleich— zusetzen und durch „und“ zu verbinden. Ich träume z. B., nach— dem ich längere Zeit vergeblich auf die Adresse meines in Italien weilenden Freundes gewartet habe, daß ich ein Telegramm er— halte, welches mir diese Adresse mitteilt. Ich sehe sie in blauem Druck auf den Papierstreifen des Telegrammes; das erste Wort ist verschwomrnen, etwa via, § 1639oder Villa, das zweite deutlich: Sezerno,
oder sogar (Casa). § 1640§ 1641
Alternative 51 7
§ 1642Das zweite Wort, das an italienische Namen anklingt, und mich
an unsere etymologischen Besprechungen erinnert, drückt auch meinen Ärger aus, daß er seinen Aufenthalt so lange vor mir geheim gehalten, jedes der Glieder aber des Ternavorschlages zum ersten Wort läßt sich bei der Analyse als selbständiger und gleichberechtigter Ausgangspunkt der Gedankenverkettung erkennen. § 1643In der Nacht vor dem Begräbnis meines Vaters träume ich
von einer bedruckten Tafel, einem Plakat oder Anschlagezettel — etwa wie die das Rauchverbot verkündenden Zettel in den Warte sälen der Eisenbahnen —— auf dem zu lesen ist, entweder: § 1644Man bittet, die Augen zuzudriicken
oder § 1645Man bittet, ein Auge zuzudrücken
§ 1646was ich in folgender Form darzustellen gewohnt bin:
a. Man bittet, €;; Auge(n) zuzudrücken. § 1647Jede der beiden Fassungen hat ihren besonderen Sinn und führt
in der Traumdeutung auf besondere Wege. Ich hatte das Zere— moniell niöglichst einfach gewählt, weil ich wußte, wie der Ver storbene über solche Veranstaltungen gedacht hatte. Andere Familienmitglieder waren aber mit solch puritanischer Einfachheit nicht einverstanden; sie meinten, man werde sich vor den Trauer gästen schämen müssen. Daher bittet der eine Wortlaut des Trau— mes, „ein Auge zuzudrücken“, d. h. Nachsicht zu üben. Die Bedeutung der Verschwommenheit, die wir mit einem Entweder—— Oder beschrieben, ist hier besonders leicht zu erfassen. Es ist der Traumarbeit nicht gelungen, einen einheitlichen, aber dann zwei deutigen Wortlaut für die Traumgedanken herzustellen. So sondern sich die beiden Hauptgedankenzüge schon im Trauminhalt von einander. § 1648In einigen Fällen drückt die Zweiteilung des Traumes in zwei
gleich große Stücke die schwer darstellbare Alternative aus. § 1649§ 1650
518 VI. Die Traumarbeit
§ 1651Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die
Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernachlässigt, das „Nein“ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Freiheit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Elemente weiß, ob es in den Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist. [E 11] In dem einen der letzterwähnten Träume, dessen Vordersatz wir bereits gedeutet haben („weil ich von solcher Abkunft bin“), steigt die Träumerin über ein Geländer herab und hält dabei einen blühenden Zweig in den Händen. Da ihr zu diesem Bilde einfiillt, wie der Engel einen Lilienstengel auf den Bildern von Mariä Verkündi gung (sie heißt selbst Maria) in der Hand trägt, und wie die weißgekleideten Mädchen bei der Fronleichnamsprozession gehen, während die Straßen mit grünen Zweigen geschmückt sind, so ist der blühende Zweig im Traume ganz gewiß eine Anspielung auf sexuelle Unschuld. Der Zweig ist aber dicht mit roten Blüten besetzt, von denen jede einzelne einer Kamelie gleicht. Am Ende ihres Weges heißt es im Traum weiter, sind die Blüten schon ziemlich abgefallen, dann folgen unverkennbare Anspielungen auf die Periode. Somit ist der nämliche Zweig, der getragen wird wie eine Lilie und wie von einem unschuldigen Mädchen, gleich zeitig eine Anspielung auf die Kameliendame, die, wie bekannt, stets eine weiße Kamelie trug, zur Zeit der Periode aber eine rote. Der nämliche Blütenzweig („des Mädchens Blüten“ in den Liedern von der Müllerin bei Goethe) stellt die sexuelle Unschuld dar und auch ihr Gegenteil. Der nämliche Traum auch, welcher die Freude ausdrückt, daß es ihr gelungen, unbefleckt durchs Leben zu gehen, läßt an einigen Stellen (wie an der vom Ab fallen der Blüten) den gegensätzlichen Gedankengang durch— schimrnern, daß sie sich verschiedene Sünden gegen die sexuelle § 1652§ 1653
Gegensatz und Gleichstellung 519
§ 1654Reinheit habe zuschulden kommen lassen (in der Kindheit nämlich).
Wir können bei der Analyse des Traumes deutlich die beiden Gedankengänge unterscheiden, von denen der tröstliche ober flächlich, der vorwurfsvolle tiefer gelagert scheint, die einander schnurstracks zuwiderlaufen, und deren gleiche aber gegenteilige Elemente durch die nämlichen Traumelemente Darstellung ge funden haben. § 1655Einer einzigen unter den logischen Relationen kommt der
Mechanismus der Traumbildung im höchsten Ausmaße zugute. Es ist dies die Relation der Ähnlichkeit, Übereinstimmung, Be rührung, das „Gleichwie“, die, im Traume wie keine andere mit mannig'fachen Mitteln dargestth werden kann. [E12] Die im Traum material vorhandenen Deckungen oder Fälle von „Gleichwie“ sind ja die ersten Stützpunkte der Traumbildung, und ein nicht un beträchtliches Stück der Traumarbeit besteht darin, neue solche Deckungen zu schaffen, wenn die vorhandenen der Widerstands zensur wegen nicht in den Traum gelangen können. Das Ver— dichtungsbestreben der Traumarbeit kommt der Darstellung der Ähnlichkeitsrelation zu Hilfe. § 1656Ähnlichkeit, Übereinstimmung, Gemeinsamkeit wird
vom Traum ganz allgemein dargestellt durch Zusammenziehung zu einer Einheit, welche entweder im Traummaterial bereits vorgefunden oder neu gebildet wird. Den ersten Fall kann man als Identifizierung, den zweiten als Mischbildung benennen. Die Identifizierung kommt zur Anwendung, wo es sich um Per— sonen handelt.; die Mischbildung, wo Dinge das Material der Vereinigung sind1 doch werden Mischbildungen auch von Personen hergestellt. Örtlichkeiten werden oft wie Personen behandelt. § 1657Die Identifizierung besteht darin, daß nur eine der durch ein
Gemeinsames verknüpften Personen im Trauminhalt zur Dar stellung gelangt, während die zweite oder die anderen Personen für den Traum unterdrückt scheinen. Diese eine deckende Person geht aber im Traum in alle die Beziehungen und Situationen § 1658§ 1659
590 VI. Die Traumarbeit
§ 1660ein, welche sich von ihr oder von den gedeckten Personen ab
leiten. Bei der Mischbildung, die sich auf Personen erstreckt, sind bereits im Traumbild Züge, die den Personen eigentümlich, aber nicht gemeinsam sind, vorhanden, so daß durch die Vereinigung dieser Züge eine neue Einheit, eine Mischperson, bestimmt er scheint. Die Mischung selbst kann auf verschiedenen Wegen zu stande gebracht werden. Entweder die Traumperson hat von der einen ihrer Beziehungspersonen den Namen -— wir wissen dann in einer Art, die dem Wissen im Wachen ganz analog ist, daß diese oder jene Person gemeint ist — während die visuellen Züge der anderen Person angehören; oder das Traumbild selbst ist aus visuellen Zügen, die sich in Wirklichkeit auf beide verteilen, zusammengesetzt. Anstatt durch visuelle Züge kann der Anteil der zweiten Person auch vertreten werden durch die Gebärden, die man ihr zuschreibt, die Worte, die man sie sprechen läßt, oder die Situation, in welche man sie versetzt. Bei der letzteren Art der Kennzeichnung beginnt der scharfe Unterschied zwischen Identifizierung und Mischpersonbildung sich zu verflüchtigen. [E 13] § 1661Das Gemeinsame, welches die Vereinigung der beiden Personen
rechtfertigt, d. h. veranlaßt, kann im Traume dargestellt sein oder fehlen. In der Regel dient die Identifizierung oder Mischperson bildung eben dazu, die Darstellung dieses Gemeinsamen zu er sparen. Anstatt zu wiederholen: A ist mir feindlich gesinnt, B aber auch, bilde ich im Traum eine Mischperson aus A und B, oder stelle mir A vor in einer andersartigen Aktion, welche uns B charakterisiert. Die so gewonnene Traumperson tritt mir im Traum in irgendwelcher neuen Verknüpfung entgegen, und aus dem Umstande, daß sie sowohl A als auch B bedeutet, schöpfe ich dann die Berechtigung, in die betreffende Stelle der Traumdeutung einzusetzen, was den beiden gemeinsam ist, nämlich das feindselige Verhältnis zu mir. Auf solche Weise erziele ich oft eine ganz außerordentliche Verdichtung für den Trauminhalt; ich kann mir § 1662§ 1663
Verwertung der Mischbiüungen 59 1
§ 1664die direkte Darstellung sehr komplizierter Verhältnisse, die mit
einer Person zusammenhängen, ersparen, wenn ich zu dieser Person eine andere gefunden habe, die auf einen Teil dieser Beziehungen den gleichen Anspruch hat. Es ist leicht zu ver stehen, inwiefern diese Darstellung durch Identifizierung auch dazu dienen kann, die Widerstandszensur zu umgehen, welche die Traumarbeit unter so harte Bedingungen setzt. Der Anstoß für die Zensur mag gerade in jenen Vorstellungen liegen, welche im Material mit der einen Person verknüpft sind; ich finde nun eine zweite Person, welche gleichfalls Beziehungen zu dem bean standeten Material hat, aber nur zu einem Teil desselben. Die Berührung in jenem nicht zensurfreien Punkte gibt mir jetzt das Recht, eine Mischperson zu bilden, die nach beiden Seiten hin durch indifferente Züge charakterisiert ist. Diese Misch- oder Identifizierungsperson ist nun als zensurfrei zur Aufnahme in den Trauminhalt geeignet, und ich habe durch Anwendung der Traum verdichtung den Anforderungen der Traumzensur genügt. § 1665Wo im Traum auch ein Gemeinsames der beiden Personen
dargestth ist, da ist dies gewöhnlich ein Wink, nach einem an deren verhüllten Gemeinsamen zu suchen, dessen Darstellung durch die Zensur unmöglich gemacht wird. Es hat hier gewisser— maßen zugunsten der Darstellbarkeit eine Verschiebung in betreff des Gemeinsamen stattgefunden. Daraus, daß mir die Mischperson mit einem indifi'erenten Gemeinsamen im Traum gezeigt wird, soll ich ein anderes keineswegs indifl'erentes Gemeinsame in den Traumgedanken erschließen. § 1666Die Identifizierung oder Mischpersonbildung dient demnach im
Traum verschiedenen Zwecken, erstens der Darstellung eines beiden Personen Gemeinsamen, zweitens der Darstellung einer verscho benerr Gemeinsamkeit, drittens aber noch, um eine bloß ge wünschte Gemeinsamkeit zum Ausdruck zu bringen. Da das Herbeiwünschen einer Gemeinsamkeit zwischen zwei Personen § 1667häufig mit einem Vertauschen derselben zusammenfa'llt, so ist
§ 1668Freud. II. 31
§ 1669§ 1670
522 VI. Die Traumarbeit
§ 1671auch diese Relation im Traum durch Identifizierung ausgedrückt.
Ich Wünsche im Träume von Irmas Injektion, diese Patientin mit einer anderen zu vertauschen, wünsche also, daß die andere meine Patientin sein möge, wie es die eine ist; der Traum trägt diesem Wunsche Rechnung, indem er mir eine Person zeigt, die Irma heißt, die aber in einer Position untersucht wird, wie ich sie nur bei der anderen zu sehen Gelegenheit hatte. Im Onkeltraum ist diese Verteuschung zum Mittelpunkt des Traumes gemacht; ich identifiziere mich mit dem Minister, indem ich meine Kollegen nicht besser als er behandle und beurteile. § 1672Es ist eine Erfahrung, von der ich keine Ausnahme gefunden
habe, daß jeder Traum die eigene Person behandelt. Träume sind absolut egoistisch. [E 14] Wo im Trauminhalt nicht mein Ich, sondern nur eine fremde Person vorkommt, da darf ich ruhig annehmen, daß mein Ich durch Identifizierung hinter jener Person versteckt ist. Ich darf mein Ich ergänzen. Andere Male, wo mein Ich im Traum erscheint, lehrt mich die Situation, in der es sich befindet, daß hinter dem Ich eine andere Person sich durch Identifizierung verbirgt. Der Traum soll mich dann mahnen, in der Traum— deutung etwas, was dieser Person anhängt, das verhüllte Gemein— same, auf mich zu übertragen. Es gibt auch Träume, in denen mein Ich nebst anderen Personen vorkommt, die sich durch Lösung der Identifizierung wiederum als mein Ich enthüllen. Ich soll dann mit meinem Ich vermittels dieser Identifizierungen gewisse Vorstellungen vereinigen, gegen deren Aufnahme sich die Zensur erhoben hat. Ich kann also mein Ich in einem Traum mehrfach darstellen, das eine Mal direkt, das andere Mal ver— mittels der Identifizierung mit fremden Personen. Mit mehreren solchen Identifizierungen läßt sich ein ungemein reiches Gedanken material verdichten.‘ [E 15] § 1673x) Wenn ich im Zweifel bin, hinter welcher der im Trauma auftretenden Per
mnen ich mein Ich zu suchen habe, so halte ich mich an folgende Kegel: Die Person, die im Tram-ne einem Affe-kl unterliegt. den ich als Schlafender verspüre, die verbirgt mein Ich. § 1674§ 1675
Mischbildung und Identzflzizrung 525
§ 1676Durchsichtiger noch als bei Personen gestaltet sich die Auf
lösung der Identifizierungen bei mit. Eigennamen bezeichneten Örtlichkeiten, da hier die Störung durch das im Traume über— mächtige Ich entfällt. In einem meiner Romträume (S. 196) heißt der Ort, an dem ich mich befinde, Rom; ich erstaune aber über die Menge von deutschen Plakaten an einer Straßenecke. Letzteres ist eine Wunscherfüllung, zu der mir sofort Prag einfli11t; der Wunsch selbst mag aus einer heute überwundenen deutsch nationalen Periode der Jugendzeit stammen. Um die Zeit, da ich träumte, war in Prag ein Zusammentreffen mit meinem Freunde in Aussicht genommen.; die Identifizierung von Rom und Prag erklärt sich also durch eine gewünschte Gemeinsamkeit; ich möchte meinen Freund lieber in Rom treflen als in Prag, für diese Zusammenkunft Prag und Horn vertauschen. § 1677Die Möglichkeit, Mischbildungen zu schaflen, steht obenan
unter den Zügen, welche den Träumen so oft ein phantastisches Gepräge verleihen, indem durch sie Elemente in den Trauminhalt eingeführt werden, welche niemals Gegenstand der Wahrnehmung sein konnten. Der psychische Vorgang bei der Mischbildung im Traume ist offenbar der nämliche, wie wenn wir im Wachen einen Zentauren oder Drachen uns vorstellen oder nachbilden. Der Unterschied liegt nur darin, daß bei der phantastischen Schöpfung im Wachen der beabsichtigte Eindruck des Neugebildes selbst das Maßgebende ist, während die Mischbildung des Traumes durch ein Moment, welches außerhalb ihrer Gestaltung liegt1 das Gemeinsame in den Traumgedanken, determiniert wird. Die Misch bildung des Traumes kann in sehr mannigfaltiger Weise aus geführt werden. In der kunstlosesten Ausführung werden nur die Eigenschaften des einen Dinges dargestellt, und diese Daxstellung ist von einem Wissen begleitet, daß sie auch für ein anderes Objekt gelte. Eine sorgfältigen Technik vereinigt Züge des einen wie des anderen Objektes zu einem neuen Bilde und bedient sich dabei geschickt der etwa in der Realität gegebenen Ähnlich § 1678zu“
§ 1679§ 1680
524 VI. Die Traumarlzzit
§ 1681keiten zwischen beiden Objekten. Das Neugebildete kann gänzlich
absurd ausfallen oder selbst als phantastisch gelungen erscheinen, je nachdem Material und Witz bei der Zusammensetzung es ermöglichen. Sind die Objekte, welche zu einer Einheit verdichtet werden sollen, gar zu disparat, so begnügt sich die Traumarbeit oft damit, ein Mischgebilde mit einem deutlicheren Kern zu schaffen, an den sich undeutlichere Bestimmungen anfügen. Die Vereinigung zu einem Bilde ist hier gleichsam nicht gelungen, die beiden Darstellungen überdecken einander und erzeugen etwas wie einen Wettstreit der visuellen Bilder. Wenn man sich die Bildung eines Begriffes aus individuellen Wahrnehmungsbildern verführen wollte, könnte man zu ähnlichen Darstellungen in einer Zeichnung gelangen. § 1682Es wimmelt natürlich in den Träumen von solchen Misch—
gehilden; einige Beispiele habe ich in den bisher analysierten Träumen bereits mitgeteilt; ich werde nun weitere hinzufügen. In dem Traum auf S. 514„, welcher den Lebenslauf der Patientin „durch die Blume“ oder „verblümt“ beschreibt, trägt das Traum— Ich einen blühenden Zweig in der Hand, der, wie wir erfahren haben, gleichzeitig Unschuld und sexuelle Sündigkeit bedeutet. Der Zweig erinnert durch die Art, wie die Blüten stehen, außer dem an Kirschblüten; die Blüten selbst, einzeln genommen, sind Kamelien, wobei dazu das Ganze noch den Eindruck eines exotischen Gewächses macht. Das Gemeinsame an den Elementen dieses Mischgebildes ergibt sich aus den Traumgedanken. Der blühende Zweig ist aus Anspielungen an Geschenke zusammen gesetzt, durch welche sie hewogen wurde oder werden sollte, sich gefällig zu erweisen. So in der Kindheit die Kirschen, in späteren Jahren ein Kamelienstock; das Exotische ist eine An spielung auf einen vielgereisten Naturforscher, welcher mit einer Blumenzeichnung um ihre Gunst werben wollte. Eine andere Patientin schafft sich im Traum ein Mittelding aus Badekabinen im Seebad, ländlichen Aborthäuschen und den Bodenkammern § 1683§ 1684
Umgekehrt, im Gegenteile 525
§ 1685unserer städtischen Wohnhäuser. Den beiden ersten Elementen
ist die Beziehung auf menschliche Nacktheit und Enthlößung gemeinsam; es läßt sich aus der Zusammensetzung mit dem dritten Element schließen, daß (in ihrer Kindheit) auch die Boden— ka.mmer der Schauplatz von Entblößung war. [E10] Eine andere träumt, nachdem der ältere Bruder versprochen hat, sie mit Kaviar zu regaljeren, von diesem Bruder, daß dessen Beine von den schwarzen Kaviarperlen übersät sind. Die Elemente „An— steckung“ im moralischen Sinn und die Erinnerung an einen Ausschlag der Kindheit, der die Beine mit roten anstatt mit schwarzen Pünktchen übersät erscheinen ließ, haben sich hier mit den Kaviarperlen zu einem neuen Begriff vereinigt, dessen, „was sie von ihrem Bruder bekommen hat“. Teile des menschlichen Körpers werden in diesem Traum behandelt wie Objekte, wie auch in sonstigen Träumen. [517] § 1686Ich habe vorhin behauptet, daß der Traum kein Mittel hat,
die Relation des Widerspruches, Gegensatzes, das „Nein“ auszu drücken. Ich gehe daran, dieser Behauptung zum ersten Male zu widersprechen. Ein Teil der Fälle, die sich als „Gegensatz“ zusammenfassen lassen, findet seine Darstellung einfach durch Identifizierung, wie wir gesehen haben, wenn nämlich mit der Gegenüberstellung ein Vermuschen, an die Stelle setzen, verbunden werden kann. Davon haben wir wiederholt Beispiele erwähnt. Ein anderer Teil der Gegensätze in den Traumgedanken, der etwa unter die Kategorie „Umgekehrt, im Gegenteile“ fällt, gelangt zu seiner Darstellung im Traum auf folgende merk— würdige, beinahe witzig zu nennende Weise. Das „Umgekehrt“ gelangt nicht für sich in den Trauminhalt, sondern äußert seine Anwesenheit im Material dadurch, daß ein aus sonstigen Gründen naheliegendes Stück des schon gebildeten Trauminhaltes — gleich— sam nachträglich — umgekehrt wird. Der Vorgang ist leichter zu illustrieren als zu beschreiben. Im schönen Traum von „Auf und nieder“ (S. 285) ist die Traumdarstellung des Steigens § 1687§ 1688
526 V I . Die Traumarbeiz
§ 1689umgekehrt wie das Vorbild in den Traumgedanken, nämlich die
Introduktionsszene der Sappho Daudets; es geht im Traume anfangs schwer, später leicht, während in der Szene des Steigen anfangs leicht, später immer schwerer wird. Auch das „Oben“ und „Unten“ in Bezug auf den Bruder ist verkehrt im Traum dargestellt. Dies deutet auf eine Relation von Umkehrung oder Gegensatz, die zwischen zwei Stücken des Materiales in den Traumgedanken besteht, und die wir darin gefunden haben, daß in der Kindheitsphantasie des Träumers er von seiner Amme getragen wird, umgekehrt wie im Roman der Held die Geliebte trägt. Auch mein Traum von Goethes Angriff gegen Herrn M. (S. 567) enthält ein solches „Umgekehrt“, das erst redressiert werden muß, ehe man auf die Deutung des Traumes gelangen kann. Im Traum hat Goethe einen jungen Mann, Herrn M. an— gegriffen; in der Realität, wie sie die Traumgedanken enthalten, ist ein bedeutender Mann, mein Freund, von einem-unbekannten jungen Autor angegriffen werden. Im Traum rechne ich vom Sterbedatum Goethes an; in der Wirklichkeit ging die Rechnung vom Geburtsjahr des Paralytikers aus. Der Gedanke, der in dem Traummaterial maßgebend ist, ergibt sich als der Widerspruch dagegen, daß Goethe behandelt werden soll, als sei er ein Ver rückter. Umgekehrt, sagt der Traum, wenn du das Buch nicht verstehst, bist du der Sehwachsinnige, nicht der Autor. In all diesen Träumen von Umkehrung scheint mir überdies eine Be ziehung auf die verächtliche Wendung („einem die Kehrseite zeigen“) enthalten zu sein (die Umkehrung in bezug auf den Bruder im Sapphotraurn). [Era] § 1690[: 19]
§ 1691*
§ 1692Will man die Beziehungen zwischen Trauminhalt und Traum
gedanken weiter verfolgen, so nimmt man jetzt am besten den Traum selbst zum Ausgangspunkt und stellt sich die Frage, was gewisse formale Charaktere der Traumdarstellung in bezug auf § 1693§ 1694
Die Qualitäten der Lzbhaftigkezt und der Deutlichkeit 527
§ 1695die Traumgedanken bedeuten. Zu diesen formalen Charakteren,
die uns im Traume auffallen müssen, gehören vor allem die Unterschiede in der sinnlichen Intensität der einzelnen Traum gehilde und in der Deutlichkeit einzelner Traumpartien oder ganzer Träume untereinander verglichen. Die Unterschiede in der Intensität der einzelnen Traumgebilde umfassen eine ganze Skala von einer Schärfe der Ausprägung, die man —'— wiewohl ohne Gewähr — geneigt ist, über die der Realität zu stellen, bis zu einer ärgerlichen Verschwommenheit, die man als charakteristisch für den Traum erklärt, weil sie eigentlich mit keinem der Grade der Undeutlichkeit, die wir gelegentlich an den Objekten der Realität wahrnehmen, vollkommen zu vergleichen ist. Gewöhnlich bezeichnen wir überdies den Eindruck, den wir von einem un deutlichen Traumobjekt empfangen, als „flüchtig“, während wir von den deutlicheren Traumbildern meinen, daß sie auch durch längere Zeit der Wahrnehmung Stand gehalten haben. Es fragt sich nun, durch welche Bedingungen im Traummaterial diese Unterschiede in der Lebhaftigkeit der einzelnen Stücke des Traum inhaltes hervorgerufen werden. § 1696Man hat hier zunächst gewissen Erwartungen entgegenzutreten,
die sich wie unvermeidlich einstellen. Da zu dem Material des Traumes auch wirkliche Sensationen während des Schlafes gehören können, wird man wahrscheinlich voraussetzen, daß diese oder die von ihnen abgeleiteten Traumelemente im Trauminhalt durch besondere Intensität hervorstechen, oder umgekehrt, daß, was im Traum ganz besonders lebhaft ausfällt, auf solche reale Schlaf— sensationen zurückführhar sein wird. Meine Erfahrung hat dies aber niemals bestätigt. Es ist nicht richtig, daß die Elemente des Traumes, welche Abkömmlinge von realen Eindrücken während des Schlafes (Nervenreizen) sind, sich vor den anderen, die aus Erinnerungen stanunen, durch Lebhaftigkeit auszeichnen. Das Moment der Realität geht für die Intensitätsbestimmung der Traumbilder verloren. ‘ § 1697§ 1698
528 VI. Die Traumarbeit
§ 1699Ferner könnte man an der Erwartung festhalten, daß die
sinnliche Intensität (Lebhaftigkeit) der einzehien Traumhilder eine Beziehung habe zur psychischen Intensität der ihnen ent— sprechenden Elemente in den Traumgedanken. In den letzteren fällt Intensität mit psychischer Wertigkeit zusammen; die inten sivsten Elemente sind keine anderen als die hedeutsamsten, welche den Mittelpunkt der Traumgedanken bilden. Nun wissen wir zwar, daß gerade diese Elemente der Zensur wegen meist keine Aufnahme in den Trauminhalt finden. Aber es könnte doch sein, daß ihre sie vertretenden nächsten Abkömmlinge im Traum einen höheren Intensitätsgrad aufbringen, ohne daß sie darum das Zentrum der Traumdarstellung bilden müßten. Auch diese Er wartung wird indes durch die vergleichende Betrachtung von Traum und Traummaterial zerstört. Die Intensität der Elemente hier hat mit der Intensität der Elemente dort nichts zu schaffen; es findet zwischen Traummaterial und Traum tatsächlich eine völlige „Umwertung aller psychischen Werte“ statt. Gerade in einem flüchtig hingehauchten, durch kräftigen Bilder ver— deckten Element des Traumes kann man oft einzig und allein einen direkten Abkömmling denen entdecken, was in den Traum gedanken übermäßig dominierte. § 1700Die Intensität der Elemente des Traumes zeigt sich anders
determiniert, und zwar durch zwei voneinander unabhängige Momente. Zunächst ist es leicht zu sehen, daß jene Elemente besonders intensiv dargestellt sind, durch welche die Wunsch— . erfüllung sich ausdrückt. Dann aber lehrt die Analyse, daß von — den lebhaftesten Elementen des Traumes auch die meisten Gedankengänge ausgehen, daß die lebhaftesteu'gleichzeitig die ‘ bestdeterrninierten sind. Es ist keine Änderung des Sinnes, wenn wir den letzten empirisch genommenen Satz in nachstehender “» Form aussprechen: Die größte Intensität zeigen jene Elemente des Traumes, für deren Bildung die ausgiebigste Verdichtungs— arbeit in Anspruch genommen wurde. Wir dürfen dann erwarten, § 1701§ 1702
Die Umwertung aller psychixchen Werte 529
§ 1703daß diese Bedingung und die andere der Wunscherfüllung auch
in einer einzigen Formel ausgedrückt werden können. § 1704Das Problem, das ich jetzt behandelt habe, die Ursachen der
größeren oder geringeren Intensität oder Deutlichkeit der einzelnen Traumelemente, möchte ich vor Verwechslung mit einem anderen Problem schützen, welches sich auf die verschiedene Deutlichkeit ganzer Träume oder Traumabschnitte bezieht. Dort ist der Gegen— satz von Deutlichkeit: Verschwommenheit, hier Verworrenheit. Es ist allerdings unverkennbar, daß in beiden Skalen die steigenden und fallenden Qualitäten einander im Vorkommen begleiten. Eine Partie des Traumes, die uns klar erscheint, enthält zumeist intensive Elemente; ein unklarer Traum ist im Gegenteil aus wenig intensiven Elementen zusammengesetzt. Doch ist das Problem, welches die Skala vom anscheinend Klaren bis zum Undeutlich-Verworrenen bietet, weit komplizierter als das der Lebbaftigkeitsschwankungen der Traumelemente; ja ersteres ent— zieht sich aus später anzuführenden Gründen hier noch der Erörterung. In einzelnen Fällen merkt man nicht ohne Über— raschung, daß der Eindruck von Klarheit oder Undeutlichkeit, den man von einem Traum empfängt, überhaupt nichts für das Traumgefüge bedeutet, sondern aus dem Traummaterial als ein Bestandteil desselben herrührt. So erinnere ich mich an einen Traum, der mir nach dem Erwachen so besonders gut gefügt, lückenlos und klar erschien, daß ich noch in der Schlaftrunkenheit mir versetzte, eine neue Kategorie von Träumen zuzulassen, die nicht dem Mechanismus der Verdichtung und Verschiebung unter— legen waren, sondern als „Phantasien während des Schlafens“ be zeichnet werden durften. Nähere Prüfung ergab, daß dieser rare Traum dieselben Risse und Sprünge in seinem Gefüge zeigte wie jeder andere; ich ließ darum die Kategorie der Traumphantasien auch wieder fallen. Der reduzierte Inhalt des Traumes war aber, daß ich meinem Freunde eine schwierige und lange gesuchte Theorie der Bisexualität vertrag, und die wunscherfüllende Kraft § 1705§ 1706
550 VI . Die Traumarbeit
§ 1707des Traumes hatte es zu verantworten, daß uns diese Theorie
(die übrigens im Traum nicht mitgeteilt wurde) klar und lückenlos erschien." Was ich also für ein Urteil über den fertigen Traum gehalten hatte, war ein Stück, und zwar das wesentliche Stück des Trauminhaltes. Die Traumarbeit griff hier gleichsam in das erste wache Denken über und übermittelte mir als Urteil über den Traum jenes Stück des Traumrnateriales, dessen genaue Dar— stellung im Traum ihr nicht gelungen war. Ein vollkommenes Gegenstück hiezu erlebte ich einmal bei einer Patientin, die einen in die Analyse gehörigen Traum zuerst überhaupt nicht erzählen wollte, „weil er so undeutlich und verworren sei“, und endlich unter wiederholten Protesten gegen die Sicherheit ihrer Darstellung angab, es seien im Traum mehrere Personen vor— gekornmen, sie, ihr Mann und ihr Vater, und als ob sie nicht gewußt hätte, ob ihr Mann ihr Vater sei, oder wer eigentlich ihr Vater sei oder so ähnlich. Die Zusammenstellung dieses Traumes mit ihren Einfällen in der Sitzung ergab als unzweifelhaft, daß es sich um die ziemlich alltägliche Geschichte eines Dienstmädchens handle, welches bekennen mußte, daß sie ein Kind erwarte, und nun Zweifel zu hören bekomme, „wer eigentlich der Vater (des Kindes) sei“.] Die Unklarheit, die der Traum zeigte, war also auch hier ein Stück aus dem traumerregenden Material. Ein Stück dieses Inhaltes war in der Form des Traumes dargestellt werden. [5 20] § 1708In solche Lage, Klarheit oder Verwonenheit des Traumes auf
Sicherheit oder Zweifel im Traummaterial umdeuten zu können, kommt man aber nach meiner Erfahrung nur in wenigen Fällen. Ich werde späterhin den bisher nicht erwähnten Faktor bei der Traumbildung aufzudecken haben, von dessen Einwirkung diese Qualitätenskala des Traumes wesentlich abhängt. § 1709In manchen Träumen, die ein Stück weit eine gewisse Situation
und Szenerie festhalten, kommen Unterbrechungen vor, die mit § 17101) Begleitende hysterische Symptome: Ausbleiben der Periode und große Ver
stimmung. des Hauptleiden dieser Kranken. § 1711§ 1712
Darrtzllung von Trauminhalt durch formale Charaktere das Trauma 551
§ 1713folgenden Worten beschrieben werden: „Es ist dann aber, als
wäre es gleichzeitig ein anderer Ort und dort ereignete sich dies und jenes.“ Was in solcher Weise die Haupthandlung des Tramnes unterbricht, die nach einer Weile wieder fortgesetzt werden kann, das stellt sich im Traummaterial als ein Nebensatz, als ein eingeschobener Gedanke heraus. Die Kondition in den Traumgedanken wird im Traum durch Gleichzeitiglteit dargestth (wenn —— wenn). § 1714Was bedeutet die so häufig im Traum erscheinende Sensation
der gehemmten Bewegung, die so nahe an Angst Streift? Man will gehen und kommt nicht von der Stelle, will etwas herrichten und stößt fortwährend auf Hindemisse. Der Eisenbahnzug will sich in Bewegung setzen, und man kann ihn nicht erreichen; man hebt die Hand, um eine Beleidigung zu rächen, und sie versagt usw. Wir sind dieser Sensation im Traume schon bei den Exhibitionsträumen begegnet, haben ihre Deutung aber noch nicht ernstlich versucht. Es ist bequem aber unzureichend, zu antworten, im Schlaf bestehe motorische Lähmung, die sich durch die erwähnte Sensation bemerkbar macht. Wir dürfen fragen: Warum träumt man dann nicht beständig von solchen gehemmten Bewegungen?, und. wir dürfen erwarten, daß diese im Schlaf jederzeit hervorzurufende Sensation irgendwelchen Zwecken der Darstellung diene und nur durch das im Traummaterial gegebene Bedürfnis nach dieser Darstellung erweckt werde. § 1715Das Nichts-zu-Stande-bringen tritt im Traum nicht immer als
Sensation, sondern auch einfach als Stück des Trauminhaltes auf. Ich halte einen solchen Fall für besonders geeignet, uns über die Bedeutung dieses Traumrequisits aufzuklären. Ich werde verkürzt einen Traum mitteilen, in dem ich der Unredlichkeit beschuldigt erscheine. Die Örtlichkeit ist ein Gemenge aus einer Privatheil anszalt und mehreren anderen Lokalen. Ein Diener erscheint, um mich zu einer Untersuchung zu rufen. Im Traum weiß ich, daß etwas vermz_'ßt wird, und daß die Untersuchung wegen des Ver § 1716§ 1717
552 VI. Die Traumarbeit
§ 1718dachtes erfolgt, daß ich mir das Verlorene ungeeignet. Die Ana—
lyse zeigt, daß Untersuchung zweideutig zu nehmen ist und ärzt liche_Untersuchung mit eirwchlie‘fi't. Im Bewußtsein meiner Un. schuld und meiner Konsiliarfunktion in diesem Hause gehe ich ruhig mit dem Diener. An einer Türe empfängt uns ein anderer Diener und sagt, auf mich deutend: Den haben Sie mitgebracht, der ist ja ein anständiger Mensch. Ich gehe dann ohne Diener in einen großen Saal, in dem Maschinen stehen, der mich an ein Inferno mit seinen höllischen Strafaufgaben erinnert. An einem Apparat sehe ich einen Kollegen eingespannt, der allen Grund hätte, sich um mich zu bekümmern; er beachtet mich aber nicht. Es heißt dann, daß ich jetzt gehen kann. Da finde ich meinen Hut nicht und kann doch nicht gehen. § 1719Es ist offenbar die Wunscherfüllung des Traumes, daß ich als
ehrlicher Mann anerkannt werde und geben darf; in den Traum— geda.nken muß also allerlei Material vorhanden sein, welches den Widerspruch dagegen enthält. Daß ich gehen darf, ist, das Zeichen meiner Absolution; wenn also der Traum am Ende ein Ereignis bringt, das mich im Gehen aufhält, so liegt es wohl nahe zu schließen, daß durch diesen Zug das unterdrückte Material des Widerspruches sich zur Geltung bringt. Daß ich den Hut nicht finde, bedeutet also: Du bist doch kein ehrlicher Mensch. Das Nicht—zu-Stande—bringen des Traumes ist ein Ausdruck des Widerspruches, ein „Nein“, wonach also die frühere Behauptung zu korrigieren ist, daß der Traum das Nein nicht auszudrücken vermag.1r § 1720I) Eine Beziehung zu einem Kindheitscrlehnis ergibt sich in der vollständigen
Analyse durch folgende Vermittlung: — Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Und dann die Schenfi'age: Wie alt ist der Mohr, wenn er seine Schuldigkeit getan hat? Ein Jahr, dann kann er gehen. (Ich soll soviel win-es schwarzes Haar mit zur Welt gebracht haben, daß mich die junge Mutter für einen kleinen Mohren erklärte.) — Daß ich den Hut nicht finde, ist ein mehrsinnig verwertetes Tageserlebnis. Unser im Aufbewahren geniales Stuhenmädchen hatte ihn Versteckt. — Auch die Ablehnung trauriger Tadesgedanken verbirgt sich hinter diesem Traumde: Ich habe meine Schuldigkeit noch lange nicht getan; ich darf noch nicht gehen. — Geburt und Tod wie in dem kurz vorher erfolgten Trauma von Goethe und. dem Paralytiker (S. 567). § 1721§ 1722
Die Traumhemmung 555
§ 1723In anderen Träumen, welche das Nicht-zu-Stande—komrnen der
Bewegung nicht bloß als Situation, sondern als Sensation enthalten, ist derselbe Widerspruch durch die Sensation der Bewegungs hemmung kräftiger ausgedrückt, als ein Wille, dem ein Gegen— wille sich widersetzt. Die Sensation der Bewegungshemmung stellt also einen Willenskonflikt dar. Wir werden später hören, daß gerade die motorische Lähmung im Schlaf zu den fundamentalen Bedingungen des psychischen Vorganges während des Träumens gehört. Der auf die motorischen Bahnen übertragene Impuls ist nun nichts anderes als der Wille, und daß wir sicher sind, im Schlaf diesen Impuls als gehemmt zu empfinden, macht den ganzen Vorgang so überaus geeignet zur Darstellung des Wollens und des „Nein“, das sich ihm entgegensetzt. Nach meiner Er— klärung der Angst begreift es sich auch leicht, daß die Sen sation der Willenshemmung der Angst so nahe steht und sich im Traume so oft mit ihr verbindet. Die Angst ist ein libidinöser Impuls, der vom Unbewußten ausgeht und vom Vorbewußten gehemmt wird. Wo also im Traume die Sensation der Hemmung mit Angst verbunden ist, da muß es sich um ein Wollen handeln, das einmal fähig war, Libido zu entwickeln, um eine sexuelle Regung. [E 21] § 1724D
Die Rücksicht auf Darstellbarkeit § 1725W'ir haben es bisher mit der Untersuchung zu tun gehabt,
wie der Traum die Relationen zwischen den Traumgedanken darstellt, griffen dabei aber mehrfach auf das weitere Thema zu« rück, welche Veränderung des Traummaterial überhaupt für die Zwecke der Traumbildung erfährt. Wir wissen nun, daß das Traummaterial, seiner Relationen zum guten Teile entblößt, einer Kompression unterliegt, während gleichzeitig Intensitätsverschie bungen zwischen seinen Elementen eine psychische Umwertung dieses Materials erzwingen. Die Verschiebungen, die wir berück— § 1726§ 1727
554. VI. Die Traumarbeit
§ 1728sichtigt haben, erwiesen sich als Ersetzungen einer bestimmten
Vorstellung durch eine andere ihr in der Assoziation irgendwie nahestehende, und sie wurden der Verdichtung dienstbar gemacht, indem auf solche Weise anstatt zweier Elemente ein mittleres Gemeinsames zwischen ihnen zur Aufnahme in den Traum ge— langte. Von einer anderen Art der Verschiebung haben wir noch keine Erwähnung getan. Aus den Analysen erfährt man aber, daß eine solche besteht, und daß sie sich in einer Vertauschung des sprachlichen Ausdruckes für den betreffenden Gedanken hund gibt. Es handelt sich beide Male um Verschiebung längs einer Assoziationskette, aber der gleiche Vorgang findet in ver schiedenen psychischen Sphären statt, und das Ergebnis dieser Ver— schiebung ist das eine Mal, daß ein Element durch ein anderes substituiert wird, während im anderen Falle ein Element seine Wortfassung gegen eine andere vertauscht. § 1729Diese zweite Art der bei der Traumbildung vorkommenden
Verschiebungen hat nicht nur großes theoretisches Interesse, sondern ist auch besonders gut geeignet, den Anschein phantastischer Ab— surdität, mit dem der Traum sich verkleidet, aufzuklären. Die Verschiebung erfolgt in der Regel nach der Richtung, daß ein farbloser und abstrakter Ausdruck des Traumgedankens gegen einen bildlichen und konkreten eingetauscht wird. Der Vorteil, und somit die Absicht dieses Ersatzes, liegt auf der Hand. Das Bildliche ist für den Traum darstellungsfähig, läßt sich in eine Situation einfügen, wo der abstrakte Ausdruck der Traum darstellung ähnliche Schwierigkeiten bereiten würde, wie etwa ein politischer Leitartikel einer Zeitung der Illustration. Aber nicht nur die Darstellbarkeit, auch die Interessen der Verdichtung und der Zensur können bei diesem Tausche gewinnen. Ist erst der abstrakt ausgedrückt unbrauchbare Traumgedanke in eine bildliche Sprache umgeformt, so ergeben sich zwischen diesem neuen Ausdruck und dem übrigen Traummateriale leichter als vorher die Berührungen und Identitäten, welcher die Traum— § 1730§ 1731
Die Rücksicht auf Darstzllbarkeit 355
§ 1732arbeit bedarf, und die sie schafl't, wo sie nicht vorhanden sind,
denn die konkreten Termini sind in jeder Sprache ihrer Ent wicklung zufolge anknüpfungsreicher als die begrifl'lichen. Man kann sich vorstellen, daß ein gutes Stück der Zwischenarbeit bei der Traumbildung, welche die gesonderten Traumgedanken auf möglichst knappen und einheitlichen Ausdruck im Traume zu reduzieren sucht, auf solche Weise, durch passende sprachliche Umformung der einzelnen Gedanken vor sich geht. Der eine Gedanke, dessen Ausdruck etwa aus anderen Gründen feststeht, wird dabei verteilend und auswählend auf die Ausdrucksmöglich— keiten des anderen einwirken, und die; vielleicht von vorneherein, ähnlich wie bei der Arbeit des Dichters. Wenn ein Gedicht in Reimen entstehen soll, so ist die zweite Reimzeile an zwei Be dingungen gebunden; sie muß den ihr zukommenden Sinn aus drücken, und ihr Ausdruck muß den Gleichklang mit der ersten Reimzeile finden. Die besten Gedichte sind wohl die, wo man die Absicht den Reim zu finden nicht merkt, sondern wo beide Gedanken von vornherein durch gegenseitige Induzierung den sprachlichen Ausdruck gewählt haben, der mit leichter Nach bearbeitung den Gleichklang entstehen läßt. § 1733In einigen Fällen dient die Ausdmcksvertauschung der Traum
verdichtung noch auf kürzerem Wege, indem sie eine Wort fügung finden läßt, welche als zweideutig mehr als einem der Traumgedanken Ausdruck gestattet. Das ganze Gebiet des Wort witzes wird so der Traumarbeit dienstbar gemacht. Man darf sich über die Rolle, welche dem Worte bei der Traumbildung zu fällt, nicht wundern. Das Wort, als der Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen, ist sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit, und die Neurosen (Zwangsvorstellungen, Phobien) benützen die Vor teile, die das Wort so zur Verdichtung und Verkleidung bietet, nicht minder ungescheut wie der Traum. [E 22] Daß die Traumvor stellung bei der Verschiebung des Ausdruckes mitprofitiert, ist leicht zu zeigen. Es ist ja irreführend, wenn ein zweideutiges § 1734§ 1735
556 VI. Die Traumarbeit
§ 1736Wort anstatt zweier eindeutiger gesetzt wird; und der Ersatz der
alltäglich nüchternen Ausdrucksweise durch eine bildliche hält unser Verständnis auf, besonders da der Traum niemals aussagt, ob die von ihm gebrachten Elemente wörtlich oder im über tragenen Sinne zu deuten sind, direkt oder durch Vermittlung eingeschobener Redensarten auf das Traummaterial bezogen werden sollen. [E 23] Beispiele von Darstellungen im Traume, die nur durch Zweideutigkeit des Ausdruckes zusammengehalten werden, habe ich bereits mehrere angeführt („Der Mund geht gut auf“ im Injektionstraum; „Ich kann doch nicht gehen“ im letzten Traum S. 55], usw.). Ich werde nun einen Traum mitteilen, in dessen Analyse die Verbildlichung des abstrakten Gedankens eine größere Rolle spielt. Der Unterschied solcher Traumdeutung von der Deutung mittels Symbolik läßt sich noch immer scharf be— stimmen; bei der symbolischen Traumdeutung wird der Schlüssel der Symbolisierung vom Traumdeuter willkürlich gewählt; in unseren Fällen von sprachlicher Verkleidung sind diese Schlüssel allgemein bekannt und durch feststehende Sprachübung gegeben. Verfügt man über den richtigen Einfall zur rechten Gelegenheit, so kann man Träume dieser Art auch unabhängig von den An gaben des Träumers ganz oder stückweise auflösen. § 1737Eine mir befreundete Dame träumt: Sie befindet sich in der
Oper. Es ist eine Wagner-Vorstellung, die bis —"/ß Uhr morgens gedauert hat. Im Parkett und Parterre stehen Tische, an denen gespeist und getrunken wird. Ihr eben von der Hochzeitsreise heim gekehrter Vetter sitzt an einem solchen Tische mit seiner jungen Frau; neben ihnen ein Aristokrat. Von diesem heißt es, die junge Frau habe sich ihn von der Hochzeitsreise mitgebracht, ganz ofien, etwa wie man einen Hut von der Hochzeitsrezls‘e mitbringt. In mitten des Parketts befindet sich ein hoher Turm, der oben eine Plattform trägt, die mit einem eisernen Gitter umgeben ist. Dort hoch oben ist der Dirigent mit den Zügen Hans Richters; er läuft beständig hinter seinem Gitter herum, schwitzt furchtbar § 1738§ 1739
Deutung eine: Traum ohne Einfälle des Träumen 357
§ 1740und leitet von diesem Posten aus das unten um die Basis des
Turmes angeordnete Orchester. Sie selbst sitzt mit einer (mir be kannten) Freundin in einer Lage. Ihre jüngere Schwester will ihr aus dem Parkett ein großes Stück Kohle hinaufreichen mit der Motivierung, sie habe doch nicht gewußt, daß es so lange dauern werde, und müsse jetzt wohl erbärmlz'ch frieren. (Etwa als ob die Lagen während der langen Vorstellung geheizt werden müßten.) . § 1741Der Traum ist wohl unsinnig genug, obwohl sonst gut auf
eine Situation gebracht. Der Turm mitten im Parkett, 'von dem aus der Dirigent das Orchester leitet.; vor allem aber die Kohle, die ihr die Schwester hinaufreicht! Ich habe von diesem Traume absichtlich keine Analyse verlangt; mit etwas Kennt nis Von den persönlichen Beziehungen der Träumerin, gelang es mir, Stücke von ihm selbständig zu deuten. Ich wußte, daß sie viel Sympathie für einen Musiker gehabt hatte, dessen Lauf bahn vorzeitig durch Geisteskrankheit unterbrochen werden war. Ich entschloß mich also, den Turm im Parkett wörtlich zu nehmen. Dann kam heraus, daß der Mann, den sie an Hans Richters Stelle zu sehen gewünscht hätte, die übrigen Mit glieder des Orchesters turmhoch über-ragt. Dieser Turm ist als ein Mischgehilde durch Apposition zu bezeichnen; mit seinem Unterbau stellt er die Größe des Mannes dar, mit dem Gitter oben, hinter dem er wie ein Gefangener oder wie ein Tier im Käfig (Anspielung auf den Namen des Unglücklichen) [E 24] herumläuft, das spätere Schicksal desselben. „Narrenturm“ wäre etwa das Wort, in dem die beiden Gedanken hätten zusammen— trefl"en können. § 1742Nachdem so die Darstellungsweise des Traumes aufgedeckt war,
konnte man versuchen, die zweite scheinbare Absurdität, die mit den Kohlen, die ihr von der Schwester gereicht werden, mit. demselben Schlüssel aufzulösen. „Kohle“ mußte „heimliche Liebe“ bedeuten. § 1743Freud. u.
§ 1744§ 1745
558 VI. Die Traumarbeit
§ 1746„Kein Feuer, keine Kohle
kann brennen so heiß § 1747als wie heimliche Liebe,
von der niemand was weiß.“ § 1748Sie selbst und ihre Freundin waren sitzen geblieben; die
jüngere Schwester, die noch Aussicht hat zu heiraten, reicht ihr die Kohle hinauf, „weil sie doch nicht gewußt habe, daß es so lange dauern wird“. Was so lange dauern wird, ist imTraume nicht gesagt; in einer Erzählung würden wir ergänzen: die Vor stellung; im Traume dürfen wir den Satz für sich ins Auge fassen, ihn für zweideutig erklären und hinzufügen, „bis sie heiratet“. Die Deutung „heimliche Liebe“ wird dann unterstützt durch die Erwähnung des Vetter-5, der mit seiner Frau im Parkett sitzt, und durch die dieser letzteren angedichtete offene Lieb schaft. Die Gegensätze zwischen heimlicher und offener Liebe, zwischen ihrem Feuer und der Kälte der jungen Frau beherrschen den Traum. Hier wie dort übrigens ein „Hochstehender“ als Nfittelwort zwischen dem Aristokraten und dem zu großen Half— nungen berechtigenden Musiker. § 1749Mit den vorstehenden Erörterungen haben wir endlich ein
drittes Moment aufgedeckt, dessen Anteil bei der Verwandlung der Traumgedanken in den Trauminhalt nicht gering anzuschlagen ist: Die Rücksicht auf die Darstellbarkeit in dem eigen— tümlichen psychischen Material, dessen sich der Traum bedient, also zumeist in visuellen Bildern. Unter den verschie denen Nebenanknüpfungen an die wesentlichen Traumgedanken wird diejenige bevorzugt werden, welche eine visuelle Darstellung erlaubt, und die'Traumarbeit scheut nicht die Mühe, den spröden Gedanken etwa zuerst in eine andere sprachliche Form umzugießen, sei diese auch die ungewöhnlichere, wenn sie nur die Darstellung ermöglicht und so der psychologischen Bedrängnis des einge klemmten Denkens ein Ende macht. Diese Umleerung des Ge dankeninhaltes in eine andere Form kann sich aber gleichzeitig § 1750§ 1751
Die Traumsymbolik 5 5 9
§ 1752in den Dienst der Verdichtungsarbeit stellen und Beziehungen
zu einem anderen Gedanken schaffen, die sonst nicht vorhanden wären. Dieser andere„Gedanke mag etwa selbst zum Zwecke des Entgegenkommens vorher seinen ursprünglichen Ausdruck ver ändert haben. [E 25] § 1753Angesichts der Rolle, welche Witzworte, Zitate, Lieder und
Sprichwörter im Gedankenleben der Gebildeten spielen, wäre es vollkommen der Erwartung gemäß, wenn Verkleidungen solcher § 1754IArt überaus häufig für Darstellung der Traumgedanken ver
wendet werden sollten. Was bedeuten z. B. im Träume Wagen, von denen jeder mit anderem Gemüse angefüllt ist? Es ist der Wunschgegensatz von „Kraut und Rüben“, also „Durcheinander“, und bedeutet demnach „Unordnung“. Ich habe mich gewundert, daß mir dieser Traum nur ein einziges Mal berichtet worden ist. [E 26] Nur für wenige Materien hat sich eine allgemein gültige Traum— symbolik herausgebildet, auf Grund allgemein bekannter An— spielungen und Wortersetzungen. Ein gutes Teil dieser Symbolik hat übrigens der Traum mit den Psychoneurosen, den Sagen und Volksgebräuchen gemeinsam. § 1755Ja, wenn man genauer zusieht, muß man erkennen, daß die
Traumarbeit mit dieser Art von Ersetzung überhaupt nichts Originelles leistet. Zur Erreichung ihrer Zwecke, in diesem Falle der zensurfreien Darstellbarkeit, wandelt sie eben nur die Wege, die sie im unbewußten Denken bereits gebahnt vorfindet, bevorzugt sie jene Umwandlungen des verdrängten Materials, die als Witz und Anspielung auch bewußt werden dürfen, und mit denen alle Phantasien der Neurotiker erfüllt sind. Hier eröffnet sich dann plötzlich ein Verständnis für die' Traumdeutungen Scherners, deren richtigen Kern ich an anderer Stelle verteidigt habe. Die Phantasiebeschäitigung mit dem eigenen Körper ist keineswegs dem Traume allein eigentümlich oder für ihn charakteristisch. Meine Analysen haben mir gezeigt, daß sie im unbewußten Denken der Neurotiker ein regelmäßiges Vorkommnis ist und auf § 1756an"
§ 1757§ 1758
540 V I . Die Traumarbeit
§ 1759sexuelle Neugierde zurückgeht, deren Gegenstand die Genitalien
des anderen, aber doch auch des eigenen Geschlechts fiir den heranwachsenden Jüngling oder für die Jungfrau werden. Wie aber Scherner und Volkelt ganz zutreffend hervorheben, ist das Haus nicht der einzige Vorstellungskreis, der zur Symbolisierung der Leiblichkeit verwendet wird — im Traume so wenig wie im unbewußten Phantasieren der Neurose. Ich kenne Patienten, die allerdings die architektonische Symbolik des Körpers und der Genitalien (reicht doch das sexuelle Interesse weit über das Gebiet der äußeren Genitalien hinaus) beibehalten haben, denen Pfeiler und Säulen Beine bedeuten (wie im Hohen Lied), die jedes Tor an eine der Körperöfl'nungen („Loch“), die jede Wasserleitung an den Hamapparat denken läßt usw. Aber ebenso gerne wird der Vorstellungskreis des Pflanzenlebens oder der Küche zum Versteck sexueller Bilder gewählt; [E27] im ersteren Falle hat der Sprach gebrauch, der Niederschlag von Phantasievergleichungen ältester Zeiten, reichlich vorgearbeitet (der „Weinberg“ des Herrn, der „Samen“, der „Garten“ des Mädchens im Hohen Lied). In scheinbar harmlosen Anspielungen an die Verrichtungen der Küche lassen sich die häßlichsteu wie die intimsten Einzel heiten des Sexuellebens denken und träumen, und die Sym— ptomatik der Hysterie wird geradezu undeutbar, wenn man ver— gißt, daß sich sexuelle Symbolik hinter dem Alltägl.ichen und Unauffälligen als seinem besten Versteck verbergen kann. Es hat seinen guten sexuellen Sinn, wenn neurotische Kinder kein Blut und kein rohes Fleisch sehen wollen, bei Eiern und Nudeln erbrechen, wenn die dem Menschen natürliche Furcht vor der Schlange beim Neurotiker eine ungeheuerliche Steigerung erfährt, und überall, wo die Neurose sich solcher Verhüllung bedient, wandelt sie die Wege, die einst in alten Kultur-perioden die ganze Menschheit begangen hat, und von deren Existenz unter leichter Verschüttung heute noch Sprachgebrauch, Aberglaube und Sitte Zeugnis ablegen. § 1760§ 1761
Die Symbolik des Sexueller: 54.1
§ 1762Ich füge hier den angekündigten Blumentraum einer Patientin
ein, in dem ich alles, was sexuell zu deuten ist, unterstreiche. Der schöne Traum wollte der Träumerin nach der Deutung gar nicht mehr gefallen. § 1763a) Vortraum: Sie geht in die Küche zu den beiden Mädchen
und tadelt sie, daß sie nicht fertig werden „mit dem Bissel Essen“, und sieht dabei soviel umgestürztae Geschirr zum Abtropfen stehen, grobes Geschirr in Haufen zusammengestellt. Späterer Zusatz: Die beiden Mädchen gehen Wasser holen, und müssen dabei wie in einen Fluß steigen, der bis ins Haus oder in den Hof reicht.‘ § 1764b) Hauptlzraum:2 Sie steigt von hoch herab5 über eigentümliche
Geländer oder Zäune, die zu großen Carreaus vereinigt sind und aus Flechtwerk von kleinen Quadraten bestehen.‘ Es ist eigentlich nicht zum Steigen eingerichtet; sie hat immer Sorge, daß sie Platz für den Fuß findet, und freut sich, daß ihr Kleid dabei nirgends hängen bleibt, daß sie im Gehen so anständig bleibt.5 Dabei trägt sie einen großen Ast in der Hand,6 eigentlich wie einen Baum, der dick mit roten Blüten besetzt ist, uerzweigt und ausgebreitet? Dabei ist die Idee Kirschblüten, sie sehen aber auch aus wie gefüllte Kamelden, die freilich nicht auf Bäumen wachsen. Während des Herabgehens hat sie zuerst einen, dann plötzlich mei, später wieder (ai/nen.8 Wie sie unten anlangt, sind die unteren Blüten schon ziemlich abgefal1en. Sie sieht dann, unten angelangt, einen Haus/weckt, der einen ebensolchen Baum, sie möchte sagen —— § 1765]) Zur Deutung dieses als „kausal“ zu nehmenden Vertraumes eiehe S. 515.
2) Ihr Lebenslauf. § 17665) Hohe Abkunft, Wunschgegensatz zum Vorname.
§ 17674.) Mischgebilde, das zwei Lokalihäten vereinigt, den togenannten Boden des
Vaterhauses, auf dem sie mit dem Bruder spielte, dem Gegenstande ihrer späteren Phantasien, und den Hof eines schlimmen Onkels, der sie zu nechen pflegte. § 17685) Wunschgegensatz zu einer realen Erinnerung vom Hofe des Onkels, daß sie eich
im Schlafe m entblößen pflegte. § 17696) Wie der Engel in der Verkündigung Mariä einen Lilienstengel.
§ 17707) Die Erklärung dieses Mischgehildea siehe S. 524: Unschuld, Periode, Kamelien
time. § 17718) Auf die Mehrheit der ihrer Phantasien dienenden Perßonen.
§ 1772§ 1773
542 VI. Die Traumarbeit
§ 1774kämmt, d. h. mit einem Holz dicke Haa'rb'üschel, die wie Moos
von ihm herabhiingen, rauft. Ändere Arbeiter haben solche Äste aus einem Garten), abgehauen und auf die Süraße geworfen, wo sie herumliegen, so daß viele Leute sich davon nehmen. Sie fragt aber, ob das recht ist, ob man sich auch einen nehmen kann.‘ Im Garten steht ein junger Mann (von ihr bekannter Persönlichkeit, ein Fremder), auf den sie zugeht, um ihn zu fragen, wie man solche Äste in ihren eigenen (ia/rien umsetzen könne.= Er umfängt sie, worauf sie sich sträubt und ihn fragt, was ihm einfällt, ob man sie denn so umfangen darf. Er sagt, das ist kein Unrecht, das ist erlaubt.5 Er erklärt sich dann bereit, mit ihr in den anderen Garten zu gehen, um ihr das Einsetzen zu zeigen, und sagt ihr etwas, was sie nicht recht versteht: Es fehlen mir ohnedies drei Meter — (später sagt sie: Quadratmeter) oder drei Klafter Grund. Es ist, als ob er für seine Bereitwilligheit etwas von ihr verlangen würde, als ob er die Absicht hätte, sich in ill/rem Garten % entschädigen oder als wollte er irgendein Gesetz beträgen, einen Vorteil davon haben, ohne daß sie einen Schaden hat. Ob er ihr dann wirklich etwas zeigt, weiß sie nicht. § 1775Ich muß noch einen anderen Vorstellungskreis erwähnen, der
im Träumen wie in der Neurose häufig zur Verhüllung sexuellen Inhaltes dient. Ich meine den des Wohnungswechsels. Seine Wohnung wechseln ersetzt sich leicht durch Ausziehen, also durch ein mehrdeutiges Wort, das in den Vorstellungskreis der Kleidung führt. Ist dann noch im Traunm ein Lift dabei, so erinnert man sich, daß „to lift“ im Englischen aufheben bedeutet, also „Kleider aufheben“. [528] § 1776Ich habe natürlich gerade an solchem Material Überfluß, aber
dessen Mitteilung würde zu tief in die Erörterung neumtischel" Verhältnisse führen. Alles leitete zum gleichen Schluß, daß mail § 17771) Oh man sich auch einen herunterreißen darf, i. e. masturhieren.
§ 1778;) Der Ast hat längst die Vertretung des männlichen Genitales übernommen.
enthält übrigens eine sehr deutliche Anspielung an den Familiennamen. § 17795) Bezieht sich wie das Nichs'folgende auf eheliche Vorsichten.
§ 1780§ 1781
Beispiele von Darstellungen im Traum 545
§ 1782keine besondere symbolisierende Tätigkeit der Seele bei der Traum
arbeit anzunehmen braucht, sondern daß der Traum sich solcher Symbolisierungen, welche im unbewußten Denken bereits fertig enthalten sind, bedient, weil sie wegen ihrer Darstellbarkeit, zumeist auch wegen ihrer Zensurfreiheit, den Anforderungen der Traum bildung besser genügen. [Zusatzkapita/ #] § 1783E
Beispiele — Rechnen und Reden im Traum § 1784Ehe ich nun das vierte der die Traumhildung beherrschenden
Momente an die ihm gebührende Stelle setze, will ich aus meiner Traumsammlung einige Beispiele heranziehen, welche teils das Zusammenwirken der drei uns bekannten Momente erläutern, teils Beweise für frei hingestellte Behauptungen nachtregen oder unab weisbare Folgerungen aus ihnen ausführen können. Es ist mir ja in der vorstehenden Darstellung der Traumarbeit recht schwer geworden, meine Ergebnisse an Beispielen zu erweisen. Die Bei spiele für die einzelnen Sätze sind nur im Zusammenhang einer Traumdeutung heweiskräftig; aus dem Zusammenhange gerissen, büßen sie ihre Schönheit ein, und eine auch nur wenig vertiefte Traumdeutung wird bald so umfangreich, daß sie den Faden der Erörterung, zu deren Illustrierung sie dienen soll, verlieren läßt. Dieses technische Motiv mag entschuldigen, wenn ich nun allerlei aneinander reihe, was nur durch die Beziehung auf den Text“ des vorstehenden Abschnitte; zusammengehalten wird. § 1785Zunächst einige Beispiele von besonders eigentümlichen oder
von ungewöhnlichen Derstellungsweisen im Traumia. Im Trauma einer Dame heißt es: Ein Stubenmädchen steht auf der Leiter wie zum Fensterputzen und hat einen Schimpansen und! eine Gorilla katze (später korrigiert: Angorakatze) bei sich. Sie wirft die Tiere auf die Träumerin; der Schimpanse sehmiegt sich an die leztere an, und das ist sehr ekelhaft. Dieser Traum hat seinen Zweck § 1786§ 1787
54.4. V I. Die Traumarbei!
§ 1788durch ein höchst einfaches Mittel erreicht, indem er nämlich eine
Redensart wörtlich nahm und nach ihrem VVortlaute darstellte. „Affe“ wie Tiernamen überhaupt sind Schimpfwörter, und die Traumsituation besagt nichts anderes als „mit Schimpfiuorten um sich werfen“. Diese selbe Sammlung wird alsbald weitere Beispiele für die Anwendung dieses einfachen Kunstgriffes bei der Traum— arbeit bringen. § 1789Ganz ähnlich verfährt ein anderer Traum: Eine Frau mit einem
Kind, das einen auffällig mißbildeten Schädel hat; von diesem Kinde hat sie gehört, daß es durch die Lage im Mutterleibe so geworden. Man könnte den Schädel, sagt der Arzt, durch Kom pression in eine bessere Form bringen, allein das würde dem Gehirn schaden. Sie denkt, da es ein Bub ist, schadet es ihm weniger. —— Dieser Traum enthält die plastische Darstellung des abstrakten Begriffes: „Kindereindrücke“, den die Träumerin in den Er— klärungen zur Kur gehört hat. § 1790Einen etwas anderen Weg schlägt die Traumarbeit 1m folgenden
Beispiel ein. Der Traum enthält die Erinnerung an einen Ausflug zum Hilmteich bei Graz; Es ist ein schreckliches Wetter draußen; ein armseligßs Hotel, von den Wänden tropft das Wasser, die Betten sind feucht. (Letzteres Stück des Inhalts ist. minder direkt im Traum, als ich es bringe.) Der Traum bedeutet „über— flüssig“. Das Abstraktum, das sich in den Traumgedanken fand, ist zunächst etwas gewaltsam äquivok gemacht werden, etwa durch „überfließend“ ersetzt oder durch „flüssig und überflüssig“, und dann durch eine Häufung gleichartiger Eindrücke zur Darstellung gebracht Wasser draußen, Wasser innen an den Wänden, Wasser als Feuchtigkeit in den Betten, alles flüssig und „über“flüssig. [5291 § 1791Es wäre eine besondere Arbeit, solche Darstellungsweisen zu
sammeln und nach den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien zu ordnen. [Eau] § 1792Der Traumarbeit gelingt oft auch die Darstellung von sehr
sprödem Material, wie es etwa Eigennamen sind, durch gezwungene § 1793§ 1794
Zahlen im Traum 545
§ 1795Verwertung sehr enflegener Beziehungen. In einem meiner Träume
hat mir der alte Brücke eine Aufgabe gestellt. Ich fertige ein Präparat an und Haube etwas heraus, was wie zerknülltes Silber papier aussieht. (Von diesem Traume noch später mehr.) Der nicht leicht auffindbare Einfall dazu ergibt: „Stanniol“, und nun weiß ich, daß ich den Automarnen Stannius meine, den eine von mir in früheren Jahren mit Ehrfurcht betrachtete Ab handlung über das Nervensystem der Fische trägt. Die erste wissenschaftliche Aufgabe, die mir mein Lehrer gestellt, bezog sich wirklich auf das Nervensystem eines Fisches, des Anu:nocoetes. Letzterer Name war im Bilderrätsel oflenbar gar nicht zu ge— brauchen. [E 31] § 1796Worin die Traumarbeit besteht und wie sie mit ihrem Material,
den Traumgedanken, umspringt, läßt sich in lehneicher Weise an den Zahlen und Rechnungen zeigen, die in Träumen vorkommen. Geträumte Zahlen gelten überdies dem Aberglauben als besonders verheißungsvoll. Ich werde also einige Beispiele solcher Art aus meiner Sammlung heraussuchen. § 17971 ) Aus dem Traum einer Dame, kurz vor Beendigung ihrer Kur:
§ 1798Sie will irgend etwas bezahlen; ihre Tochter nimmt ihr 3 II.
65 kl“. aus der Geldtasche; sie sagt aber: Was tust du?‘ Es kostet ja nur 21 kr. Dieses Stückchen Traum war mir durch die Ver— hältnisse der Träumen'n ohne weitere Aufklärung ihrerseits ver ständlich. Die Dame war eine Fremde, die ihre Tochter in einem Wiener Eniehungsinstitute untergebracht hatte und die meine Be— handlung fortsetzen konnte, so lange ihre Tochter in Wien blieb. In drei Wochen war deren Schuljahr zu Ende und damit endete auch die Kur. Am Tage vor dem Traum hatte ihr die Instituts vorsteherin nahegelegt, ob sie sich nicht entschließen könnte, das Kind noch ein weiteres Jahr bei ihr zu lassen. Sie hatte dann offenbar bei sich diese Anregung dahin fortgesetzt, daß sie in diesem Falle auch die Behandlung um ein Jahr verlängern könnte. Darauf bezieht sich nun der Traum, denn ein Jahr ist gleich 365 Tagen, § 1799§ 1800
546 V I . Die Traumarbeit
§ 1801die drei Wochen bis zum Abschluß des Schuljahres und der Kur
lassen sich ersetzen durch 21 Tage (wenngleich nicht ebenso viele Behandlungsstunden). Die Zahlen, die in den Traumgedanken bei Zeiten standen, werden im Traum Geldwerten beigesetzt, nicht ohne daß damit ein tieferer Sinn zum Ausdruck käme, denn „Time is money“, Zeit hat Geldwert. 365 Kreuzer sind dann allerdings 3 Gulden 65 Kreuzer. Die Kleinheit der im Traum erscheinenden Summen ist offenkundige Wunscherfüllung; der VVunsoh hat die Kosten der Behandlung wie des Lehrjahres im Institut verkleinert. § 18022 ) Zu komplizierteren Beziehungen führen die Zahlen in einem
anderen Traum. Eine junge, aber schon seit einer Raihe von Jahren verheiratete Dame erfährt, daß eine ihr fast gleichalterige Bekannte, Elise L., sich eben verlobt hat. Daraufhin träumt sie: Sie sitzt mit ihrem Manne im Theater, eine Seite des Parketts ist ganz unbesetzt. Ihr Mann erzählt ihr, Elise L. und ihr Bräutigam hätten auch gehen wollen, hätten aber nur schlechte Sitze bekommen, 3 für 1 it. 50 kr., und die konnten sie ja nicht nehmen. Sie meint, es wäre auch kein Unglück gewesen. § 1803Woher rühren die 1 fl. 50 kr.? Aus einem eigentlich indiffe
renten Anlaß des Vortages. Ihre Schwägerin hatte von ihrem Manne 150 fl. zum Geschenk bekommen und sich beeilt, sie los zu werden, indem sie sich einen Schmuck dafür kaufte. Wir wollen anmerken, daß 150 H. 100ma1 mehr als 1 H. 50 kr. Woher die 3, die bei den Theatersitzen steht? Dafür ergibt sich nur die eine Anknüpfung, daß die Braut um ebensoviel Monate — drei — jünger ist als sie. Zur Auflösung des Traumes führt dann die Erkundigung, was der Zug im Traum, daß eine Seite des Par— ketts leer bleibt, bedeuten kann. Derselbe ist eine unveränderte Anspielung auf eine kleine Begebenheit, die ihrem Menue guten Grund zur Neckerei gegeben hat. Sie hatte sich vorgenommen, zu einer der angekündigten Theatervorstellungen der Woche zu gehen, und war so vorsorglich, mehrere Tage vorher Karten zu nehmen, § 1804§ 1805
Zahlen und Rechnungen im Traum 547
§ 1806für die sie Vorkaufsgebühr zu zahlen hatte. Als sie dann ins
Theater kamen, fanden sie, daß die eine Seite des Hauses fast leer war; sie hätte es nicht nötig gehabt, sich so sehr zu beeilen. § 1807Ich werde jetzt den Traum durch die Traumgedanken er
setzen: „Ein Unsinn war es doch, so früh zu heiraten, ich hätte es nicht nötig gehabt, mich so zu beeilen. An dem Beispiele der Elise L. sehe ich, daß ich noch immer einen Mann be— kommen hätte. Und zwar einen hundertmal besseren (Mann, Schatz), wenn ich nur gewartet hätte (Gegensatz zu dem Beeilen der Schwägerin). Drei solche Männer hätte ich für das Geld (die Mitgift) kaufen können!“ Wir werden darauf aufmerk— sam, daß in diesem Traum die Zahlen in weit höherem Grade Bedeutung und Zusammenhang verändert haben, als im vorher behandelten. Die Umwandlungs— und Entstellungsarbeit des Traumes ist hier ausgiebiger gewesen, was wir so deuten, daß diese Traumgedanken bis zu ihrer Darstellung ein besonders hohes Maß von innerpsychischem Widerstand zu überwinden hatten. Wir wollen auch nicht übersehen. daß in diesem Traum ein absurdes Element enthalten ist, nämlich daß zwei Personen drei Sitze nehmen sollen. Wir greifen in die Deutung der Absurdität im Traume über, wenn wir einführen, daß dieses absurde Detail des Trauminhaltes den meistbetonten der Traumgedanken darstellen soll: Ein Unsinn war es, so früh zu heiraten. Die in einer ganz nebensächlichen Beziehung der beiden verglichenen Personen ent haltene 5 (5 Monate Unterschied im Alter) ist dann geschickt zur Produktion des für den Traum erforderlichen Unsinns ver— wendet werden. Die Verkleinerung der realen 150 H. auf 1 fl. 50 entspricht der Geringschätzung des Mannes (oder Schatzes) in den unterdrückten Gedanken der Träumerin. § 1808} ) Ein anderes Beispiel führt uns die Rechenkunst des Traumes
vor, die ihm soviel Mißachtung eingetragen hat. Ein Mann träumt: Er sitzt bei B . . . (einer Familie seiner früheren Bekannt § 1809§ 1810
54.8 V I. D'! Traumarbeit
§ 1811schaft) und sagt: Es war ein Unsinn, daß Sie mir die Mali nicht
gegeben haben. Darauf fragt er das Mädchen: Wie alt sind Sie denn? Antwort: Ich bin 1882 geboren. —— Ah, dann sind Sie 28 Jahre alt. § 1812Da der Traum im Jahre 1898 vorfällt, so ist das offenbar
schlecht gerechnet, und die Rechenschwäche des Träumers darf der des Paraly'tikers an die Seite gestellt werden, wenn sie sich etwa nicht anders aufklären läßt. Mein Patient gehörte zu jenen Personen, deren Gedanken kein Frauenzimmer, das sie sehen, in Ruhe lassen können. Seine Nachfolgerin in meinem Ordinations— zimmer war einige Monate hindurch regelmäßig eine junge Dame, der er begegnete, nach der er sich häufig erkundigte, und mit der er durchaus höflich sein wollte. Diese war es, deren Alter er auf 28 Jahre schätzte. Soviel zur Aufklärung des Resultates der scheinbaren Rechnung. 1882 war aber das Jahr, in dem er ge— heiratet hatte. Er hatte es nicht unterlassen können, auch mit den beiden anderen weiblichen Personen, die er bei mir traf, Gespräche anzuknüpfen, den beiden keineswegs jugendlichen Mädchen, die ihm abwechselnd die Tür zu öffnen pflegten, und als er die Mädchen wenig zutraulich fand, sich die Erklärung gegeben, sie hielten ihn wohl für einen älteren „gesetzten“ Herrn. [E 32] § 1813Wenn wir diese und ähnliche (später folgende Beispiele) zu—
sammenhalten, dürfen wir sagen: Die Traumarbeit rechnet über— haupt nicht, weder richtig noch falsch; sie fügt nur Zahlen, die in den Traumgedanken vorkommen und als Anspielungen auf ein nicht darstellbares Material dienen können, in der Form einer Rechnung zusammen. Sie behandelt dabei die Zahlen in genau der nämlichen Weise als Material zum Ausdruck ihrer Absichten wie alle anderen Vorstellungen, wie auch den Namen ,und die als Wortvorstellungen kenntlichen Reden. § 1814Denn die Traumarbeit kann auch keine Rede neu schaffen.
‘ So viel von Rede und Gegenrede in den Träumen vorkommen § 1815§ 1816
Reden im Traum 549
§ 1817mag, die an sich sinnig oder unvernünftig sein können, die ‘
Analyse zeigt uns jedesmal, daß der Traum dabei nur Bruchstücke f von wirklich geführten oder gehörten Reden den Traumgedankeni entnommen hat und höchst willkürlich mit ihnen verfahren ist. l Er hat sie nicht nur aus ihrem Zusammenhange gerissen und § 1818zerstückt, das eine Stück aufgenommen, das andere verworfen,
§ 1819sondern auch oft neu zusammengefügt, so daß die zusammen
§ 1820hängend scheinende Traumrede bei der Analyse in drei oder vier
§ 1821Brocken zerfa'llt. Bei dieser Neuverwendung hat er oft den Sinn,
§ 1822den die Worte in den Traumgedanken hatten, beiseite gelassen,
§ 1823und dem Wortlaut einen völlig neuen Sinn abgewonnen. [E 33] Bei
§ 1824näherem Zusehen unterscheidet man an der Traumrede deutliche—re,
§ 1825kompakte Bestandteile von anderen, die als Bindemittel dienen
§ 1826und wahrscheinlich ergänzt worden sind, wie wir ausgelassene
§ 1827Buchstaben und Silben beim Lesen ergänzen. Die Traumrede hat
§ 1828so den Aufbau eines Brecciengesteines, in dem größere Brocken
§ 1829verschiedenen Materials durch eine erhärtete Zwischenmasse zu
§ 1830sammengehalten werden.
§ 1831In voller Strenge richtig ist diese Beschreibung allerdings nur
für jene Reden,im Traum, die etwas vom sinnlichen Charakter der Rede haben und als „Reden“ beschrieben werden. Die anderen, die nicht gleichsam als gehört oder als gesagt empfunden werden (keine akustische oder motorische Mitbetonung im Traum haben), sind einfach Gedanken, wie sie in unserer wachen Denk— tätigkeit vorkom.men und unverändert in viele Träume übergehen. Für das indifferent gehaltene Redematerial des Traumes scheint auch die Lektüre eine reich fließende und schwer zu verfolgende Quelle abzugeben. Alles aber, was im Traum als Rede irgendwie auffällig hervortritt, unterwirft sich der Zurückführung auf reale, selbst gehaltene oder gehörte Rede. § 1832Beispiele für die Ableitung solcher Traumreden haben wir be—
reits bei der Analyse von Träumen gefunden, die zu anderen Zwecken mitgeteilt worden sind. So in dem „harmlosen Markt § 1833§ 1834
550 VI. Die Traumarbeit
§ 1835traum“ auf S. 185, in dem die Rede: Das ist nicht mehr zu
haben, dazu dient, mich mit dem Fleischhauer zu identifizieren, während ein Stück der anderen Rede: Das kenne ich nicht, das nehme ich nicht, geradezu die Aufgabe erfüllt, den Traum harmlos zu machen. Die Träumerin hatte nämlich am Vortage irgendwelche Zumutung ihrer Köchin mit. den Worten zurück— gewiesen: Das kenne ich nicht, benehmen Sie sich anständig, und nun von dieser Rede das indifferent klingende erste Stück in den Traum genommen, um mit ihm auf das spätere Stück anzuspielen, das in die Phantasie, welche dem Traum zugrunde lag, sehr wohl gepaßt, aber dieselbe auch verraten hätte. § 1836Ein ähnliches Beispiel an Stelle vieler, die ja alle das nämliche
ergeben: § 1837Ein großer Hof, in dem Leichen verbrannt werden. Er sagt:
Da geh’ ich weg, das kann ich nicht sehen. (Keine deutliche Rede.) Dann trzfi”t er zwei Fleischhauerbuben und fragt: Na hat‘s geschmeckt? Der eine antwortet: Na, nöz gut war’s. Als ob es Menschenfleisch gewesen wäre. § 1838Der harmlose Anlaß dieses Traumes ist folgender: Er macht
nach dem Nachtmahl mit seiner Frau einen Besuch bei den braven, aber keineswegs appetitlichen Nachbarsleuten. Die gast freundliche alte Dame befindet sich eben bei ihrem Abendessen und nötigt ihn (man gebraucht dafür schenhaft unter Männern ein zusammengesetztes, sexuell bedeutsames Wort) davon zu kosten. Er lehnt ab, er habe keinen Appetit mehr. „Aber gehn S’ weg, das werden Sie noch vertragen“ oder so ähnlich. Er muß also kosten und rühmt dann das Gebotene vor ihr. „Das ist aber gut.“ Mit, seiner Frau wieder allein, schimpft er dann sowohl über die Auf dringlichkeil: der Nachbarin, als auch über die Qualität der gekosteten Speise. „Das kann ich nicht sehen“, das auch im Traum nicht als eigentliche Rede auftritt, ist ein Gedanke, der sich auf die körper lichen Beize der einladenden Dame bezieht, und zu übersetzen wäre, daß er diese zu schauen nicht begehrt. § 1839§ 1840
Der Traum „Non via:it“ 55;
§ 1841Lehrreicher wird sich die Analyse eines anderen Traumec
gestalten, den ich wegen der sehr deutlichen Rede, die seinen Mittelpunkt bildet, schon an dieser Stelle mitteile, aber erst bei der Würdigung der Alfekte im Traume aufklären werde. Ich träumte sehr klar: Ich bin nachts ins Brückesche Laboratorium gegangen und bfine auf ein leises Klopfen an der Tür dem (verstorbenen) Professor Fleischl, der mit mehreren Fremden eintritt und sich nach einigen Worten an seinen Tisch setzt. Dann folgt ein zweiter Traum: Mein Freund Fl. ist im Juli unauffällig nach Wien ge— kommen,— ich begegne ihn auf der Straße im Gespräch mit meinem (verstorbenen) Freunde P. und gehe mit ihnen irgendwohin, wo sie einander wie an einem kleinen Tisch gegenübersitzen, ich an der schmalen Seite des Tischchens vorne. Fl. erzählt von seiner Schwester und sagt: In dreiviertel Stunden war sie tot, und dann etwas wie: Das ist die Schwelle. Da P. ihn nicht versteht, wendet sich Fl an mich und fragt mich, wieviel von seinen Dingen ich P. denn mitgeteilt habe. Darauf ich, von merkwürdigen Afl'ekten ergrtfi‘en, Fl. mitteilen will, daß P. (ja gar nichts wissen kann, weil er) gar nicht am Leben ist. Ich sage aber, den Irrtum selbst bemerkßnd: Non viwit. Ich sehe dann P. durchdringend an, unter meinem Blicke wird er bleich, uerschwommen, seine Augen werden krankhaft blau — und endlich löst er sich auf. Ich bin ungemein erfreut darüber, verstehe jetzt, daß euch Ernst Fleischl nur eine Erscheinung, ein Revenant war, und finde es ganz wohl möglich, daß eine solche Person nur so lange besteht, als man es mag, und daß sie durch den Wunsch des anderen beseitigt werden kann. § 1842Dieser schöne Traum vereinigt so viele der am Trauminhalt
rätselhaften Charaktere, —— die Kritik während des Traumes selbst, daß ich meinen Irrtum, Non uixit zu sagen anstatt Non uivit, selbst bemerke; den unbefangenen Verkehr mit Verstorbenen, die der Traum selbst für verstorben erklärt; die Absurdität der Schluß folgerung und die hohe Befriedigung, die dieselbe mir bereitet, — § 1843§ 1844
552 VI . Die Traumarbeit
§ 1845daß ich „für mein Leben gern“ die volle Lösung dieser Rätsel
mitteilen möchte. Ich bin aber in Wirklichkeit unfähig, das zu tun — was ich nämlich im Traum tue —-— die Rücksicht auf so teure Personen meinem Ehrgeiz aufzuopfern. Bei jeder Verhüllung wäre aber der mir wohlbekannte Sinn des Traumes zuschanden ge'worden. So begnüge ich mich denn, zuerst hier, und dann an späterer Stelle einige Elemente des Traumes zur Deutung heraus zugreifen. § 1846Das Zentrum des Traumes bildet eine Szene, in der ich P.
durch einen Blick vernichte. Seine Augen werden dabei so merk— würdig und unheimlich blau, und dann löst er sich auf. Diese Szene ist die unverkennbare Nachbildung einer wirklich erlebten. Ich war Demonstretor am physiologischen Institut, hatte den Dienst in den Frühstunden, und Brücke hatte erfahren, daß ich einige Male zu spät ins Schülerlaboratorium gekommen war. Da kam er einmal pünktlich zur Eröffnung und wartete mich ab. Was er mir sagte, war karg und bestimmt; es kam aber gar nicht auf die Worte an. Das Überwältigende waren die fürchter— lichen blauen Augen, mit denen er mich ansah, und vor denen ich verging —— wie P. im Traum, der zu meiner Erleichterung die Rollen verwechselt hat. Wer sich an die bis ins hohe Greisen alter wunderschönen Augen des gq‘oßen Meisters erinnern kann und ihn je im Zorn gesehen hat, wird sich in die Affekte des jugendlichen Sünders von damals leicht versetzen können. § 1847Es wollte mir aber lange nicht gelingen, das „Non virz't“ ab—
zuleiten, mit dem ich im Traum jene Justiz übe, bis ich mich besann, daß diese zwei Worte nicht als gehörte oder gerufene, sondern als gesehene so hohe Deutlichkeit im Traum besessen hatten. Dann wußte ich sofort, woher sie stammten. Auf dem Postament des Kaiser Josef-Denkmals in der Wiener Hofburg sind die schönen Worte zu lesen: § 1848Saluti patriae vixit
non dia sed tom. [E 34] § 1849§ 1850
Zur Deutung des Traumes „Non vixit“ 555
§ 1851Aus dieser Inschrift habe ich herausgeklaubt, was zu der einen,
feindseligen Gedankeureihe in meinen Traumgedanken paßte, und was heißen sollte: Der Kerl hat ja gar nichts dreimureden, er lebt ja gar nicht. Und nun mußte ich mich erinnern, daß der Traum wenige Tage nach der Enthüllung des Fleischldenkmals in den Arkaden der Universität geträumt worden war, wobei ich das Denkmal Brückes wiedergesehen hatte und (im Unbewußten) mit Bedauern erwogen haben muß, wie mein hochbegabter, und ganz der Wissenschaft ergebener Freund P. durch einen allzu frühen Tod seinen begründeten Anspruch auf ein Denkmal in diesen Bäumen verloren. So setzte ich ihm dies Denkmal im Traum; mein Freund P. hieß mit dem Vornamen J osef.‘ § 1852Nach den Regeln der Traumdeutung wäre ich nun noch immer
nicht berechtigt, das non vivit, das ich brauche, durch non uixit, das mir die Erinnerung an das Josefsmonument zur Verfügung stellt, zu ersetzen. Ein anderes Element _der Traumgedanken muß dies durch seinen Beitrag ermöglicht haben. Es heißt mich nun etwas darauf achten, daß in der Traumszene eine feindselige und eine zärtliche Gedankenströmung gegen meinen Freund P. zu— sammentreffen, die erstere oberflächlich, die letztere verdeckt, und in den nämlichen Worten: Non vixit ihre Darstellung erreichen. Weil er sich um die Wissenschaft verdient gemacht hat, errichte ich ihm ein Denkmal; aber weil er sich eines bösen Wunsches schuldig gemacht hat (der am Ende des Traumes ausgedrückt ist), darum vernichte ich ihn. Ich habe da einen Satz von ganz be— sonderem Klang gebildet, bei dem mich ein Vorbild beeinflußt haben muß. Wo findet sich nur eine ähnliche Antithese, ein solches Nebeneinanderstellen zweier entgegengesetzter Reaktionen gegen dieselbe Person, die beide den Anspruch erheben, voll be rechtigt zu sein, und doch einander nicht stören wollen? An einer § 1853]) Als Beitrag zur Überdeterminierung: Meine Entschuldigung für mein Zusp'ait
kommen lag darin, daß ich nach langer Nachtarheit am Morgen den weiten Weg von der Kaiser-Josef—Straße in die Währinger Straße zu machen hatte. § 1854Freud. n. ”‘
§ 1855§ 1856
554. JVI. Die Traumarbci:
§ 1857einzigen Stelle, die sich aber dem Leser tief einprägt; in der
Rechtfertigungsrede des Brutus in Shakespeares „Julius Cäsar“: „Weil Cäsar mich liebte, wein’ ich um ihn; weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war, ehr ich' ihn, aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn.“ Ist das nicht der nämliche Satzlmu und Gedankengegensatz wie in dem Traum gedanken, den ich aufgedeckt habe? Ich spiele also den Brutus im Traum. Wenn ich nur von dieser überraschenden Kollateralver— bindung noch eine andere bestätigende Spur im Trauminhalt auf finden könnte! Ich denke, dies könnte folgende sein: Mein Freund Fl. kommtim Juli nach Wien. Diese Einzelheit findet gar keine Stütze in der Wirklichkeit. Mein Freund ist im Monat Juli meines Wissens niemals in Wien gewesen. Aber der Monat Juli ist nach Julius Cäsar benannt und könnte darum sehr wohl die von mir gesuchte Anspielung auf den Zwischengedanken, daß ich den Brutus spiele, vertreten.‘ § 1858Merkwürdigerweise habe ich nun wirklich einmal den Brutus
gespielt. Ich habe die Szene Brutus und Cäsar aus Schillers Ge dichten vor einem Auditorium von Kindern aufgeführt, und zwar als vierzehnjähriger Knabe im Verein mit meinem um ein Jahr älteren Neffen, der damals aus England zu uns gekommen war, — auch so ein Revenant — denn es war der Gespiele meiner ersten Kinderjahre, der mit ihm wieder auftauchte. Bis zu meinem vollendeten dritten Jahre waren wir unzertrennlich gewesen, hatten einander geliebt und miteinander gerauft, und diese Kinderbeziehung hat, wie ich schon einmal angedeutet, über all meine späteren Gefühle im Verkehr mit Altersgenossen entschieden. Mein Neffe John hat seither sehr viele Inkarnationen gefunden, die bald diese, bald jene Seite seines in meiner unbewußten Er— innerung unauslöschlich fixierten Wesens wiederbelebten. Er muß mich zeitweilig sehr schlecht behandelt haben, und ich muß § 18591) Dazu noch Giant—Kaiser.
§ 1860§ 1861
Absurde Träume ' 555
§ 1862Mut bewiesen haben gegen meinen Tyrannen, denn es ist mir
in späteren Jahren oft eine kurze Rechtfertigungsrede' wieder enä.hlt worden, mit der ich mich verteidigte, als mich der Vater —, sein Großvater —— zur Rede stellte: Warum schlägst du John? Sie lautete in der Sprache des noch nicht Zweijährigen: Ich habe ihn ge(sch)lagt, weil er mich ge(sch)lagt hat. Diese Kinden szene muß es sein, die nun viuit zum non uirit ablenkt, denn in der Sprache späterer Kinderjahre heißt ja das Schlagen -— Wichsen; die Traumarbeit verschmäht es nicht, sich solcher Zusammenhänge zu bedienen. Die in der Realität so wenig be: gründete Feindseligkeit gegen meinen Freund P., der mir vielfach überlegen war und darum auch eine Neuausgabe des Kinder gespielen abgeben konnte, geht sicherlich auf die komplizierte infantile Beziehung zu John zurück. - Ich werde also auf diesen Traum noch zurückkornmen. § 1863F .
Absurde Träume — Die intellektuellen Leistungen ' im Traum § 1864Bei unseren bisherigen Traumdeutungen sind wir so oft auf das
Element der Absurdität im Trauminhalt gestoßen, daß wir die Untersuchung nicht länger aufschieben wollen, woher dasselbe rührt, und was es etwa bedeutet. Wir erinnern uns ja, daß die Absurdität der Träume den Gegnern der Traumschätzung ein Hauptargument bat, um im Traum nichts anderes als ein sinn— loses Produkt einer reduzierten und zerhröckelten Geistestätigkeit zu sehen. § 1865Ich beginne mit einigen Beispielen, in denen die Absurdität
des Trauminhaltes nur ein Anschein ist, der bei besserer Ver— tiefung in den Sinn des Traumes sofort verschwindet. Es sind einige Träume, die — wie man zuerst meint, zufällig —— vom toten Vater handeln. § 186625'
§ 1867§ 1868
556 V I . Die Traumarbeit
§ 1869I
§ 1870Der Traum des Patienten, der seinen Vater vor sechs Jahren
verloren: § 1871Dem Vater ist ein grqßes Unglück widerfahren. Er ist müdem
Nachtzug gefahren, da ist eine Entgleisung erfolgt, die Sitze sind zusammengekommen, und ihm ist der Kopf quer zusammengedriickt werden. Er sieht ihn dann auf dem Beth»: liegen, mit einer Wunde über dem Augenbrauenrand links, die vertikal verläuft. Er wundert sich darüber, daß der Vater verunglückt ist (da er doch schon tot ist, wie er bei der Erzählung ergänzt). Die Augen sind so klar. § 1872Nach der herrschenden Beurteilung der Träume hätte man sich
diesen Trauminhalt so aufzuklären: Der Träumer hat zuerst, während er sich den Unfall seines Vaters verstellt, vergessen, daß dieser schon seit Jahren im Grabe ruht; im weiteren Verlaufe des Träumens wacht diese Erinnerung auf und bewirkt, daß er sich über den eigenen Traum noch selbst träumend verwundert Die Analyse lehrt aber, daß es vor allem überflüssig ist, nach solchen Erklärungen zu greifen. Der Träumer hatte bei einem Künstler eine Büste des Vaters bestellt, die er zwei Tage vor dem Traume in Augenschein genommen hat. Diese ist es, die ihm verunglückt vorkommt. Der Bildhauer hat den Vater nie gesehen, er arbeitet nach ihm vorgelegten Photographien. Am Tage vor dem Traume selbst hat der pietätvolle Sohn einen alten Diener der Familie ins Atelier geschickt, ob auch der dasselbe Urteil über den mamornen Kopf fällen wird, nämlich daß er zu schmal in der Querrichtung von Schläfe zu Schläfe aus— gefallen ist. Nun folgt das Erinnerungsmaterial, das zum Aufbau dieses Traumes beigetragen hat. Der Vater hatte die Gewohnheit, wenn geschäftliche Sorgen oder Schwierigkeiten in der Familie ihn quälten, sich beide Hände gegen die Schläfen zu drücken, als ob er seinen Kopf, der ihm zu weit würde, zusammenpressen wollte. — Als Kind von vier Jahren war unser Träumer zugegen, § 1873§ 1874
Ahsurde Träume vom toten Vater 557
§ 1875wie das Losgehen einer zufällig geladenen Pistole dem Vater die
Augen schwärzte (die Augen sind so klar). —— An der Stelle, wo der Traum die Verletzung des Vaters zeigt, trug der Lebende, wenn er nachdenklich oder traurig war, eine tiefe Längsfurche zur Schau. Daß diese Furche im Traum durch eine Wunde er setzt ist, deutet auf die zweite Veranlassung des Traumes hin. Der Träu.mer hatte sein kleines Töchterchen photographiert; die Platte war ihm aus der Hand gefallen und zeigte, als er sie aufhob, einen Sprung, der wie eine senkrechte Furche über die Stirne der Kleinen lief und bis zum Augenbrauenbogen reichte. Da konnte er sich abergläubischer Ahnungen nicht erwehren, denn einen Tag vor dem Tode der Mutter war ihm die photographi sche Platte mit deren Abbild gesprungen. § 1876Die Absurdität dieses Traumes ist also bloß der Erfolg einer
Nachlässigkeit des sprachlichen Ausdruckes, der die Büste und die Photographie von der Person nicht unterscheiden will. Wir sind alle gewöhnt so zu reden: Findest du den Vater nicht ge troffen? Freilich wäre der Anschein der Absurdität in diesem Traume leicht zu vermeiden gewesen. Wenn man schon nach einer einzigen Erfahrung urteilen dürfte, so möchte man sagen., dieser Anschein von Absurdität ist ein zugelassener oder ge wollten § 1877II
§ 1878Ein zweites, ganz ähnliches Beispiel aus meinen eigenen Träumen:
(Ich habe meinen Vater im Jahre 1896 verloren.) § 1879Der Vater hat nach seinem Tode eine politische Rolle bei den
Magyaren gespielt, sie politisch geeinigi, wozu ich ein kleines undeutliches Bild sehe: eine Menschenmenge wie im Reichstag; eine Person, die auf einem oder auf zwei Stühlen steht, andere um ihn herum: Ich erinnere mich daran, daß er auf dem T aren betre Garibaldi so ähnlich gesehen hat, und freue mich, daß diese Verheißung doch wahr geworden ist. § 1880§ 1881
558 7 7 ' VI. Die Traumurlm't
§ 1882Das ist doch absurd genug. Es ist zur Zeit geträumt, da die
Ungarn durch parlamentarische Obstruktion in den gosetzloseh Zustand gerieten und jene Krise durchmachten, aus der Koloman Széll sie befreite. Der geringfügige Umstand, daß die im Traum gesehene Szene aus so kleinen Bildern besteht, ist nicht ohne Bedeutung für die Aufklärung dieses Elements. Die gewöhnliche visuelle Traumdarstellung unserer Gedanken ergibt Bilder, die uns etwa den Eindruck der Lebensgröße machen; mein Traumbild ist aber die Reproduktion eines in den Text einer illustrierten Geschichte Österreichs eingeschohenen Holzschnittes, der Maria Theresia auf dem Reichstage von Preßburg darstellt; die berühmte Szene des „Moriamur pro rege no.s‘tro“.1 Wie dort Maria Theresia, so steht im Traume der Vater von der Menge umringt; er steht aber auf einem oder zwei Stühlen, also als Stuhlrichter. (Er hat sie geeinigt: — hier vermittelt die Redensart: Wir werden keinen Richter brauchen.) Daß er auf dem Totenhette Gari baldi so ähnlich seh, haben wir Umstehenden wirklich alle be merkt. Er hatte postmortale Temperatursteigerung, seine Wangen glühten rot und röter . . . unwillkürlich setzen wir fort: Und hinter ihm, in wecenlosem Scheine leg, was uns alle händigt, das Gemeine. § 1883Diese Erhebung unserer Gedanken bereitet uns darauf vor, daß
wir gerade mit dem „Gemeinen“ zu tun bekommen sollen. Das „postmortale“ der Temperaturerhöhung entspricht den Worten „nach seinem Tode“ im Trauminhalt. Das Quälendste seiner Leiden war die völlige Darmlähmung (Ohstruktion) der letzten Wochen gewesen. An diese knüpfen allerlei unehrerbietige Gedanken an. Einer meiner Altersgenossen, der seinen Vater noch als Gym— nasiast verlor, bei welchem Anlaß ich ihm dann tief erschüttert § 18841) Ich weiß nicht mehr, bei welchem Autor ich einen Traum erwähnt gefunden
habe, in dem es von ungewöhnlich kleinen Gestalten wimmelte, und als dessen Quelle sich einer der Stiche Jacques Cello“ herausstellte, die der Träumer bei Tag betrachtet hatte Diese Stiche enthalten allerdings eine Unzahl sehr kleiner Figuren; eine Reihe derselben behandelt die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges. § 1885§ 1886
,4b—“H'de Träume «im 'totm V.4!Fr„ „ „ „559
§ 1887meine Freundschaft antrug, enählte mir einmal höhnend von deni
Schmerz einer Verwandten, deren Vater auf der Straße gestorhen und nach Hause gebracht werden war, wo sich dann beider Entkleidung der Leiche fand, daß im Moment des Todes oder postmortal eine Stühlentleerung stattgefunden hatte. Die Tochter war so tief unglücklich darüber, daß ihr dieses häßliché Detail die Erinnerung an den Vater stören mußte. Hier sind wir nun zu dem Wunsch vorgedrungen, der sich in diesem 'I\-aume verkörpert. Nach seinem Tode rein und groß vor seinen Kindern dastehen, wer möchte das nicht wünschen? Wohin ist die Absurdität dieses Traumes geraten? Ihr Anschein ist nur dadurch zustande gekommen, daß eine völlig zulässige Redensart, bei welcher wir gewöhnt sind, über die Absurdität hinwegzusehen, die zwischen ihren Bestandteilen vorhanden sein mag, im Traume getreulich dargestellt wird. Auch hier können wir den Eindruck nicht abweisen, daß der Anschein der Absurdität ein gewollter, absichtlich hervorgerufene'r, ist. [235] § 1888III
§ 1889In dem Beispiel, das ich jetzt ausführe, kann ich die Traumd
arbeit dabei ertappen, wie sie eine Absurdität, zu der im Material gar kein Anlaß ist, absichtlich fabriziert. Es stammt aus dem Traume, den mir die Begegnung mit dem Grafen Thun vor meiner Ferialreise eingegeben hat. „Ich fahre in einem Einspänner‘ und gebe Auftrag, zu einem Bahnhof zu fahren. ,Auf der Bahn—' strecke selbst kann ich natürlich nicht mit Ihnen fahren‘, sage ich, nachdem er einen Einwand gemacht, als ob ich ihn über— müdet hätte; dabei ist es so, als wäre ich schon eine Strecke mit ihm gefahren, die man sonst mit der Bahn fährt.“ Zu dieser ver worrenen und unsinnigen Geschichte gibt die Analyse folgende Aufklärungen: Ich hatte am Tage einen Einspänner genommen, der mich nach Dornbach in eine entlegene Straße führen sollte) Er kannte aber den Weg nicht und fuhr nach An dieser guten § 1890§ 1891
560 VI. Die Traumarbeil
§ 1892Leute immer weiter, bis ich es merkte und ihm den Weg zeigte,
wobei ich ihm einige spöttische Bemerkungen nicht ersparte. Von diesem Kutscher spinnt sich eine Gedankenverbindung zu den Aristokraten an, mit der ich später noch zusammentreffen werde. Vorläufig nur die Andeutung, daß uns bürgerlichem Plebs die Aristokratie dadurch auffällig wird, daß sie sich mit Vorliebe an die Stelle des Kutschers setzt. Graf Thun lenkt ja auch den Staatswagen von Österreich. Der nächste Satz im Traum bezieht sich aber auf meinen Bruder, den ich also mit dem Einspänner— kutscher identifiziere. Ich hatte ihm heuer die gemeinsame Italien fahrt abgesagt („Auf der Bahnstrecke selbst kann ich mit. Ihnen nicht fahren“), und diese Absage war eine ,Art Bestrafung für seine sonstige Klage, daß ich ihn auf diesen Reisen zu über müden pflege (was unverändert in den Traum gelangt), indem ich ihm zu rasche Ortsverändernng, zuviel des Schönen an einem Tage, zumute. Mein Bruder hatte mich an diesem Abend zum Bahnhof begleitet, war aber kurz vorher bei der Stadtbahnstation Westbahnhof ausgesprungen, um mit der Stadtbahn nach Purkers— dorf zu fahren. Ich hatte ihm bemerkt, er könne noch eine Weile länger bei mir bleiben, indem er nicht mit der Stadtbahn, son— dern mit der Westbahn nach Purkersdorf fahre. Davon ist in den Traum gekommen, daß ich mit dem Wagen eine Strecke ge fahren bin, die man sonst mit der Bahn fährt. In Wirklich— keit war es umgekehrt (und „Umgekehrt ist auch gefahren“); ich hatte meinem Bruder gesagt: Die Strecke, die du mit der Stadtbahn fährst, kannst du auch in meiner Gesellschaft in der Westbahn fahren. Die ganze Traumverwirrung richte ich dadurch an, daß ich anstatt „Stadtbahn“ —„Wagen“ in den Traum ein setze, was allerdings zur Zusammenziehung des Kutschers mit dem Bruder gute Dienste leistet. Dann bekomme ich im Traume etwas Unsinniges heraus, was bei der Erklärung kaum entwirrbar scheint, und beinahe einen Widerspruch mit einer früheren Rede von mir („Auf der Bahnstrecke selbst kann ich mit Ihnen nicht fahren“) § 1893§ 1894
Einzelne Absurditäten im Traum 561 '
§ 1895herstellt. Da ich aber Stadtbahn und Einspännerwagen überhaupt
nicht zu verwechseln brauche, muß ich diese ganze rätselhafte Geschichte im Traume absichtlich so gestaltet haben. § 1896In welcher Absicht aber? Wir sollen nun erfahren, was die
Absurdität im Trauma bedeutet, und aus welchen Motiven sie zugelassen oder geschaffen wird. Die Lösung des Geheimnisses im vorliegenden Falle ist folgende: Ich brauche im Traume eine Absurdität und etwas Unverständliches in Verbindung mit dem „Fahren“, weil ich in den Traumgedanken ein gewisses Urteil habe, das nach Darstellung verlangt. An einem Abende bei jener gastfreundlichen und geistreichen Dame, die in einer anderen Szene des nämlichen Traumes als „I-Iaushälterin“ auftritt, hatte ich zwei Rätsel gehört, die ich nicht auflösen konnte. Da sie der übrigen Gesellschaft bekannt waren, machte ich mit meinen erfolglosen Bemühungen, die Lösung zu finden, eine etwas lächer— liche Figur. Es waren zwei Äquivoke rnit „Nachkormnen“ und „Vorfahren“. Sie lauteten, glaube ich, so: § 1897Der Herr’ befiehlt’s,
§ 1898Der Kutscher tut’s.
§ 1899Ein jeder hat’s
§ 1900Im Grabe ruht’s. (Vorfahren)
§ 1901Verwirreml wirkte es, daß das zweite Rätsel zur einen Hälfte
§ 1902identisch mit dem ersten war:
Der Herr befiehlt’s, Der Kutscher lut’s. Nicht jeder hat’s, In der Wiege ruht’s. (Nachkommen) § 1903Als ich nun den Grafen Thun so großmächtig verfahren
sah, in die Figaro-Stimmung geriet, die das Verdienst der hohen Herren darin findet, daß sie sich die Mühe gegeben haben, ge boren zu werden (Nachkommen zu sein), wurden diese beiden Rätsel zu Zwischengedanken für die Traumarbeit. Da man Aristo kraten leicht mit Kutschern verwechseln kann, und man dem § 1904§ 1905
565 V I. Die Traumdrbeit
§ 1906Kutscher früher einmal in unseren Landen „Herr Schwager“ zu
sagen pflegte, konnte die Verdichtungsarbeit meinen Bruder in dieselbe Darstellung einbeziehen. Der Traumgedanke aber,' der dahinter gewirkt hat, lautet: Es ist ein Unsinn, auf seine Vorfahren stolz zu sein.> Lieber bin ich selber ein Vor fahr, ein Ahnherr. Wegen dieses Urteils: Es ist ein Unsinn, also der Unsinn im Traum. Jetzt löst sich wohl auch das letzte Rätsel dieser dunklen Traumstelle, daß ich mit dem Kutscher schon vorher gefahren, mit ihm schon vorgefahren. § 1907’Der Traum wird also dann absurd gemacht, wenn in den
Traumgedanken als eines der Elemente des Inhalts das Urteil vor kommt: Das ist ein Unsinn, wenn überhaupt Kritik und Spott einen der unbewußten Gedankenzüge des Träumers motivieren. Das'Absurde wird somit eines der Mittel, durch welches die Traumarbeit den Widerspruch darstellt, wie die Umkehrung einer Materialbeziehung zwischen Traumgedanken und Trauminhalt, wie die Verwertung der ,motorischen Hemmungsernpfindurig. Das Absurde des Traumes ist aber nicht mit einem einfachen „Nein“ zu übersetzen, sondern soll die Disposition der Traumgedanken wiedergeben, gleichzeitig mit dem Widerspruch zu höhnen oder zu lachen. Nur in dieser Absicht liefert die Traumarbeit etwas Lächerliches. Sie verwandelt hier wiederum ein Stück des latenten Inhaltes in eine manifeste Form.‘ § 1908Eigentlich sind wir einem überzeugenden Beispiel von solcher
Bedeutung eines absurden Traumes schon begegnet. Jener ohne Analyse gedeutete Traum von der Wegner-Vorstellung, die bis morgens 5]48 Uhr dauert, bei der das Orchester von einem Turme § 1909r) Die Trauma-beit parodiert also den ihr als lächerlich bezeichneten Gedanken,
indem sie etwas Lächerliches in Beziehung mit ihm erschafft. So ähnlich verführt Heine, wenn er die schlechten Verse des Bayerkönigs verspotten will. Er tut es in noch § 1910schlechteren: _ _
Herr Ludwrg ist ein großer Poet, § 1911Und singt] er, so stürzt Apollo
Vor ihm auf die Knie und bittet und fleht, „Halt ein, ich werde‘sonst toll, oh!“ § 1912§ 1913
,Einzelne Absurdizé‘zten im Traume_ , , _ _.565'
§ 1914aus dirigiert wird usw. (siehe S. 556), will offenbar besagen: Das
ist eine verdrehte Welt und eine verrückte Gesellschaft. Wer's verdient, den triRt es nicht; und wer sich nichts daraus macht, der hat‘s, womit sie ihr Schicksal im Vergleich zu dem ihrer' Cousine meint. — Daß sich uns als Beispiele für die Absurdität der Träume zunächst solche vom toten Vater dargeboten haben, ist auch keineswegs ein Zufall. Hier finden sich die Bedingungen für die Schöpfung absurder Träume in typischer Weise zusammen. Die Autorität, die dem Vater eigen ist, hat frühzeitig die Kritik des Kindes hervorgerufen; die strengen Anforderungen, die er gestellt„ haben das Kind veranlaßt, zu seiner Erleichterung auf jede Schwäche des Vaters scharf zu achten; aber die Pietät, mit der die Person des Vaters besonders nach seinem Tode für unser Denken umgeben ist, verschärft die Zensur, welche die Äuße— rungen dieser Kritik vom Bewußtwerden abdrängt. § 1915IV
§ 1916Ein neuer absurder Traum vom toten Vater:
§ 1917Ich erhalte eine Zuschrift vom Gemeinderat meiner Geburts
stadt, betrgfi‘end die Zahlungskosten für eine Unterbringung im Spital im Jahre 1851, die wegen eines Anfalls bei mir notwendig war. Ich mache mich darüber lustig, denn erstens war ich 1851 noch nicht am Leben, zweitens ist mein Vater, auf den es sich beziehen kann, schon tot. Ich gehe zu ihm ins Nebenzimmer, wo er auf dem Bene liegt und erzähle es ihm. Zu meiner Über— raschung erinnert er sich, daß er damals 1851 einmal betrunken war und eingesperrt oder verwahrt werden mußte. Es war, als er fiir das Haus T. .. gearbeitet. Du hast also auch getrunken, jrage ich. Bald darauf hast du geheiratet? Ich rechne, daß ich ja 1856 geboren bin, was mir als unmittelbar folgend vorkommt. § 1918Die Aufdringlichkeit, mit welcher dieser Traum seine Absurdi-—
täten zur Schau trägt, werden wir nach den letzten Erörterungen nur als Zeichen einer besonders erbitterten und leidenschaftlichen § 1919§ 1920
564 VI . Die Traumarbeit
§ 1921Polemik in den Traumgedanken übersetzen. Mit um so größerer
Verwunderung konstatieren wir aber, daß in diesem Traum die Polemik offen betrieben, und der Vater als diejenige Person be zeichnet ist, die zum Ziele des Gespöttes gemacht wird. Solche Offenheit scheint unseren Voraussetzungen über die Zensur bei der Traumarbeit zu widersprechen. Zur Aufklärung dient aber, daß hier der Vater nur eine vorgeschobene Person ist, während der Streit mit einer anderen geführt wird, die im Traume durch eine einzige Anspielung zum Vorschein kommt. Während sonst der Traum von Auflehnung gegen andere Personen handelt, hinter denen sich der Vater verbirgt, ist es hier umgekehrt; der Vater wird ein Strohmann zur Deckung anderer und der Traum darf darum so unverhüllt sich mit seiner sonst geheiligten Person beschäftigen, weil dabei ein sicheres Wissen mitspielt, daß er nicht in Wirklichkeit gemeint ist. Man erfährt diesen Sachverhalt aus der Veranlassung des Traumes. Er erfolgte nämlich, nachdem ich gehört hatte, ein älterer Kollege, dessen Urteil für unantastbar gilt, äußere sich abfällig und verwundert darüber, daß einer meiner Patienten die psychoanaly'tische Arbeit bei mir jetzt schon ins fünfte Jahr fortsetze. Die einleitenden Sätze des Traumes deuten in durchsichtiger Verhüllung darauf hin, daß dieser Kollege eine Zeitlang die Pflichten übernommen, die der Vater nicht mehr erfüllen konnte (Zahlungskosten, Unterbringung im Spitale); und als unsere freundschaftlichen Beziehungen sich zu lösen be gannen, geriet ich in denselben Empfindungskonflikt, der im Falle einer Mißhelligkeit zwischen Vater und Sohn durch die Rolle und die früheren Leistungen des Vateis erzwungen wird. Die Traum gedanken wehren sich nun erbittert gegen den Vorwurf, daß ich nicht schneller vorwärts komme, der von der Behandlung dieses Patienten her sich dann auch auf anderes erstreckt. Kennt er denn jemanden, der das schneller machen kann? Weiß er nicht, daß Zustände dieser Art sonst überhaupt unheilbar sind und lebenslange dauern? Was sind vier bis fünf Jahre § 1922§ 1923
Die Absurditiit drückt Spott und Hohn aus 565
§ 1924gegen die Dauer eines ganzen Lebens, zumal, wenn dem
Kranken die Existenz während der Behandlung so sehr er— leichtert werden ist? § 1925Das Gepräge der Absurdität wird in diesem Traume zum guten
Teile dadurch erzeugt, daß Sätze aus verschiedenen Gebieten der Traumgedanken ohne vermittelnden Übergang aneinander gereiht werden. So verläßt der Satz: Ich gehe zu ihm ins Neben zimmer usw. das Thema, aus dem die vorigen Sätze geholt sind, und reproduziert getreulich die Umstände, unter denen ich dem Vater meine eigenmächtige Verlobung mitgeteilt habe. Er will mich also an die vornehme Uneigennützigkeit mahnen, die der alte Mann damals bewies, und diese in Gegensatz zu dem Be nehmen eines anderen, einer neuen Person, bringen. Ich merke hier, daß der Traum darum den Vater verspotten darf, weil dieser in den Traumgedanken in voller Anerkennung anderen als Muster vorgehalten wird. Es liegt im Wesen jeder Zensur, daß man von den unerlaubten Dingen das, was unwahr ist, eher sagen darf als die Wahrheit. Der nächste Satz, daß er sich erinnert, einmal betrunken und darum eingesperrt gewesen zu sein, enthält nichts mehr, was sich in der Realität auf den Vater bezieht. Die von ihm gedeckte Person ist hier niemand geringerer als der große —— Meynert, dessen Spuren ich mit so hoher Verehrung gefolgt bin, und dessen Benehmen gegen mich nach einer kurzen Periode der Bevorzugung in unverhüllte Feindseligkeit umschlug. Der Traum erinnert mich an seine eigene Mitteilung, er habe in jungen Jahren einmal der Gewohnheit gefrönt, sich mit Chloroform zu berauschen, und habe darum die Anstalt aufsuchen müssen, und an ein zweites Erlebnis mit ihm kurz vor seinem Ende. Ich hatte einen erbitterten literarischen Streit mit ihm geführt in Sachen der männlichen Hysterie, die er leugnete, und als ich ihn als Totkranken besuchte und nach seinem Befinden fragte, verweilte er bei der Beschreibung seiner Zustände und schloß mit den Worten: „Sie wissen, ich war immer § 1926§ 1927
566 ’ 'VI. Die Traumarbeit
§ 1928einer der schönsten Fälle von männlicher Hysterie.“ So hatte er ‘zu_
meiner Genugtuung und zu meinem Erstaunen zugegeben, wogegen er sich so lange hartnäckig gesträubt. Daß ich aber in dieser Szene des Traumes Meynert durch meinen Vater -verdecken kann, hat seinen Grund nicht in einer zwischen beiden Personen aufgefundenen Analogie, sondern ist die knappe, aber völlig zureichende Dar stellung eines Konditionalsatzes in den Traumgedanken, der aus— führlich lautet: Ja, wenn ich zweite Generation, der Sohn eines Professors oder Hofrats, wäre, dann wäre ich freilich rascher vorwärts gekommen. Im Traume mache ich nun meinen Vater zum Hofrat und Professor. Die gröbste und störendste Absurdität des Traumes liegt in der Behandlung der Jahreszahl 1851, die mir von 1856 gar nicht verschieden vorkommt, als würde die Differenz von fünf Jahren gar nichts bedeuten. Gerade das soll aber aus den Traumgedanken zum Ausdruck gebracht werden. Vier bis fünf Jahre, das ist der Zeitraum, während dessen ich die Unterstützung des eingangs erwähnten Kollegen genoß, aber auch die Zeit, während welcher ich meine Braut auf die Heirat warten ließ, und durch ein zufälliges, von den Traumgedanken gern ausgenütztes Zusammentreffen auch die Zeit, während welcher ich jetzt meinen vertrautesten Patienten auf die völlige Heilung warten lasse. „Was sind fünf Jahre?“ fragen die Traumgedanken. „Das ist für mich keine Zeit, das kommt nicht in Betracht. Ich habe Zeit genug vor mir, und wie jenes endlich geworden ist, was Ihr auch nicht glauben wolltet, so werde ich auch dies zustande bringen.“ Außerdem aber ist die Zahl 51, vom Jahrhundert abgelöst, noch anders, und zwar im gegensätzlichen Sinne determiniert; sie kommt darum auch mehrmals im Trauma vor. 51 ist das Alter, in dem der Mann besonders gefährdet erscheint, in dem ich Kollegen plötzlich habe sterben sehen, darunter einen, der nach langem Harren einige Tage vorher zum Professor ernannt werden war. § 1929§ 1930
Der absurde Goethe—Traum 567
§ 1931V _ . -,
§ 1932Ein anderer absurder Traum, der mit Zahlen spielt.
§ 1933Einer meiner Bekannten, Herr M, ist von keinem Geringeren
als von Goethe in einem Aufsatze angegrifi’e‘n werden, wie wir alle meinen, mit ungerechtfertz'gt großer Heftigkeit. Herr M ist durch diesen Artgrifi' natürlich vernichtet. Er beklagt sich darüber bitter bei einer Tischgeeellschaft; seine Verehrung für Goethe hat? aber unter dieser persönlichen Erfahrung nicht gelitten. Ich suche mir die zeitlichen Verhältnisse, die mir unwahrscheinlich vor. kommen, ein wenig aufzuklären. Goethe ist 1832 gestorben; da sein Angrifir auf M natürlich früher erfolgt sein muß, so war Herr M damals ein ganz junger Mann. Es kommt mir. plausibel vor, daß er achtzehn Jahre alt war. Ich weiß aber nicht sicher, welches Jahr wir gegenwärtig schreiben, und so versinkt die ganze Berechnung im Dunkel. Der ,471ng ist übrigens in dem bekannten Aufsatz von Goethe „Natur“ enthalten. § 1934Wir werden bald die Mittel in der Hand haben, den Blödsinn
dieses Traumes zu rechtfertigen. Herr M., den ich aus einer Tischgesellschaft kenne, hatte 'mich unlängst aufgefordert-, seinen Bruder zu untersuchen, bei dem sich Zeichen von para lytischer Geistesstörung bemerkbar machten. Die Vermutung war richtig; es ereignete sich bei diesem Besuch das Peinliche, daß der Kranke ohne jeden Anlaß im Gespräch den Bruder durch Anspielung auf dessen Jugendstreiche hloßstellte. Den Kranken hatte ich nach seinem Geburtsjahre gefragt und ihn wiederholt zu kleinen Berechnungen veranlaßt, um seine Gedächtnis; schwächung klar zu legen; Proben, die er übrigens noch recht gut bestand. Ich merke schon, daß ich mich im Traume benehme wie ein Paralytiker. (Ich weiß nicht sicher, welches Jahr wir schreiben.) Anderes Material des Traumes stammt aus einer anderen rezenten Quelle. Ein mir befreundeter Re dakteur einer medizinischen Zeitschrift hatte eine höchst un;— gnädige, eine „vernichtende“ Kritik über das letzte Buch § 1935§ 1936
558 V I . Die Traumarbeiz
§ 1937meines Freundes Fl. in Berlin in sein Blatt aufgenommen,
die ein recht jugendlicher und wenig uneilsfa'lüger Referent verfaßt hatte. Ich glaubte, ein Recht zur Einmengung zu haberr‘ und stellte den Redakteur zur Rede, der die Aufnahme der Kritik lebhaft bedauerte, aber eine Remedur nicht versprechen wollte. Daraufhin brach ich meine Beziehungen zur Zeitschrift ab und hob in meinem Absagebriefe die Erwartung hervor, daß unsere persönlichen Beziehungen unter diesem Vorfall nicht leiden würden. Die dritte Quelle dieses Traumes ist die damals frische Erzählung einer Patientin von der psychischen Erkrankung ihres Bruders, der mit dem Ausrufe „Natur, Natur“ in Tob sucht verfallen war. Die Ärzte hatten gemeint, der Ausmf stamme aus der Lektüre jenes schönen Aufsatzes von Goethe und deute auf die Überarbeitung des Erkrankten bei seinen natur— philosophischen Studien. Ich zog es vor, an den sexuellen Sinn zu denken, in dem auch die Mindergebiideten bei uns von der „Natur“ reden, und daß der Unglückliche sich später an den Genitalien verstümmelte, schien mir wenigstens nicht Unrecht zu geben. 18 Jahre war das Alter dieses Kranken, als sich jener Tobsuchtsanfall einstellte. § 1938Wenn ich noch hinzufüge7 daß das so hart kritisierte Buch
meines Freundes („Man fragt sich, ist der Autor verrückt oder ist man es selbst”, hatte ein anderer Kritiker geäußert) sich mit den zeitlichen Verhältnissen des Lebens beschäftigt und auch Goethes Lebensdauer auf ein Vielfaches einer für die Biologie bedeutsamen Zahl zurückführt, so ist es leicht einzusehen, daß ich mich im Traume an die Stelle meines Freundes setze. (Ich Suche mir die zeitlichen Verhältnisse . . . ein wenig auf— zuklären.) Ich benehme mich aber wie ein Paralytiker und der Traum schwelgt in Absurdität. Das heißt also, die Traumgedanken sagen ironisch: „Natürlich, er ist der Narr, der Verrückte, und Ihr seid die genialen Leute, die es besser verstehen. Vielleicht aber doch umgekehrt?“ Und diese Umkehrung ist nun ausgiebig § 1939§ 1940
Analyse des absurden Goethe-Trauma; 569
§ 1941im Trauminhalt vertreten, indem Goethe den jungen Mann an—
gegriffen hat, was absurd ist, während leicht ein ganz junger Mensch noch heute den unsterblichen Goethe angreifen könnte, und indem ich vom Sterbejahre Goethes an rechne, während ich den Paralytiker von seinem Geburtsjahre an rechnen ließ. § 1942Ich habe aber auch versprochen zu zeigen, daß kein Traum
von anderen als egoistischen Regungen eingegeben wird. Somit muß ich rechtfertigen, daß ich in diesem'Traume die Sache meines Freundes zu der meinigen mache und mich an seine Stelle setze. Meine kritische Überzeugung im Wachen reicht hiefür nicht aus. Nun spielt aber die Geschichte des 18jährigen Kranken und die verschiedenartige Deutung seines Ausrufes „Natur“ auf den Gegensatz an, in den ich mich mit meiner Behauptung einer sexuellen Ätiologie für die Psychoneurosen zu den meisten Ärzten gebracht habe. Ich kann mir sagen: So wie deinem Freunde, so wird es auch dir mit der Kritik ergehen, ist dir zum Teil auch bereits so ergangen, und nun darf ich das „Er“ in den Traumgedanken durch ein „Wir“ ersetzen. „Ja, Ihr habt recht, wir zwei sind die Narren.“ Daß „mm res agitur“, daran mahnt mich energisch die Erwähnung des kleinen, unvergleichlich schönen Aufsatzes von Goethe, denn der Vortrag dieses Aufsatzes— in einer populären Vorlesung war es, der mich schwankenden Abiturienten zum Studium der Naturwissenschaft drängte. § 1943VI
§ 1944Ich bin es schuldig geblieben, noch von einem anderen
Traume, in dem mein Ich nicht vorkommt, zu zeigen, daß er egoistisch ist. Ich erwähnte auf S. 971 einen kurzen Traum, daß Professor M. sagt: „Mein Sohn, der Myop . . .“ und gab an, das sei nur ein Vortraum zu einem anderen, in dem ich eine, Rolle spiele. Hier ist der fehlende Haupttraum, der uns eine absurde und unverständliche Wortbildung zur Aufklärung bietet: § 1945Freud, II. 24
§ 1946§ 1947
§ 1948
„Gas-er:: und“ Ungese‘fe‘s" 571
§ 1949Geseres ist nach den Auskünften, die ich mir‘ bei Schrift
gelehrten geholt habe, ein echt hebräisches Wort, abgeleitet von einem Verhum goiser und läßt sich am besten durch „anbefohlene Leiden, Verhängnis“ wiedergeben. Nach der Verwendung des Wortes im Jargon sollte man meinen, es' bedeute „Klagen und Jammern“. Ungeseres ist meine eigenste Worthildung und zieht meine Aufmerksamkeit zuerst auf sich, macht mich aber auch zunächst ratlos. Die kleine Bemerkung zu Ende desTraumes', daß Ungeseres einen Vorzug gegen Geseres bedeute, öffnet den Einf‘ällen und damit dem Verständnis die Pforten. Ein solches Verhältnis findet ja beim Kaviar statt; der ungesalzene wird höher geschätzt als der gesalzene. Kaviar fürs Volk, „noble Passionen“: darin liegt eine schenhafte Anspielung ,an eine der Personen meines Haushaltes verborgen, von der ich hoffe, daß sie, jünger als ich, ,die Zukunft meiner Kinder in acht nehmen wird. Dazu stimmt es dann, daß eine andere Person m'eines Haushaltes, unsere brave Kinderfreu, in der Wär-terin (oder Nonne) vom Traume wohl kenntlich gezeigt wird. Zwischen' dem Paar gesalzen—ungesalzen und Geseres-Ungeseres fehlt es aber noch an einem vermittelnden Übergang. Dieser findet sich in „ge— säuert und ungesäuert“; bei ihrem fluchtartigen Auszug aus Ägypten hatten die Kinder Israels nicht die Zeit, ihren Brotteig gären zu lassen, und essen zur Erinnerung daran noch heute ungesäuertes Brot zur Osterzeit. Hier kann ich auch den plötzlichen Einfall unterbringen, der mir während dieses Stückes der Analyse gekommen ist. Ich erinnerte mich, wie wir in den letzten Oster— tagen, in den Straßen der uns fremden Stadt Breslau herum spazierten, mein Freund aus Berlin und ich. Ein kleines Mädchen fragte mich um den Weg in eine gewisse Straße; ich mußte mich entschuldigen, daß ich ihn nicht wisse, iind äußerte dann zu meinem Freunde: „Hoffentlich beweist die Kleine später im Leben mehr Scharfblick beider Auswahl der Personen, von» denen sie sich leiten läßt.“ Kurz darauf fiel mir ein Schild in die § 1950„»
§ 1951§ 1952
579 VI. Die Traumath
§ 1953Augen: Dr. Herodes, Sprechstunde . . . . ich meinte: „Hoffentlich
ist der Kollege nicht gerade Kinderarzt.“ Mein Freund hatte mir unterdessen seine Ansichten über die biologische Bedeutung der bilateralen Symmetrie entwickelt und einen Satz mit der Ein leitung begonnen: „Wenn wir das eine Auge mitten auf der Stirne trügen wie der Zyklop . . .“ Das führt nun zur Rede des Professors im Vortraum: Mein Sohn, der Myop. Und nun bin ich zur Hauptquelle für das Geseres geführt werden. Vor vielen Jahren, als dieser Sohn des Professors M., der heute ein selb ständiger Denker ist, noch auf der Schulbank saß, erkrankte er an einer Augenafl'ektion, die der Arzt für besorgniserweckend erklärte. Er meinte, solange sie einseitig bleibe, habe sie nichts zu bedeuten, sollte sie aber auch auf das andere Auge über greifen, so wäre es ernsthaft. Das Leiden heilte auf dem einen Auge schadlos ab; kurz darauf stellten sich aber die Zeichen für die Erkrankung des zweiten wirklich ein. Die entsetzte Mutter ließ sofort den Arzt in die Einsamkeit ihres Landaufenthaltes kommen. Der schlug sich aber jetzt auf die andere Seite. „Was machen Sie für Geseres?“ herrschte er die Mutter an. „Ist es auf der einen Seite gut geworden, so wird es auch auf der anderen gut werden.“ Und so ward es auch. § 1954Und nun die Beziehung zu mir und den Meinigen. Die
Schulbank, auf der der Sohn des Professors M. seine erste Weisheit erlernt, ist durch Schenkung der Mutter in das Eigen tum meines Ältesten übergegangen, dem ich im Traume die Abschiedsworte in den Mund lege. Der eine der Wünsche, die sich an diese Übertragung knüpfen lassen, ist nun leicht zu er raten. Diese Schulbank soll aber auch durch ihre Konstruktion das Kind davor schützen, kurzsichtig und einseitig zu werden. Daher im Traum Myop (dahinter Zyklop) und die Erörterungen über Bilateralität. Die Sorge um die Einseitigkeit ist eine mehrdeutige; es kann neben der körperlichen Einseitigkeit die der intellektuellen Entwicklung gemeint sein. Ja, scheint es § 1955§ 1956
Tollheiz und Tiefsinn des Trauma 575
§ 1957nicht, daß die Traumszene in ihrer Tollheit gerade dieser Sorge
widerspricht? Nachdem das Kind nach der einen Seite hin sein Abschiedswort gesprochen, ruft es nach der anderen hin das Gegenteil davon, wie um das Gleichgewicht herzustellen. Es handelt gleichsam in Beachtung der bilateralen Sym— metrie! § 1958So ist der Traum oft am tiefsinnigsten, wo er am»tollsten er
scheint. Zu allen Zeiten pflegten die, welche etwas zu sagen hatten und es nicht gefahrlos sagen konnten, gerne die Narren-v kappe aufzusetzen. Der Hörer, für den die untersagte Rede be-‘ stimmt war, duldete sie eher, wenn er dabei lachen und sich mit dem Urteil schmeicheln konnte, daß das Unliebsame offenbar etwas Närrisches sei. Ganz so wie in Wirklichkeit der Traum, verfährt im Schauspiel der Prinz, der sich zum Narren verstellen muß, und darum kann man auch vom Traume aussagen, was Hamlet, wobei er die eigentlichen Bedingungen durch witzig unverständliche ersetzt, von sich behauptet: „Ich bin nur toll bei Nord-Nord-West; weht der Wind aus Süden, so kann ich einen Reiher von einem Falken unterscheiden.“x § 1959Ich habe also das Problem der Absurdität des Traumes dahin
aufgelöst, daßdie Traumgedanken niemals absurd sind — wenigstens nicht von den Träumen geistesgesunder Menschen —- und daß die Traumarbeit absurde Träume und Träume mit einzelnen absurden Elementen produziert, wenn ihr in den Traumgedanken Kritik, Spott und Hohn zur Darstellung in ihrer Ausdrucksform ‘ vorliegt. Es liegt mir nun daran zu zeigen, daß die Traumarbeit überhaupt durch das Zusammenwirken der drei erwähnten § 1960;) Dieser Traum gibt auch ein gutes Beispiel für den allgemein'gültigen Satz,
daß die Träume derselben Nacht, wenngleich in der Erinnerung getrennt. auf dem Boden des männlichen Gedankenmaterials erwachsen sind. Die Traumsituution, daß ich meine Kinder aus der Stadt Rom flüchte, ist übrigens durch die Bücklzeziehung auf einen analogen, in meine Kindheit fallenden Vorgang entstellt, Der Sinn ist, daß ich Verwandte heneide, denen sich bereits vor vielen Jahren ein Anlaß geboten hat, ihre Kinder auf einen anderen Boden zu versetzen. § 1961§ 1962
574; ' VI. “Die Trauniarbeit
§ 1963Momente -——- und eines vierten noch zu erwähnenden — erschöpft
ist, daß sie sonst nichts» leistet als eine Übersean der Traum gedanken unter Beachtung der vier ihr vorgeschriebenen Be— dingungen, und daß die Frage, ob die Séele im Traume niit all ihren“ geistigen Fähigkeiten arbeitet oder nur mit einem Teile derselben, schief gestellt ist und an den tatsächlichen Verhältnissen abgleitet. Da es aber reichlich Träume gibt, in deren Inhalt ge— urteilt, kritisiert und anerkannt wird, in denen Verwunderung über ein einzelnes Element des Traumes auftritt, Erklärungsversuche gemacht und Argumentationen ,angestellt werden, muß ich die Einwendungen, die aus solchen Vorkommnissen .ch ableiten, an ausgewählten Beispielen erledigen. § 1964Meine Erw'iclerung lautet: Alles, was sich als scheinbare
§ 1965Betätigung der Urteilsfunktion in den Träumen vor—
ifindet, ist nicht etwa als Denkleistung der Traumarbeit atifzufassen, sondern gehört dem Material der Traum .fgedanken an und ist von dorther als fertiges Gebilde in 'den manifesten Trauminhalt gelangt. Ich kann meinen Satz zunächst noch überbieten. Auch von den Urteilen, die man nach dem Erwachen»über den erinnerten Traum fällt, den Empfindungen, die die Reproduktion dieses Traumes in uns hervor ruft, gehört ein guter Teil. dem latenten Trauminhalt an und ist in die Deutung des Traumes einzufügen. § 1966I) Ein auffälliges Beispiel hiefür “habe ich bereits angeführt.
Eine Patientin will ihren Traum nicht erzählen, weil er zu unklar ist. Sie hat eine Person im Trau.me gesehen, und weiß nicht, ob es der Mann oder der Vater war. Dann folgt ein zweites Traumstück, in dem ein „Misttrügerl“, vorkommt, an das folgende Erinnerung sich anschließt. Als junge Hausfrau äußerte sie einmal schemhaft vor einem jungen Verwandten, der im Hause verkehrte, daß ihre nächste Sorge die Anschaffung eines neuen Misttrügerls sein müsse. Sie bekam am nächsten Morgen ein solches zugeschickt, das aber.mit Maiglöckchen ge § 1967§ 1968
Keine Urteilsleismng im Trauma 575
§ 1969füllt war. Dieses Stück Traum dient der Darstellung der Reden'sé
art „Nicht auf meinem eigenen Mist gewachsen“. Wenn man die Analyse vervollständigt, erfährt man, daß es sich inxden Traumgedanken um die Nachwirkung einer in der Jugend ge’a hörten Geschichte handelt, daß einvMädChen ein Kind bekommen; von dem es— unklar war, wer eigentlich der Vater sei. Die Traumdarstellung greift also hier ins Wachdenken über und läßt eines der Elemente der Traumgedanken durch ein im Wachen gefälltes Urteil über den ganzen Traum vertreten sein. .“ § 1970ID Ein ähnlicher Fall: Einer meiner Patienten hat. einen
Traum, der ihm interessant vorkommt, denn er sagt sich un— mittelbar nach dem Erwachen: Das muß ich dem Doktor er zählen. Der Traum wird analysiert und ergibt die deutlichsten Anspielungen auf ein Verhältnis, das er während der Behandlung begonnen, und von dem er sich vorgenommen hatte, mir nichts zu erzählen. [536] § 1971III) Ein drittes Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung.
§ 1972Ich gehe mit P. durch eine Gegend, in der Häuser und
Gärten vorkommen, ins Spital. Dabei die Idee, daß ich diese Gegend schon mehrmals im Trauma gesehen habe. Ich kenne mich nicht sehr gut aus; er zeigt mir einen Weg, der durch eine Ecke in eine Restauration führt (Saal, nicht Garten),- dort frage ich nach Frau Dani und höre, sie wohnt im Hintergrunde in einer kleinen Kammer mit drei Kindern. Ich gehe hin und trqfie schon vorher eine undeutliche Person mit meinen zwei kleinen Mädchen, die ich dann mit mir nehme, nachdem ich eine Weile mit ihnen gestanden bin. Eine Art Vorwurf gegen meine Frau, daß sie sie dort gelassen. < § 1973Beim Erwachen fühle ich dann große Befriedigung, die
ich damit motiviere, daß ich jetzt aus der Analyse erfahren werde, was es bedeutet: Ich habe schon davon geträumt.’ § 19741) Ein Thema, über welches sich eine weitläufige Diskussion in den letzten Jahr
gängen der „Revue philosophique“ angespannen hat (Puamnesle im Trauma). § 1975§ 1976
576 VI. Die Traumarbeiz
§ 1977Die Analyse lehrt mich. aber nichts darüber; sie zeigt mir nur,
daß die Befriedigung zum latenten Trauminhalt und nicht zu einem Urteile über den Traum gehört. Es ist die Befriedigung darüber, daß ich in meiner Ehe Kinder bekommen habe. P. ist eine Person, mit der ich ein Stück weit im Leben den gleichen Weg gegangen bin, die mich dann sozial und materiell weit überholt hat, die aber in ihrer Ehe kinderlos geblieben ist. Die beiden Anlässe des Traumes können den Beweis durch eine voll— ständige Analyse ersetzen. Tags zuvor las ich in der Zeitung die Tod'esanzeige einer Frau“ Dona A . . y (woraus ich Duni mache), die im Kindbett gestorben; ich hörte von meiner Frau, daß die Verstorbene von derselben Hebamme gepflegt worden sei wie sie selbst bei unseren beiden Jüngsten. Der Name Dana war mir aufgefallen, denn ich hatte ihn kurz vorher in einem engli$cheri Romane zum erstenmal gefunden. Der andere Anlaß des Traumes ergibt sich aus dem Datum desselben; es war die Nacht vor dem Geburstage meines ältesten,'wie es Scheint, dichte— risch begabten Knaben. § 1978IV) Dieselbe Befriedigu'ng verbleibt mir nach dem Erwachen
aus dem absurden_Traum, daß der Vater nach seinem Tode eine politische Rolle bei den Magyaren gespielt, und motiviert sich durch die Fortdauer der Empfindung, die den letzten Satz des Traumies begleitete: „Ich erinnere mich daran, daß er auf dem T atenbett Garibaldi so ähnlich gesehen, und freue mich darüber, daß es doch wahr geworden ist . . . (Dazu eine vergess'ene Fort setzung.) Aus der Analyse kann ich nun einsetzen, was in diese Traumlücke gehört. Es ist die Erwähnung meines zweiten Knaben, dem ich den Vornamen einer großen historischen Persönlichkeit gegeben habe, die mich in den Knabenjahren, besonders seit meinem Aufenthalte in England, mächtig angezogen. Ich hatte das Jahr der Erwartung über den Vorsatz, gerade diesen Namen zu verwenden, wenn es ein Sohn würde, und begrüßte mit ihm hoch befriedigt schon den eben Geborenen. Es ist leicht zu § 1979§ 1980
Übergreifzn'der Traumarbeit ins Wachen 577
§ 1981merken, wie die unterdrückte 'Größensucht des Vaters sich in
seinen Gedanken auf die Kinder überträgt; ja man wird gerne glauben, daß dies einer der Wege ist, auf denen die im Leben notwendig gewordene Unterdrückung derselben vor sich geht. Sein Anrecht, in den Zusammenhang dieses Traumes aufgenommen zu werden, erwarb, der Kleine dadurch, daß ihm damals der nämliche — beim Kind und beim Sterbenden leicht verzeih liche —— Unfall 'widerfahren war, die Wäsche zu beschmutzen. Vergleiche hiezu die Anspielung „Stuhlrichter“ und den Wunsch des Traumes: Vor seinen Kindern groß und rein da zustehen. § 1982V) Wenn ich nun Urteilsäußernngen, die im Traum selbst
verbleiben, sich nicht ins Wachen fortsetzen oder sich dahin ver legen, heraussuchen soll, so werde ich’s als große Erleichterung empfinden, daß ich mich hiefür solcher Träume bedienen darf, die bereits in anderer Absicht mitgeteilt worden sind. Der Traum von Goethe, der Herrn M. angegriffen hat, scheint eine ganze Anzahl von Urteilsakten zu enthalten. Ich Suche mir die zeit— lichen Verhältnisse, die mir unwahrscheinlich vorkom men, ein wenig aufzuklären. Sieht das nicht einer kritischen Regung gegen den Unsinn gleich, daß Goethe einen jungen Mann meiner Bekanntschaft literarisch angegriffen haben soll? „Es kommt mir plausibel vor, daß er 18 Jahre alt war.“ Das klingt doch ganz wie das Ergebnis einer allerdings schwach— sinnigen Berechnung; und „Ich weiß nicht sicher, welches Jahr wir schreiben“, wäre ein Beispiel von Unsicherheit oder Zweifel im Traum. § 1983Nun weiß ich aber aus der Analyse dieses Traumes, daß diese
scheinbar erst im Traume vollzogenen Urteilsakte in ihrem Wort— laute eine andere Auffassung zulassen, durch welche sie für die Traumdeutung unentbehrlich werden und gleichzeitig jede Ab— surdität vermieden wird. Mit dem Sat2e: „Ich suche mir die zeitlichen Verhältnisse ein wenig aufzuklären“, setze ich § 1984§ 1985
578 ‘ " VI. Die Traur'narbeii' „
§ 1986mich an die:Stelle meines Freundeä„ der wirklich die zeitlichen
Verhältnisse des Lebens aufzuklären sucht.. Der Satz verliert hiemit die Bedeutung eines‘Urteils—, welches sich gegen den Unsinn der ,vorhergehenden Sätze -sträubL—‘Die Einschaltung, „die ,mir unwahrscheinlich vorkommt“, gehört zusaminen mit dem späteren „Es kommt niit 'plausibel vor“. Ungefähr mit den gleiehen Written habe, ich- der' Dame, -die mir die Kranken— geschichte ihres Bruders erzählte, erwider‘t: „Es kommt mir un— wahrscheinlich v'or, daß der -Ausnif ,Natur, Natur‘,‘ etwas mit Goethe zd tun hatte: es ist mir viel plausibler, daß er die Ihnen bekannte sexuelle Bedeutung gehabt hat.“ Es ist hier allerdings ein Urteil gefällt werden, aber nicht im Traum, sondern in der Realität, bei.einer Veranlassimg, die von den Traum gedanken erinnert und verWertet wird. Der Trauminhalt eignet sich dieses Urteil„ an wie irgendein anderes Bruchstück der Traumgedanken„ ' ‘ ' Ü ‘ ’ § 1987Die Zahl 18, mit der das Urteil im Traume unsinnigerweise
in Verbindung gesetzt ist, bewahrt noch die Spur des Zusammen ’hanges, aus deni das reale Urteil gerissen wurde. Endlich, daß „ich'nitzht sicher bin, welches Jahr wir schreiben“, soll nichts anderes «als meine' Identifizierung mit dem Paralytiker durchsetzen, ,in dessen Examen sich dieser eine Anhaltspunkt Wirklich ergeben hatte. § 1988Bei der Auflösung der scheinbaren Urteilsakte des Traumes
kann man sich an die eingangs gegebene Regel für die Aus fühmng der Deutungsarbeit mahnen lassen, daß man den im Traume hergestellten Zusammenhang der Traumbestandteile als einen u'nwesentliéhen Schein beiseite lassen und jedes Traum— element für sich der Zurückführung unterziehen möge. Der Traum ist ein Konglomerat, das für die Zwecke der Untersuchung wieder zerhröckelt werden 5011. Man wird aber anderseits auf— merksam gemacht, daß sich in deli Träumen eine psychische Kraft äußert, welche diesen scheinbilren Zusammenhang herstellt, § 1989§ 1990
Amcheinende Schlußfolgen im? Traum:_ 7 579
§ 1991also das durch die Träumarbeit gewonnene Material einer sekun—‘
dären Bearbeitung untenieht. Wir haben hier Äußerungen jener Macht vor uns, die wir als das vierte der bei der Traumbildung beteiligten Momente später würdigen werden. ' § 1992VI ) Ich Suche nach anderen Beispielen von Urteilsarbeit in den
bereits mitgeteilten Träumen. In dem absurden Traum von der Zuschrift des Gemeinderates frage ich: Bald darauf hast du geheiratet? Ich rechne, daß ich ja 1856 geboren bin, was mir unmittelbar folgend vorkommt. Das kleidet sich ganz in die Form einer Schlußfolge. Der Vater hat bald nach dem Anfall im Jahre 1855 geheiratet; ich bin ja der Älteste, 1856 geboren; also das stimmt. Wir wissen, daß dieser Schluß durch die Wunscherfüllung verfälscht ist, daß der in den Traumgedanken herrschende Satz lautet: vier oder fünf Jahre, das ist kein Zeitraum, das ist nicht zu rechnen. Aber jedes Stück dieser Schlußfolge ist nach Inhalt wie nach Form aus den Traumgeé danken anders zu determinieren: Es ist der Patient, über dessen Geduld der Kollege sich beschwert, der unmittelbar nach Beendigung der Kur zu heiraten gedenkt. Die Art, wie ich mit dem Vater im Traume verkehre, erinnert an ein Verhör oder ein Examen, und damit an einen Universitätslehrer, der in der Inskriptiony stunde ein vollständiges Nationale aufzunehmen pflegte:- Geboren, wann? 1856; — Patm? Darauf sagte man den Vornamen des Vaters mit lateinischer Endung, und wir Studenten nahmen an, der Hofrat ziehe aus dem Vornamen des Vaters Schlüsse, die ihm der Vorname des Inskribierten nicht jedesmal gestattet hätte. Somit wäre das Schlußziehen des Traumes nur die Wieden holung des Schlußziehen$, das als ein Stück Material in den Traumgedanken auftritt. Wir erfahren hieraus etwas Neues? Wenn im Trauminhalte ein Schluß vorkommt, so kommt eria sicherlich aus den Traumgedanken; in diesen mag er aber ent halten sein als ein Stück des erinnerten Materials oder er kann als logisches Band eine Reihe von Traumgedanken miteinander § 1993§ 1994
580 V I . Die Traimuzrbeit
§ 1995verknüpfen. In jedem Falle stellt der Schluß im Trauma einen
Schluß aus den Traumgedanken darf § 1996Die Analyse dieses Traumes wäre hier fortzusetzen. An das
Verhör des Professors reiht sich die. Erinnerungnin den (zu meiner Zeit lateinisch abgefaßten) Index des Universitätsstudenten. Ferner an meinen Studiengang. Die fünf Jahre, die für das medizinische Studium vorgesehen sind, waren wiederum zu wenig für mich. Ich arbeitete unbekümmert in weitere Jahre hinein, und im Kreise meiner Bekannten hielt man mich für verburnmelt, zweifelte man, daß ich „fertig“ werden würde. Da entschloß ich mich schnell, meine Prüfungen zu machen, und wurde doch fertig: trotz des Aufschuhs. Eine neue Verstärkung der Traumgedanken, die ich meinen Kritikern trotzig entgegenhalte. „Und wenn ihr es auch nicht glauben wollt, weil ich mir Zeit lasse; ich werde doch fertig, ich komme doch zum Schluß. Es ist schon oft so gegangen.“ § 1997Demelbe Traum enthält in seinem Anfangsstück einige Sätze,
denen man den Charakter einer Argumentation nicht gut ab sprechen kann. Und diese Argumentation ist nicht einmal absurd, sie könnte ebensowohl dem wachen Denken angehören. Ich mache mich im Traume über die Zuschrift des Gemeinde— rates lustig, denn erstens war ich 1851 noch nicht auf der Welt, zweitens ist mein Vater, auf den es sich be— ziehen kann, schon tot. Beides ist nicht nur an sich richtig, sondern deckt sich auch völlig mit den wirklichen Argumenten, die ich im Falle einer derartigen Zuschrift in Anwendung bringen würde. Wir wissen aus der früheren Analyse (S. 565), daß dieser Traum auf dem Boden von tief erbitterten und hohngetränkten Traumgedanken erwachsen ist; wenn wir außerdem noch die § 1998{) Diese Ergebnisse korrigieren in einigen Punkten meine friiheren Angaben über
die Darstellung der logischenfielationen (5.511). Letztereheschreihen das allgemeine Verhalten der Trauma-beit, berücksichtigen aber nicht die feinsten und sorgfältigsten Leistungen derselben. § 1999§ 2000
Analyse einer absurden Rechnung 581
§ 2001Motive zur Zensur als recht starke annehmen dürfen, so werden
wir verstehen, daß die Traumarbeit eine tadellose Widerlegung einer unsinnigen Zumutung nach dem in den Traumge— danken enthaltenen Vorbild zu schaffen allen Anlaß hat. Die Analyse zeigt uns aber, daß der Traumarbeit hier doch keine freie Nachschöpfung auferlegt werden ist, sondern daß Material aus den Traumgedanken dazu verwendet werden mußte. Es ist, als kämen in einer algebraischen Gleichung außer den Zahlen ein + und —, ein Potenz- und ein Wurzelzeichen vor, und jemand, der diese Gleichung abschreibt, ohne sie zu verstehen, nähme die Operationszeichen wie die Zahlen in seine Abschrift hinüber, Würfe aber dann beiderlei durcheinander. Die beiden Argumente lassen sich auf folgendes Material zurückführen. Es ist mir peinlich zu denken, daß manche der Voraussetzungen, die ich meiner psychologischen Auflösung der Psychoneurosen zu— grunde lege, wenn sie erst bekannt geworden sind, Unglauben und Gelächter hervorrufen werden. So muß ich behaupten, daß bereits Eindrücke aus dem zweiten Lebensjahr, mitunter auch schon aus dem ersten, eine bleibende Spur im Gemütslehen der später Kranken zurücklassen und — obwohl von der Erinnerung vielfach verzerrt und übertrieben — die erste und unterste Be gründung für ein hysterisches Symptom abgeben können. Patienten, denen ich dies an passender Stelle auseinandersetze, pflegen die neugewonnene Aufklärung zu parodieren, indem sie sich bereit erklären, nach Erinnerungen aus der Zeit zu suchen, da sie noch nicht am Leben waren. Eine ähnliche Aufnahme dürfte nach meiner Erwartung die Aufdeckung der ungeahnten Rolle finden, welche bei weiblichen Kranken der Vater in den frühesten sexuellen Begungen spielt. (Vgl. die Auseinandersetzung S. 258.) Und doch ist nach meiner gut begründeten Überzeugung beides wahr. Ich denke zur Bekräftigung an einzelne Beispiele, bei denen der Tod des Vaters in ein sehr frühes Alter des Kindes fiel, und spätere sonst unerklärbare Vorfälle bewiesen, daß das Kind doch § 2002§ 2003
582 7 7 7 : VI; Die Trauma-beit
§ 2004Erinnerungean die ihm so früh entschwundene Person un
bewußt bewahrt hatte. Ich weiß, daß meine beiden Behauptungen auf Schlüssen beruhen, deren, Gültigkeit man aufechten wird. Es ist also eine Leistung der Wunscherfüllung, wenn gerade das Material dieser Schlüsse, deren Beanständung ich fürchte, von der Traumarbeit zur Herstellung einwandfreier Schlüsse ver wendet wird. § 2005VII) In einem Traume, den ich bisher nur gestreift habe,
wird eingangs die Verwunderung über das auftauchende Thema deutlich ausgesprochen. § 2006„Der alte Brücke muß mir irgendeine Aufgabe gestellt haben;
sonderbwr genug bezieht sie sich auf Präparation meines eigenen Untergestells, Becken und Beine, das ich vor mir sehe wie im Seziersaal, doch ohne den Mangel am Körper zu spüren, auch ohne Spur von Grauen. Louise N. steht dabei ,und macht die Arbeit mit mir. Das Becken ist ausgeweidet, man sieht bald die obere, bald die untere Ansicht desselben, was sich vermengt. Dicke, fleischrote Knollen (bei denen ich noch im Traume an Hämor— rhoiden denke) sind zu sehen. Auch mußte etwas sorgfältig aus geklaubt werden, was darüber lag und zerknülltern Silberpapier glich.‘ Dann war ich wieder im Besitz meiner Beine und machte einen Weg durch die Stadt, nahm aber (aus Müdigkeit) einen Wagen. Der Wagen fuhr zu meinem Erstaunen in ein Haustor hinein, das sich öffnete und ihn durch einen Gang passieren ließ, der am Ende abgeknickt, schließlich weiter ins Freie führte.2 Schließlich wanderte ich mit einem alpinen Führer, der meine Sachen trug, durch wechselnde Landschaften. Auf einer Strecke trug er mich mit Rücksicht auf meine milden Beine. Der Baden war sumpfi ,- wir gingen am Rand hin,- Leute saßen am Boden, ein Mädchen unter ihnen, wie Indianer oder Zigeuner. Värher hatte ich § 2007l) S!anniol, Anspielung auf Stannius, Nervensystem der Fische, vgl. S. 54.5.
2) Die Ürtlichkeit im Flur meines Wohnhauses, wo die Kinderwagen der Parteien neben; sonst aber mehrfach überhestimmt. § 2008§ 2009
Verwu'ndcmng im Trüinne 585
§ 2010auf dem schlüpfrigen Boden mich selbst weiter bewegt unter steter
Verwanderung, daß ich es nach der Präparation so gut. kann; Endlich kamenwir zu einem kleinen Holzhaus, das in ein ofl'ene.i Fenster ausging. Dort setzte mich der Führer ab und legte zwei bereit std1ende Halzbretter auf das Fensterbrett, um so den Ab“ grund zu überbrüeken, der'vorfi Fenster aus zu überschreiten war. Ich bekam jetzt wirklich Angst für meine Beine. Anstatt des erwarteten Überganges sah ich aber zwei erwachsene Männer auf Holzbänken liegen, die an den Wänden der Hütte waren, und wie zwei Kinder schlafend neben ihnen. Als ob nicht die Bretter, sondern die Kinder den Übergang ermöglichen sollten. Ich erwache mit Gedankenschreck. § 2011Wer sich nur‘einmsl einen ordentlichen Eindruck von der
Ausgiebigkeit der Traumverdichtung geholt hat, der wird sich leichtvorstellen können, welche Anzahl von Blättern die aus; führliche Analyse dieses Traumes einnehmen muß. Zum Glück für den Zusammenhang entlehne ich dem Trauma aber bloß das eine Beispiel für die Verwunclerung im Traum, die sich in der Einschaltung „sonderbar genug“ kundgibt. Ich gehe auf den Anlaß des Traumes ein. Es ist ein Besuch jener Dame Louise N.; die auch im Traum der Arbeit assis'tiert. „Leib mir etwas zum Lesen.“ Ich biete ihr „She“ von Rider Haggard an. „Ein sonderbares Buch, aber voll von verstecktem Sinn“, will icli ihr auseinandersetzen; „das ewig Weibliche, die Unsterblichkeit unserer Affekte. —- -—“ Da unterbricht sie mich: „Das kenne ich! schon. Hast du nichts Eigenes?“ —— „Nein, meine eigenenfun-‘ sterblichen Werke sind noch nicht geschrieben.“ — „Also wenn? erscheinen denn deine sogenannten letzten Aufklärungen, die wie du versprichst, auch für uns lesbar sein werden?“ fragt sie etwas anzüglich. Ich merke jetzt, daß mich ein anderer durch» ihren Mund mahnen läßt und verstumme. Ich denke an die Überwindung, die es mich kostet, auch nur die Arbeit über den! Traum, in der ich soviel vclm eigenen intimen Wesen preisgeberi § 2012§ 2013
584 VI. Die Traumarbeit
§ 2014muß, in die Öffentlichkeit zu schicken. „Das Beste, was du
wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.“ Die Präparation am eigenen Leib, die mir im Traume aufgetragen wird, ist also die mit der Mitteilung der Träume verbundene Selbstanalyse. Der alte Brücke kommt mit Recht hiezu; schon in diesen ersten Jahren wissenschaftlicher Arbeit traf es sich, daß ich einen Fund liegen ließ, bis sein energischer Auftrag mich zur Veröffentlichung zwang. Die weiteren Gedanken aber, die sich an die Unterredung mit Louise N. anspinnen, greifen zu tief, um bewußt zu werden; sie erfahren eine Ablenkung über das Material, das in mir nebstbei durch die Erwähnung der „She“ von Rider Haggard geweckt worden ist. Auf dieses Buch und auf ein zweites desselben Autors, „Heart of the world“, geht das Urteil „sonderbar genug“, und zahlreiche Elemente des Traun-res sind den beiden phantastischen Romanen entnommen. Der sumpfige Boden, über den man getragen wird, der Abgrund, der mittels der mitgebrachten Bretter zu überschreiten ist, stammen aus der „She“; die Indianer, das Mädchen, das Holzhaus aus „Heart of the world“. In beiden Romanen ist eine Frau die Führerin, in beiden handelt es sich um gefährliche Wanderungen, in She um einen abenteuerlichen Weg ins Unentdeckte, kaum je Betretene. Die milden Beine sind nach einer Notiz, die ich bei dem Traume finde, reale Sensation jener Tage gewesen. Wahrscheinlich entsprach ihnen eine müde Stimmung und die zweifelnde Frage: Wie weit werden mich meine Beine noch tragen? In der „She“ endet das Abenteuer damit, daß die Führerin, anstatt sich und den anderen die Unsterblichkeit zu holen, im geheimnisvollen Zentralfeuer den Tod findet. Eine solche Angst hat sich unverkennbar in den Traumgedanken geregt. Das „Holzhaus“ ist sicherlich auch der Sarg, also das Grab. Aber in der Darstellung dieses unerwünschtesten aller Ge danken durch eine Wunscherfüllung hat die Traumarbeit ihr Meisterstück geleistet. Ich war nämlich schon einmal in einem § 2015§ 2016
„ Gedankenschreck“ 555
§ 2017Grabe, aber es war ein ausgeräumtes Etruskergrab bei Orvieto,
eine schmale Kammer mit zwei Steinbänken an den Wänden, auf denen die Skelette von zwei Erwachsenen gelagert waren. Genau so sieht das Innere des Holzhauses im Trauma aus, nur ist Stein durch Holz ersetzt. Der Traum scheint zu sagen: „Wenn du schon im Grabe weilen sollst, so sei es das Etruskergra ,“ und mit dieser Unterschieng verwandelt er die traurigste 'Er— wart.qu in eine recht erwünschte. Leider kann er, wie wir hören werden, nur die den Affekt begleitende Vorstellung in ihr Gegenteil verkehren, nicht immer auch den Affekt selbst. So wache ich denn mit „Gedankenschreck“ auf, nachdem sich mich die Idee Darstellung erzwungen, daß vielleicht die Kinder erreichen werden, was dem Vater versagt geblieben, eine neuer— liche Anspielung an den sonderbaren Roman, in dem die Identität einer Person durch eine Generationsreihe von zweitausencl Jahren festgehalten wird. § 2018VIII ) In dem Zusammenhang eines anderen Traumes findet
sich gleichfallslain Ausdruck der Verwundemng über das im Traume Erlebte, aber verknüpft mit einem so auffälligen] weit hergeholten und beinahe geistreichen Erklärungsversuche, daß ich bloß seinetwegen den ganzen Traum der Analyse unterwerfen müßte, auch wenn der Traum nicht noch zwei andere Anziehungs punkte für unser Interesse besäße. Ich reise in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli auf der Südbahnstrecke und. höre im Schlaf: „Hollthurn, zehn Minuten“ ausrufen. Ich denke sofort an Holo thurien — ein naturhistorisches Museum — daß hier ein Ort ist, wo sich tapfere Männer erfolglos gegen die Übermaßht ihres Landesherrn gewahrt haben. — Ja, die Gegenreformation in Österreich! — Als ob es ein Ort in Steiermark oder Tirol wäre. Nun sehe ich undeutlich ein kleines Museum, in dem die Reste oder Erwerbungen dieser Männer aufbewahrt werden. Ich möchte aussteigen, verzögert; es aber. Es stehen Weiber mit Obst auf dem Perron, sie kauern auf dem Boden und halten die Körbe so ein § 2019Freud. ". 25
§ 2020§ 2021
586 VI. Die Traumarbeit
§ 2022ladend hin. — Ich habe gezögert aus Zweifel, ob wir noch Zeit
haben, und jetzt stehen wir noch immer. _ Ich bin plötzlich in einem anderen Coupé, in dem Leder und Sitze so schmal sind, daß man mit dem Rücken direkt an die Lehrte stößt.‘ Ich wun dere mich darüber, aber ich kann ja im schlafenden Zu stande umgestiegen sein. Mehrere Lane, darunter ein englisches Geschwisterpaar; eine Reihe Bücher deutlich auf einem Gestell an der Wand. Ich sehe „Wealth of nations“, „Matter and Motion“ (von Maxwell), dick und in braune Leinwand gebunden. Der Mann fragt die Schwester nach einem Buch von Schiller, ob sie das vergessen hat. Es sind die Bücher bald wie die meinen, bald die der beiden. Ich möchte mich da bestätigend oder unterstützend § 2023ins Gespräch menge): —— — —. Ich wache, am ganzen Körper
schwitzend auf, weil alle Fenster geschlossen sind. Der Zug hält in Marburg. § 2024Während der Niederschrift fällt mir ein Traumstück ein, das
die Erinnerung übergeben wollte. Ich sage dem Geschwisterpaare auf ein gewisses Werk: It is from . . ., korrigiere mich aber: It is by . . . Der Mann bemerkt zur Schwester: Er hat es ja richtig gesagt. § 2025Der Traum beginnt mit dem Namen der Station, der mich
wohl unvollständig geweckt haben muß. Ich ersetze diesen Namen, der Marburg lautete, durch Hollthurn. Daß ich Marburg beim ersten oder vielleicht bei einem späteren Ausrufen gehön habe, beweist die Erwähnung Schillers im Traum, der ja in Marburg, wenngleich nicht im steirischen, geboren ist. [E 37] Nun reiste ich diesmal, obwohl erster Klasse, unter sehr unangenehmen Verhältnissen. Der Zug war überfüllt, in dem Coupé hatte ich einen Herrn und eine Dame eingetroffen, die sehr vornehm schienen und nicht die Lebensart besassen oder es nicht der § 2026]) Diese Beschreibung ist fiir mich selbst nicht verständlich, aber ich folge dem
Gnmdsatie, den Traum in jenen Worten wieda-zugeben, die mir beim Nieder schreiben einfallen Die Wonfassung ist selbst ein Stück der Treumdarstellung. § 2027§ 2028
Ein Erklärungsversuch im Traum 587
§ 2029Mühe wert hielten, ihr Mißvergnügen über den Eindringling
irgendwie zu verbergen. Mein höflicher Gruß wurde nicht er widert; obwohl Mann und Frau nebeneinander saßen (gegen die Fahrtrichtung), beeilte sich die Frau doch, den Platz ihr gegenüber am Fenster vor meinen Augen mit einem Schirm zu belegen; die Türe wurde sofort geschlossen, demonstrative Reden über das Öffnen der Fenster gewechselt. Wahrscheinlich sah man mir den Lufthunger bald an. Es war eine heiße Nacht und die Luft im allseitig geschlossenen Coupé bald zum Ersticken. Nach meinen Reiseerfahrungen kennzeichnet ein so rücksichtslos übergreifendes Benehmen Leute, die ihre Karte nicht oder nur halb bezahlt haben. Als der Kondukteur kam und ich mein teuer erkauftes Billet vorzeigte, tönte es aus dem Munde der Dame unnahbar und wie drohend: Mein Mann hat Legitimation. Sie war eine stattliche Erscheinung mit mißvergnüg'ten Zügen, im Alter nicht weit von der Zeit des Verfalls weiblicher Schönheit; der Mann kam überhaupt nicht zu Worte, er saß regungslos da. Ich ver— suchte zu schlafen. Im Traum nehme ich fürchterliche Rache an meinen unliebenswürdigen Reisegefährten; man würde nicht ahnen, welche Beschimpfungen und Demütigungen sich hinter den nbgerissenen Brocken der ersten Traumhälfte verbergen. Nachdem dies Bedürfnis befriedigt war, machte sich der zweite Wunsch geltend, das Coupé zu wechseln. Der Traum wechselt so oft die Szene, und ohne daß der mindeste Anstoß an der Veränderung genommen wird, daß es nicht im geringsten auffällig gewesen wäre, wenn ich mir alsbald meine Reisegesellschaft durch eine angenehmere aus meiner Erinnerung ersetzt hätte. Hier aber tritt ein Fall ein, daß irgend etwas den Wechsel der Szene beanst‘a'ndete und es für notwendig hielt, ihn zu erklären. Wie kam ich plötz lich in ein anderes Coupé? Ich konnte mich doch nicht erinnern, umgestiegen zu sein. Da gab es nur eine Erklärung: ich mußte irn schlafenden Zustande den Wagen verlassen haben, ein seltenes Vorkommnis, wofür aber doch die Erfahrung des § 2030z-;'
§ 2031§ 2032
588 V I , Die Traumarbeit
§ 2033Neuropathologen Beispiele liefert. Wir wissen von Personen, die
Eisenbahnfahrten in einem Dämmenustand unternehmen, ohne durch irgendein Anzeichen ihren abnormen Zustand zu verraten, bis sie an irgendeiner Station der Reise voll zu sich kommen und dann die Lücke in ihrer Erinnerung bestaunen. Für einen solchen Fall von „Aulomatisme ambulaloire“ erkläre ich also noch im Traume den meinigen. § 2034Die Analyse gestattet, eine andere Auflösung zu geben. Der
Erklärungsversuch, der mich so frappiert, wenn ich ihn der Traumarbeit zuschreiben müßte, ist nicht originell, sondern aus der Neurose eines meiner Patienten kopiert. Ich erzählte bereits an anderer Stelle von einem hochgebildeten und im Leben weich— herzigen Manne, der kurz nach dem Tode seiner Eltern begann, sich mörderischer Neigungen anzuklagen, und nun unter den Vorsichtsmaßregeln litt, die er zur Sicherung gegen dieselben treffen mußte. Es war ein Fall von schweren Zwangsvorstellungen bei voll erhaltener Einsicht. Zuerst wurde ihm das Passieren der Straße durch den Zwang verleidet, sich von allen Begegnenden Rechenschaft abzulegen, wohin sie verschwunden seien; entzog sich einer Plötzlich seinem verfolgenden Blick, so blieb ihm die peinliche Empfindung und die Möglichkeit in Gedanken, er könnte ihn beseitigt haben. Es war unter anderem eine Kainsphantasie dahinter, denn „alle Menschen sind Brüder“. Wegen der Un— möglichkeit, diese Aufgabe zu erledigen, gab er das Spazierengehen auf und verbrachte sein Leben eingekerkert zwischen seinen vier Wänden. In sein Zimmer gelangten aber durch die Zeitung be ständig Nachrichten von Mordtaten, die draußen geschehen Waren, und. sein Gewissen wollte ihm in der Form des Zweifels nahe legen, daß er der gesuchte Mörder sei. Die Gewißheit, daß er ja seit Wochen seine Wohnung nicht verlassen habe, schützte ihn eine Weile gegen diese Anklagen, bis ihm eines Tages die Möglichkeit durch den Sinn fuhr, daß er sein Haus im be— wußtlosen Zustand verlassen und so den Mord begangen haben § 2035§ 2036
Ein Erklärungsversuch im Traum 589
§ 2037könne, ohne etwas davon zu wissen. Von da an schloß er die
Haustür ab, übergab den Schlüssel der alten Haush'a'lterin und verbot ihr eindringlich, denselben auch nicht auf sein Verlangen in seine Hände gelangen zu lassen. § 2038Daher stammt also der Erklämngsversuch, daß ich im bewußt
losen Zustande umgestiegen bin, ——- er ist aus dem Material der Traumgedanken fertig in den Traum eingetragen worden und soll im Traume offenbar dazu dienen, mich mit der Person jenes Patienten zu identifizieren. Die Erinnerung an ihn wurde in mir durch naheliegende Assoziation geweckt. Mit diesem Manne hatte ich' einige Wochen vorher die letzte Nachtreise gemacht. Er war geheilt, begleitete mich in die Provinz zu seinen Verwandten, die mich beliefen; wir hatten ein Coupé für uns, ließen alle Fenster die Nacht hindurch offen und hatten uns, so lange ich wach blieb, vortrefllich unterhalten. Ich wußte, daß feindseligei Impulse gegen seinen Vater aus seiner Kindheit in sexuellem Zusammen— hange die Wurzel seiner Erkrankung gewesen waren. Indem ich mich also mit ihm identifizierte, wollte ich mir etwas Analoges eingestehen. Die zweite Szene des Traumes löst sich auch wirklich in eine überrnütige Phantasie auf, daß meine beiden ältlichen Reisegefährten sich darum so abweisend gegen mich benehmen, weil ich sie durch mein Kommen an dem beabsichtigten nächt lichen Austausch von Zärtlichkeiten gehindert habe. Diese Phantasie aber geht auf eine frühe Kinderszene zurück, in der das Kind, wahrscheinlich von sexueller Neugierde getrieben, in das Schlaf— zimmer der Eltern eindringt und durch des Machtwort des Vaters daraus vertrieben wird. § 2039Ich halte es für überflüssig, weitere Beispiele zu häufen. Sie
würden alle nur bestätigen, was wir aus den bereits angeführten entnommen haben, daß ein Urteilsakt im Traume nur die Wieder holung eines Vorbildes aus den Traumgedanken ist. Zumeist eine übel angebrachte, in unpassendem Zusa.mmenhange eingefügte Wiederholung, gelegentlich aber, wie in unseren letzten Bei— § 2040§ 2041
590 V I. Die Traumarbeit
§ 2042spielen, eine so geschickt verwendete, daß man zunächst den
Eindruck einer selbständigen Denktätigkeit im Trauma empfangen kann. Von hier aus könnten wir unser Interesse jener psychischen Tätigkeit zuwenden, die zwar nicht regelmäßig bei der Traum hildung mitzuwirken scheint, die aber, wo sie es tut, bemüht ist, die nach ihrer Herkunft disparaten Traumelemente widempmchs frei und sinnvoll zu verschmelzen. Wir empfinden es aber vorher noch als dringlich, uns mit den Affektäußerungen zu beschäftigen, die im Traum auftreten, und dieselben mit den Affekten zu ver— gleichen, welche die Analyse in den Traumgedanken aufdeckt. § 2043G
Die Afiekte im Traume § 2044Eine scharfsinnige Bemerkung von Stricker hat uns auf
merksam gemacht, daß die Affektäußerungen des Traumes nicht die geringschätzige Art der Erledigung gestatten, mit der wir erwacht den Trauminhalt abzüschütteln pflegen: „Wenn ich mich im Traume vor Räubem fürchte, so sind die Räuber zwar imaginär, aber die Furcht ist real“, und ebenso geht es, wenn ich mich im Traume freue. Nach dem Zeugnis unserer Empfindung ist der im Traume erlebte Affekt keineswegs minderwertig gegen den im Wachen erlebten von gleicher Intensität, und energischer als mit seinem Vorstellungsinhalte, erhebt der Traum mit seinem Affektinhalt den Anspruch, unter die wirklichen Erlebnisse unserer Seele aufgenommen zu werden. Wir bringen diese Einreihung nun im Wachen nicht zustande, weil wir einen Affekt nicht anders psychisch zu würdigen verstehen, als in der Verknüpfung mit einem Vorstellungsinhalte. Passen Affekt und Vorstellung der Art und der Intensität nach nicht zueinander, so wird unser waches Urteil irre. § 2045An den Träumen hat immer Verwunderung erregt, daß Vor—
stellungsinhalte nicht die Affektwirku.ng mit sich bringen, die wir § 2046§ 2047
Die Afi'ekle im Traum 591
§ 2048als notwendig im wachen Denken erwarten würden. Strümpell
äußerte, im Traume seien die Vorstellungen von ihren psychischen Werten entblößt. Es fehlt im Trauma aber auch nicht am gegen teiligen Vorkommen, daß intensive Affektäußerung bei einem Inhalte auftritt, der zur Entbindung von Affekt keinen Anlaß zu bieten scheint. Ich bin im Traume in einer gräßlichen, gefahr vollen, ekelhaften Situation, verpüre aber dabei nichts von Furcht oder Abscheu; hingegen entsetze ich mich andere Male über harmlose, und freue mich über kindische Dinge., § 2049Dieses Rätsel des Traumes verschwindet uns so plötzlich und
so vollständig wie vielleicht kein anderes der Traumrätsel, wenn wir vom manifesten Trauminhalt zum latenten übergehen. Wir werden mit seiner Erklärung nichts zu schaffen haben, denn es besteht nicht mehr. Die Analyse lehrt uns, daß die Vor stellungsinhalte Verschiebungen und Ersetzungen er fahren haben, während die Affekte unverrückt geblieben sind. Kein Wunder, daß der durch die Traumentstellung veränderte Vorstellungsinhalt zum erhaltengebliebenen Affekt dann nicht mehr paßt; aber auch keine Verwunderung mehr, wenn die Analyse den richtigen Inhalt an seine frühere Stelle eingesetzt hat. [5 38] § 2050An einem psychischen Komplex, welcher die Beeinflussung der
Widerstandszensur erfahren hat, sind die Affekte der resistente Anteil, der uns allein den Fingerzeig zur richtigen Ergänzung geben kann. Deutlicher noch als beim Traum enthüllt sich dies, Verhältnis bei den Psychoneurosen. Der Affekt hat hier immer Recht, wenigstens seiner Qualität nach; seine Intensität ist ja durch Verschiebungen der neurotischen Aufmerksamkeit zu steigern. Wenn der Hysteriker sich wundert, daß er sich vor einer Kleinig— keit so sehr fürchten muß, oder der Mann mit: Zwangsvor stellungen, daß ihm aus einer Nichtigkeit ein so peinlicher Vor— wurf erwächst, so gehen beide irre, indem sie den Vorstellungs— inhalt —. die Kleinigkeit oder die Nichtigkeit —— für das Wesent § 2051§ 2052
592 VI. Die Tranmarbeit
§ 2053liche nehmen, und sie wehren sich erfolglos, indem sie diesen
Vorstellungsinhalt zum Ausgangspunkt ihrer Denkarbeit machen. Die Psychoanalyse zeigt ihnen dann den richtigen Weg, indem sie im Gegenteile den Affekt als berechtigt anerkennt, und die zu ihm gehörige, durch eine Ersetzung verdrängte Vorstellung aufsucht. Voraussetzung ist dabei, daß Alfektentbindung und Vor— stellungsinhalt nicht diejenige unauflösbare organische Einheit bilden, als welche wir sie zu behandeln gewöhnt sind, sondern daß beide Stücke aneinander gelötet sein können, so daß sie durch Analyse voneinander lösbar sind. Die Traumdeutung zeigt, daß dies in der Tat der Fall ist. § 2054Ich bringe zuerst ein Beispiel, in dem die Analyse das schein
bare Ausbleiben des Affekts bei einem Vorstellungsinhalte auf— klärt, der Affektentbindung erzwingen sollte. § 2055I
§ 2056Sie sieht in einer Wüste drei Löwen, von denen einer lacht,
fürchtet sich aber nicht vor ihnen. Dann muß sie doch vor ihnen geflüchtet sein, denn sie will auf einen Baum klettern, findet aber ihre Cousine, die französische Lehrerin ist, schon oben usw. § 2057Dazu bringt die Analyse folgendendes Material: Der indifferente
Anlaß zum Traum ist ein Satz ihrer englischen Aufgabe ge worden: Die Mähne ist der Schmuck des Löwen. Ihr Vater trug einen solchen Bart, der wie eine Mähne das Gesicht um— rahmte. Ihre englische Sprachlehrerin heißt Miß Lyons (Lions = Löwen). Ein Bekannter hat ihr die Balladen von Loewe zu geschickt. Das sind also die drei Löwen, warum sollte sie sich vor ihnen fürchten? —— Sie hat eine Erzählung gelesen, in welcher ein Neger, der die anderen zum Aufstand aufgehetzt, mit Blut hunden gejagt wird und zu seiner Rettung auf einen Baum klettert. Dann folgen in übermütigster Stimmung Erinnerungs brocken wie die: Die Anweisung, wie man Löwen fängt, aus den „Fliegenden Blättern“: Man nehme eine Wüste und siehe sie § 2058§ 2059
Das 1115beer envarteter Ajfekte 595
§ 2060durch, dann bleiben die Löwen übrig. Ferner die höchst lustige,
aber nicht sehr anständige Anekdote von einem Beamten, der gefragt wird, warum er sich denn nicht um die Gunst seines Chefs ausgiebiger bemühe, und der zur Antwort gibt, er habe sich wohl bemüht da hineinzukriechen, aber sein Vordermann war schon oben. Das ganze Material wird verständlich, wenn man erfährt, daß die Dame am Traumtage den Besuch des Vor— gesetzten ihres Mannes empfangen hatte. Er war sehr höflich mit ihr, küßte ihr die Hand, und sie fürchtete sich gar nicht vor ihm, obwohl er ein sehr „grosses Tier" ist und in der Haupt stadt ihres Landes die Rolle eines „Löwen der Gesellschaft“ spielt. Dieser Löwe ist also vergleichbar dem Löwen im Sommer— nachtstraum, der sich als Schnock, der Schreiner, demaskiert, und so sind alle Traumlöwen, vor denen man sich nicht fürchtet. § 206111
§ 2062Als zweites Beispiel ziehe ich den Traum jenes Mädchens heran,
das den kleinen Sohn der Schwester als Leiche im Sarg liegen sah, dabei aber, wie ich jetzt hinzufüge, keinen Schmerz und keine Trauer verspürte. Wir wissen aus der Analyse, warum nicht. Der Traum verhüllte nur ihren Wunsch, den geliebten Mann wiedelzusehen, der Affekt mußte auf den Wunsch abgestimmt sein und nicht auf dessen Verhüllung. Es war also zur Trauer gar kein Anlaß. § 2063In einer Anzahl von Träumen bleibt der Affekt wenigstens
noch in Verbindung mit jenem Vorstellungsinhalte, welcher den zu ihm passenden ersetzt hat. In anderen geht die Auflockeruug des Komplexes weiter. Der Aflekt erscheint völlig gelöst von seiner zugehörigen Vorstellung, und findet sich irgendwo anders im Traume untergebracht, wo er in die neue Anordnung der Traum elemente hineinpaßt. Es ist dann ähnlich, wie wir’s‘ bei den Urteilsakten des Traumes erfahren haben. Findet sich in den Traumgedanken ein bedeutsamer Schluß, so enthält auch der § 2064§ 2065
594 VI. Die Traumarbeit
§ 2066Traum einen solchen; aber der Schluß im Traume kann auf ein
ganz anderes Material verschoben sein. Nicht selten erfolgt diese § 2067Verschiebung nach dem Prinzip der Gegensätzlichkeit.
Die letztere Möglichkeit erläutere ich an folgendem Traum beispiele, das ich der erschöpfendsten Analyse unterzogen habe. § 2068III
§ 2069Ein Schloß am Meere, später liegt es nicht direkt am Meer,
sondern an einem schmalen Kanal, der ins Meer führt. Ein Herr P. ist der Gouverneur. Ich stehe mit ihm in einem großen drei fenstrigen Salon, vor dem sich Mauervorspriinge wie Festung& zinnen erheben. Ich bin etwa als freiwilliger Marineofjizier der Besatzung zugeteilt. Wir befürchten das Eintrefl‘en von feindlichen Kriegsschzfl'en, da wir uns im Kriegszustande befinden. Herr P. hat die Absicht wegzugehen; er erteilt mir Instruktionen, was in dem hefürchteten Falle zu geschehen hat. Seine kranke Frau be findet sich mit den Kindern im gefährdeten Schlosse. PVenn das Bombardement beginnt, soll der große Saal geräumt werden. Er atmet schwer und will sich entfernen,— ich halte ihn zurück und frage, auf welche Weise ich ihm nötigenfalls Nachricht zukommen lassen soll. Darauf sagt er noch etwas, sinkt aber gleich darauf tot um. Ich habe ihn wohl mit den Fragen überflüssigerweise angestrengt. Nach seinem Tode, der mir weiter keinen Eindruck macht, Gedanken, ob die Witwe im Schlosse bleiben wird, ob ich dem Oberkommando den Tod anzeigen und als der nächste im Befehl die Leitung des Schlosses übernehmen soll. Ich stehe nun am Fenster und mustere die vorbezfahrenden Schifi‘e; es sind Kauffahrer, die auf dem dunklen Wasser rapid uorbeisausen, einige mit mehreren Kaminen, andere mit bauschiger Decke (die ganz ähnlich ist, wie die Bahnhofsbauten im [nicht erzählten] Vor— traum). Dann steht mein Bruder neben mir und wir schauen beide aus dem Fenster auf den Kanal. Bei einem Schiß" erschrecken wir und rufen: Da kommt das Kriegsschif. Es zeigt sich aber, § 2070§ 2071
Ablösung und Umtellung der Aß'ekte 595
§ 2072daß nur dieselben Schifl'e zurückkehren, die ich schon kenne. Nun
kommt ein kleines Sehizfi komisch abgeschnitten, so daß es mitten in seiner Breite endigt; auf Deck sieht man eigentümliche becker oder dosenartige Dinge. FVir rufen wie aus einem Munde: Das ist das F rühstücksschzlzf § 2073Die rasche Bewegung der Schiffe, das tiefdunkle Blau des
Wassers, der braune Rauch der Kamine, das alles ergibt zusammen einen hochgespannten, düsteren Eindruck. § 2074Die Örtlichkeiten in diesem Traume sind aus mehreren Reisen
an die Adria zusammengetragen (Miramare, Duino, Venedig, Aquileja). Eine kurze, aber genußreiche Osterfahrt nach Aquileja mit meinem Bruder, wenige Wochen vor dem Traume, war mir noch in frischer Erinnerung. Auch der Seekrieg zwischen Amerika und Spanien und an ihn geknüpfte Besorgnisse um das Schicksal meiner in Amerika lebenden Verwandten spielen mit hinein. An zwei Stellen dieses Traumes treten Affektwirkungen hervor. An der einen Stelle bleibt ein zu erwartender Affekt aus, es wird ausdrücklich hervorgehoben, daß mir der Tod des Gouverneurs keinen Eindruck macht; an einer anderen Stelle, wie ich das Kriegsschiff zu sehen glaube, erschrecke ich und verspüre im Schlaf alle Sensationen des Schreckens. Die Unter bringung der Afl'ekte ist in diesem gut gebauten Traum so erfolgt, daß jeder auffällige Widerspruch vermieden ist. Es ist ja kein Grund, daß ich beim Tode des Gouverneurs erschrecken sollte, und es ist wohl angebracht, daß ich als Kommandant des Schlosses bei dem Anblicke des Kriegsschiffes erschrecke. Nun weist aber die Analyse nach, daß Herr P. nur ein Ersatzmann für mein eigenes Ich ist (im Traum bin ich sein Ersatzmann). Ich bin der Gouverneur, der plötzlich stirbt. Die Traumgedanken handeln von der Zukunft der Meinigen nach meinem vorzeitigen Tode. Kein anderer peinlicher Gedanke findet sich in den Traumgedanken. Der Schreck, der im Traume an den Anblick des Kriegsschiffes gelötet ist, muß von dort losgemacht und hieher gesetzt werden. § 2075§ 2076
596 VI. Die Traumarbeit
§ 2077Umgekehrt zeigt die Analyse, daß die Region der Traumgedanken,
aus der das Kriegsschiff- genommen ist, mit den heitersten Re miniszenzen erfüllt ist. Es war ein Jahr vorher in Venedig, wir standen an einem zauberhaft schönen Tag an den Fenstern unseres Zimmers auf der Riva Schiavoni und schauten auf die blaue Lagune, in der heute mehr Bewegung zu finden war als sonst Es wurden englische Schiffe erwartet, die feierlich emp fangen werden sollten, und plötzlich rief meine Frau heiter wie ein Kind: „Da kommt das englische Kriegsschiff!“ Im Traume erschrecke ich bei den nämlichen Worten:, wir sehen wieder, daß Rede im Traum von Rede im Leben abstamrnt. Daß auch das Element „englisch“ in dieser Rede für die Traumarbeit nicht verloren gegangen ist, werde ich alsbald zeigen. Ich ver— kehre also hier zwischen Traumgedanken und Trauminhalt Fröhlichkeit in Schreck und brauche nur anzudeuten, daß ich mit dieser Verwandlung selbst ein Stück des latenten Trauminhaltes zum Ausdruck bringe. Das Beispiel beweist aber, daß es der Traum arbeit freisteht, den Afl'ektanlaß aus seinen Verbindungen in den Traumgedanken zu lösen und beliebig anderswo im Trauminhalte einzufügen. § 2078Ich ergreife die nebsthei sich bietende Gelegenheit, das „Früh—
stücksschiff“, dessen Erscheinen im Traume eine rationell fest gehaltene Situation so unsinnig abschließt, einer näheren Analyse zu unterziehen. Wenn ich das Traumohjekt besser ins Auge fasse, so fällt mir nachträglich auf, daß es schwarz war und durch sein Abschneiden in seiner größten Breite an diesem Ende eine weit gehende Ähnlichkeit mit einem Gegenstand erzielte, der uns in den Museen etruskischer Städte interessant geworden war. Es war dies eine rechteckige Tasse aus schwarzem Ton, mit zwei Henkeln, auf der Dinge wie Kaffee- oder Teetassen standen, nicht ganz unähnlich einem unserer modernen Service für den F rühstückstisch. Auf Befragen erfuhren wir, das sei die Toilette einer etruskischen Dame mit den Schminke— und Puderbüchsen § 2079§ 2080
Ablösung der Afl'zkte von den Vorstellungen 397
§ 2081darauf; und wir sagten uns im Scherz, es wäre nicht übel, so
ein Ding der Hausfrau mitzubringen. Das Traumobjekt bedeutet also —— schwarze Toilette, Trauer und spielt direkt auf einen Todesfall an. Mit dem anderen Ende mahnt das Traumobjekt an den „Nachen“ vom Stamme vém’g, wie mein sprachgelehrter Freund mir mitgeteilt, auf den in Vorzeiten die Leiche gelegt und dem Meer zur Bestattung überlassen wurde. Hieran reiht sich, warum im Traume die Schifl°e zurückkehren. § 2082„Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis.“
§ 2083Es ist die Rückfahrt nach dem Schiffbruch, das Frühstücks
schiff ist ja wie in seiner Breite abgebrochen. Woher aber der Name „Frühstücks“schiff? Hier kommt nun das „Englische“ zur Verwendung, das wir bei den Kriegsschiffen erübrigt haben. Frühstück = breakfast, Fastenbrecher. Das Brechen gehört wieder zum Schiffbruch, das Fasten schließt sich der schwarzen Toilette an. § 2084An diesem Frühstücksschiffe ist aber nur der Name vom
Traume neugebildet. Das Ding hat existiert und mahnt mich an eine der heitersten Stunden der letzten Reise. Der Verpflegung in Aquileja mißtrauend, hatten wir uns von Görz Eßwaren mit— genommen, eine Flasche des vorzüglichen lstrianer Weines in Aquileja eingekauft, und während der kleine Postdampfer durch den Kanal delle Mee langsam in die öde Lagunenstrecke nach Grade fuhr, nahmen wir, die einzigen Passagiere, in heiterster Laune auf Deck das Frühstück ein, das uns schmeckte wie selten eines zuvor. Das war also das „Frühstücksschiff“, und gerade hinter dieser Reminiszenz frohesten Lebensgenusses verbirgt der Traum die betrübendsten Gedanken an eine unbekannte und un heimliche Zukunft. § 2085Die Ablösung der Affekte von den Vorstellungsmassen, die ihre
Entbindung hervorgerufen haben, ist das Auffälligste, was ihnen bei der Traumbildung wideriährt, aber weder die einzige noch die wesentlichste Veränderung, die sie auf dem Wege von den § 2086§ 2087
598 VI. Die Traumarbeiz
§ 2088Traumgedanken zum manifesten Traum erleiden. Vergleicht man
die Affekte in den Traumgedanken mit denen im Traume, so wird eines sofort klar: Wo sich im Trauma ein Alfekt findet, da findet er sich auch in den Traumgedanken, aber nicht um— gekehrt. Der Traum ist im allgemeinen affektärmer als das psychische Material, aus dessen Bearbeitung er hervorgegangen ist. Wenn ich die Traumgedanken rekonstruiert habe, so übersehe ich, wie in ihnen regelmäßig die intensivsten Seelenregungen nach Geltung ringen, zumeist im Kampfe mit anderen, die ihnen scharf zuwiderlaufen. Blicke ich dann auf den Traum zurück, so finde ich ihn nicht selten farblos, ohne jeden intensiveren Gefühls ton. Es ist durch die Traumarbeit nicht bloß der Inhalt, sondern 3 auch oft der Gefühlston meines Denkens auf das Niveau des ‘ Indifferenten gebracht. Ich könnte sagen, durch die Traumarbeit wird eine Unterdrückung der Affekte zustande gebracht. Man nehme z. B. den Traum von der botanischen Monographie. Ihm entspricht im Denken ein leidenschaftlich bewegtes Plaidoyer für meine Freiheit, so zu handeln, wie ich handle, mein Leben so einzurichten, wie es mir einzig und allein richtig scheint. Der daraus hervorgegangene Traum klingt gleichgültig: Ich habe eine Monographie geschrieben, sie liegt vor mir, ist mit farbigen Tafeln versehen, getrocknete Pflanzen sind jedem Exemplare bei— gelegt. Es ist wie die Ruhe eines Leichenfeldes, man verspürt nichts mehr vom Toben der Schlacht. § 2089Es kann auch anders ausfallen, in den Traum selbst können
lebhafte Affektäußerungen eingehen; aber wir wollen zunächst bei der unbestreitbaren Tatsache verweilen, daß so viele Träume in different erscheinen, während man sich in die Traumgedanken nie ohne tiefe Ergriffenheit versetzen kann. § 2090Die volle theoretische Aufklärung dieser Afiektunterdrückung
während der Traumarbeit ist hier nicht zu geben; sie würde das sorgfältigste Eindringen in die Theorie der Affekte und in den Mechanismus der Verdrängung voraussetzen. Ich will nur zwei § 2091§ 2092
Unterdrückung und Auflzebung der Afi‘ekze 599
§ 2093Gedanken hier eine Erwähnung gönnen. Die Affektenthindung
bin ich —- aus anderen Gründen — genötigt, mir als einen zentrifugalen, gegen das Körperinnere gerichteten Vorgang vor zustellen, analog den motorischen und sekretorischen Innervations— vorgängen. Wie nun im Schlafzustande die Aussendung motorischer Impulse gegen die Außenwelt aufgehoben erscheint, so könnte auch die zentrifugale Erweckung von Affekten durch das unhewußte Denken während des Schlafes erschwert sein. Die Affektregungen, die während des Ablaufes der Traumgedanken zustande kommen, wären also an und für sich schwache Regungen, und darum die in den Traum gelangenden auch nicht stärker. Nach diesem Gedankengange wäre die „Unterdrückung der Affekte“ überhaupt kein Erfolg der Trauma-beit, sondern eine Folge des Schlafzu Standes. Es mag so sein, aber es kann unmöglich alles sein. Wir müssen auch daran denken, daß jeder zusammengesetztere Traum sich auch als das Kompromißergebnis eines Widerstreites psychischer Mächte enthüllt hat. Einerseits haben die wunschbildenden Ge danken gegen den Widerspruch einer zensurierenden Instanz anzukämpfen, anderseits haben wir oft gesehen, daß im unbe wußten Denken selbst ein jeder Gedankenzug mit seinem kontra diktorischen Gegenteil zusammengespannt war. Da alle diese Gedankenzüge affektfa‘hig sind, so werden wir im ganzen und groben kaum irre gehen, wenn wir die Affektunterdrückung auf— fassen als Folge der Hemmung, welche die Gegensätze gegen-, einander und die Zensur gegen die von ihr unterdrückten Strebungen übt. Die Affekthemlnung wäre dann der zweite . Erfolg der Traumzensur, wie die Traumentstellung deren erster war. § 2094Ich will ein Traumbeispiel einfügen, in dem der indiiferente
Empfindungston des Trauminhaltes durch die Gegensätzlichkeit in den Traumgedanken aufgeklärt werden kann. Ich habe folgenden kurzen Traum zu erzählen, den jeder Leser mit Ekel zur Kenntnis nehmen wird: . § 2095§ 2096
400 VI. Die Traumarbeif
§ 2097IV
§ 2098Eine Anhöhe, auf dieser etwas wie ein Aber! im Freien, eine
sehr lange Bank, an deren Ende ein großes Abortluch. Die ganze hintere Kante dicht besetzt mit Hi'z'ufchen Kot von allen Größen und Stufen der Frische. Hinter der Bank ein Gebüsch. Ich uri niere auf die Bank,- ein langer Harnstrahl spült alles rein, die Kotpzztzen lösen sich leicht ab und fallen in die Öflnung. Als ob am Ende nach etwas übrig bliebe. § 2099Warum empfand ich bei diesem Träume keinen Ekel?
§ 2100Weil, wie die Analyse zeigt, an dem Zustandekommen dieses
Traumes die angenehmsten und befriedigendsten Gedanken mit gewirkt hatten. Mir fällt in der Analyse sofort der Augiasstall ein, den Herkules reinigt. Dieser Herkules bin ich. Die Anhöhe und das Gebüsch gehören nach Aussee, wo jetzt meine Kinder weilen. Ich habe die Kindheitsätiologie der Neurosen aufgedeckt und dadurch meine eigenen Kinder vor Erkrankung bewahrt. Die Bank ist (bis auf das Aburtloch natürlich) die getreue Nachahmung eines Möbels, das mir eine anhängliche Patientin zum Geschenk gemacht hat. Sie mahnt mich daran, wie meine Patienten mich ehren. ,la selbst das Museum menschlicher Exkremente ist einer herzerfreuenden Deutung fähig. So sehr ich mich dort davor ekle, im Traume ist es eine Reminiszenz an das schöne Land Italien, in dessen kleinen Städten bekanntlich die W. C. nicht anders ausgestattet sind. Der Harnstrahl, der alles rein abspült, ist eine unverkennbare Größenanspielung. So löscht Gulliver bei den Liliputanern den großen Brand; er zieht sich dadurch allerdings das Mißfallen der allerkleinsten Königin zu. Aber auch Gargantua, der Übermensch bei Meister Rabelais, nimmt»so seine Rache an den Parisern, indem er auf Notre-Dame reitend seinen Harnstrahl auf die Stadt richtet. In den Garnierschen Illustrationen zum Rabelais habe ich gerade gestern vor dem Schlafengehen ge blättert. Und merkwürdig wieder ein Beweis, daß ich der Über mensch bin! Die Plattform von Notre-Dame war mein Lieblings— § 2101§ 2102
Ein afl‘ektloxer Ekzltraum 40 1
§ 2103aufenthalt in Paris; jeden freien Nachmittag pflegte ich auf den
Türmen der Kirche zwischen den Ungetümen und Teufelsfratzen dort herumzuklettern. Daß aller Kot vor dem Strahle so rasch verschwindet, das ist das Motto: Flavit et dissipati sam, mit dem ich einmal den Abschnitt über Therapie der Hysterie überschreiben werde. [E 39] § 2104Und nun die wirksame Veranlassung des Traumes. Es war ein
heißer Nachmittag im Sommer gewesen, ich hatte in den Abend stunden meine Vorlesung über den Zusammenhang der Hysterie mit den Perversionen gehalten, und alles, was ich zu sagen wußte, rnißfiel mir so gründlich, kam mir alles Wertes entkleidet vor. Ich war müde, ohne Spur von Vergnügen an meiner schweren Arbeit, sehnte mich weg von diesem Wühlen im menschlichen Schmutz, nach meinen Kindern und dann nach den Schönheiten Italiens. In dieser Stimmung ging ich vom Hörsaal in ein Café, um dort in freier Luft einen bescheidenen Imbiß zu nehmen, denn die Eßlust hatte mich verlassen. Aber einer meiner Hörer ging mit mir; er bat um die Erlaubnis, dabei zu sitzen, während ich meinen Kaffee trank und an meinem Kipfel würgte, und begann mir Schmeicheleien zu sagen. Wieviel er bei. mir gelernt, und daß er jetzt alles mit anderen Augen ansehe, daß ich den Augiasstall der Irrtümer und Vorurteile in der Neurosenlehre gereinigt, kurz daß ich ein sehr großer Mann sei. Meine Stimmung paßte schlecht zu seinem Lobgesang; ich kämpfte mit dem Ekel, ging früher heim, um mich los zu machen, blätterte noch vor dem Schlafengehen im Rabelais und las eine Novelle von C. F. Meyer „Die Leiden eines Knaben“. § 2105Aus diesem Material war der Traum hervorgegangen, die No
velle von Meyer brachte die Erinnerung an Kindheitsszenen hinzu (vgl. den Traum vom Grafen Thun, letztes Bild). Die Tages stimmung von Ehe] und Überdruß setzte sich im Traume insofern durch, als sie fast sämtliches Material für den Trauminhalt bei stellen durfte. Aber in der Nacht wurde die ihr gegensätzliche § 2106Freud. II. 26
§ 2107§ 2108
402 VI. Die Traumarbeit
§ 2109Stimmung von kräftiger und selbst übermäßiger Selbstbetonung
rege und hob die erstere auf. Der Treuminhalt mußte sich so gestalten, daß er in demselben Material dem Kleinheitswahn wie der Selbstübelschätzung den Ausdruck ermöglichte. Bei dieser Kompromißbildung resultierte ein zweideutiger Trauminhalt, aber auch durch gegenseitige Hemmung der Gegensätze ein indifferenter Empfindungston. § 2110Nach der Theorie der Wunscherfüllung wäre dieser Traum
nicht ermöglicht werden, wenn nicht der gegensätzliche, zwar unterdrückte, aber mit Lust betonte Gedankenzug des Größen wahnes zu dem des Ekels hinzugetreten wäre. Denn Peinlichtä soll im Traume nicht dargestellt werden; das Peinliche aus unseren Tagesgedanken kann nur dann den Eintritt _in den Traum er ringen, wenn es seine Einkleidung gleichzeitig einer Wunsch erfüllung leiht. § 2111Die Traumarbeit kann mit den Affekten der Traumgedanken
noch etwas anderes vornehmen, als sie zuzulassen oder zum Null punkt herabzudrücken. Sie kann dieselben in ihr Gegenteil verkehren. Wir haben bereits die Deutungsregel kennen gelernt, daß jedes Element des Traumes für die Deutung auch sein Gegenteil darstellen kann, ebensowohl wie sich selbst. Man weiß nie im vorhinein, ob das eine oder das andere zu setzen ist; erst der Zusammenhang entscheidet hierüber. Eine Ahnung dieses Sachverhaltes hat sich offenbar dem Volksbewußtsein aufgedrängt; die Traumbücher verfahren bei der Deutung der Träume sehr häufig nach dem Prinzip des Kontrastes. Solche Verwandlung ins Gegenteil wird durch die innige assoziative Verkettung ermöglicht, die in unserem Denken die Vorstellung eines Dinges an die ihres Gegensatzes fesselt. Wie jede andere Verschiebung dient sie den Zwecken der Zensur, ist aber auch häufig das Werk der Wunsch erfüllung, denn die Wunscherfüllung besteht ja in nichts anderem als in der Ersetzung eines unhebsamen Dinges durch sein Gegen— teil. Ebenso wie die Dingvorstellungen können also auch die Afiekte § 2112§ 2113
Afektunterdriickung und Afi'ektverlwhmng 405
§ 2114der Traumgedanken im Traume ins Gegenteil verkehrt erscheinen,
und es ist wahrscheinlich, daß diese Affektverkehrung zumeist von der Traumzensur bewerkstelligt wird. Affektunterdrückung wie Affektverkehrung dienen ja auch im sozialen Leben, das uns die geläufige Analogie zur Traumzensur gezeigt hat, vor allem der Verstellung. Wenn ich mündlich mit der Person verkehre, vor der ich mir Rücksicht aufm-legen muß, während ich ihr Feindseliges sagen möchte, so ist es beinahe wichtiger, daß ich die Äußerungen meines Affekts vor ihr verberge, als daß ich die Wortfassung meiner Gedanken mildere. Spreche ich zu ihr in nicht unhöflichen Worten, begleite diese aber mit einem Blick oder einer Geberde des Hasses und der Verachtung, so ist die Wirkung, die ich bei dieser Person erziele, nicht viel anders, als wenn ich ihr meine Verachtung ohne Schonung ins Gesicht ge— warfen hätte. Die Zensur heißt mich also vor allem meine Affekte unterdrücken, und wenn ich ein Meister in der Verstellung bin, werde ich den entgegengesetzten Affekt heucheln, lächeln, wo ich zürnen, und mich zärtlich stellen, wo ich vernichten möchte. Wir kennen bereits ein ausgezeichnetes Beispiel solcher Afl'ekt— verkehrung im Traum im Dienste der Traumzensur. Im Traum „von des Onkels Bart“ empfinde ich große Zärtlichkeit für meinen Freund R., während und weil die Traumgedanken ihn einen Schwachkopf schelten. Aus diesem Beispiele von Verkehrung der Affekte haben wir uns den ersten Hinweis auf die Existenz einer Traumzensur geholt. Es ist auch hier nicht nötig anzunehmen, daß die Traumarbeit einen derartigen Gegenafl'ekt ganz von neuem schafft; sie findet ihn gewöhnlich im Materiale der Traumgedanken bereit— liegend und erhöht ihn bloß mit der psychischen Kraft der Abwehrmotive, bis er für die Traumbildung überwiegen kann. Im letzterwähnten Onkeltraum stammt der zärtliche Gegenaffekt wahrscheinlich aus infantiler Quelle (wie die Fortsetzung des Traumes nahelegt), denn das Verhältnis Onkel und Neffe ist durch die besondere Natur meiner frühesten Kindererlebnisse (vgl. die § 211526'
§ 2116§ 2117
404 VI. Die Traumarbeit
§ 2118Analyse S. 554) bei mir die Quelle aller Freundschaften und alles
Hasses geworden. § 2119[E 40]
§ 2120Die Komplikation der Aufhebungs-, Subtraktions- und Ver
kehmngsvorgänge, durch welche endlich aus den Affekten der Traumgedanken die des Traumes werden, läßt sich an geeigneten Synthesen vollständig analysierter Träume gut überblicken. Ich will hier noch einige Beispiele der Affektregung im Traume he handeln, die etwa einige der besprochenen Fälle als realisiert erweisen. § 2121V
§ 2122In dem Trauma von der sonderbaren Aufgabe, die mir der
alte Brücke stellt, mein eigenes Becken zu präparieren, vermisse ich im Traume selbst das dazugehörige Grauen. Dies ist nun Wunscherfüllung in mehr als einem Sinne. Die Präparation bedeutet die Selbstanalyse, die ich gleichsam durch die Veröffent— lichung des Traumbuches vollziehe, die mir in Wirklichkeit so peinlich war, daß ich den Druck des hereitliegenden Manuskriptes um mehr als ein Jahr aufgeschoben habe. Es regt sich nun der Wunsch, daß ich mich über diese abhaltende Empfindung hinaus— setzen möge, darum verspüre ich im Traume kein Grauen. Das „Grauen“ im anderen Sinne möchte ich auch gerne vermissen; es graut bei mir schon ordentlich, und dies Grau der Haare mahnt mich gleichfalls, nicht länger zurückzuhalten. Wir wissen ja, daß am Schlusse des Trau.mes der Gedanke zur Darstellung durch— dring‘t, ich würde es den Kindern überlassen müssen, in der schwierigen Wanderung ans Ziel zu kommen. § 2123In den zwei Träumen, die den Ausdruck der Befriedigung in
die nächsten Augenblicke nach dem Erwachen verlegen, ist diese Befriedigung das eine Mal motiviert durch die Erwartung, ich werde jetzt erfahren, was es heißt, „ich habe schon davon ge träumt“, und bezieht sich eigentlich auf die Geburt der ersten Kinder, das andere Mal durch die Überzeugung, es werde jetzt § 2124§ 2125
Gegenseitigme Förderung der Afiekt: 4.0 5
§ 2126eintreflen, „was sich durch ein Vorzeichen angekündigt hat“, und
diese Befriedigung ist die nämliche, die seinerzeit den zweiten Sohn begrüßt hat. Es sind hier im Traume die Affekte verblieben, die in den Traumgedanken herrschen, aber es geht wohl in keinem Traume so ganz einfach zu. Vertieft man sich ein wenig in beide Analysen, so erfährt man, daß diese der Zensur nicht unterliegende Befriedigung einen Zuzug aus einer Quelle erhält, welche die Zensur zu fürchten hat, und deren Affekt sicherlich Widerspruch erregen würde, wenn er sich nicht durch den gleichartigen, gerne zugelassenen Befriedigungsaffekt aus der erlaubten Quelle decken, sich gleichsam hinter ihm einschleichen würde. Ich kann dies leider nicht an dem Traumbeispiel selbst erweisen, aber ein Bei spiel aus anderer Sphäre wird meine Meinung verständlich machen. Ich setze folgenden Fall: Es gäbe in meiner Nähe eine Person, die ich hasse, so daß in mir eine lebhafte Regung zustande kommt, mich zu freuen, wenn ihr etwas widerfährt. Dieser Regung gibt aber das M6ra1ische in meinem Wesen nicht nach; ich wage es nicht, den Unglückwunsch zu äußern, und nachdem ihr unverschuldet etwas zugestoßen ist, unterdrücke ich meine Befriedigung darüber und nötige mich zu Äußerungen und Ge danken des Bedauerns. Jedermann wird sich schon in solcher Lage befunden haben. Nun ereigne es sich aber, daß die gehaßte Person sich durch eine Überschreitung eine wohlverdiente Unannehmlich keit zuziehe; dann darf ich meiner Befriedigung darüber freien Lauf lassen, daß sie von der gerechten Strafe getroffen werden ist, und äußere mich darin übereinstimmend mit vielen anderen, die imparteiisch sind. Ich kann aber die Beobachtung machen, daß meine Befriedigung intensiver ausfa'11t als die der anderen; sie hat einen Zuzug aus der Quelle meines Hasses erhalten, der bis dahin von der inneren Zensur verhindert war, Afl'ekt zu liefern, unter den geänderten Verhältnissen aber nicht mehr ge hindert wird. Dieser Fall trifft in der Gesellschaft allgemein zu, wo antipathische Personen oder Angehörige einer ungern gesehenen § 2127§ 2128
406 VI. Die Traumarbeit
§ 2129Minorität eine Schuld auf sich laden. Ihre Bestrafung entspricht
dann gewöhnlich nicht ihrem Verschulden, sondern dem Ver— schulden vermehrt um das bisher effektlose Übelwollen, das sich gegen sie richtet. Die Strafenden begehen dabei zweifellos eine Ungerechtigkeit; sie werden aber an der Wahrnehmung derselben gehindert durch die Befriedigung, welche ihnen die Aufhebung einer lange festgehaltenen Unterdrückung in ihrem Inneren be reitet. In solchen Fällen ist der Affekt seiner Qualität nach zwar berechtigt, aber nicht sein Ausmaß; und die in dem einen Punkt beruhigte Selbstkritik vernachlässigt nur zu leicht die Prüfung des zweiten Punktes. Wenn einmal die Türe geöffnet ist, so drängen sich leicht mehr Leute durch, als man ursprünglich einzulassen beabsichtigte. § 2130Der auffällige Zug des neurotischen Charakters, daß affektfähige
Anlässe bei ihm eine Wirkung erzielen, die qualitativ berechtigt, quantitativ über das Maß hinausgeht, erklärt sich auf diese Weise, soweit er überhaupt eine psychologische Erklärung zuläßt. Der Überschuß rührt aber aus unbewußt gebliebenen, bis dahin unter— drückten Affektquellen her, die mit dem realen Anlaß eine assoziative Verbindung herstellen können, und für deren Affekt entbindung die. einspruchsfreie und zugelassene Affektquelle die erwünschte Bahnung eröffnet. Wir werden so aufmerksam gemacht, daß wir zwischen der unterdrückten und der unterdrückenden seelischen Instanz nicht ausschließlich die Beziehungen gegen— seitiger Hemmung ins Auge fassen dürfen. Ebensoviel Beachtung verdienen die Fälle, in denen die beiden Instanzen durch Zu sammenwirken, durch gegenseitige Verstärkung, einen pathologi schen Effekt zustande bringen. Diese andeutenden Bemerkungen über psychische Mechanik wolle man nun zum Verständnis der Afl'ektäußerungen des Traumes verwenden. Eine Befriedigung, die sich im Traume kundgibt, und die natürlich alsbald an ihrer Stelle in den Traumgedanken aufzufinden ist, ist durch diesen Nachweis allein nicht immer vollständig aufgeklärt. In der Regel § 2131§ 2132
Zusammensetzung der Afi‘ekrz 407
§ 2133wird man für sie eine zweite Quelle in den Traumgedanken auf
zusuchen haben, auf welcher der Druck der Zensur lastet7 und die unter dem Drucke nicht Befriedigung, sondern den gegenteiligen Afl'ekt ergeben hätte, die aber durch die Anwesenheit der ersten Traumquelle in den Stand gesetzt wird, ihren Befriedigungsaffekt der Verdrängung zu entziehen und als Verstärkung zu der Be— friedigung aus anderer Quelle stoßen zu lassen. So erscheinen die Affekte im Traume als zusammengefaßt aus mehreren Zuflüssen und als überdeterminiert in bezug auf das Material der Traum gedanken; Affektquellen, die den nämlichen Affekt liefern können, treten bei der Traumarbeit zur Bildung desselben zusammen. [E 41] § 2134Ein wenig Einblick in diese verwickelten Verhältnisse erhält
man durch die Analyse des schönen Traumes, in dern „Non vi1it“ den Mittelpunkt bildet (vgl. S. 551). In diesem Traum sind die Affektäußerungen von verschiedener Qualität an zwei Stellen des manifesten Inhaltes zusammengedrängt. Feindselige und peinliche Regungen (im T raume selbst heißt es „von merkwürdigen Aifekten ergriffen“) überlagern einander dort, wo ich den gegnerischen Freund mit den beiden Worten vernichte. Am Ende des Traumes bin ich ungemein erfreut und urteile dann anerkennend über eine im Wachen als absurd erkannte Möglichkeit, daß es nämlich Revenants gibt, die man durch den bloßen Wunsch beseitigen kann. § 2135Ich habe die Veranlassung dieses Traumes noch nicht mit
geteilt. Sie ist eine wesentliche und führt tief in das Verständnis des Traumes hinein. Ich hatte von meinem Freunde in Berlin (den ich mit F1. bezeichnet habe) die Nachricht bekommen,— daß er sich einer Operation unterziehen werde, und daß in Wien lebende Verwandte mir die weiteren Auskünfte über sein Befinden gehen würden. Diese ersten Nachrichten nach der Operation lauteten nicht erfreulich und machten mir Sorge. Ich wäre am liebsten selbst zu ihm gereist, aber ich war gerade zu jener Zeit mit einem schmerzhaften Leiden behaftet, das mir jede Be § 2136ft
§ 2137§ 2138
4.08 VI. Die Traumarbeit
§ 2139wegung zur Qual machte. Aus den Traumgedanken erfahre ich
nun, daß ich für das Leben des teuren Freundes fürchtete. Seine einzige Schwester, die ich nie gekannt, war, wie ich wußte, in jungen Jahren nach kürzester Krankheit gestorben. (Im Traum: Fl. erzählt von seiner Schwester und sagt: in drei Viertel Stunden war sie tot.) Ich muß mir eingebildet haben, daß seine eigene Natur nicht viel resistenter sei, und mir vorgestellt, daß ich auf weit schlimmere Nachrichten nun endlich doch reise —- und zu spät komme, worüber ich mir ewige Vorwürfe machen könnte.1 Dieser Vorwurf wegen des Zuspätkommens ist zum Mittelpunkt des Traumes geworden, hat sich aber in einer Szene dargestellt, in der der verehrte Meister meiner Studentenjahre Brücke mir mit einem fürchterlichen Blicke seiner blauen Augen den Vorwurf macht. Was diese Ablenkung der Szene zustande gebracht, wird sich bald ergeben; die Szene selbst kann der Traum nicht so reprodu zieren, wie ich sie erlebt habe. Er läßt zwar dem anderen die blauen Augen, aber er gibt mir die vernichtende Rolle, eine Um— kehrung, die offenbar das Werk der Wunscherfüllung ist. Die Sorge um das Leben des Freundes, der Vorwurf, daß ich nicht zu ihm hinreise, meine Beschämung (er ist unauffällig [zu mir] nach Wien gekommen), mein Bedürfnis, mich durch meine Krankheit für entschuldigt zu halten, das alles setzt den Gefühls Sturm zusammen, der im Schlaf deutlich ver-spürt, in jener Region der Traumgedanken tobt. § 2140An der Traumveranlassung war aber noch etwas anderes, was
auf mich eine ganz entgegengesetzte Wirkung hatte. Bei den ungünstigen Nachrichten aus den ersten Tagen der Operation erhielt ich auch die Mahnung, von der ganzen Angelegenheit niemandem zu sprechen, die mich beleidigte, weil sie ein über— § 2141!) Diese Phantasie aus den unbewufiten Traumgedanken ist es, die gehieterisch
mm 11th anstatt mm viz-ic verlangt, „Du bist zu spät gekommen, er lebt nicht mehr.“ Daß auch die manifeste Situation des Traumes auf rum vivit zielt, ist S, 555 ange geben werden. § 2142§ 2143
Die Afl'ekte im Traum „Non wirft“ 409
§ 2144flüssiges Mißtrauen in meine Verschwiegenheit zur Voraussetzung
hatte. Ich wußte zwar, daß dieser Auftrag nicht von meinem Freunde ausging, sondern einer Ungeschicklichkeit oder Überängst— lichkeit des vermittelnden Boten entsprach, aber ich wurde von dem versteckten Vorwurf sehr peinlich berührt, weil er — nicht ganz unbereclm'gt war. Andere Vorwürfe als solche, an denen „etwas daran ist“, haften bekanntlich nicht, haben keine auf regende Kraft. Zwar nicht in der Sache meines Freundes, aber früher einmal in viel jüngeren Jahren hatte ich zwischen zwei Freunden, die beide auch mich zu meiner Ehrung so nennen wollten, überflüssigervveise etwas ausgeplaudert, was der eine über den anderen gesagt hatte. Auch die Vorwürfe, die ich damals zu hören bekam, habe ich nicht vergessen. Der eine der beiden Freunde, zwischen denen ich damals den Unfriedensstifter machte, war Professor F leischl; der andere kann durch den Vornamen Josef, den auch mein im Traume auftretender Freund und Gegner P. führte, ersetzt werden. § 2145Von dem Vorwurf, daß ich nichts für mich zu behalten ver
möge, zeugen im Traume die Elemente unauffällig und die Frage Fl.s, wieviel von seinen Dingen ich P. denn mit geteilt habe. Die Einmengung dieser Erinnerung ist es aber, welche derr Vorwurf des Zuspätkommens aus der Gegenwart in die Zeit, da ich im Brückeschen Laboratorium lebte, verlegt, und indem ich die zweite Person in der Vernichtungszene des Traumes durch einen Josef ersetze, lasse ich diese Szene nicht nur den einen Vorwurf darstellen, daß ich zu spät komme, sondern auch den von der Verdrängung stärker betroffenen, daß ich kein Ge-‘ heimnis bewahre. Die Verdichtungs— und Verschiebungsarbeit des Traumes, sowie deren Motive werden hier augenfällig. § 2146Der in der Gegenwart geringfügige Ärger über die Mahnung,
nichts zu verraten, holt sich aber Verstärkungen aus in der Tiefe fließenden Quellen und schwillt so zu einem Strom feindseliger Regungen gegen in Wirklichkeit geliebte Personen an. Die Quelle, § 2147§ 2148
4.10 VI. Die Traumarbzir
§ 2149welche die Verstärkung liefert, fließt im Infantilen. Ich habe
schon erzählt, daß meine warmen Freundschaften wie meine Feindschaften mit Gleichalterigen auf meinen Kinderverkehr mit einem um ein Jahr älteren Neffen zurückgehen, in dem er der Überlegene war, ich mich frühzeitig zur Wehre setzen lernte, wir unzertrennlich miteinander lebten und einander liebten, dazwischen, wie Mitteilungen älterer Personen bezeugen, uns rauften und — ver klagten. Alle meine Freunde sind in gewissem Sinne Inkarnationen dieser ersten Gestalt, die „früh sich einst dem trüben Blick ge— zeigt“, Revenants. Mein Neffe selbst kam in den Jünglingsjahren wieder, und damals führten wir Cäsar und Brutus miteinander auf. Ein intimer Freund und ein gehaßter Feind waren mir immer notwendige Erfordernisse meines Gefühlslebens; ich wußte beide mir immer von neuem zu verschaffen, und nicht selten stellte sich das Kindheitsideal so weit her, daB Freund und Feind in dieselbe Person zusammerifielen, natürlich nicht mehr gleich zeitig oder in mehrfach wiederholter Abwechslung, wie es in den ersten Kinderjahren der Fall gewesen sein mag. § 2150Auf welche Weise bei so bestehenden Zusammenhängen ein
rezenter Anlaß zum Affekt bis auf den infantilen zurückgreifen kann, um sich durch ihn für die Affektwirkung zu ersetzen, das möchte ich hier nicht verfolgen. Es gehört der Psychologie des unbewußten Denkens an und fände seine Stelle in einer psycho logischen Aufklärung der Neurosen. Nehmen wir für unsere Zwecke der Traumdeutung an, daß sich eine Kindererinrterung einstellt, oder eine solche phantastisch gebildet wird etwa folgenden Inhalts: Die beiden Kinder geraten in Streit miteinander um ein § 2151Objekt, —— welches, lassen wir dahingestellt, obwohl die Er—
innerung oder Erinnerungstäuschung ein ganz bestimmtes im Auge hat; — ein jeder behauptet, er sei früher gekommen, § 2152habe also das Vorrecht darauf; es kommt zur Schlägerei, Macht
geht vor Recht; nach den Andeutungen des Traumes könnte ich gevv-ußt haben, daß ich im Unrecht bin (den Irrtum selbst § 2153§ 2154
Die Afiekte im Traum „Non vixiz“ 4.11
§ 2155bemerkend); ich bleibe aber diesmal der Stärkere, behaupte das
Schlachtfeld, der Unterlegene eilt zum Vater, respektive Groß vatér, verklagt mich, und ich verteidige mich mit den mir durch die Erzählung des Vaters bekannten Worten: Ich habe ihn ge legt, weil er mich gelegt hat, so ist diese Erinnerung oder wahrscheinlicher Phantasie, die sich mir während der Analyse des Traumes — ohne weitere Gewähr, ich weiß selbst nicht wie —— anfdrängt, ein Mittelstück der Traumgedanken, das die in den Traumgedanken waltenden Affektregungen, wie eine Brunnen— schale die zugeleiteten Gewässer, sammelt. Von hier aus fließen die Traumgedanken in folgenden Wegen: Es geschieht dir ganz recht, daß du mir den Platz hast räumen müssen; warum hast du mich vom Platze verdrängen wollen? Ich brauche dich nicht, ich werde mir schon einen anderen verschaffen, mit dem ich spiele usw. Dann eröffnen sich die Wege, auf denen diese Ge danken wieder in die Traumdarstellung einmünden. Ein solches „Ole-toi que je m’y malte“ mußte ich seinerzeit meinem ver storbenen Freunde Josef zum Vorwurf machen. Er war in meine Fußstapfen als Aspirant im Brückeschen Laboratorium getreten, aber dort war das Avancement langwierig. Keiner der beiden Assistenten rückte von der Stelle, die Jugend wurde ungeduldig. l\’lein Freund, der seine Lebenszeit begrenzt wußte, und den kein intimes Verhältnis an seinen Vordermann band, gab seiner Ungeduld gelegentlich lauten Ausdruck. Da dieser Vordermann ein schwer Kranker war, konnte der Wunsch, ihn beseitigt zu wissen, außer dem Sinn: durch eine Beförderung auch eine an— stößige Nebendeutu.ng zulassen. Natürlich war bei mir einige Jahre vorher der männliche Wunsch, eine freigewordene Stelle einzunehmen, noch viel lebhafter gewesen; wo immer es in der Welt Rangordnung und. Beförderung gibt, ist ja der Weg für der Unterdrückung bedürftige Wünsche eröffnet. Shakespeares Prinz Hal kann sich nicht einmal am Bett des kranken Vaters der Versuchung entziehen, einmal zu probieren, wie ihm die Krone § 2156§ 2157
41 9. VI. Die Traumarbeit
§ 2158steht. Aber der Traum straft, wie begreiflich, diesen rücksichts
losen Wunsch nicht an mir, sondern an ihm.1 § 2159„Weil er herrschsüchtig war, darum erschlug ich ihn.“ Weil
er nicht erwarten konnte, daß ihm der andere den Platz räume, darum ist er selbst hinweggeräumt werden. Diese Gedanken liege ich unmittelbar, nachdem ich in der Universität der Enthüllung des dem anderen gesetzten Denkmales beigewohnt habe. Ein Teil meiner im Traume verspürten Befriedigung deutet sich also: Gerechte Strafe, es ist dir recht geschehen. § 2160Bei dem Leichenbegängnis dieses Freundes machte ein junger
Mann die unpassend scheinende Bemerkung: Der Redner habe so gesprochen, als ob jetzt die Welt ohne den einen Menschen nicht mehr bestehen könne. Es regte sich in ihm die Auflehnung des wahrhaften Menschen, dem man den Schmerz durch Übertreibung stört. Aber an diese Rede knüpfen sich die Traumgedanken an: Es ist wirklich niemand unersetzlich; wie viele habe ich schon zum Grabe geleitet; ich aber lebe noch, ich habe sie alle über— lebt, ich behaupte den Platz. Ein solcher Gedanke im Moment, da ich fürchte, meinen Freund nicht mehr unter den Lebenden anzutrefl'en, wenn ich zu ihm reise, läßt nur die weitere Ent— wicklung zu, daß ich mich freue, wieder jemanden zu überleben, daß nicht ich gestorben bin, sondern er, daß ich den Platz be— haupte wie damals in der phantasierten Kinderszene. Diese fans dem Infantilen kommende Befriedigung darüber, daß ich den Platz behaupte, deckt den Hauptanteil des in den Traum auf— genommenen Afl'ekts. Ich freue mich darüber, daß ich überlebe, ich äußere das mit dem naiven Egoismus der Anekdote zwischen Ehegatten: „Wenn eines von uns stirbt, übersiedle ich nach Penis.“ Es ist. für meine Erwartung so selbstverständlich, daß nicht ich der eine bin. § 21611) Es wird aufgefallen sein, daß der Name Josef eine so große Rolle in meinen
Träumen spielt (siehe den Onkeltraum). Hinter den Personen, die so heißen, kann sich mein Ich im Trauma besonders leicht verbergen, denn Josef hieß auch der aus der Bibel bekannte Traumdenter, § 2162§ 2163
Die Afi'ekte im Traum „Non virit“ 4.15
§ 2164Man kann sich’s nicht verbergen, daß schwere Selbstüberwin—
dung dazu gehört, seine Träume zu deuten und mitzuteilen. Man muß sich als den einzigen Bösewicht enthüllen unter all den Edlen, mit denen man das Leben teilt. Ich finde es also ganz begreiflich, daß die Revenants nur so lange bestehen, als man sie mag, und daß sie durch den Wunsch beseitigt werden können. Das ist also das, wofür mein Freund Josef gestraft werden ist. Die Revenants sind aber die aufeinanderfolgenclen Inkarnationen meines Kindheitsfreundes; ich bin also auch befriedigt darüber, daß ich mir diese Person immer wieder ersetzt habe, und auch für den, den ich jetzt zu verlieren im Begriffe bin, wird sich der Ersatz schon finden. Es ist niemand unersetzlich. § 2165Wo bleibt hier aber die Traumzensur? Warum erhebt sie nicht
den energischesten Widerspruch gegen diesen Gedankengang der rohesten Selbstsucht und verwandelt die an ihm haftende Be— friedigung nicht in schwere Unlust? Ich meine, weil andere ein— wurfsfreie Gedankenzüge über die nämlichen Personen gleichfalls in Befriedigung ausgehen und mit ihrem Afl'ekt jenen aus der verbotenen infantilen Quelle decken. In einer anderen Schicht von Gedanken habe ich mir bei jener feierlichen Denkmal enthüllung gesagt: Ich habe so viele teure Freunde verloren, die einen durch Tod, die anderen durch Auflösung der Freund schaft; es ist doch schön, daß sie sich mir ersetzt haben, daß ich den einen gewonnen habe, der mir mehr bedeuten als die anderen konnten, und den ich jetzt in dem Alter, wo man nicht mehr leicht neue Freundschaften schließt, für immer fest— halten werde. Die Befriedigung, daß ich diesen Ersatz für die verlorenen Freunde gefunden habe, darf ich ungestört in den Traum hinübernehrnen, aber hinter ihr schleicht sich die feind selige Befriedigung aus infantiler Quelle mit ein. Die infantile Zärtlichkeit hilft sicherlich die heuteberechtigte verstärken; aber auch der infantile Haß hat sich seinen Weg in die Darstellung gebahnt. § 2166§ 2167
4.14. VI. Die Trauma-beit
§ 2168Im Traume ist aber außerdem ein deutlicher Hinweis auf
einen anderen Gedankengang enthalten, der in Befriedigung aus laufen darf. Mein Freund hat kun vorher nach langem Warten ein Töchterchen bekommen. Ich weiß, wie sehr er seine früh verlorene Schwester betrauert hat, und schreibe ihm, auf dieses Kind würde er die Liebe übertragen, die er zur Schwester emp funden; dieses kleine Mädchen würde ihm den unersetzlichen Verlust endlich vergessen machen. § 2169So knüpft auch diese Reihe wieder an den Zwischengedanken
des latenten Trauminhaltes an, von dem die Wege nach ent gegengesetzten Richtungen auseinandergehen: Es ist niemand un— ersetzlich. Sieh’, nur Revenants; alles was man verloren hat, kommt wieder. Und nun werden die assoziativen Bande zwischen den widerspruchsvollen Bestandteilen der Traumgedanken enger angezogen durch den zufälligen Umstand, daß die kleine Tochter meines Freundes denselben Namen trägt wie meine eigene kleine Jugendgespielin, die mit mir gleichalterige Schwester meines ältesten Freundes und Gegners. Ich habe den Namen „Pauline“ mit Be— friedigung gehört, und um auf dieses Zusammentreffen anzu spielen, habe ich im Traume einen Josef durch einen anderen Josef ersetzt und fand es unmöglich, den gleichen Anlaut in den Namen Fleisch] und F1. zu unterdrücken. Von hier aus läuft dann ein Gedankenfaden zur Namengebung bei meinen eigenen Kindern. Ich hielt darauf, daß ihre Namen nicht nach der Mode des Tages gewählt, sondern durch das Andenken an teure Per— sonen bestimmt sein sollten. Ihre Namen machen die Kinder zu „Revenants“. Und schließlich, ist Kinder haben nicht für uns alle der einzige Zugang zur Unsterblichkeit? § 2170Über die Affekte des Traumes werde ich nur noch wenige
Bemerkungen von einem anderen Gesichtspunkte aus anfügen. In der Seele des Schlafenden kann eine Affektneigung — was wir Stimmung heißen -—— als dominierendes Element enthalten sein und dann den Traum mitbestimmen. Diese Stimmung kann § 2171§ 2172
Die Tagesstimmung 41 5
§ 2173aus den Erlebnissen und Gedankengängen des Tages hervorgehen,
sie kann somatische Quellen haben; in beiden Fällen wird sie von ihr entsprechenden Gedankengängen begleitet sein. Daß dieser Vorstellungsinhalt der Traumgedanken das einemal primär die Affektneigung bedingt, das anderemal sekundär durch die somatisch zu erklärende Gefühlsdisposition geweckt wird, bleibt für die Traumbildung gleichgültig. Dieselbe steht alle Male unter der Einschränkung, daß sie nur darstellen kann, was Wunscherfüllung ist, und daß sie nur dem Wunsche ihre psychische Triebkraft ent lehnen kann. Die aktuell vorhandene Stimmung wird dieselbe Be handlung erfahren wie die aktuell während des Schlafes auftauchende Sensation (vgl. S. 955), die entweder vernachlässigt wird oder im Sinne einer Wunscherfüllung umgedeutet. Peinliche Stimmungen während des Schlafes werden zu Triebkräften des Traumes, indem sie energi— sche Wünsche wecken, die der Traum erfüllen soll. Das Material, an dem sie haften, wird so lange umgearbeitet, bis es zum Aus— druck der Wunscherfüllung verwendbar ist. Je intensiver und je dominierender das Element der peinlichen Stimmung in den Traum gedanken ist, desto sicherer werden die stärkst unterdrückten Wunsch— regungen die Gelegenheit zur Darstellung zu kommen benützen, da sie durch die aktuelle Existenz der Unlust, die sie sonst aus eigenem erzeugen müßten, den schwereren Teil der Arbeit für ihr Durchdringen zur Darstellung bereits erledigt finden, und mit. diesen Erörterungen streifen wir wieder das Problem der Angst träume, die sich als der Grenzfall für die Traumleistung heraus stellen werden. § 2174H
Die sekundäre Bearbeitung § 2175Wir wollen endlich an die Hervorhebung des vierten der bei
der Traumbildung beteiligten Momente gehen. § 2176Setzt man die Untersuchung des Trauminhaltes in der vorhin
eingeleiteten Weise fort, indem man auffällige Vorkommnisse im § 2177§ 2178
416 VI. Die Traumarbzit
§ 2179Trauminhalt auf ihre Herkunft aus den Traumgedanken prüft, so
stößt man auch auf Elemente, für deren Aufklärung es einer völlig neuen Annahme bedarf. Ich erinnere an die Fälle, wo man sich im Traume wundert, ärgert, sträubt, und zwar gegen ein Stück des Trauminhaltes selbst. Die meisten dieser Regungen von Kritik im Traum sind nicht gegen den Trauminhalt gerichtet, sondern erweisen sich als übernommene und passend verwendete Teile des Traummateriales, wie ich an geeigneten Beispielen dar gelegt habe. Einiges der Art fügt sich aber einer solchen Ab— leitung nicht; man kann das Korrelat dazu im Traummaterial nicht auffinden. Was bedeutet z. B. die im Traum nicht gar seltene Kritik: Das ist ja nur ein Traum? Dies ist eine wirkliche Kritik des Traumes, wie ich sie im Wachen üben könnte. Gar nicht selten ist sie auch nur die Vorläuferin des Erwachens; noch häufiger geht ihr selbst ein peinliches Gefühl vorher, das sich nach der Konstatierung des Traumzustandes beruhigt. Der Ge— danke: „Das ist ja nur ein Traum“ während des Traumes be— absichtigt aber dasselbe, was er auf offener Bühne im Munde der schönen Helena von Offenbach besagen soll; er will die Bedeutung des eben Erlebten herabdrücken und die Duldung des Weiteren ermöglichen. Er dient zur Einschläferung einer gewissen Instanz, die in dem gegebenen Moment alle Veran— lassung hätte, sich zu regen und die Fortsetzung des Trauma — oder der Szene —— zu verbieten. Es ist aber bequemer, weiter zu schlafen und den Traum zu dulden, „weils doch nur ein Traum ist“. Ich stelle mir vor, daß die verächtliche Kritik: Es ist ja nur ein Traum, dann im Traum auftritt, wenn die niemals ganz schlafende Zensur sich durch den bereits zuge— lassenen Traum überrumpelt fühlt. Es ist zu spät, ihn zu unter drücken, somit begegnet sie mit jener Bemerkung der Angst, oder der peinlichen Empfindung, welche sich auf den Traum hin erhebt. Es ist eine Äußerung des esprit d’escalier von seiten der psychischen Zensur. § 2180§ 2181
Die sekundäre Bearbeitung 4.1 7
§ 2182An diesem Beispiel haben wir aber einen einwandfreien Beweis
dafiir, daß nicht alles, was der Traum enthält, aus den Traum gedanken stammt, sondern daß eine psychische Funktion, die von unserem wachen Denken nicht zu unterscheiden ist, Beiträge zum Trauminhalt liefern kann. Es fragt sich nun, kommt dies nur ganz ausnahmsweise vor, oder kommt der sonst nur als Zensur tätigen psychischen Instanz ein regelmäßiger Anteil an der Traum bildung zu? § 2183Man muß sich ohne Schwanken für das letztere entscheiden.
Es ist unzweifelhaft, daß die zensurierende Instanz, deren Einfluß wir bisher nur in Einschränkungen und Auslassungen im Traum— inhalte erkannten, auch Einschaltungen und Vermehrungen des— selben verschuldet. Diese Einschaltungen sind oft leicht kenntlich; sie werden zaghaft berichtet, mit einem „als ob“ eingeleitet, haben an und für sich keine besonders hohe Lebhaftigkeit und sind stets an Stellen angebracht, wo sie zur Verknüpfung zweier Stücke des Trauminhaltes, zur Anhahnung eines Zusammenhanges zwischen zwei Traumpartien dienen können. Sie zeigen eine geringere Haltbarkeit im Gedächtnis als die echten Abkömmlinge des Traummateriales; unterliegt der Traum dem Vergessen, so fallen sie zuerst aus, und ich hege eine starke Vermutung, daß unsere häufige Klage, wir hätten soviel geträumt, das meiste davon vergessen und nur Bruchstücke behalten, auf dem alsbaldigen Ausfall gerade dieser Kittgedanken beruht. Bei vollständiger Ana lyse verraten sich diese Einschaltungen manchmal dadurch, daß sich zu ihnen kein Material in den Traumgedanken findet. Doch muß ich bei sorgfältiger Prüfung diesen Fall als dem selteneren bezeichnen; zumeist lassen sich die Schaltgedanken immerhin auf Material in den Traumgedanken zurückführen, welches aber weder durch seine eigene Wertigkeit noch durch Überdeterminierung Anspruch auf Aufnahme in den Traum erheben könnte. Die psychische Funktion bei der Traumbildung, die wir jetzt betrachten, erhebt sich, wie es scheint, nur im äußersten Falle zu Neu § 2184r„..a, u. „
§ 2185§ 2186
4.18 VI. Die Trauma-beit
§ 2187schöpfungen; solange es noch möglich ist, verwertet sie, was sie
Taugliches im Traumrnaterial auswählen kann. § 2188Was dieses Stück der Traumarbeit auszeichnet und verrät, ist
seine Tendenz. Diese Funktion verfährt ähnlich, wie es der Dichter boshaft vom Philosophen behauptet; mit ihren Fetzen und Flicken stopft sie die Lücken im Aufbau des Traumes. Die Folge ihrer Bemühung ist, daß der Traum den Anschein der Absurdität und Zusammenhanglosigkeit verliert und sich dem Vorbilde eines verständlichen Erlebnisses annähert. Aber die Be mühung ist nicht jedesmal vom vollen Erfolge gekrönt. Es kommen so Träume zustande, die für die oberflächliche Be trachtung tadellos logisch und korrekt erscheinen mögen; sie gehen von einer möglichen Situation aus, führen dieselbe durch widerspruchsfreie Veränderungen fort und bringen es, wiewohl dies am seltensten, zu einem nicht befremdenden Abschluß. Diese Träume haben die tiefgehendste Bearbeitung durch die dem wachen Denken ähnliche psychische Funktion erfahren.-, sie scheinen einen Sinn zu haben, aber dieser Sinn ist von der wirklichen Bedeutung des Traumes auch am weitesten entfernt. Analysiert man sie, so überzeugt man sich, daß hier die sekundäre Be— arbeitung des Traumes am freiesten mit dem Material umge sprungen ist, am wenigsten von dessen Relationen beibehalten hat. Es sind das Träume, die sozusagen schon einmal gedeutet werden sind, ehe wir sie im Wachen der Deutung unterziehen. In anderen Träumen ist diese tendenziöse Bearbeitung nur ein Stück weit gelungen; so weit scheint Zusammenhang zu herrschen, dann wird der Traum nnsinnig oder verworfen, vielleicht um sich noch ein zweites Mal in seinem Verlaufe zum Anschein des Verständigen zu erheben. In anderen Träumen hat die Bearbeitung überhaupt versagt; wir stehen wie hilflos einem sinnlosen Haufen von Inhaltsbroeken gegenüber. § 2189Ich möchte dieser vierten den Traum gestaltenden Macht, die
uns ja bald als eine bekannte erscheinen wird — sie ist in § 2190§ 2191
Die Phantasien oder Tagzriiwnc 4.19
§ 2192Wirklichkeit die einzige uns auch sonst vertraute unter den vier
Traumbildnern; —— ich möchte diesem vierten Momente also die Fähigkeit, schöpferisch neue Beiträge zum Traume zu liefern, nicht peremptorisch absprechen. Sicherlich aber äußert sich auch ihr Einfluß, wie der der anderen, vorwiegend in der Bevorzugung und Auswahl von bereits gebildeten: psychischen Material in den Traumgedanken. Es gibt nun einen Fall, in dem ihr die Arbeit, an den Traum gleichsam eine Fassade anzubauen, zum größeren Teil dadurch erspart bleibt, daß im Materiale der Traumgedanken ein solches Gebilde, seiner Verwendung harrend, bereits fertig vorgefunden wird. Das Element der Traumgedanken, das ich im Auge habe, pflege ich als „Phantasie“ zu bezeichnen; ich gehe vielleicht Mißverständnissen aus dem Wege, wenn ich sofort als das Analoge aus dem Wachleben den Tagtraum namhaft mache.‘ Die Rolle dieses Elementes in unserem Seelenleben ist von den Psychiatern noch nicht erschöpfend erkannt und aufgedeckt werden; M. Benedikt hat mit dessen Würdigung einen, wie mir scheint, vielversprechenden Anfang gemacht. Dem unbeirrten Scharfblick der Dichter ist die Bedeutung des Tagtraumes nicht entgangen; allgemein bekannt ist die Schilderung, die A. Daudet im „Nabab“ von den Tagträumen einer der Nebenfiguren des Romanes entwirft. Das Studium der Psychoneurosen führt zur überraschenden Erkenntnis, daß diese Phantasien oder Tagträume die nächsten Vorstufen der hysterischen Symptome — wenigstens einer ganzen Reihe von ihnen —— sind; nicht an den Erinnerungen selbst, sondern an den auf Grund der Erinnerungen aufgebauten Phantasien hängen erst die hysterischen Symptome. Das häufige Vorkommen bewußter Tagesphantasien bringt diese Bildungen unserer Kenntnis nahe; wie es aber bewußte solche Phantasien gibt, so kommen überreichlich unbewußte vor, die wegen ihres Inhaltes und ihrer Abkunft vorn verdränan Material un § 2193l) re‘ve, ,mit roman — day-dream, story.
§ 2194§ 2195
420 VI. Die Traumarbeit
§ 2196bewußt bleiben müssen. Eine eingehendere Vertiefung in die
Charaktere dieser Tagesphantasien lehrt uns, mit wie gutem Rechte diesen Bildungen derselbe Name zugefallen ist, den unsere nächtlichen Denkproduktionen tragen, der Name: Träume. Sie haben einen wesentlichen Teil ihrer Eigenschaften mit den Nacht träumen gemein; ihre Untersuchung hätte uns eigentlich den nächsten und besten Zugang zum Verständnis der Nachtträume eröffnen können. § 2197Wie die Träume sind sie Wunscherfüllungen; wie die Träume
basieren sie zum guten Teil auf den Eindrücken infantiler Er lebnisse; wie die Träume erfreuen sie sich eines gewissen Nach lasses der Zensur für ihre Schöpfungen. Wenn man ihrem Auf bau nachspürt, so wird man inne, wie das Wunschmotiv, das sich in ihrer Produktion betätigt, das Material, aus dem sie gebaut sind, durcheinander geworfen, umgeordnet und zu einem neuen Ganzen zusarnmengefügt hat. Sie stehen zu den Kindheits erinnerungen, auf die sie zurückgehen, etwa in demselben Ver— hältnis wie manche Barockpeläste Roms zu den antiken Ruinen, deren Quadern und Säulen das Material für den Bau in moder neren Formen hergegeben haben. § 2198In der „sekundären Bearbeitung“, die wir unserem vierten
traumbildenden Moment gegen den Trauminhalt zugeschrieben haben, finden wir dieselbe Tätigkeit wieder, die sich bei der Schöpfung der Tagträume ungehen'imt von anderen Einflüssen äußern darf..Wir könnten ohne weiteres sagen, dies unser viertes Moment sucht aus dem ihm dargebotenen Material etwas wie einen Tagtraum zu gestalten. Wo aber ein solcher Tagtraum bereits im Zusammenhange der Traumgedanken gebildet ist, da wird dieser Faktor der Traumarbeit sich seiner mit Vorliebe be rnächtigen und dahin Wirken, daß er in den Trauminhalt gelange. Es gibt solche Träume, die nur in der Wiederholung einer Tages phantasie, einer vielleicht unbewußt gebliebenen, bestehen, so z. B. der Traum des Knaben, daß er mit den Helden des § 2199§ 2200
Die Tag:räuine 4.21
§ 2201Trojanischen Krieges im Streitwagen fährt. In meinem Traume
„Autodidasker“ ist wenigstens das zweite Traumstück die getreue Wiederholung einer an sich harmlosen Tagesphantasie über meinen Verkehr mit dem Professor N. Es rülu't aus der Komplikation der Bedingungen her, denen der Traum bei seinem Entstehen zu genügen hat, daß häufiger die vorgefundene Phantasie nur ein Stück des Traumes bildet, oder daß nur ein Stück von ihr zum Trauminhalt hin durchdringt. Im ganzen wird dann die Phantasie behandelt wie jeder andere Bestandteil des latenten Materials; § 2202sie ist aber oft im Traume noch als Ganzes kenntlich. In meinen\
§ 2203Träumen kommen oft Partien vor, die sich durch einen von den‘
§ 2204übrigen verschiedenen Eindruck hervorheben. Sie erscheinen mir
§ 2205wie fließend, besser zusammenhängend und dabei flüchtiger als.
§ 2206andere Stücke desselben Traumes; ich weiß, dies sind unbewußte
Phantasien, die im Zus’amrnenhange in den Traum gelangen, aber ich habe es nie erreicht, eine solche Phantasie zu fixieren. Im übrigen werden diese Phantasien wie alle anderen Bestandteile der Traumgedanken zusammengeschoben, verdichtet, die eine durch die andere überlegen u. dgl.; es gibt aber Übergänge von dem § 2207Falle, wo sie fast unverändert den Trauminhalt oder wenigstens .
die Traumfassade bilden dürfen, bis zu dem entgegengesetzten‘ § 2208Fall, wo sie nur durch eines ihrer Elemente oder eine entfernte
Anspielung an ein solches im Trauminhalt vertreten sind. Es § 2209bleibt ofl'enbar auch für das Schicksal der Phantasien in den?
§ 2210Traumgedanken maßgebend, welche Vorteile sie. gegen die An—
sprüche der Zensur und des Verdichtungszwanges zu bieten ver mögen. § 2211Bei meiner Auswahl von Beispielen für die Traumdeutung bin
ich Träumen, in denen unbewußte Phantasien eine erhebliche Rolle spielen, möglichst ausgewichen, weil die Einführung dieses psychischen Elements weitläufige Erörterungen aus der Psychologie des unbewußten Denkens erfordert hätte. Gänzlich umgehen kann ich jedoch die „Phantasie“ auch in diesem Zusammenhange nicht, § 2212§ 2213
429 VI. Die Traumarbeit
§ 2214da sie häufig Avoll in den Traum gelangt und noch häufiger
deutlich durch ihn durchschimmert. Ich will etwa noch einen Traum anführen, der aus zwei verschiedenen, gegensätzlichen und einander an einzelnen Stellen deckenden Phantasien zusammen gesetzt erscheint, von denen die eine die oberflächliche ist, die andere gleichsam zur Deutung der ersteren wird. [E 42] § 2215Der Traum lautet — es ist der einzige, über den ich keine sorg
fältigen Aufzeichnungen besitze —-— ungefähr so: Der Träumer — ein unverheirateter junger Mann — sitzt in seinem, richtig gesehenen, Stammwirtshause; da erscheinen mehrere Personen, ihn abzuholen, darunter eine, die ihn verhaften will. Er sagt zu seinen Tischgenossen: Ich zahle später, ich komme wieder zurück. Aber die rufen hohnlächelnd: Das kennen wir schon, das sagt ein jeder. Ein Gast ruft ihm noch nach: Da geht wieder einer dahin. Er wird dann in ein enges' Lokal geführt, wo er eine Frauensperson mit einem Kinde auf dem Arm findet. Einer seiner Begleiter sagt: Das ist der Herr Müller. Ein Kommissär, oder sonst eine Amtsperson, blättert in einem Packe von Zetteln oder Schriften und wiederholt dabei: Müller, Müller, Müller. Endlich stellt er an ihn eine Frage, die er mit ja beantwortet. Er sieht sich dann nach der Frauensperson um und merkt, daß sie einen großen Bart bekommen hat. § 2216Die beiden Bestandteile sind hier leicht zu sondern. Das Ober
flächliche ist eine Verhaftungsphantasie, sie scheint uns von der Traumarbeit neu gebildet. Dahinter aber wird als das Material, das von der Traumarbeit eine leichte Umformung erfahren hat, die Phantasie der Verheiratung sichtbar, und die Züge, die beiden gemeinsam sein können, treten wieder wie bei einer Galtonschen Mischphotographie besonders deutlich hervor. Das Versprechen des bisherigen .Tunggesellen, seinen Platz am Stamm tische wieder aufzusuchen, der Unglaube der durch viele Er fahrungen gewitzigten Kneipgenossen, der Nachruf: Da geht (heiratet) wieder einer dahin, das sind auch für die andere § 2217§ 2218
Phantasien im Traum 425
§ 2219Deutung‘leicht verständliche Züge. Ebenso das Iawort, das man
der Amtsperson gibt. Das Blättern in einem Stoß von Papieren, wobei man denselben Namen wiederholt, entspricht einem unter geordneten, aher gut kenntlichen Zug aus den Hochzeitsfeierlich keiten, dem Vorlesen der stoßweise angelangten Glückwunsch telegramme, die ja alle auf denselben Namen lauten. In dem persönlichen Auftreten der Braut in diesem Traum hat sogar die Heiratsphantasie den Sieg über die sie deckende Verhaftungs— phantasie davongetragen. Daß diese Braut am Ende einen Bart zur Schau trägt, konnte ich durch eine Erkundigung — zu einer Analyse kam es nicht —— aufklären. Der Träumer war tags vorher mit einem Freunde, der ebenso ehefeindlich ist wie er, über die Straße gegangen und hatte diesen Freund auf eine brünette Schönheit aufmerksam gemacht, die ihnen entgegen kam. Der Freund aber hatte bemerkt: Ja, wenn diese Frauen nur nicht mit den Jahren Bärte bekämen wie ihre Väter. § 2220Natürlich fehlt es auch in diesem Traume nicht an Elementen,
bei denen die Traumentstellung tiefer gehende Arbeit verrichtet hat. So mag die Rede: „Ich werde später zahlen“ auf das zu befürchtende Benehmen des Schwiegervaters in hetreff der Mit gift zielen. Oflenbar halten den Träumer allerlei Bedenken ab, sich mit Wohlgefallen der Heiratsphantasie ‘ hinzugeben. Eines dieser Bedenken, daß man mit der Heirat seine Freiheit verliert, hat sich in der Umwandlung zu einer Verhaftungsszene ver körpert. § 2221Wenn wir nochmals darauf zu1ückkommen wollen, daß die
Traumarbeit sich gerne einer fertig vorgefundenen Phantasie be— dient, anstatt eine solche erst aus dem Material der Traum gedanken zusammenzusetzen, so lösen wir mit dieser Einsicht viel leicht eines der interessantesten Rätsel des Traumes. Ich habe auf S. 29 den Traum von Maury erzählt, der, von einem Brettchen im Genick getroffen, mit einem langen Traum, einem kompletten Roman aus den Zeiten der großen Revolution, erwacht. Da der § 2222§ 2223
424 VI. Die Traumarbeit
§ 2224Traum für zusammenhängend ausgegeben wird und ganz auf die
Erklärung des Weckreizes angelegt ist, von dessen Eintreffen der Schläfer nichts ahnen konnte, so scheint nur die eine Annahme übrig zu bleiben, daß der ganze reiche Traum in dem kurzen Zeitraume zwischen dem Auffallen des Brettes auf Maurys Hals— wirbel und seinem durch diesen Schlag exzwungenen Erwachen komponiert werden und stattgefunden haben muß. Wir würden uns nicht getrauen, der Denkarbeit im Wachen eine solche Raschheit zuzuschreiben, und gelangten so dazu, der Traumarheit eine bemerkenswerte Beschleunigung des Ablaufes als Vorrecht zuzngestehen. § 2225Gegen diese rasch populär gewordene Folgerung haben neuere
Autoren (Le Lorrain, Egger u. a.) lebhaften Einspruch erhoben. Sie zweifeln teils die Exaktheit des Traumberichtes von seiten Maurys an, teils versuchen sie darzutun, daß die Raschheit unserer wachen Denkleistungen nicht hinter dem zurückbleibt, was man der Traumleistung ungeschmälert lassen kann. Die Dis kussion rollt prinzipielle Fragen auf, deren Erledigung mir- nicht nahe bevorzustehen scheint. Ich muß aber bekennen, daß die Argumentation, z. B. Eggers, gerade gegen den Guillotinentraum Maurys mir keinen überzeugenden Eindruck gemacht hat. Ich würde folgende Erklärung dieses Traumes vorschlagen: Wäre es denn so sehr unwahrscheinlich, daß der Traum Maurys eine Phantasie darstellt, die in seinem Gedächtnis seit Jahren fertig aufbewahrt war und in dem Momente geweckt — ich möchte sagen: angespielt —— wurde, da er den VVeckreiz erkannte? Es entfällt dann zunächst die ganze Schwierigkeit, eine so lange Ge schichte mit all ihren Einzelheiten in dem überaus kurzen Zeit raum, der hier dem Träumer zur Verfügung steht, zu komponieren; sie war bereits komponiert. Hätte das Holz Maurys Nacken im Wachen getroffen, so wäre etwa Raum für den Gedanken ge— wesen: Das ist ja gerade so, als ob man guillotiniert würde. Da er aber im Schlaf von dem Brette getroffen wird, so henützt die § 2226§ 2227
Erklämngsversuch des Guillotinentraumes 495
§ 2228Traumarbeit den anlangenden Reiz rasch zur Herstellung einer
Wunscherfüllung, als ob sie denken würde (dies ist durchaus figürlich zu nehmen): „Jetzt ist eine gute Gelegenheit, die Wunsch phantasie wahr zu machen, die ich mir zu der und der Zeit bei der Lektüre gebildet habe.“ Daß der geträumte Roman gerade ein solcher ist, wie ihn der Jüngling unter mächtig erregenden Eindrücken zu bilden pflegt, scheint mir nicht hestreitbar. Wer hätte sich nicht gefesselt gefühlt — und zumal als Franzose und Kulturhistoriker — durch die Schilderungen aus der Zeit des Schreckens, in der der Adel, Männer und Frauen, die Blüte der Nation, zeigte, wie man mit heiterer Seele sterben kann, die Frische ihres Witzes und die F einheit ihrer Lebensformen bis zur verhängnisvollen Abberufung festhielt? Wie verlockend, sich da mitten hinein zu phantasieren als einer der jungen Männer, die sich mit einem Handkuß von der Dame verabschieden, um uner schrocken das Gerüst zu besteigen! Oder wenn der Ehrgeiz das Hauptmotiv des Phantasierens gewesen ist, sich in eine jener gewaltigen Individualitäten zu versetzen, die nur durch die Macht ihrer Gedanken und ihrer flammenden Beredsamkeit die Stadt beherrschen, in der damals das Herz der Menschheit krampfhaft schlägt, die Tausende von Menschen aus Überzeugung in den Tod schicken und die Umwandlung Europas anbahnen, dabei selbst ihrer Häupter nicht sicher sind, und sie eines Tages unter das Messer der Guillotine legen, etwa in die Rolle der Girondisten oder des Heros Danton? Daß die Phantasie Maurys eine solche ehrgeizige gewesen ist, darauf scheint der in der Erinnerung er— haltene Zug hinzuweisen „von einer unübersehbaren Menschen menge begleitet“. § 2229Diese ganze, seit langem fertige Phantasie braucht aber während
des Schlafes auch nicht durchgemacht zu werden; es genügt, wenn sie sozusagen „angetupft“ wird. Ich meine das folgender maßen: Wenn ein paar Takte angeschlagen werden und jemand wie im „Don J uan“ dazu sagt: Das ist aus „Figaros Hochzeit“ § 2230§ 2231
426 VI. Die Trauma-beit
§ 2232von Mozart, so wagt es in mir mit einem Male von Erinne—
rungen, aus denen sich im nächsten Moment nichts einzelnes zum Bewußtsein erheben kann. Das Schlagwort dient als Ein— bruchsstation, von der aus ein Ganzes gleichzeitig in Erregung versetzt wird. Nicht anders brauchte es im unbewußten Denken zu sein. Durch den Weckreiz wird die psychische Station erregt, die den Zugang zur ganzen Guillotinenphantasie eröffnet. Diese wird aber nicht noch im Schlaf durchlaufen, sondern erst in der Erinnerung des Erwachten. Erwacht, erinnert man jetzt in ihren Einzelheiten die Phantasie, an die als Ganzes im Traum gerührt wurde. Man hat dabei kein Mittel zur Versicherung, daß man wirklich etwas Geträumtes erinnert. Man kann dieselbe Erklärung, daß es sich um fertige Phantasien handelt, die durch den Weck reiz als Ganzes in Erregung gebracht werden, noch für andere auf den Weckreiz eingestellte Träume verwenden, z. B. für den Schlachtentraum Napoleons vor der Explosion der Hüllen maschine. [E43] Ich will nicht behaupten, daß alle Weckträume diese Erkläng zulassen, oder daß das Problem des beschleunigten Vorstellungsablaufes im Traume auf diese Weise überhaupt weg zuräumen ist. § 2233Es ist unvermeidlich, daß man sich hier um das Verhältnis
dieser sekundären Bearbeitung des Trauminhaltec zu den übrigen Faktoren der Traumarbeit bekümmere. Geht es etwa so vor sich, daß die traumbildenden Faktoren, das Verdichtungsbestreben, der Zwang, der Zensur auszuweichen und die Rücksicht auf Dar— stellbarkeit in den psychischen Mitteln des Traumes vorerst aus dem Material einen vorläufigen Trauminhalt bilden, und daß dieser dann nachträglich umgeformt wird, bis er den Ansprüchen einer zweiten Instanz möglichst genügt? Dies ist kaum wahrscheinlich. Man muß eher annehmen, daß die Anforderungen dieser Instanz von allem Anfang an eine der Bedingungen abgeben, denen der Traum genügen soll, und daß diese Bedingung ebenso wie die der Verdichtung, der Widerstandszensur und der Darstellbarkeit gleich § 2234§ 2235
Der Zwang zur Zusammensetzung 4.27
§ 2236zeitig auf das große Material der Traumgedanken induzierend
und auswählend einwirken. Unter den vier Bedingungen der Traumbildung ist aber die letzterkannte jedenfalls die, deren Anforderungen für den Traum am wenigsten zwingend er scheinen. Die Identifizierung dieser psychischen Funktion, welche die sogenannte sekundäre Bearbeitung des Trauminhaltes vornimmt, mit der Arbeit unseres wachen Denkens ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus folgender Erwägung: Unser waches (vor bewußtes) Denken benimmt sich gegen ein beliebiges Wahr nehrnungsmaterial ganz ebenso wie die in Frage stehende Funktion gegen den Traun-inhalt. Es ist ihm natürlich, in einem solchen Material Ordnung zu schaffen, Relationen herzustellen, es unter die Erwartung eines intelligibeln Zusammenhanges zu bringen. Wir gehen darin eher zu weit.; die Kunststücke der Taschen spieler äiien uns, indem sie sich auf diese unsere intellektuelle Gewohnheit stützen. In dem Bestreben, die gebotenen Sinnes— eindrücke verständlich zusammenzusetzen, begehen wir oft die seltsamsten Irrtümer oder falschen selbst die Wahrheit des uns vor liegenden Materials. Die hieher gehörigen,ßeweise sind zu sehr allgemein bekannt, um breiter Anführung zu bedürfen. Wir lesen über sinnstörende Druckfehler hinweg, indem wir das Richtige illusionieren. Ein Redakteur eines vielgelesenen französischen Journals soll die Wette gewagt haben, er werde in jeden Satz eines langen Artikels durch den Druck einschalten lassen, „von vorne“ oder „von hinten“, ohne daß einer der Leser es be— merken würde, Er gewann die Wette. Ein komisches Beispiel von falschem Zusammenhange ist mir vor Jahren bei der Zeitungs— lektüre aufgefallen. Nach jener Sitzung der französischen Kammer, in welcher Dupuy durch das beherzte Wort: La se'ance continue den Schreck über das Platzen der von einem Anarchisten in den Saal geworfenen Bombe aufhob, wurden die Besucher der Galerie als Zeugen über ihre Eindrücke von dem Attentat vernommen. Unter ihnen befanden sich zwei Leute aus der Provinz, deren § 2237§ 2238
428 VI. Die Traumarbeit
§ 2239einer erzählte, unmittelbar nach Schluß einer Rede habe er wohl
eine Detonation vernommen, aber gemeint, es sei im Parlament Sitte, jedesmal, wenn ein Redner geendigt, einen Schuß abzu— feuern. Der andere, der wahrscheinlich schon mehrere Redner angehört hatte, war in dasselbe Urteil verfallen, jedoch mit der Abänderung, daß solches Schießen eine Anerkennung sei, die nur nach besonders gelungenen Reden erfolge. § 2240Es ist also wohl keine andere psychische Instanz als unser
normales Denken, welche an den T rauminhalt mit dem Anspruch herantritt, er müsse verständlirih sein, ihn einer ersten Deutung unterzieht und. dadurch das volle Mißverständnis desselben herbei— führt. Für unsere Deutung bleibt” es Vorschrift, den scheinbaren Zusammenhang im Traum, als seiner Herkunft nach verdächtig, in allen Fällen unbeachtet zu lassen und vom Klaren wie vom Verwarrenen den gleichen Weg des Rückganges zum Traum material einzuschlagen. § 2241Wir merken aber dabei, wovon die oben, S. 529, erwähnte
Qualitätenskala der Träume von der Verwerrenheit bis zur Klarheit wesentlich abhängt. Klar erscheinen uns jene Traumpartien, an denen die sekundäre Bearbeitung etwas ausrichten konnte, ver— worren jene anderen, wo die Kraft dieser Leistung versagt hat. Da die verworrenen Traumpartien so häufig auch die minder lebhaft ausgeprägten sind, so dürfen wir den Schluß ziehen, daß die sekundäre Traumarbeit auch für einen Beitrag zur plastischen Intensität der einzelnen Traumgebilde verantwortlich zu machen ist. § 2242Soll ich für die definitive Gestaltung des Traumes, wie sie sich
unter' der Mitwirkung des normalen Denkens ergibt, irgendwo ein Vergleichsobjekt suchen, so bietet sich mir kein anderes als jene rätselhaften Inschriften, mit denen die „Fliegenden Blätter“ so lange ihre Leser unterhalten haben. Für einen gewissen Satz, des Kontrastes halber dem Dialekt angehörig und von möglichst skurriler Bedeutung, soll die Erwartung erweckt werden, daß er eine lateinische Inschrift enthalte. Zu diesem Zwecke werden die § 2243§ 2244
Der naßuerständliche scheinbare Zusammenhang 4.29
§ 2245Buchstabenelemente der Worte aus ihrer Zusammenfügung zu
Silben gerissen und neu angeordnet. Hie und da kommt ein echt lateinisches Wort zustande, an anderen Stellen glauben wir Ab kürzungen solcher Worte vor uns zu haben, und an noch anderen Stellen der Inschrift lassen wir uns mit dem Anscheine von ver— witterten Partien oder von Lücken der Inschrift über die Sinn— losigkeit der vereinzelt stehenden Buchstaben hinwegtäuschen. Wenn wir dem Scherze nicht aufsitzen wollen, müssen wir uns über alle Requisite einer Inschrift hinwegsetzen, die Buchstaben ins Auge fassen und sie unbekümmert um die gebotene Anord nung zu Worten unserer Muttersprache zusammensetzen. § 2246[Zusatzkapitsl E] .
§ 2247Ich gehe nun daran, diese ausgedehnten Erörterungen über
die Traumarbeit zu resümieren. Wir fanden die Fragestellung vor, ob die Seele alle ihre Fähigkeiten in ungehemrnter Entfaltung an die Traumbildung verwende, oder nur einen in seiner Leistung gehemmten Bruchteil derselben. Unsere Untersuchungen leiten uns dazu, solche Fragestellung überhaupt als den Verhältnissen inadäquat zu verwerfen. Sollen wir aber bei der Antwort auf demselben Boden bleiben, auf den uns die Frage drängt, so müssen wir beide, einander scheinbar durch Gegensatz ausschließende Auffassungen bejahen. Die seelische Arbeit bei der Traumbildung zerlegt sich in zwei Leistungen: die Herstellung der Traumgedanken und die Umwandlung derselben zum Trauminhalt. Die Traumgedanken sind völlig korrekt und mit allem psychischen Aufwand, dessen wir fähig sind, gebildet; sie gehören unserem nicht bewußt gewordenen Denken an, aus dem durch eine gewisse Umsetzung auch die bewußten Gedanken hervor— gehen. So viel an ihnen auch wissenswert und rätselhaft sein möge, diese Rätsel haben doch keine besondere Beziehung zum Traume und verdienen nicht, unter den Traumproblemen behandelt zu werden. [5 44] Hingegen ist jenes andere Stück Arbeit, welches die unbewußten Gedanken in den Trauminhalt verwandelt, dem Traum— leben eigentümlich_ und für dasselbe charakteristisch. Diese eigent § 2248§ 2249
4.3,o VI . Die Traumarbeit
§ 2250liche Traumarbeit entfernt sich nun von dem Vorbild des wachen
Denkens viel weiter, als selbst die entschiedensten Verkleinerer der psychischen Leistung bei der Traumbildung gemeint haben. Sie ist nicht etwa nachlässiger, inkorrekter, vergeßlicher, unvoll— ständiger als das wache Denken; sie ist etwas davon qualitativ völlig Verschiedenes und darum zunächst nicht mit ihm vergleichbar. Sie denkt, rechnet, urteilt überhaupt nicht, sondern sie beschränkt sich darauf umzuformen. Sie läßt sich erschöpfend beschreiben, wenn man die Bedingungen ins Auge faßt, denen ihr Erzeugnis zu genügen hat. Dieses Produkt, der Traum, soll vor allem der Zensur entzogen werden und zu diesem Zwecke bedient sich die Traumarbeit der Verschiebung der psychischen Inten— sitäten bis zur Umwertu.ng aller psychischen Werte; es sollen Gedanken ausschließlich oder vorwiegend in dem Material visueller und akustischer Erinnerungsspuren wiedergegeben werden, und aus dieser Anforderung erwächst für die Traumarbeit die Rück— sicht auf Darstellbarkeit, der sie durch neue Verschiebungen entspricht. Es sollen (wahrscheinlich) größere Intensitäten hergestellt werden, als in den Traumgedanken nächtlich zur Verfügung stehen, und diesem Zwecke dient die ausgiebige Verdichtung, die mit den Bestandteilen der Traumgedanken vorgenommen wird. Auf die logischen Relationen des Gedankenmateriales entfällt wenig Rück— sicht; sie finden schließlich in formalen Eigentümlichkeiten der Träume eine versteckte Darstellung. Die Affekte der Traumgedanken unterliegen geringeren Veränderungen als deren Vorstellungsinhalt. Sie werden in der Regel unterdrückt; wo sie erhalten bleiben, von den Vorstellungen abgelöst und nach ihrer Gleichartigkeit zusammen gesetzt. Nur ein Stück der Traumarbeit, die in ihrem Ausmaß inkonsta.nte Überarbeitung durch das zum Teil geweckte Wach— denken, fügt sich etwa der Auffassung, welche die Autoren für die gesamte Tätigkeit der Traumbildung geltend machen wollten. [E 46] § 2251§ 2252
VII
ZUR PSYCHOLOGIE DER TBAUMVORGÄNGE § 2253Unter den Träumen, die ich durch Mitteilung von seiten
anderer erfahren habe, befindet sich einer, der jetzt einen ganz besonderen Anspruch auf unsere Beachtung erhebt. Er ist mir von einer Patientin erzählt werden, die ihn selbst in einer Vor lesung über den Traum kennen gelernt hat; seine eigentliche Quelle ist mir unbekannt geblieben. Jener Dame aber hat er durch seinen Inhalt Eindruck gemacht, denn sie hat es nicht versäumt, ihn „nachzutxäumen“, d. h. Elemente des Tram-nes in einem eigenen Traum zu wiederholen, um durch diese Übertragung eine Übereinstimmung in einem bestimmten Punkte auszudrücken. § 2254Die Vorbedingungen dieses vorbildlichen Traumes sind fol
gende: Ein Vater hat Tage und Nächte lang am Krankenbette seines Kindes gewacht. Nachdem das Kind gestorben, begibt er sich in einem Nebenzinuner zur Ruhe, läßt aber die Tür ge öffnet, um aus seinem Schlafraum in jenen zu blicken, worin die Leiche des Kindes aufgebahrt liegt, von großen Kerzen umstellt. Ein alter Mann ist. zur Wache bestellt werden und sitzt neben der Leiche, Gebete murmelnd. Nach einigen Stunden Schlafes träumt der Vater, daß das Kind an seinem Bene steht, ihn am Arme faßt und ihm vorwurfsvoll zuraunt: Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne? Er erwacht, merkt einen hellen Lichtschein, der aus dem Leichenzimmer kommt, § 2255§ 2256
459 VII. Zur Psychologie der Traunworgiz'nge
§ 2257eilt hin, findet den greisen Wächter eingeschlumrnert, die Hüllen
und einen Arm der teuren Leiche verbrannt durch eine Kerze, die brennend auf sie gefallen war. § 2258Die Erklärung dieses führenden Traumes ist einfach genug und
wurde auch von dem Vortragenden, wie meine Patientin em'ihlt1 richtig gegeben. Der helle Lichtschein drang durch die offen stehende Tür ins Auge des Schlafenden und regte denselben Schluß bei ihm an, den er als Wachender gezogen hätte, es sei durch Umfallen einer Kene ein Brand in der Nähe der Leiche entstanden. Vielleicht hatte selbst der Vater die Besorgnis mit in den Schlaf hinübergenommen, daß der greise Wächter seiner Aufgabe nicht gewachsen sein dürfte. § 2259Auch wir finden an dieser Deutung nichts zu verändern, es
sei denn, daß wir die Forderung hinzufügten, der Inhalt des Traumes müsse i.'lberdeten:niniert1 und die Rede des Kindes aus Reden zusammengesetzt sein, die es im Leben wirklich geführt, und die an dem Vater wichtige Ereignisse anknüpfen. Etwa die Klage: Ich verbrenne, an das Fieber, in dem das Kind gestorben, und die Worte: Vater, siehst du denn nicht? an eine andere uns unbekannte, aber aifektreiche Gelegenheit. § 2260Nachdem wir aber den Traum als einen sinnvollen, in den
Zusammenhang des psychischen Geschehens einfüngen Vorgang erkannt haben, werden wir uns vermindern dürfen, daß unter solchen Verhältnissen überhaupt ein Traum zustande kam, wo das rascheste Erwachen geboten war. Wir werden dann aufmerksam, daß auch dieser Traum einer Wunscherfüllung nicht entbehrt. Im Traum benimmt sich das tote Kind wie ein lebendes, es mahnt selbst den Vater, kommt an sein Bett und zieht ihn am Arm, wie es wahrscheinlich in jener Erinnerung tat, aus welcher der Traum das erste Stück der Rede des Kindes geholt hat. Dieser Wunscherfüllung zuliebe hat der Vater nun seinen Schlaf um einen Moment verlängert. Der Traum erhielt das Vorrecht vor der Überlegung im Wachen, weil er das Kind noch einmal lebend § 2261§ 2262
Die psychobgischz Besonderheit der Traum 455
§ 2263zeigen konnte. Wäre der Vater zuerst erwacht und hätte dann
den Schluß gezogen, der ihn ins Leichenzimmer führte, so hätte er gleichsam das Leben des Kindes um diesen einen Moment verkürzt. § 2264Es kann kein Zweifel darüber sein, durch Welche Eigentüm
lichkeit dieser kleine Traum unser Interesse fesselt. Wir haben uns bisher vorwiegend darum gekümmert, worin der geheime Sinn der Träume besteht7 auf welchem Weg derselbe gefunden wird, und welcher Mittel sich die Traumarbeit bedient hat, ihn zu verbergen. Die Aufgaben der Traumdeutung standen bis jetzt im Mittelpunkte unseres Blickfeldes. Und nun smßen wir auf diesen Traum, welcher der Deutung keine Aufgabe stellt, dessen Sinn unverhüllt gegeben ist, und werden aufmerksam, daß dieser Traum noch immer die wesentlichen Charaktere bewahrt, durch die ein Traum auffällig von unserem wachen Denken abweicht und unser Bedürfnis nach Erklärung rege macht. Nach der Be seitigung alles dessen, was die Deutungsarbeit angeht, können wir erst merken, wie unvollständig unsere Psychologie des Traumes geblieben ist. § 2265Ehe wir aber mit unseren Gedanken diesen neuen Weg ein—
schlagen, wollen wir Halt machen und zurücksehauen, ob wir auf unserer Wanderung bis hieher nichts Wichtiges unbeachtet ge lassen haben. Denn wir müssen uns klar darüber werden, daß die bequeme und behagliche Strecke unseres Weges hinter uns liegt. Bisher haben alle Wege, die wir gegangen sind, wenn ich nicht sehr irre, ins Lichte, zur Aufklärung und zum vollen Verständnis geführt; von dem Moment an, da wir in die seelischen Vorgänge beim Träumen tiefer eindringen wollen, werden alle Pfade ins Dunkel münden. Wir können es unmöglich dahin bringen, den Traum als psychischen Vorgang aufzuklären, denn erklären heißt auf Bekanntes zurückführen, und es gibt derzeit keine psychologische Kenntnis, der wir unterordnen könnten, was sich aus der psychologischen Prüfung der Träume als Erklärungsgrund § 2266Prlud, n. an
§ 2267§ 2268
454 VII. Zur Psyckobgie dcr Traumwrgängz
§ 2269erschließen läßt. Wir werden im Gegenteil genötigt sein, eine
Reihe von neuen Annahmen aufzustellen, die den Bau des seelischen Apparates und das Spiel der in ihm tätigen Kräfte mit Vermutungen streifen, und. die wir bedacht sein müssen, nicht zu weit über die erste logische Angliederung auszuspinnen, weil sonst ihr Wert sich ins Unhestimmbare verläuft. Selbst wenn wir keinen Fehler im Schließen begehen und alle logisch sich ergebenden Möglichkeiten in Rechnung ziehen, droht uns die wahrscheinliche Unvollständigkeit im Ansatz der Elemente mit dem völligen Fehl schlagen der Rechnung. Einen Aufschluß über die Konstruktion und Arbeitsweise des Seeleninstrumentes wird man durch die sorg fältigste Untersuchung des Traumes oder einer anderen verein— zelten Leistung nicht gewinnen oder wenigstens nicht begründen können, sondern wird zu diesem Zwecke zusammentragen müssen, was sich bei dem vergleichenden Studium einer ganzen Reihe von psychischen Leistungen als konstant erforderlich heraus stellt. So werden die psychologischen Annahmen, die wir aus der Analyse der Treumvorgänge schöpfen, gleichsam an einer Halte— stelle warten müssen, bis sie den Anschluß an die Ergebnisse anderer Untersuchungen gefunden haben, die von einem anderen Angriffspunkte her zum Kern des nämlichen Problems vordringen wollen. § 2270A
§ 2271Das Vergessen der Träume
§ 2272Ich meine also, wir wenden uns vorher zu einem Thema, aus
dem sich ein bisher unbenchteter Einwand ableitet, der doch ge eignet ist, unseren Bemühungen um die 'I\'aumdeutung den Boden zu entziehen. Es ist uns von mehr als einer Seite vorgehalten worden, daß wir den Traum, den wir deuten wollen, eigentlich gar nicht kennen, richtiger, daß wir keine Gewähr dafür haben, ihn so zu kennen, wie er wirklich vorgefallen ist (vgl. S. 50). § 2273§ 2274
Das V„gmm der Träume 455
§ 2275Was wir vom Traum erinnem, und woran wir unsere
Deutungskünste üben, das ist erstens verstümmelt durch die Untreue unseres Gedächtnises, welches in ganz besonders hohem Grade zur Bewahrung des Trauma unfähig scheint, und hat viel leicht gerade die bedeutsamsten Stücke seines Inhaltes eingebüßt. Wir finden uns ja so oft, wenn wir unseren Träumen Aufmerk— samkeit schenken wollen, zur Klage veranlaßt, daß wir viel mehr geträumt haben und leider davon nichts mehr wissen als dies eine Bruchstück, dessen Erinnerung selbst uns eigentümlich unsicher vorkommt. Zweitens aber spricht alles dafür, daß unsere Erinne— rung den Traum nicht nur lückenhaft, sondern auch ungetreu und verfälscht wiedergibt. So wie man einerseits daran zweifeln kann, ob das Geträumte wirklich so unzussmmenhängend und verschwommen war, wie wir es im Gedächtnis haben, so läßt sich anderseits in Zweifel ziehen, ob ein Traum so zusammen— hängend gewesen ist, wie wir ihn erzählen, ob wir bei dem Ver» such der Reproduktion nicht vorhandene oder durch Vergessen geschaffene Lücken mit willkürlich gewähltem neuen Materials ausfüllen, den Traum ausschmücken, abrunclen, zurichten, so daß jedes Urteil unmöglich wird, was der wirkliche Inhalt unseres Traumes war. J a bei einem Autor (Spitta) [E 1] haben wir die Mut— maßung gefunden, daß alles, was Ordnung und Zusammenhang ist, überhaupt erst bei dem Versuch, sich den Traum zurückzu rufen, in ihn hineingetragen wird. So sind wir in Gefahr, daß man uns den Gegenstand selbst aus der Hand Winde, dessen Wert zu bestimmen wir unternommen haben. § 2276Wir haben bei unseren Traumdeutungen bisher diese Warnungen
überhört. Ja wir haben im Gegenteil in den kleinsten, unschein barsten und unsichersten Inhaltsbestandteilen des Traumes die Aufforderung zur Deutung nicht minder vernehmlich gefunden, als in dessen deutlich und sicher erhaltenen. Im Traum von Irmas Injektion hieß es: Ich rufe schnell den Doktor M. herbei, und wir nahmen an, auch dieser Zusatz wäre nicht in den Traum § 2277„,.
§ 2278§ 2279
456 VII. Zur nychnbzgie der Traunvarga'inge
§ 2280gelangt, wenn er nicht eine besondere Ableitung zuließe. So
kamen wir zur Geschichte jener unglücklichen Patientin, an deren Bett ich „schnell“ den älteren Kollegen berief, In dem scheinbar absurden Traum, der den Unterschied von einundfünfzig und sechsundfünfzig als quantite' ne'gligeable behandelt. war die Zahl einundfünfzig mehrmal erwähnt. Anstatt dies selbstverständlich oder gleichgültig zu finden, haben wir daraus auf einen zweiten Ge dankengang in dem latenten Trauminhalt geschlossen, der zur Zahl einundfünfzig hinflihrt, und die Spur, die wir weiter ver folgten, führte uns zu Befürchtungen, welche einundfünfzig Jahre als Lebensgrenze hinstellen, im schärfsten Gegensatz zu einem domi nierenden Gedankenzug, der prahlerisch mit den Lebensjahren um sich wirft. In dem Traume „Non uizz't“ fand sich als unschein— bares Einschiebsel, das ich anfangs übersah, die Stelle: „Da P. ihn nicht versteht, fragt mich Fl.“ usw. Als dann die Deutung steckte, griff ich auf diese Worte zurück, und fand von ihnen aus den Weg zu der Kinderphantasie, die in den Traumgedanken als intermediärer Knotenpunkt auftritt. Es geschah dies mittels der Zeilen des Dichters: § 2281Selten habt ihr mich verstanden,
§ 2282Selten auch verstand ich Euch,
§ 2283Nur wenn wir im Kot um fanden,
§ 228450 verstanden wir uns gleich!
§ 2285Jede Analyse könnte mit Beispielen belegen, wie gerade die
geringfügigsten Züge des Traumes zur Deutung unentbehrlich sind, und wie die Erledigung der Aufgabe verzögert wird, indem sich die Aufmerksamkeit solchen erst spät zuwendet. Die gleiche Würdigung haben wir bei der Traumdeutung jeder Nuance des sprachlichen Ausdruckes geschenkt, in welchem der Traum uns vorlag,- ja, wenn uns ein unsinniger oder unzureichender Wort— laut vorgelegt wurde, als ob es der Anstrengung nicht gelungen wäre, den Traum in die richtige Fassung zu übersetzen, haben wir auch diese Mängel des Ausdruckes respektiert. Kurz, was nach § 2286§ 2287
Die Em;u„„; der Trauma bei der Reproduktion 451
§ 2288der Meinung der Autoren eine willkürliche, in der Verlegenheit
eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text, Dieser Widerspruch bedarf der Aufklärung. § 2289Sie lautet zu unseren Gunsten, ohne darum den Autoren Un«
recht zu geben. Vom Standpunkte unserer neugewonnenen Ein sichten über die Entstehung des Traumes vereinigen sich die Widersprüche ohne Rest. Es ist richtig, daß wir den Traum beim Versuch der Reproduktion enßtellen; wir finden darin wieder, was wir als die sekundäre und oft mißverständliche Bearbeitung des Traumes durch die Instanz des normalen Denkens bezeichnet haben. Aber diese Entstehung ist selbst nichts anderes als ein Stück der Bearbeitung, welcher die Traumgedanken gesetzmäßig infolge der Traumzensur unterliegen. Die Autoren haben hier das manifest arbeitende Stück der Traumentstellung geahnt oder be— merkt; [uns verschlägt es wenig, da wir wissen, daß eine weit ausgiebigere Entstellungsarbeit, minder leicht faßbar, den Traum bereits von den verborgenen Traumgedanken her zum Objekt erkoren hat. Die Autoren irren nur darin, daß sie die Modifi kation des Traumes bei seinem Erinnern und In—Worte—Fassen für willkürlich, also für nicht weiter auflösbar und demnach für ge— eigset halten, uns an der Erkenntnis des Traumes irre zu leiten. Sie unterschätzen die Detenninierung im Psychischen. Es gibt da nichts Willkürliches. Es läßt sich ganz allgemein zeigen, daß einl ‘ zweiter Gedankenzug sofort die Bestimmung des Elementes über— ‘ nimmt, welches vom ersten unbestimmt gelassen wurde. Ich will mir 2. B. ganz willkürlich eine Zahl einfallen lassen; es ist nicht möglich; die Zahl, die mir einfa'llt, ist durch Gedanken in mir, die meinem momentanen Vorsatz ferne stehen mögen, eindeutig und notwendig bestimmt. [5 2] Ebensowenig willkürlich sind die Ver— änderungen, die der Traum bei der Redaktion des Wachens er— fährt. Sie bleiben in assoziativer Verknüpfung mit dem Inhalt, an dessen Stelle sie sich setzen, und dienen dazu, uns den Weg zu § 2290§ 2291
453 VII. Zur Psycholagie der Traumvorgängz
§ 2292diesem Inhalt zu zeigen, der selbst wieder der Ersatz eines anderen
sein mag. § 2293Ich pflege bei den Traumanalysen mit Patienten folgende Probe
auf diese Behauptung nie ohne Erfolg anzustellen. Wenn mir der Bericht eines Traumes zuerst schwer verständlich erscheint, so bitte ich den Erzähler, ihn zu wiederholen. Das geschieht dann selten mit den nämlichen Worten. Die Stellen aber, an denen er den Ausdruck verändert hat, die sind mir als die schwachen Stellen der Traumverkleidung kenntlich gemacht werden, die dienen mir wie Hagen das gestickte Zeichen an Siegfrieds Gewand. Dort kann die Traumdeutung ansetzen. Der Erzähler ist durch meine Aufforderung gewarnt werden, daß ich besondere Mühe zur § 2294: Lösung des Traumes anzuwenden gedenke; er schützt also rasch,
§ 2295unter dem Drange des Widerstandes, die schwachen Stellen der
Traumverkleidnng, indem er einen verräterischen Ausdruck durch einen ferner abliegenden ersetzt. Er macht mich so auf den von ihm fallen gelassenen Ausdruck aufmerksam. Aus der Mühe, mit der die Traumlösung verteidigt wird, darf ich auch auf die Sorg § 2296falt schließen, die dem Traum sein Gewand gewebt hat.
§ 2297Minder recht haben die Autoren, wenn sie dem Zweifel, mit
dem unser Urteil der Traumexzählung begegnet, so sehr viel Raum machen. Dieser Zweifel entbehrt nämlich einer intellek tuellen Gewähr; unser Gedächtnis kennt überhaupt keine Garantien, und doch unterliegen wir viel öfter, als objektiv gerechtfertigt ist, dem Zwange, seinen Angaben Glauben zu schenken. Der Zweifel an der richtigen Wiedergabe des Traumes oder einzelner Traum daten ist wieder nur ein Abkömmling der Traumzensur, des Widerstandes gegen das Durchdringen der Traumgedanken zum Bewußtsein. Dieser Widerstand hat sich mit den von ihm durch» gesetzten Verschiebungen und Ersetzungen nicht immer erschöpft, er heftet sich dann noch an das Durchgelassene als Zweifel. Wir verkennen diesen Zweifel um so leichter, als er die Vorsicht ge braucht, niemals intensive Elemente des Traumes anzugreifen, § 2298§ 2299
Der Zweile an d„ Treu: der Traumzrinnerung 459
§ 2300sondern bloß schwache und undeutliche. Wir wissen aber jetzt
bereits, daß zwischen Traumgedanken und Traum eine völlige Umwertung aller psychischen Werte stattgefunden hat; die Ent stellung war nur möglich durch Wertentziehung, sie äußert sich regelmäßig darin und begnügt sich gelegentlich damit. Wenn zu einem undeutlichen Element des Trauminhaltes noch der Zweifel hinzutritt, so können wir, dem Fingerzeige folgend, in diesem einen direkteren Abkümmling eines der verfehmten Traum-; gedanken erkennen. Es ist damit, wie nach einer großen Um wälzung in einer der Republiken des Altertums oder der Renaissance. Die früher herrschenden edlen und mächtigen Familien sind nun verbannt, alle haben Stellungen mit Emporkömmlingen besetzt; in der Stadt geduldet sind nur noch ganz verarrnte und machtlose Mitglieder oder entfernte Anhänger der Gestürzten. Aber auch diese genießen nicht die vollen Bürgerrechte, sie werden mißtrauisch überwacht. An der Stelle des Mißtrauens im Beispiel steht in unserem Falle der Zweifel. Ich verlange darum bei der Analyse eines Traumes, daß man sich von der ganzen Skala der Sicherheitsschätzung frei mache, die leiseste Möglichkeit, daß etwas der oder jener Art im Traum vorgekomrnen sei, be handle wie die volle Gewißheit. So lange jemand bei der Ver folgung eines Traumelernentes sich nicht zum Verzicht auf diese Rücksicht entschlossen, so lange stockt hier die Analyse. Die Geringschätzung für das betreffende Element hat bei dem Analy sierten die psychische Wirkung, daß ihm von den ungewollten Vorstellungen hinter demselben nichts einfallen will. Solche Wir kung ist eigentlich nicht selbstverständlich; es wäre nicht wider« sinnig, wenn jemand sagte: Ob dies oder jenes im Traume ent halten war, weiß ich nicht sicher; es fällt mir aber dazu fol gendes ein. Niemals sagt er so, und gerade diese die Analyse störende Wirkung des Zweifels läßt ihn als einen Abkömmling und als ein Werkzeug des psychischen Widerstandes entlarven. Die Psychoanalyse ist mit Recht mißtrauisch. Eine ihrer Regeln § 2301§ 2302
4.4.0 VI]. Zur Psycholagiz der Traunwargiinge
§ 2303lautet: Was immer die Fortsetzung der Arbeit stört7 ist
ein Widerstand. [E 3] § 2304Auch das Vergessen der Trämne bleibt so lange una-gründlich,
als man nicht die Macht der psychischen Zensur zu seiner Er klärung rnitheranzieht Die Empfindung, daß man in einer Nacht sehr viel geträumt und davon nur wenig behalten hat, mag in einer Reihe von Fällen einen anderen Sinn haben, etwa den, daß die Traumarheit die Nacht hindurch spürbar vor sich gegangen ist und nur den einen kurzen Traum hinterlassen hat. Sonst ist an der Tatsache, daß man den Traum nach dem Erwachen immer mehr vergißt, ein Zweifel nicht möglich. Man vergißt ihn oh trotz peinlicher Bemühungen, ihn zu merken. Ich meine aber, so wie man in der Regel den Umfang dieses Vergessens über schätzt, so überschätzt man auch die mit der Lückenhaftigkeit des Treumes verbundene Einhuße an seiner Kenntnis. Alles, was das Vergessen am Trauminhalt gekostet hat, kann man oft durch die Analyse wieder hereinbringen; wenigstens in einer ganzen Anzahl von Fällen kann man von einem einzelnen stehen gebliebenen Brocken aus, zwar nicht den Traum — aber an dem liegt ja auch nichts —— doch die Traumgedanken alle auffinden. Es ver» langt einen größeren Aufwand an Aufmerksamkeit und Selbstüber windung bei der Analyse; das ist alles, zeigt aber doch an, daß beim Vergessen des Traumes eine feindselige Absicht nicht ge fehlt hat. [: 4] § 2305Einen überzeugenden Beweis für die tendenziöse, dem Wider
stand dienende Natur des Traumvergessens‘ gewinnt man bei den Analysen aus der Würdigung einer Vorstufe des Vergessen; Es kommt gar nicht selten vor, daß mitten in der Deutungsarbeit plötzlich ein ausgelassenes Stück des Traumes auftaucht7 das als § 2306;) Vg1, über die Absicht heim Vergessen überhaupt meine kleine Abhandlung über
den „p:yehischen Mechanismus der Vergeßlichkeit“ in der „Mnnatsschrift für Psychiatrie und. Neurologie“, ,999 [wurde dann das 1. Kapitel der „Psychnpatlmlogie des Alltagslebens“, diese Gesamtausgabe Bd, IV], § 2307§ 2308
Der Anteil der Widermnde; am Traumvergessen 4.4.1
§ 2309bisher vergessen bezeichnet wird. Dieser der Vergessenheit ent—
rissene Traumteil ist nun jedesmal der wichtigste; er liegt auf dem kürzesten Wege zur Traumlösung und. war darum dem Widerstande am meisten ausgesetzt. Unter den Traumbeispielen, die ich in den Zusammenhang dieser Abhandlung eingestreut habe, trifft es sich einmal, daß ich so ein Stück Trauminhalt nachträglich einzuschalten habe. Es ist dies ein Reisetraum, der Rache nimmt an zwei unhebenswürdigen Reisegefa'hrten, den ich wegen seines zum Teil grobunflätigen Inhaltes fast ungedeutet gelassen habe. Das ausgelassene Stück lautet: Ich sage auf ein Buch von Schiller: It is from. .. Korrigiere mich aber, den Irrtum selbst bemerkemi: It is by . . . Der Mann bemerkt hierauf zu seiner Schwester: „Er hat es ja richtig gesagt.“ [5 s] § 2310Die Selbstkm'rektur im Traum, die manchen Autoren so wunderbar
erschienen ist, verdient wohl nicht, uns zu beschäftigen. Ich werde lieber für den Sprachirrtum im Traum das Vorbild aus meiner Erinnerung aufzeigen. Ich war neunzehnjährig zum erstenmal in England und einen Tag lang am Strande der Irish Sea. Ich schwelgte natürlich im Fang der von der Flut zurückgelessenen Seetiere und beschäftigte mich gerade mit einem Seestem (der Traum beginnt mit: Hollthurn—Holothurien), als ein reizendes kleines Mädchen zu mir trat und mich fragte: Is it a starfish? Is it alive? Ich antwortete: Yes he is alive, schämte mich aber dann der Inkorrektheit und wiederholte den Satz richtig. An Stelle des Spmchfehleis, den ich damals begangen habe, setzt nun der Traum einen anderen, in den der Deutsche ebenso leicht verfällt. „Das Buch ist von Schiller“, soll man nicht mit from . . ., sondern mit by . . . übersetzen. Daß die Traumarbeit diesen Ersatz vollzieht, weil from durch den Gleichklang mit dem deutschen Eigenschaftswort fromn1 eine großartige Verdichtung ermöglicht, das nimmt uns nach allem, was wir von den Absichten der Traumarbeit und von ihrer Rücksichtslosigkeit in der Wahl der Mittel gehört haben, nicht mehr Wunder. Was will aber die § 2311§ 2312
449 VII. Zur Psychologie der Traumvorgängz
§ 2313harmlose Erinnerung vom Meeresstrand im Zusammenhang des
Traumes hesagen? Sie erläutert an einem möglichst unschuldigen Beispiel, daß ich das Geschlechtswort am unrechten Platz ge hrauche, also das Geschlechtliche (he) dort anbringe, wo es nicht hingehört. Dies ist allerdings einer der Schlüasel zur Lösung des Traumes. Wer dann noch die Ableitung des Buchtitels „Matter and Motion“ angehört hat (Moliére im Malade Imaginaire: La matiére est—elle laudable? * a motion of the bnwßls), der wird sich das Fehlende leicht ergänzen können. § 2314Ich kann übrigens den Beweis, daß das Vergessen des Traumes
zum großen Teil Widerstandsleistung ist, durch eine Demanslratia ad oculos erledigen. Ein Patient erzählt, er halle geträumt, aber den Traum spurlos vergessen; dann gilt er eben als nicht vor gefallen. Wir setzen die Arbeit fort, ich stoße auf einen Wider stand, mache dem Kranken etwas klar, helfe ihm durch Zureden und Drängen, sich mit irgendeinem unangenehmen Gedanken zu versöhnen, und kaum ist das gelungen, so ruft er aus: Jetzt weiß ich auch wieder, was ich geträumt habe. Derselbe Widerstand, der ihn an diesem Tage in der Arbeit gestört hat, hat ihn auch den Traum vergessen lassen. Durch die Überwindung dieses Widerstandes habe ich den Traum zur Erinnerung gefördert. § 2315Ebenso kann sich der Patient, bei einer gewissen Stelle der
Arbeit angelangt, an einen Traum erinnern, der vor drei, vier oder mehr Tagen vorgefallen ist, und bis dahin in der Vergessenheit geruht hat. [E s] [5 7] § 2316Daß die Träume ebensowenig vergessen werden wie andere
§ 2317seelische Akte, und daß sie auch in bezug auf ihr Haften im
§ 2318Gedächtnis den anderen seelischen Leistungen ungeschmälert gleich
zustellen sind, zeigt mir eine Erfahrung, die ich bei der Abfassung dieses Manuskriptes machen konnte. Ich hatte in meinen Notizen reichlich eigene Träume aufbewahrt, die ich damals aus irgend einem Grunde nur sehr unvollständig oder auch überhaupt nicht § 2319§ 2320
Die verspätet: Deutung von Träumen. 445
§ 2321der Deutung unterziehen konnte. Bei einigen derselben habe ich
nun ein bis zwei Jahre später den Versuch, sie zu deuten, unter nommen, in der Absicht, mir Material zur Illustration meiner Behauptungen zu schaffen. Dieser Versuch gelang mir aus— nahmslos; ja ich möchte behaupten, die Deutung ging so lange Zeit später leichter vor sich als damals, su lange die Träume frische Erlebnisse waren, wofür ich als mögliche Erklärung an gehen möchte, daß ich seither über manche Widerstände in meinem Inneren weggekommen bin, die mich damals störterl. Ich habe bei solchen nachträglichen Deutungen die damaligen Er gebnisse an Traumgedanken mit den heutigen, meist viel reich haltigeren, verglichen und das damalige unter dem heutigen unverändert wiedergefunden. Ich trat meinem Erstaunen hierüber rechtzeitig in den Weg, indem ich mich besann, daß ich ja bei meinen Patienten längst in Übung habe, Träume aus früheren Jahren, die sie mir gelegentlich erzählen, deuten zu lassen, als ob es Träume aus der letzten Nacht wären, nach demselben Ver fahren und mit demselben Erfolg. Bei der Besprechung der Angst träume werde ich zwei Beispiele von strich verspäteter Traum— deutung mitteilen. Als ich diesen Versuch zum ersten Male anstellte, leitete mich die berechtigte Erwartung, daß der Traum sich auch hierin nur verhalten werde wie ein neurotisches Symptom. Wenn ich nämlich einen Psychoneurotiker, eine Hysterie etwa, mittels Psychoanalyse behandle, so muß ich für die ersten, längst überwundenen Symptome seines Leidens ebenso Aufklärung schaffen wie für die noch heute bestehenden, die ihn zu mir geführt haben, und finde erstere Aufgabe nur leichter zu lösen als die heute dringende. Schon in den 1895 publizierten „Studien über Hysterie“ konnte ich die Aufklärung eines ersten hysterischen Anfalles mitteilen, den die mehr als vienigjährige Frau in ihrem fünfzehnten Lebensjahre gehabt hatte. [E a] § 2322In loserer Anreihung will ich hier noch einiges verbringen,
was ich über die Deutung der Träume zu bemerken habe, und § 2323§ 2324
444 VII. Zur Pr_yclmlogiz der Traumvargängz
§ 2325was vielleicht den Leser orientieren wird, der mich durch Nach
arbeit an seinen eigenen Träumen kontrollieren will. § 2326FJ wird niemand erwarten dürfen, daß ihm die Deutung seiner
Träume mühelos in den Schoß falle. Schon zur Wahrnehmung endoptischer Phänomene und anderer für gewöhnlich der Aufinerb samkeit entzogener Sensationen bedarf es der Übung, obwohl kein psychisches Motiv sich gegen diese Gruppe von Wahrnehmungen sträubt. Es ist erheblich schwieriger, der „ungewollten Vor— stellungen“ habhaft zu werden. Wer dies verlangt, wird sich mit den Erwartungen erfüllen müssen, die in dieser Abhandlung rege gemacht werden, und wird in Eefolgung der hier gegebenen Regeln jede Kritik, jede Voreingenommenheit, jede affektive oder intellektuelle Parteinehme während der Arbeit bei sich nieder-zu halten bestrebt sein. Er wird der Vorschrift eingedenk bleiben, die Claude Bernard für den Experimentator im physiologischen Laboratorium aufgestellt hat: T rm}ailler comme une béte, d. 11. so ausdauernd, aber auch so unbekümmert um das Ergebnis. Wer diese Ratschläge befolgt, der wird die Aufgabe allerdings nicht mehr schwierig finden. Die Deutung eines Traumes vollzieht sich auch nicht immer in einem Zuge; nicht selten fühlt man seine Leistungsfa‘higkeit erschöpft, wenn man einer Verkettung von Einfällen gefolgt ist, der Traum sagt einem nichts mehr an diesem Tage; man tut dann gut abzubrechen und an einem nächsten zur Arbeit zurückzukehren. Dann lenkt ein anderes Stück des Trauminhaltes die Aufmerksamkeit auf sich, und man findet den Zugang zu einer neuen Schicht von Traumgedanken. Man kann das die „frektionierte“ Traumdeuth heißen. § 2327Am schwierigsten ist der Anfänger in der Traumdeutung zur
Anerkennung der Tatsache zu bewegen, daß seine Aufgabe nicht voll erledigt ist, wenn er eine vollständige Deutung des Traumes in Händen hat, die sinnreich, zusammenhängend ist und über alle Elemente des Trauminhaltes Auskunft gibt. Es kann außerdem eine andere, eine Überdeutung, desselben Traumes möglich sein, § 2328§ 2329
Rathge fiir die Traumdeutung 445
§ 2330die ihm entgangen ist. Es ist wirklich nicht leicht, sich von
dem Reichtum an unbewußten, nach Ausdruck ringenden Ge dankengängen in unserem Denken eine Vorstellung zu machen und an die Geschicklichkeit der Traumarbeit zu glauben, durch mehrdeutige Ausdrucksweise jedesmal gleichsam sieben Fliegen mit einem Schlage zu treffen, wie der Schneidergeselle im Märchen. Der Leser wird immer geneigt sein, dem Autor vorzu— werfen, daß er seinen Witz überflüssig vergeude; wer sich selbst Erfahrung erworben hat, wird sich eines Besseren helehrt finden. [E 9] § 2331Die Frage, ob jeder Traum zur Deutung gebracht werden
kann, ist mit Nein zu beantworten. Man darf nicht vergessen,} daß man bei der Deutungsarbeit die psychischen Mächtei gegen sich hat, welche die Entstehung des Traumes ver-j schulden. Es wird so eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob man mit seinem intellektuellen Interesse, seiner Fähigkeit zur Selbst überwindung, seinen psychologischen Kenntnissen und seiner Übung in der Traumdeutung den inneren Widerständen den Herrn zeigen kann. Ein Stück weit ist des immer möglich, so weit wenigstens, um die Überzeugung zu gewinnen, daß der Traum eine sinnreiche Bildung ist, und meist auch, um eine Ahnung dieses Sinues zu gewinnen. Recht häufig gestattet ein nächst— folgender Traum, die fiir den ersten angenommene Deutung zu versichern und weiter zu führen. Eine ganze Reihe von Träumen. die sich durch Wochen oder Monate zieht, ruht oft auf gemein— samem Boden, und ist dann im Zusammenhange der Deutung zu unterwerfen. Von aufeinanderfolgendeu Träumen kann man oft merken, wie der eine zum Mittelpunkte nimmt, was in dem nächsten nur in der Peripherie angedeutet wird, und umgekehrt, so daß die beiden einander auch zur Deutung ergänzen. Daß die verschiedenen Träume derselben Nacht ganz allgemein von der Deutungsarbeit wie ein Ganzes zu behandeln sind, habe ich bereits durch Beispiele erwiesen. § 2332§ 2333
446 VII. Zur Psydwlogiz der Tramrgängc
§ 2334In den bastgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im
Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge ge« liefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traumes, die Stelle, an der er dem Unerkannten au£sitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Ab schluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netmrtige Ver strickung unserer Gedankenwelt auslaui'en. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechtes erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium. § 2335Wir kehren zu den Tatsachen des Traumvergessens zurück.
Wir haben es nämlich versäumt, einen wichtigen Schluß aus ihnen zu ziehen. Wenn das Wachleben die unverkennbare Absicht zeigt, den Traum, der bei Nacht gebildet werden ist, zu vergessen, entv weder als Ganzes unmittelbar nach dem Erwachen oder stiickweise im Laufe des Tages, und wenn wir als den Hauptbeteiligten bei diesem Vergessen den seelischen Widerstand gegen den Traum er kennen, der doch schon in der Nacht das Seinige gegen den Traum getan hat, so liegt die Frage nahe, was eigentlich gegen diesen Widerstand die Traumhildung überhaupt ermöglicht hat. Nehmen wir den grellsten Fall, in dem das Wachleben den Traum wieder beseitigt, als ob er gar nicht vorgefallen wäre. Wenn wir dabei das Spiel der psychischen Kräfte in Betracht ziehen, so müssen wir aussagen, der Traum wäre überhaupt nicht zustande gekommen, wenn der Widerstand bei Nacht gewaltet hätte wie bei Tag. Unser Schluß ist, daß dieser wiihrend der Nachneit einen Teil seiner Macht eingebüßt hatte; wir wissen, er war nicht aufgehoben, denn wir haben seinen Anteil an der Traumbildung in der Traument stellung nachgewiesen. Aber die Möglichkeit drängt sich uns auf, daß er des Nachts verringert war, daß durch diese Abnahme des Widerstandes die Traumbildung möglich wurde, und wir verstehen so leicht, daß er, mit dem Erwachen in seine volle Kraft einge— § 2336§ 2337
Hzrabsztzung des Widerstandes im Schbzfzwtamie „7
§ 2338setzt, sofort wieder beseitigt, was er, so lange er schwach war,
zulassen mußte. Die beschreibende Psychologie lehrt uns ja, daß die Hauptbedingung der Traumbildung der Sch]afzustand der Seele ist; wir könnten nun die Erklärung hinzufügen: der Schlafzu-l stand ermöglicht die Traumbildung, indem er die ende—l psychische Zensur herabsetzt. § 2339Wir sind gewiß in Versuchung, diesen Schluß als den einzig mög
lichen aus den Tatsachen des Traumvergessens anzusehen, und weitere Folgerungen über die Energieverhähnisse des Schlafens und des Wachens aus ihm zu entwickeln. Wir wollen aber vorläufig hierin innehulten. Wenn wir uns in die Psychologie des Traumes ein Stück weiter vertieft haben, werden wir erfahren, daß man sich die Ermöglichung der Traumbildung auch noch anders vorstellen kann, Der Widerstand gegen das Bewußtwerden der Traumgedan— ken kann vielleicht auch umgengen werden, ohne daß er an sich eine Herabsetzung erfahren hätte. Es ist auch plausibel, daß beide der Traumbildung günstigen Momente, die Herabsetzung sowie die Umgehung des Widerstandes, durch den Schlafzustand gleich zeitig ermöglicht werden. Wir brechen hier ab, um nach einer , Weile hier fortzusetzen. § 2340Es gibt eine andere Reihe von Einwendungen gegen unser
Verfahren bei der Traumdeutung, um die wir uns jetzt bekümmern müssen. Wir gehen ja so vor, daß wir alle sonst das Nach denken beherrschenden Zielvorstellungen fallen lassen, unsere Auf merksamkeit auf ein einzelnes Traumelement richten und dann notieren, was uns an ungewollten Gedanken zu demselben ein» fällt. Dann greifen wir einen nächsten Bestandteil des Traum inhaltes auf, wiederholen an ihm dieselbe Arbeit und lassen uns, unbekümmert um die Richtung, nach der die Gedanken treiben, von ihnen weiter führen, wobei wir — wie man zu sagen pflegt — vom Hundertsten ins Tausendste geraten. Dabei hegen wir die zuversichtliche Erwartung, am Ende ganz ohne unser Dazutun auf die Traumgedanken zu geraten, aus denen der Traum ent § 2341§ 2342
4.4.8 VII. Zur Psychologie der Traumuarginge
§ 2343standen ist. Dagegen wird die Kritik nun etwa folgendes einzu
wenden haben: Daß man von einem einzelnen Elemente des Traumes irgendwohin gelangt, ist nichts Wunderbares. An jede Vorstellung läßt sich assoziativ etwas knüpfen; es ist nur merk würdig, daß man bei diesem ziellosen und willkürlichen Gedanken ablaui' gerade zu den Tmumgedanken geraten soll. Wahrscheinlich ist das eine Selbsttäuschung; man folgt der Assoziationskette von dem einen Elemente aus, bis man sie aus irgendeinem Grunde abreißen merkt; wenn man dann ein zweites Element aufnimmt, so ist es nur natürlich, daß die ursprüngliche Unbeschränktheit der Assoziation jetzt eine Einengung erfährt. Men hat die frühere Gedankenkette noch in Erinnerung und wird darum bei der Ana lyse der zweiten Traumvnrstellung leichter auf einzelne Einfille stoßen, die auch mit den Einflillen aus der ersten Kette irgend etwas gemein haben. Dann bildet man sich ein1 einen Gedanken gefunden zu haben, der einen Knotenpunkt zwischen zwei Traum elementen darstellt. Da man sich must jede Freiheit der Gedanken verhindung gestattet und eigentlich nur die Übergänge von einer Vorstellung zur anderen ausschließt, die beim normalen Denken in Kraft treten, so wird es schließlich nicht schwer, aus einer Reihe von „Zwischengedanken“ etwas zusanunenzu'brßuen1 was man die Traumgedanken benennt, und ohne jede Gewähr, da diese sonst nicht bekannt sind, für den psychischen Ersatz des Traumes § 2344§ 2345
Einwendungen gzgzn die Technik der Traumdzutung 449
§ 2346eine unserer Traumdeutungen, anders gewonnen werden könne,
als indem man vorher hergestellten psychischen Verbindungen nachf'ährt. Wir könnten auch zu unserer Rechtfertigung heran ziehen, daß das Verfahren bei der Traumdeutung identisch ist mit dem bei der Auflösung der hysterischen Symptome, wo die Richtigkeit des Verfahrens durch das Auftauchen und Schwinden der Symptome zu ihrer Stelle gewährleistet wird, wo also die Auslegung des Textes an den eingeschalteten Illustra— tionen einen Anhalt findet. Wii- haben aber keinen Grund, dem Problem, wieso man durch Verfolgung einer sich willkürlich und ziellos weiterspinnenden Gedankenkette zu einem präexi— stenten Ziele gelangen könne, aus dem Wege zu gehen, da wir dieses Problem zwar nicht zu lösen, aber voll zu beseitigen vermögen. § 2347Es ist nämlich nachweisbar unrichtig, daß wir uns einem ziel
losen Vorstellungsablauf hingehen, wenn wir, wie bei der Traum— deutungsarbeit, unser Nachdenken fallen und die ungewollten Vor— stellungen auftauchen lassen. Es läßt sich zeigen, daß wir immer nur auf die uns bekannten Zielvorstellungen verzichten können, und daß mit dem Aufhören dieser sofort unbekannte — wie wir ungenau sagen: unbewußte — Zielvorstellungen zur Macht kommen, die jetzt den Ablauf der ungewollten Vorstellungen determiniert halten. Ein Denken ohne Zielvorstellungen läßt sich durch unsere eigene Beeinflussung unseres Seelenlebens über— haupt nicht. herstellen; es ist mir aber auch unbekannt, in welchen Zuständen psychischer Zerrüttu.ng es sich sonst her— stellt. [Em] Die Psychiater haben hier viel zu früh auf die Festigkeit des psychischen Gefüges verzichtet. Ich weiß, daß ein ungeregelter, der Zielvorstellungen entbeh.render Gedankenablauf im Rahmen der Hysterie und der Paranoia ebensowenig vor kommt wie bei der Bildung oder bei der Auflösung der Träume. Er tritt vielleicht bei den endogenen psychischen Affektionen überhaupt nicht ein; selbst die Delirien der Verworrenen sind § 2348Freud. II. ,9
§ 2349§ 2350
450 VII. Zur Psychologie der Traumvargänge
§ 2351nach einer geistreichen Vermutung von Leuret sinnvoll und
werden nur durch Auslassungen für uns unverständlich. Ich habe die nämliche Überzeugung gewonnen, wo mir Gelegenheit zur Beobachtung geboten war. Die Deli.rien sind das Werk einer Zensur, die sich keine Mühe mehr gibt, ihr Walten zu ver» bergen, die anstatt ihre Mitwirkung zu einer nicht mehr an stößigen Umarbeitung zu leihen, rücksichtslos ausstreicht, wo— gegen sie Einspruch erhebt, wodurch dann das Übriggelassene zu— sammenhanglos wird. Diese Zensu'r verführt ganz analog der russi schen Zeitungszensur an der Grenze, welche ausländische Journale nur von schwarzen Strichen durchsetzt in die Hände der zu be hütenden Leser gelangen läßt. § 2352Das freie Spiel der Vorstellungen nach beliebiger Assoziatiuns
verkettung kommt vielleicht bei destruktiven organischen Gehirn prozessen zum Vorschein; was bei den Psychoneurosen für solches gehalten wird, läßt sich allemal durch Einvürkung der Zensur auf eine Gedankenreihe aufklären, welche von verborgen gebliebenen Zielvorstellungen in den Vordergrund geschoben wird. [Elfi Als ein untrü.gliches Zeichen der von Zielvorstellungen freien Assoziation hat man es betrachtet, wenn die auftauchenden Vorstellungen (oder Bilder) untereinander durch die Bande der sogenannten oberfläch— lichen Assoziation verknüpft erscheinen, also durch Assonanz, Wort zweideutigkeit, zeitliches Zusammentreffen ohne innere Sinnbezie hung, durch alle die Assoziationen, die wir im Witz und beim Wortspiel zu verwerten uns gestatten. Dieses Kennzeichen trifi‘t fiir die Gedankenverhindungen, die uns von den Elementen des Trauminhaltes zu den Kollateralen und von diesen zu den eigent lichen Traumgedanken führen, zu; wir haben bei vielen Traum— analysen Beispiele davon gefunden, die unser Befremden wecken mußten. Keine Anknüpfung war da zu locker, kein Witz zu ver werfl.ich, als daß er nicht die Brücke von einem Gedanken zum andern hätte bilden dürfen. Aber das’richtige Verständnis solcher Nachsichtigkeit liegt nicht ferne. Jedesmal, wenn ein psychi» § 2353§ 2354
Rechtfertigung der Deutungxtzchnik 451
§ 2355sches Element mit einem anderen durch eine anstößige
und oberflächliche Assoziation verbunden ist, existiert auch eine korrekte und tiefergehende Verknüpfung zwi schen den beiden, welche dem Widerstande der Zensur unterliegt. § 2356Druck der Zensur, nicht Aufhebung der Zielvorstellungen ist
die richtige Begründung für das Vorherrschen der oberflächlichen Assoziationen. Die oberflächlichen Assoziationen ersetzen in der Darstellung die tiefen, wenn die Zensur diese normalen Verbin dungswege ungangbar macht. Es ist, wie wenn ein allgemeines Verkehrshindernis, z. B. eine Überschwemmung, im Gebirge die großen und breiten Straßen unwegsam werden läßt; der Verkehr wird dann auf unbequemen und steilen Fußpfaden aufrecht er halten, die sonst nur der Jäger begangen hatte, § 2357Man kann hier zwei Fälle voneinander trennen, die im
wesentlichen eins sind. Entweder die Zensur richtet sich nur gegen den Zusammenhang zweier Gedanken, die von einander losgelöst, dem Einspruch entgehen. Dann treten die beiden Ge danken nacheinander ins Bewußtsein; ihr Zusammenhang bleibt verborgen; aber dafür fällt uns eine oberflächliche Verknüpfung zwischen beiden ein, an die wir sonst nicht gedacht hätten, und die in der Regel an einer anderen Ecke des Vorstellungskomplexes ansetzt, als von welcher die unterdrückte, aber wesentliche Ver— bindung ausgeht. Oder aber, beide Gedanken unterliegen an sich wegen ihres Inhaltes der Zensur; dann erscheinen beide nicht in der richtigen, sondern in modifizierter, ersetzter Form, und die beiden Ersatzgedanken sind so gewählt., daß sie durch eine oberflächliche Assoziation die wesentliche Verbindung wieder» geben, in der die von ihnen ersetzten stehen. Unter dem Druck der Zensur hat hier in beiden Fällen eine Ver schiebung stattgefunden von einer normalen, ernst haften Assoziation auf eine oberflächliche, absurd erscheinende. § 235829'
§ 2359§ 2360
45u VII. z.„ Psychologie der Traumvorgäng:
§ 2361Weil wir von diesen Verschiebungen wissen, vertrauen wir
uns bei der Traumdeutung auch den oberflächlichen Assoziatiunen ganz ohne Bedenken an.‘ § 2362Von den beiden Sätzen, daß mit dem Aufgeben der bewußten
Zielvorstellungen die Herrschaft über den Vorstellungsablauf an verborgene Zielvorstellungen übergeht, und daß oberflächliche Asso— ziationen nur ein Velschiebungsersatz sind für unterdrückte tiefer gehende, macht die Psychoanalyse bei Neurosen den ausgiebigsten Gebrauch; in, sie erhebt die beiden Sätze zu Grundpfeilern ihrer Technik. Wenn ich einem Patienten auftrage, alles Nachdenken fahren zu lassen und mir zu berichten, was immer ihm dann in den Sinn kommt, so halte ich die Voraussetzung fest, daß er die Zielvorstellungen der Behandlung nicht fahren lassen kann, und halte mich für berechtigt zu folgern, daß das scheinbar Harmloseste und Willkürlichste, das er mir berichtet, im Zusammenhange mit seinem Krankheitszustande steht. Eine andere Zielvorstellung, von der dem Patienten nichts ahnt, ist die meiner Person. Die volle Würdigung sowie der eingehende Nachweis der beiden Aufklä rungen gehört demnach in die Darstellung der psychoanalytischen Technik als therapeutischen Methode. Wir haben hier einen der Anschlüsse erreicht, bei denen wir das Thema der Traumdeutung vorsätzlich fallen lassen. [E 12] § 2363Eines nur ist richtig und bleibt von den Einwendungen be
stehen, nämlich, daß wir nicht alle Einflille der Deutungsarbeit auch in die nächtliche Traumarbeit zu versetzen brauchen. Wir machen ja beim Deuten im Wachen einen Weg, der von den Traumelementen zu den Traumgedanken rückläuft. Die Traum arbeit hat den umgeketh Weg genommen, und es ist gar nicht § 23641) Dieselben Erwägungen gelten natürlich auch für den 17.11, daB die oberfläch
lichen Annziat'ionen im Traumirlhalt hlnfigelegt werden, wie z. B. in den beid von Maury mitgeteilten Träumen (s. 64.: pélzn'nag: _ Pellm‘:r _ „114,- Kilumcrr — Kil„pmn _ 5i1„1„ _ Labzlia _ Lg,.z _ Limo), Ani der Arbeit mit Neurotikern weiß ich, welche Beminiszenz sich so darzustellen liebt. Es in das Nachschlagen im Kunversntionslexiknn (Lexikon überhaupt), .us dem in die meisten in der Zeit der Pubertätmeug-ierrle ihr Bedürfnii nach Aufklärung der sexuellen neun gestillt haben. § 2365§ 2366
Die Regression 455
§ 2367wahrscheinlich, daß diese Wege in umgekehrter Richtung gangbar
sind. Es erweist sich vielmehr, daß wir bei Tag über neue Ge dankenverhindungen Schachte führen, Welche die Zwischengedan ken und die Traumgedanken bald an dieser7 bald an jener Stelle treffen Wir können sehen, wie sich das frische Gedankenrnaterial des Tages in die Deutungsreihen einschiebt, und wahrscheinlich nötigt auch die Widerstandssteigemng, die seit der Nachtzeit ein— getreten ist, zu neuen und femeren Umwegen. Die Zahl oder Art der Kollateralen aber, die wir so bei Tag anspirmen, ist psychologisch völlig hedeutungslos, wenn sie uns nur den Weg zu den gesuchten Traumgedanken fiihren. § 2368B
Die Regression § 2369Nun aber, da wir uns gegen die Einwendungen verwahrt oder
wenigstens angezeigt haben, wo unsere Waffen zur Abwehr ruhen, dürfen wir es nicht länger verschieben, in dic psychologischen Untersuchungen einzutreten, für die wir uns längst gen‘istet haben. Wir stellen die Hauptergebnisse unserer bisherigen Untersuchung zusammen. Der Traum ist ein vollwichtiger psychischer Akt; seine Triebkraft ist alle Male ein zu erfüllender Wunsch; seine Un kenntlichkeit als Wunsch und seine vielen Sonderbarkeiten und Absurditäten rühren von dem Einfluß der psychischen Zensur her, den er bei der Bildung erfahren hat; außer der Nötigung, sich dieser Zensur zu entziehen, haben bei seiner Bildung mitgewirkt eine Nötigung zur Verdichtung des psychischen Materials, eine Rücksicht auf Darstellharkeit in Sinnesbildern und — wenn auch nicht regelmäßig — eine Rücksicht auf ein rationel.les und intelligihles Äußere des Traumgehildes. Von jedem dieser Sätze fiihrt der Weg weiter zu psychologischen Postulaten und Mut maßungen; die gegenseitige Beziehung des Wunschmotives und der vier Bedingungen, sowie dieser untereinander, ist zu unter— § 2370§ 2371
454 VII. Zur Psychologie der Traunwargr'z'ngz
§ 2372suchen; der Traum ist in den Zmamrneuhang des Seelenlebens
einzureihen. § 2373Wir haben einen Traum an die Spitze diese: Abschnittes ge
stellt, um uns an die Rätsel zu mahnen, deren Lösung noch aus steht. Die Deutung dieses Traumes vom brennenden Kind bereitete uns keine Schwierigkeiten, wenngleich sie nicht in unserem Sinne vollständig gegeben war. Wir fragten uns, warum hier überhaupt geträumt wurde, anstatt zu erwachen, und erkannten als das eine Motiv des Träumers den Wunsch, das Kind als lebend vorzustellen. Daß noch ein anderer Wunsch dabei eine'Rolle spielt, werden wir nach späteren Erörterungen einsehen können, Zunächst also ist es die Wunscherfi'illung, der zuhebe der Denkvorgang des Schlafens in einen Traum verwandelt wurde. § 2374Macht man diese rückgängig, so bleibt nur noch ein Charakter
übrig, welcher die beiden Arten des psychischen Geschehens von einander scheidet. Der Traumgedanke hätte gelautet: Ich sehe einen Schein aus dem Zimmer, in dem die Leiche liegt. Vielleicht ist eine Kene umgefallen und das Kind brennt! Der Traum gibt das Resultat einer Überlegung unverändert wieder, aber dargestth in einer Situation, die gegenwärtig und mit den Sinnen wie ein Er lebnis des Wachens zu erfassen ist. Das ist aber der allgemeinste und auffälligste psychologische Charakter des Träumens; ein Ge danke, in der Regel der gewünschte, wird im Traume o;bjeküvieyn als Szene dargestellt oder, wie wir meinen, erlebt. § 2375Wie soll man nun diese charakteristische Eigentümlichkeit der
Traumarbeit erklären oder , bescheidener' ausgedrückt — in den Zusammenhang der psychischen Vorgänge einfügen? § 2376Bei näheren; Zusehen merkt man wohl, daß in der Er—
scheinungsform des Traumes zwei voneinander fast unabhängige Charaktere ausgeprägt sind. Der eine ist die Darstellung als gegenwärtige Situation mit Weglassung des „vielleicht“; der andere die Umsetzung des Gedankens in visuelle Bilder und in Rede. § 2377§ 2378
Das Präsens für den 0ptativ 455
§ 2379Die Umwandlung, welche die Traumgedanken dadurch er—
fahren, daß die in ihnen ausgedrückte Erwartung ins Präsens gesetzt wird, scheint vielleicht gerade an diesem Traume nicht sehr auffällig. Es hängt dies mit der besonderen, eigentlich neben sächlichen Rolle der VVunscherfüllung in diesem Traume zu sammen. Nehmen wir einen anderen Traum vor, in dem sich der Traumwunsch nicht von der! Fortsetzuiig der Wachgedanken in den Schlaf absenden, z. B. den von Irmas Injektion. Hier ist der zur Darstellung gelangende Traumgedanke ein Optativ: Wenn doch der Otto an der Krankheit Irmas schuld sein möchte! Der Traum verdrängt den Optativ und ersetzt ihn durch ein simples Präsens: Ja, Otto ist schuld an der Krankheit Irmas. Das ist also die erste der Verwandlungen, die auch der entstellungsfreie Traum mit den Traumgedanken vornimmt. Bei dieser ersten Eigentümlich« keit des Traumes werden wir uns nicht lange aufhalten. Wir erledigen sie durch den Hinweis auf die bewußte Phantasie, auf den Tagtraum, der mit seinem Vorstellungsinhalt ebenso verführt Wenn Daudets Mr. oneuse heschäftigungslos durch die Straßen von Paris irrt, während seine Töchter glauben müssen, er habe eine Anstellung und sitze in seinem Bureau, so träumt er von den Vorfällen, die ihm zur Protektion und zu einer Anstellung verhelfen sollen, gleichfalls im Präsens. Der Traum gebraucht also; das Präsens in derselben Weise und mit demselben Rechte wie der Tagtraum. Das Präsens ist die Zeitform, in welcher der Wunsch als erfüllt dargestellt wird. § 2380Dem Traume allein zum Unterschiede vom Tagtraume eigen
tümlich ist aber der zweite Charakter, daß der Vurstellungsinhalt nicht gedacht, sondern in sinnliche Bilder verwandelt wird, denen man dann Glauben schenkt, und die man zu erleben meint. Fügen wir gleich hinzu, daß nicht alle Träume die Umwandlung von Vorstellung in Sinnesbild zeigen; es gibt Träume, die nur aus Gedanken bestehen, denen man die Wesenheit der Träume darum doch nicht. bestreiten wird. Mein Traum: „Autodidasker —— § 2381§ 2382
§ 2383
Fahnen Idee einer psychischen Lokalität 4.57
§ 2384etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen
Apparat u. dgl. Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines solchen Apparats, an dem eine der Vor— stufen des Bildes zustande kommt. Beim Mikroskop und Fernrohr sind dies bekanntlich zum Teil ideelle Örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gelegen ist. Für die Unvollkommenheiten dieser und aller ähnlichen Bilder Ent schuldigung zu erbitten, halte ich für überflüssig. Diese Gleich— nisse sollen uns nur bei einem Versuch unterstützen, der es unter— nimmt, uns die Komplikation der psychischen Leistung ver ständlich zu machen, indem wir diese Leistung zerlegen, und die Einzelleistung den einzelnen Bestandteilen des Apparaß zuweisen. Der Versuch, die Zusammensetzung des seelischen Instruments am solcher Zerlegung zu erraten, ist meines Wissens noch nicht gewagt werden. Er scheint mir harmlos. Ich meine, wir dürfen unseren Vermutungen freien Lauf lassen, wenn wir dabei nur unser kühles Urteil bewahren, das Gerüste nicht für den Bau halten. Da wir nichts anderes benötigen als Hilfsvorstellungen zur ersten An näherung an etwas Unbekanntes, so werden wir die rohesten und greifbarsten Annahmen zunächst allen anderen voniehen. § 2385Wir stellen uns also den seelischen Apparat vor als ein zu
sammengesetztes Instrument, dessen Bestandteile wir Instanzen oder der Anschaulichkeit zuliebe Systeme heißen wollen. Dann bilden wir die Erwartung, daß diese Systeme vielleicht eine kon stante räumliche Orientierung gegeneinander haben, etwa wie die verschiedenen Linsensysteme des Fernrohres hintereinander stehen. Streng genommen brauchen wir die Annahme einer wirklich räumlichen Anordnung der psychischen Systeme nicht zu machen. Es genügt uns, wenn eine feste Reihenfolge dadurch hergestellt wird, daß bei gewissen psychischen Vorgängen die Systeme in einer bestimmten zeitlichen Folge von der Erregung durchlaufen werden. Die Folge mag bei anderen Vorgängen eine Abänderung erfahren; eine solche Möglichkeit wollen wir uns offen lassen. § 2386§ 2387
458 VII. Zur Psychologie der Traumuorgiinge
§ 2388Von den Bestandteilen des Apparates wollen wir von nun an der
Kürze halber als „IP-Systeme“ sprechen. § 2389Das erste, das uns auffällt, ist nun, daß dieser aus lP-Systemen
zusammengesetzte Apparat eine Richtung hat. All unsere psychische Tätigkeit geht von (inneren oder äußeren) Reizen aus und endigt in Innervatiunen. Somit schreiben wir dem Apparat ein sensibles und ein motorisches Ende zu; an dem sensiblen Ende befindet sich ein System, welches die Wahrnehmungen empfängt, am motorischen Ende ein anderes, welches die Schleusen der Motilität eröffnet. Der psychische Vorgang verläuft im allgemeinen vom Wahrnehmungsende zum Morilitätsende. Das allgemeinste Schema des psychischen Apparates hätte also folgendes Ansehen: § 2390Fig, 1
[__—JM \__/> § 2391Das ist aber nur die Erfüllung der uns längst vertrauten
Forderung, der psychische Apparat müsse gebaut sein wie ein Reflexapparan Der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistung. § 2392Wir haben nun Grund, am sensiblen Ende eine erste Differen
zierung eintreten zulassen. Von den Wahrnehmungen, die an uns herankommen, verbleibt in unserem psychischen Apparat eine Spur, die wir „Erinnerungsspur“ heißen können. Die Funktion, die sich auf diese Erinnerungsspur bezieht, heißen wir ja „Ge dächtnis“. Wenn wir Ernst mit dem Vorsatz machen, die psychi § 2393schen Vorgänge an Systeme zu knüpfen, so kann die Erinne
rungsspur nur bestehen in bleibenden Veränderungen an den § 2394§ 2395
Ein Scham: dt: seelischen Apparat; 459
§ 2396Elementen der Systeme. Nun bringt es, wie schon von anderer
Seite ausgeführt, offenbar Schwierigkeiten mit sich, wenn ein und dasselbe System an seinen Elementen Veränderungen getreu he wahren und doch neuen Anlässen zur Veränderung immer frisch und aufnahmsffiihig entgegentreten soll. Nach dem Prinzip, das unseren Versuch leitet, werden wir also diese beiden Leistungen auf verschiedene Systeme verteilen. Wir nehmen an, daß ein vorders'tes System des Apparats die Wahrnehmungsreize auf nimmt, aber nichts von ihnen bewahrt, also kein Gedächtnis hat, und daß hinter diesem ein zweites System liegt, welches die momentane Erregung des ersten in Dauerspuren umsetzt. Dann wäre dies das Bild unseres psychischen Apparats (Fig. 9): § 2397Fig. 1
W Er Er' Er" M § 2398/ \.
§ 2399\_/„
§ 2400Es ist bekannt, daß wir von den Wahrnehmungen, die auf
System W einwirken, noch etwas anderes als bleibend bewahren als den Inhalt derselben. Unsere Wahrnehmungen erweisen sich auch als im Gedächtnis miteinander verknüpft, und zwar vor allem nach ihrem einstigen Zusammentreffen in der Gleichzeitig— keit, Wir heißen das die Tatsache der Assoziation. Es ist nun klar, wenn das W—System überhaupt kein Gedächtnis hat7 daß es auch die Spuren für die Assoziation nicht auibewahren kann; die einzelnen ”"-Elemente wären in ihrer Funktion unerträglich be hindert, wenn sich gegen eine neue Wahrnehmung ein Rest früherer Verknüpfung geltend machen würde. Wir müssen also als die Grundlage der Assoziation vielmehr die Erinnerungssysteme § 2401§ 2402
\,‘
§ 2403450 VII. Zur Psychabzgie der Traumargir'nge
§ 2404' annehmen. Die Tatsache der Assoziation besteht dann darin, daß
§ 2405infolge von Widerstandsverringerungen und Bahnungen von einem
der Er-Elemente die Erregung sich eher nach einem zweiten als nach einem dritten Er-Elernent fortpilanzt. § 2406Bei näherem Eingehen ergibt sich die Notwendigkeit, nicht
eines, sondern mehrere solcher Er-Systeme anzunehmen, in denen dieselbe, durch die lV—Elernente fortgepflanzte Erregung eine ver schiedenanige Fixierung erfährt. Das erste dieser Er—Systeme wird jedenfalls die Fixierung der Assoziation durch Gleichzeitigkeit ent halten, in den weiter entfernt liegenden wird dasselbe Erregungs material nach anderen Arten des Zusammentrefi'ens angeordnet sein, su daß etwa Beziehungen der Ähnlichkeit u. a. durch diese späteren Systeme dargestth würden. Es wäre natürlich mäßig, die psychische Bedeutung eines solchen Systems in Worten angehen zu wollen. Die Charakteristik desselben läge in der Innigkeit seiner Ben‘ehungen zu Elemean des Erinnerungsrohrnaterials, d. h., wenn wir auf eine tiefer greifende Theorie hinweisen wollen, in den Abstufungen des Leitungswiderstandes nach diesen Elementen hin. § 2407Eine Bemerkung allgemeiner Natur, die vielleicht auf Bedeut»
sames hinweist, wäre hier einzuschalten. Das WSystern, welches keine Fähigkeiten hat, Veränderungen zu bewahren, also kein Gedächtnis, ergibt für unser Bewußtsein die ganze Mannigfalt'ig keit der sinnlichen Qualitäten. Umgekehrt sind unsere Erinne rungen, die am tiefsten uns eingeprägten nicht ausgenommen, an sich unhewußt. Sie können bewußt gemacht werden; es ist aber kein Zweifel, daß sie im unhewußten Zustand alle ihre Wir» kungen entfalten. Was wir unseren Charakter nennen, beruht in auf den Erinnerungsspuren unserer Eindrücke, und zwar sind gerade die Eindrücke, die am stärksten auf uns gewirkt hatten, die unserer ersten Jugend, solche, die fast nie bewußt werden. Werden aber Erinnerungen wieder bewußt, so zeigen sie keine sinnliche Qualität oder eine sehr geringfügige im Vergleiche zu den Wahrnehmungen. Ließe sich nun bestätigen, daß Gedächtnis § 2408§ 2409
Bewußtseuuqualität und Gndä'chtm'sspur _ 461
§ 2410und Qualität für das Bewußtsein an den ‘P-Systemen
einander ausschließen, so eröffnete sich in die Bedingungen der Neuronerregu.ng ein vielversprechender Einblick. [E13] § 2411Was wir bisher über die Zusammensetzung des psychischen
Apparats am sensibeln Ende angennmmen haben, erfolgte ohne Rücksicht auf den Traum und die aus ihm ableitharen psycho logischen Aufklärungen. Für die Erkenntnis eines anderen Stückes des Apparats wird uns aber der Traum zur Beweisquelle. Wir haben gesehen, daß es uns umöglich wurde, die Traumhildung zu erklären, wenn wir nicht die Annahmen zweier psychischen Instanzen wagen wollten, von denen die eine die Tätigkeit der anderen einer Kritik untei'zieht, als deren Folge sich die Ausschließung vom Bewußtwerden ergibt. § 2412Die kritisierende Instanz, haben wir geschlossen, unterhält
nähere Beziehungen zum Bewußtsein als die kritisierte. Sie steht zwischen dieser und dem Bewußtsein wie ein Schirm. Wir haben ferner Anhaltspunkte gefunden, die kritisierende Instanz mit dem zu identifizieren, was unser weiches Leben lenkt und über unser willkürliches, bewußtes Handeln entscheidet. Ersetzen wir nun diese Instanzen im Sinne unserer Annahmen durch Systeme, so wird durch die letzterwähnte Erkenntnis des kritisierende System uns motorische Ende gerückt. Wir tragen nun die beiden Systeme in unser Schema ein und drücken in den ihnen verliehenen Namen ihre Beziehung zum Bewußtsein aus. § 2413Fig- 5
§ 2414W Er Er’ Ubw wa
§ 2415§ 2416
469 VII. Zur Psyclmlogiz der Traumvorgiz'ngz
§ 2417Das letzte der Systeme am motorischen Ende heißen wir das
Vorbewußte, um anzudeuten, daß die Erregungsvorgänge in demselben ohne weitere Aufhaltung zum Bewußtsein gelangen können, falls noch gewisse Bedingungen erfüllt sind, z. B. die Erreichung einer gewissen Intensitäg eine gewisse Verteilung jener Funktion, die man Aufmerksamkeit zu nennen hat, u. dgl, Es ist gleichzeitig das System, welches die Schlüssel zur will kürlichen Motilität innehat. Das System dahinter heißen wir das Unbewußte, weil es keinen Zugang zum Bewußtsein hat, außer durch das Vorhewußte, bei welchem Durch gang sein Erregungsvorgang sich Abänderungen gefallen lassen muß. [sie] § 2418In welches dieser Systeme verlegen wir nun den Anstoß zur
Traumbildung? Der Vereinfachung zuliebe in das System Ubw. Wir werden zwar in späteren Erörterungen hören, daß dies nicht ganz richtig ist, daß die Traumbildu.ng genötigt ist, an Traum gedanken anzuknüpfen, die dem System des Vorbewußten an gehören. Wir werden aber auch an anderer Stelle, wenn wir vom Traumwunsch handeln, erfahren, daß die Triebkraft für den Traum vom Ubw heigestellt wird, und. wegen dieses letzteren Moments wollen wir das unhewußte System als den Ausgangs punkt der Traumhildung annehmen. Diese Traumerregung wird nun wie alle anderen Gedankenhildungen das Bestreben äußern, sich ins wa fortzusetzen und von diesem aus den Zugang zum Bewußtsein zu gewinnen. § 2419Die Erfahrung lehrt uns, daß den Traumgedanken tagsüber
dieser Weg, der durchs Vorbewußte zum Bewußtsein führt, durch die Widerstandszensur verlegt ist. In der Nacht schaffen sie sich den Zugang zum Bewußtsein; aber es erhebt sich die Frage, auf welchem Wege und dank welcher Veränderung. Würde dies den Traumgedanken dadurch ermöglicht, daß nachts der Widerstand absinkt, der an der Grenze zwischen Unbewußtem und Vor bewußtem wacht, so bekamen wir Träume in dem Material § 2420§ 2421
Die Richtung des Erregung;abbzufs 455
§ 2422unserer Vorstellungen, die nicht den halluzinatorischen Charakter
zeigen., der uns jetzt interessiert. § 2423Das Absinken der Zensur zwischen den beiden Systemen Ubw
und wa kann uns also nur solche Traumbildungen erklären wie Autodidasker, aber nicht Träume wie den vom brennen den Kinde, den wir uns als Problem an den Eingang dieser Untersuchungen gestellt haben. § 2424Was im hallu7.inatorischen Traum vor sich geht, können wir
nicht anders beschreiben, als indem wir sagen: Die Erregung nimmt einen rückläufigen Weg. Anstatt gegen das motorische Ende des Apparats pflanzt sie sich gegen das sensible fort und langt schließlich heim System der Wahrnehmungen an. Heißen wir die Richtung, nach welcher sich der Psychische Vorgang aus dem Unbewußten im Wachen fortsetzt, die progre'diente, so dürfen wir vom Traum aussagen, er habe regredienten Charakter. [515] § 2425Diese Regression ist dann sicherlich eine der wichtigsten
psychologischen Eigentümlichkeiten des Traumvorganges; aber wir dürfen nicht vergessen, daß sie dem Träumen nicht allein zu? kommt. Auch das absichtliche Erinnern und andere Teilvorgänge unseres normalen Denkens entsprechen einem Rückschreiten im psychischen Apparat von irgendwelchem komplexen Vorstellungsakt auf das Rohmaterial der Erinnerungsspuren7 die ihm zugrunde liegen. Während des Wachens aber reicht dieses Zurückgreifen niemals über die Erinnerungsbilder hinaus; es vermag die halbi zinatorische Belebung der Wahrnehmungsbilder nicht zu erzeugen, Warum ist dies im Traume anders? Als wir von der Verdichtungs— arbeit des Traumes sprachen, konnten wir der Annahme nicht ausweichen, daß durch die Traumarbeit die an den Vorstellungen haftender) Intensitäten von einer zur anderen voll übertragen werden. Wahrscheinlich ist es diese Abänderung des sonstigen psychischen Vorganges, welche es ermöglicht, das System der W bis zur vollen sinnlichen Lebhaftigkeit in umgekehrter Richtung, von den Gedanken her, zu besetzen, § 2426§ 2427
464 VII.” Zur Psychoth d„ Trawnuargü'nge
§ 2428Ich hoffe, wir sind Weit davon entfernt, uns über die Trag
weite dieser Erörterungen zu täuschen. Wir haben nichts anderes getan, als für ein nicht zu erklärendes Phänomen einen Namen gegeben. Wir heißen es Regression, wenn sich im Traum die Vorstellung in das sinnliche Bild rückverwandelt, aus dem sie irgendeinmal hervorgegangen ist. Auch dieser Schritt verlangt aber Rechtfertigung. Wozu die Namengebung, wenn sie uns nichts Neues lehrt? Nun ich meine, der Name „Regression“ dient uns insoferne, als er die uns bekannte Tatsache an das Schema des mit einer Richtung versehenen seelischen Apparats knüpft. An dieser Stelle verlohnt es sich aber zum ersten Male, ein solches Schema aufgestellt zu haben. Denn eine andere Eigentümlichkeit der Traumhi.ldung wird uns ohne neue Überlegung allein mit Hilfe des Schemas einsichtl.ich werden. Wenn wir den Traum vorgang als eine Regression innerhalb des von uns angenommen seelischen Apparats ansehen, so erklärt sich uns ohne weiteres die empirisch festgestellte Tatsache, daß alle Denkrelationen der Traumgedanken bei der Traumarbeit verlorengehen oder nur mühseligen Ausdruck finden. Diese Denkrelationen sind nach unserem Schema nicht in den ersten Er—Systemen, sondern in weiter nach vom liegenden enthalten und müssen bei der Re gression bis auf die Wahmehmungsbilder ihren Ausdruck ein baßen. Das Gefüge der Traumgedanken wird bei der Regression in sein Rohmaterial aufgelöst. § 2429Durch welche Veränderung wird aber die bei Tag unmögliche
Regression ermöglicht? Hier wollen wir es bei Vermutungen be— wenden lassen. Es muß sich wohl um Veränderungen in den Energiehesetzungen der einzelnen Systeme handeln, durch welche sie wegsamer oder unwegsarner für den Ablauf der Erregung werden; aber in jedem derartigen Apparat könnte der nämliche Effekt für den Weg der Erregung durch mehr als eine Art von solchen Ahänderungen zustande gebracht werden. Man denkt natürlich sofort an den Schlafzustand und an Besetzungsänderungen, § 2430§ 2431
Hystzrl'sche Ihgressionen, Vinan 465
§ 2432die er am sensiblen Ende des Apparats hervorruft. Bei Tag gibt
es eine kontinuierlich laufende Strömung von dem w—System der W her zur Motilität; diese hat bei Nacht ein Ende und könnte einer Rückströmung der Erregung kein Hindernis mehr bereiten. Es wäre dies die „Abschließung von der Außenwelt“, welche in der Theorie einiger Autoren die psychologischen Charaktere des Traumes aufklären soll (vgl. S. 55). Indeß wird man bei der Erklärung der Regression des Traumes Rücksicht auf jene anderen Regressionen nehmen müssen, die in krankhaften Wachzuständen zustande kommen. Bei diesen Formen läßt natürlich die eben gegebene Auskunft im Stiche. Es kommt zur Regression trotz der ununterbrochenen sensiblen Strömung in progredienter Richtung. § 2433Für die Halluzinationen der Hysterie, der Paranoia, die Visionen
§ 2434geistesnorrnaler Personen kann ich die Aufklärung geben, daß sie ‘
§ 2435tatsächlich Begressionen entsprechen, d. h. in Bilder verwandelte
Gedanken sind, und daß nur solche Gedanken diese Verwandlung erfahren, welche mit unterdrückten oder unbewußt gebliebenen § 2436Erinnerungen im intimen Zusammenhange stehen. Zum Beispiel \
einer meiner jüngsten Hysteriker, ein zwölfiähriger Knabe, wird § 2437am Einschlafen gehindert durch „grüne Gesichter mit roten
Augen“, vor denen er sich entsetzt. Quelle dieser Erscheinung ist die unterdrückte, aber einstens bewußte Erinnerung an einen Knaben, den er vor vier Jahren oftmals sah, und der ihm ein abschreckendes Bild vieler Kinderunarten bot, darunter auch jener der Onanie, aus der er sich selbst jetzt einen nachträglichen Vor wurf macht. Die Mama hatte damals bemerkt, daß der ungezogene Junge eine grünliche Gesichtsfarbe habe und rote (d. h. rot geränderte) Augen. Daher das Schreckgespenst, das übrigens nur dazu bestimmt ist, ihn an eine andere Vorhersage der Mama zu erinnern, daß solche Jungen blödsinnig werden, in der Schule nichts erlernen können und früh sterben. Unser kleiner Patient läßt den einen Teil der Prophezeiung eintreflen; er kommt im Gymnasium nicht weiter, und fürchtet sich, wie das Verhör seiner Fund. „. ,a § 2438§ 2439
466 VII. Zur Psychologie der Traumuorgängz
§ 2440ungewollten Einfiille zeigt, entsetzlich vor dem zweiten Teil. Die
Behandlung hat. allerdings nach kurzer Zeit den Erfolg, daß er schläft, seine Ängstlichkeit verliert und sein Schuljahr mit einem Vorzugszeugnis abschließt. § 2441Hier kann ich die Auflösung einer Vision anreihen, die mir
eine vierzigjährige Hysterika aus ihren gesunden Tagen erzählt hat, Eines Morgens schlägt sie die Augen auf und sieht ihren Bruder im Zimmer, der sich doch, wie sie weiß, in der eren anstalt befindet. Ihr kleiner Sohn schläft im Bette neben ihr. Damit das Kind nicht erschrickt und in Krämpfe verfällt, wenn es den Onkel sieht, zieht sie die Bettdecke über dasselbe, und dann verschwindet die Erscheinung. Die Vision ist die Um— arbeitung einer Kindererinnemng der Dame, die zwar bewußt war, aber mit allem unbewußtem Materiale in ihrem Innern in intimster Beziehung stand. Ihre Kinderfrau hatte ihr erzählt7 daß die sehr früh verstorbene Mutter (sie war zur Zeit des Todes falles erst eineinhalb Jahre alt) an epileptischen Oder hysterischen Krämpfen gelitten hatte, und zwar seit einem Schreck, den ihr der Bruder (der Onkel meiner Patientin) dadurch verursachte, daß er ihr als Gespenst mit einer Eettdecke über dem Kopf erschien. Die Vision enthält dieselben Elemente wie die Erinnerung: Die Erscheinung des Bruders, die Bettdecke, den Schreck und seine Wirkung. Diese Elemente sind aber zu neuem Zusammen— hange angeordnet und auf andere Personen übertragen. Das offen— kundige Motiv der Vision, der durch sie ersetzte Gedanke, ist die Besorgnis, daß ihr kleiner Sohn, der seinem Onkel physisch so ähnlich war, das Schicksal desselben teilen könnte. § 2442Beide hier angeführten Beispiele sind nicht frei von aller Be
ziehung zum Schlafzustande und darum vielleicht zu dem Beweise ungeeignet7 fiir den ich sie brauche. Ich verweise also auf meine Analyse einer halluzinierenden Paranoika‘ und auf die Ergebnisse § 24431) Weitere Bemerkungen über die Ahwdzr-Neuropsychosen, Neurologische! Zand
ann. :896, Nr. „. [Ges. Schriften, Bd. I.] § 2444§ 2445
Die Anziehung der Infanzilszznzn 457
§ 2446meiner noch nicht veröfientlicbten Studien über die Psychologie
der Psychoneurosen, um zu bekräftigen, daß man in diesen Fällen von regredienter Gedankenverwandlung den Einfluß einer unter drückten oder unbewußt gebliebenen Erinnerung, meist einer infantilen, nicht übersehen darf, Diese Erinnerung zieht gleichsam den mit ihr in Verbindung stehenden, an seinem Ausdruck durch die Zensur verhinderten Gedanken, in die Regresa'on als in jene Form der Darstellung, in der sie selbst psychisch vorhanden ist. Ich darf hier als ein Ergebnis der Studien über Hysterie anführen, daß die infantilen Szenen (seien sie nun Erinnerungen oder Phantasien), wenn es gelingt, sie bewußt zu machen, halluzi natur-isch gesehen werden und erst beim Mitteilen diesen Charakter abstreifen. Es ist auch bekannt, daß selbst bei Personen, die sonst im Erinnern nicht visuell sind, die frühesten Kindererinnerungen den Charakter der sinnlichen Lebhaftigkeit bis in späte Jahre bewahren. § 2447Wenn man sich nun erinnert, welche Rolle in den Traum
gedanken den infantilen Erlebnissen oder den auf sie gegründeten Phantasien zufällt, wie häufig Stücke derselben im Trauminhalt wieder auftauchen, wie die Traumwfmsche selbst häufig aus ihnen abgeleitet sind, so wird man auch für den Traum die Wahr— scheinlichkeit nicht abweisen, daß die Verwandlung von Gedanken in visuelle Bilder mit die Folge der Anziehung sein möge, welche die nach Neubelebung strebende, visuell dargestellte Er— innerung auf den nach Ausdruck ringenden, vom Bewußtsein abgeschnittenen Gedanken ausübt. Nach dieser Auffassung ließe sich der Traum auch beschreiben als der durch Übertragung auf Rezentes veränderte Ersatz der infantilen Szene. Die Infantilszene kann ihre Erneuerung nicht durchsetzen; sie muß sich mit der Wiederkehr als Traum begnügen. § 2448Der Hinweis auf die gewissermaßen vorbildliche Bedeutung der
Infantilszenen (oder ihrer phantastischen Wiederholungen) für den Trauminhalt, macht eine der Annahmen Scherners und seiner § 2449""
§ 2450§ 2451
468 VII. Zur Psychologie der Traumargiinge
§ 2452Anhänger über die inneren Reizquellen überflüssig. Scherner
nimmt einen Zustand von „Gesichtsreiz“, von innerer Erregung im Sehorgan an, wenn die Träume eine besondere Lebhaftigkeit ihrer visuellen Elemente oder einen besonderen Reichtum an solchen erkennen lassen. Wir brauchen uns gegen diese Annahme nicht zu sträuhen, dürfen uns etwa damit hegnügen, einen solchen Erregungszustand bloß für das psychische Wahrnehmungssystem des Sehorgans zu statuieren, werden aber geltend machen, daß dieser Erregungszußtand ein durch die Erinneng hergestellter, die Auffrischung der seinerzeit aktuellen Seher'regung ist. Ich habe aus eigener Erfahrung kein gutes Beispiel für solchen Einfluß einer infantilen Erinnerung zur Hand; meine Träume sind über haupt weniger reich an sinnlichen Elementen, als ich die anderer schätzen muß; aber in dem schönsten und lehaftesten Traume dieser letzten Jahre wird es mir leicht, die halluzinetorische Deutlichkeit des Trauminheltes auf sinnliche Qualitäten rezenter und kürzlid1 erfolgter Eindrücke zurückzuführen, Ich habe auf S. 595 einen Traum erwähnt, in dem die tiefblaue Farbe des Wassers, die braune Farbe des Rauches aus den Kaminen der Schiffe und das düstere Braun und Rot der Bauwerke, die ich sah, mir einen tiefen Eindruck hinterließen. Wenn irgendeiner, so mußte dieser Traum auf Gesichtsreiz gedeutet werden. Und was hatte mein Sehorgan in diesen Reiuustand versetzt? Ein rezenter Eindruck, der sich mit einer Reihe früherer zusammen tat. Die Farben, die ich sah, waren zunächst die des Ankerstein baukestens, rnit dem die Kinder am Tage vor meinem Traume ein großartiges Bauwerk aufgeführt hatten, um es meiner Be wunderung zu zeigen Da fanden sich das nämliche düstere Rot an den großen, das Blau und Braun an den kleinen Steinen. Dazu gesellten sich die Farbeneindrücke der letzten italienischen Reisen, das schöne Blau des Isonzo und der Lagune und das Braun des Karstes. Die Farbenschönheit des Traumes war nur eine Wiederholung der in der Erinnerung gesehenen. § 2453§ 2454
Der rzgrzdientz Charakter 469
§ 2455Fassen wir zusammen, was wir über die Eigentümlichkeit des
Traumes, seinen Vorstellungsinhalt in sinnliche Bilder umzugießen, erfahren haben. Wir haben diesen Charakter der Traumarbeit nicht etwa erklärt, auf bekannte Gesetze der Psychologie zurück geführt, sondern haben ihn als auf unbekannte Verhältnisse hin deutend hereusgegriffen und durch den Namen des „regte— dienten“ Charakters ausgezeichnet. Wir haben gemeint, diese Regression sei wohl überall, wo sie vorkommt, eine Wirkung des Widerstandes, der sich dem Vordringen des Gedankens zum Be— wußtsein auf dem normalen Wege entgegensetzt, sowie der gleichzeitigen Anziehung, welche als sinnesstark vorhandene Er innerungen auf ihn ausüben. [E 15] Beim Traume käme vielleicht zur Erleichterung der Regression hiezu das Aufhören der progredienten Tagesströmung von den Sinnesorganen, welches Hilfsmoment bei den anderen Formen von Regression durch Verstärkung der anderen Regressionsmotive wett gemacht werden muß. Wir wollen auch nicht vergessen, uns zu merken, daß bei diesen patho logischen Fällen von Regression wie im Traume der Vorgang der Energieiibertragung ein anderer sein dürfte, als bei den Regressi onen des normalen seelischen Lebens, da durch ihn eine volle halluzinatorische Besetzung der Wahrnehmungssysteme ermöglicht wird. Was wir bei der Analyse der Traumarbeit als die „Rück— sicht auf Darstellbarkeit“ beschrieben haben, dürfte auf die aus» wählende Anziehung der von den Traumgedanken berührten, visuell erinnerten Szenen zu beziehen sein. [E17] § 2456Leicht möglich, daß dieses erste Stück unserer psychologischen
Verwertung des Traum-es uns selbst nicht sonderlich befriedigt. Wir wollen uns damit trösten7 daß wir ja genötigt sind, ins Dunkle hinaus zu bauen. Sind wir nicht völlig in die Irre ge raten, so müssen wir von einem anderen Angriffspunkte her in ungefähr die nämliche Region geraten, in welcher wir uns dann vielleicht besser zurechtfinden werden. § 2457§ 2458
479 VII. Zur Psychologie der Traumvorgiz'ng:
§ 2459G
Zur Wunscherfüllung § 2460Der vorangestellte Traum vom brennenden Kinde gibt uns
einen willkommenen Anlaß, Schwierigkeiten, auf welche die Lehre von der Wunscherfüllu.ng stößt, zu würdigen. Wir haben es gewiß alle mit Befremclen aufgenommen, daß der Traum nichts anderes als eine Wunscherfüllung sein soll, und nicht etwa allein wegen des Widerspruches, der vom Angsttraum ausgeht. Nachdem uns die ersten Aufklärungen durch die Analyse belehrt hatten, hinter dem Traum verberge sich Sinn und psychischer Wert, so wäre unsere Erwartung keineswegs auf eine so eindeutige Bestimmung dieses Sinnes gefaßt gewesen. Nach der korrekten, aber kärglichen Definition des Aristoteles ist der Traum das in den Schlafmstand * insoferne man schläft — fortgesetzte Denken, Wenn nun unser Denken bei Tage so verschiedenanige psychische Akte schafft, Urteile, Schluß fulgerungen, Widerlegungen, Erwartungen, Vorsätze u. dgl., wodurch soll es bei Nacht genütigt sein, sich allein auf die Erzeugung von Wünschen einzuschränken? Gibt es nicht vielmehr reichlich Träume, die einen andersartigen psychischen Akt in Traumgestalt verwandelt bringen, 1. B. eine Besorgnis, und ist nicht gerade der vorangestellte, ganz besonders durchsichtige Traum des Vaters ein solcher? Er zieht auf den Lichtschein hin, der ihm auch schlafend ins Auge fällt, den besorgten Schluß, daß eine Kerze umgefallen sei und die Leiche in Brand gesteckt haben könne; diesen Schluß verwandelt er in einen Traum, indem er ihn in eine sinnfiillige Situation und in das Präsens einkleidet, Welche Rolle spielt dabei die Wunscherfüllung, und ist denn die Übermacht des vom Wachen her sich fort setzenden oder durch den neuen Sinneseindruck angeregten Ge— dankens dabei irgendwie zu verkennen? § 2461Das ist alles richtig und nötigt uns, auf die Rolle der Wunsch
erfüllung im Traume und auf die Bedeutung der in den Schlaf sich fortsetzenden Wachgedanken näher einzugehen. § 2462§ 2463
Die H„ku„fi des Tr
§ 2464hzs 471
§ 2465Gerade die Wunscherfüllung hat uns bereits zu einer Scheidung
der Träume in zwei Gruppen veranlaßt. Wir haben Träume ge funden, die sich offen als Wunscherfüllung gaben; andere, deren Wunscherfüllung unkenntlich, oft mit allen Mitteln versteckt war. In den letzteren erkannten wir die Leistungen der Traumzensur. Die unentstel.lten Wunschträume fanden wir hauptsächlich bei Kindern; kurze, offenherzige Wunschträurne schienen — ich lege Nachdruck auf diesen Vorbehalt — auch bei Erwachsenen vonukommen. § 2466Wir können nun fragen, woher jedesmal der Wunsch stammt,
der sich im Traume verwirklicht. Aber auf welchen Gegensatz oder auf welche Mannigfaltigkeit beziehen wir dieses „Woher“? Ich meine, auf den Gegensatz zwischen dem bewußt gewordenen Tagesleben und einer unhewußt gebliebenen psychischen Tätigkeit, die sich erst zur Nachaeit bemerkbar machen kann. Ich finde dann eine dreifache Möglichkeit für die Herkunft eines Wunsches. Er kann 1} bei Tage erregt werden sein und infolge äußerer Verhältnisse keine Befriedigung gefunden haben; es erübrigt dann für die Nacht ein anerkannter und unerledigter Wunsch; 2) er kann bei Tage aufgetaucht sein, aber Verwerfung gefunden haben; es erübrigt uns dann ein unerledigter, aber unterdrückter Wunsch oder } ) er kann außer Beziehung mit dem Tagesleben sein und zu jenen Wünschen gehören, die erst nachts aus dem Unter— driickten in uns rege werden Wenn wir unser Schema des psychischen Apparats vornehmen, so lokalisieren wir einen Wunsch der ersten Art in das System wa; vom Wunsch der zweiten Art nehmen wir an, daß er aus dem System wa in das Ubw zurückgedrängt werden ist, und wenn überhaupt, nur dort sich erhalten hat; und von der Wunschregung der dritten Art glauben wir, daß sie überhaupt unfähig ist, das System des Ubw zu über schreiten. Haben nun Wünsche aus diesen verschiedenen Quellen § 2467den gleichen Wert für den Traum, die gleiche Macht, einen
Traum anzuregen? § 2468§ 2469
4.72 VII. Zur Psychologie der Trmmwrgiingz
§ 2470Eine Überschau über die Träume, die uns für die Beant
wortung dieser Frage zu Gebote stehen, mahnt uns zunächst, als vierte Quelle des Traumwunschos hinzuzufügen die aktuellen, bei Nacht sich erhebenden Wunschregungen (z. B. auf den Durstreiz, das sexuelle Bedürfnis). Sodann wird uns wahrscheinlich, daß die Herkunft des Traumwunsches an seiner Fähigkeit1 einen Traum anzuregen, nichts ändert. Ich erinnere an den Traum der Kleinen, welcher die bei Tage _unterbrochene Seefahrt fortsetzt, und an die nebenstehenden Kinderträume; sie werden durch einen un— erfüllten, aber nicht unterdrücan Wunsch vom Tage erklärt. Beispiele dafür, daß ein bei Tage unterdrückter Wunsch sich im Trauma Luft macht, sind überaus reichlich nachzuweisen; ein einfachstes solcher Art könnte ich hier nachfragen. Eine etwas spottlustige Dame, deren jüngere Freundin sich verlol1t hat, be antwortet tagsüber die Anfragen der Bekannten, ob sie den Bräuti— gam kenne, und was sie von ihm halte, mit uneingeschränkten Lobsprüchen, bei denen sie ihrem Urteil Schweigen auferlegt, denn sie hätte gern die Wahrheit gesagt: Er ist ein Dutzend— mensch. Nachts träumt sie, daß dieselbe Frage an sie gerichtet wird, und antwortet rnit der Formel: Bei Nachbzsteüungen genügt die Angabz der Nummer. Endlich, daß in allen Träumen, die der Entstellung unterlegen änd, der Wunsch aus dem Unbewußten stammt und bei Tag nicht vernehmbar werden konnte, haben wir als das Ergebnis zahlreicher Analysen erfahren. So scheinen zunächst alle Wünsche für die Traumbildung von gleichem Wert und gleicher Macht. § 2471Ich kann hier nicht beweisen, daß es sich doch eigentlich
anders verhält, aber ich neige sehr zur Annahme einer strengeren Bedingtheit des Traumwunsches. Die Kinderträume lassen ja keinen Zweifel darüber, daß ein bei Tage unerledigter Wunsch der Traum— erreger sein kann. Aber es ist nicht zu vergessen, das ist dann der Wunsch eines Kindes, eine Wunschregung von der dem In fantilen eigenen Stärke. Es ist mir durchaus zweifelhaft, ob ein § 2472§ 2473
Die Ezdeu.tung des unbewußtzn Wunsches 475
§ 2474am Tage nicht erfüllter Wunsch bei einem Erwachsenen genügt,
um einen Traum zu schaflen. Es scheint mit vielmehr, daß wir mit der fortschreitenden Beherrschung unseres Trieblebens durch die denkende Tätigkeit auf die Bildung oder Erhaltung so inten siver Wünsche, wie das Kind sie kennt, als unnütz immer mehr ver-Achten. Es mögen sich dabei ja individuelle Verschiedenheiten geltend machen, der eine den infantilen Typus der seelischen Vorgänge länger bewahren als ein anderer, wie ja solche Unter— schiede auch für die Abschwächung des ursprünglich deutlich visuellen Vorstellens bestehen. Aber im allgemeinen, glaube ich, wird beim Erwachsenen der unerfüllt vom Tage übriggebliebene; Wunsch nicht genügen, einen Traum zu schaffen. Ich gehe gerne‘, zu, daß die aus dem Bewußten stammende Wunschregung einen Beitrag zur Anregung des Traumes liefern wird, aber wahr— scheinlich auch nicht mehr. Der Traum entstünde nicht, wenn ‘ der vorbewußte Wunsch sich nicht eine Verstärkung von anders woher zu holen wüßte. § 2475Aus dem Unbewußten nämlich. Ich stelle mir vor, daß
der bewußte Wunsch nur dann zum Traumerreger wird, wenn es ihm gelingt, einen gleichlautenden unbewußten zu wecken, durch den er sich verstärkt. Diese unbewußten' Wünsche betrachte ich, nach den Andeutungen aus der Psycho analyse der Neurosen, als immer rege, jederzeit bereit, sich Aus— druck zu verschaffen, wenn sich ihnen Gelegenheit bietet, sich mit einer Regung aus dem Bewußten zu alliieren, ihre große Intensität auf deren geringere zu übertragen.‘ Es muß dann zum § 2476i) Sie teilen diesen Chankter der Unzmtörlzarkeit mit allen nnieren wirklich
unhewul3teyi, a. h. dem System um allein nngeh'n'ri'gon seelischen Akten, Diese sind „in für niinnni gebahnte Wege, die nie veröden und den Erregunngnrgnng immer wieder zur Abfuhr leiten, so oft die unhewußte Erregung sie wi=derbesetzt. Um mich eines Gleichnines |.“ bedienen: „ gibt für sie keine andere Art der Ver nichtung als für die Schatten der ndysseischen Unt2rwelt, die zum neuen Lehen er wachen, roh.hi sie Blut getrunken haben. Die vom vorbewußten Syltem abhängigen Vnrgänge iind in ganz undqu Sinne zerstörhu. Auf diesem Unterschiede ruht die Psychotherapie der Neu:-men, § 2477§ 2478
474 VII. Zur Psychalogie d„ Traumvargiingz
§ 2479Anschein kommen, als hätte allein der bewußte Wunsch sich im
Traume realisiert; allein eine kleine Anfälligkeit in der Gestaltung dieses Traumes wird uns ein Finger-zeig werden, dem mächtigen Helfer aus dem Unbewußten auf die Spur zu kommen. Diese immer regen, sozusagen unsterblichen Wünsche unseres Un bewußten, welche an die Titanen der Sage erinnern, auf denen seit Urzeinen die schweren Gehirgsmassen lasten, die einst von den siegreichen Göttern auf sie gewälzt wurden, und die unter den Zuckungen ihrer Glieder noch jetzt von Zeit zu Zeit er heben; , diese in der Verdrängung befindlichen Wünsche, sage ich, sind aber selbst infantiler Herkunft, wie wir durch die psychologische Erforschung der Neurosen erfahren. Ich möchte also den früher ausgesprochenen Satz, die Herkunft des Traum— wunsches sei gleichgültig, beseitigen und durch einen anderen ersetzen, der lautet: Der Wunsch, welcher sich im Traume darstellt, muß ein infantiler sein. Er stammt dann beim Erwachsenen aus dem Ulm); beim Kind, wo es die Snnderung und Zensur zwischen wa und Ubw noch nicht @‘ht, oder wo sie sich erst allmählich herstellt, ist es ein unerfüllter, unver— drängter Wunsch des Wachlebens. Ich weiß, diese Anschauung ist nicht allgemein zu erweisen; aber ich behaupte, sie ist häufig zu erweisen, auch wo man es nicht vermutet hätte, und ist nicht allgemein zu widerlegen. § 2480Die aus dem bewußten Wachleben erübrigten Wunschregungen
lasse ich also für die Traumhildung in den Hintergrund treten. Ich will ihnen keine andere Rolle zugestehen, als etwa dem Ma— terial an aktuellen Sensationen während des Schlafes für den Trauminhalt (vgl. S. 299 u. ff.). Ich bleibe auf der Linie, die mir dieser Gedankengang vorschreibt, wenn ich jetzt die anderen psychischen Anregungen in Betracht ziehe, die vom Tagesleben übrig bleiben und die nicht Wünsche sind. Es kann uns gelingen, den Energiehesetzungen unseres wachen Denkens ein vorläufiges Ende zu machen, wenn wir beschließen, den Schlaf aufzusuchen. § 2481§ 2482
Die Tagesrzste 475
§ 2483Wer das gut kann, der ist ein guter Schläfer; der erste Napoleon
soll ein Muster dieser Gattung gewesen sein. Aber es gelingt uns nicht immer und nicht immer vollständig. Unerledigte Probleme, quälende Sorgen, eine Übermacht von Eindrücken, setzen die Denktätigkeit auch während des Schlafes fort und unterhalten seelische Vorgänge in dem System, das wir als das Vorbewußte bezeichnet haben. Wenn uns um eine Einteilung dieser in den Schlaf sich fartsetzenden Denkregungen zu tun ist’ so können wir folgende Gruppen derselben aufstellen: I} Das während des Tages durch zufällige Abhaltung nicht zu Ende Gebrachte, 2) das durch Erlahmen unserer Denkkraft Unerledigte, das Ungelöste, ]) das bei Tag Zurückgewiesene und Unterdrückte. Dazu gesellt sich als eine mächtige 4) Gruppe, was durch die Arbeit des Vorbewußten tagsüber in unserem Ubw rege gemacht werden ist, und endlich können wir als ;) Gruppe anfügen: die indiflerenten und darum unerledig1. gebliebenen Eindrücke des Tages. § 2484Die psychischen Intensitäteu, welche durch diese Reste des Tages
lebens in den Schlafzustand eingeführt werden, zumal aus der Gruppe des Ungelösven, braucht man nicht zu unterschätzen. Sicherlich ringen diese Erregungen auch zur Nachtzeit nach Aus druck, und ebenso sicher dürfen wir annehmen, daß der Schlaf— zustand die gewohnte Fortführung des Erregungsvorganges im Vorbewußten und deren Abschluß durch das Bewußtwerden un möglich macht. Insofern wir unserer Denkvorgänge auf dem nor § 2485malen Wege bewußt werden können, auch zur Nachtzeit, insoferne ‘
§ 2486schlafen wir eben nicht; Was für Veränderung der Schlafzustand im
System wa hervormft, weiß ich nicht anzugeben; [E18] aber es ist unzweifelhaft, daß die psychologische Charakteristik des Schlafes wesentlich in den Besetzungsveränderungen gerade dieses Systems zu suchen ist, das auch den Zugang zu der im Schlaf gelähmten Motilität heherrscht, Im Gegensatze dazu wüßte ich von keinem Anlaß ans der Psychologie des Trauma, der uns annehmen hieße, daß der Schlaf anders als sekundär in den Verhältnissen des Systems § 2487w,: „&
§ 2488§ 2489
476 VII, Zur Psychologie der Traumvorgingz
§ 2490Ubw etwas verändere. Der nächtlichen Erregung im wa bleibt
also kein anderer Weg als der, den die Wunscherregungen aus dem Ulm: nehmen; sie muß die Verstärkung aus dern Ubw suchen und die Umwege der unbewußten Erregungen mitmachen. Wie stellen sich aber die vorbewußten Tagesreste zum Traume? Es ist kein Zweifel, daß sie reichlich in den Traum eindringen, daß sie den Trauminhalt benützen, um sich auch zur Nachtzeit dem Be» wußtsein aufzudrängen; ja sie dominieren gelegentlich den Traum» inhalt, nötigen ihn, die Tagesarbeit fortzusetzen; es ist auch sicher, daß die Tagesreste jeden anderen Charakter ebensnwohl haben können wie den der Wünsche; aber es ist: dabei höchst lehrrejch und für die Lehre von der Wunscherfüllung geradezu entschei dend zu sehen, welcher Bedingung sie sich fügen müssen, um in den Traum Aufnahme zu finden. § 2491Greifen wir eines der früheren Traumbeispiele heraus, 2. B. den
Traum, der mir Freund Otto mit den Zeichen der Basedowschen Krankheit erscheinen läßt. (S. 973.) Ich hatte am Tage eine Be sorgnis gebildet, zu der mir das Aussehen Ottos Anlaß gab, und die Sorge ging mir nahe, wie alles, was diese Person betrifft. Sie folgte mir auch, darf ich annehmen, in den Schlaf. Wahrscheinlich wollte ich ergründen, was ihm fehlen könnte. Zur Nachtzeit fand diese Sorge Ausdruck in dem Traume, den ich mitgeteilt habe, dessen Inhalt erstens unsinnig war und zweitens keiner Wunsch erfüllung entsprach. Ich begann aber nachzuforschen, woher der unangemessene Ausdruck der bei Tag verspürten Besorgnis rühre, und durch die Analyse fand ich einen Zusammenhang, indem ich ihn mit einem Baron L., mich selbst aber mit Professor R. identi— fizierte. Warum ich gerade diesen Ersatz des Tagesgedanken hatte wählen müssen, dafür gab es nur eine Erklärung. Zu der Identi fizierung mit Professor R. mußte ich im Ubw immer bereit sein, da durch sie einer der unsterblichen Kinderwünsche, der Wunsch der Größensucht, sich erfüllte. Häßliche, der Verwerfung bei Tag sichere Gedanken gegen meinen Freund hatten die Gelegenheit § 2492§ 2493
Die Anregung zum Traum um! die Triebkraft des Traum: 477“
§ 2494benützt, sich zur Darstellung mit einzuschleichen, aber auch die
Sorge des Tages war zu einer Art von Ausdruck durch einen Ersatz im Trauminhalte gekommen. Der Tagesgedanke, der an sich kein Wunsch, sondern im Gegenteil eine Besorgnis war, mußte sich auf irgendeinem Wege die Anknüpfung an einen infantilen, nun unbewußten und unterdriickten Wunsch verschaffen, der ihn dann, wenn auch gehörig zugerichtet, für das Bewußtsein „ent stehen“ ließ. Je dominierender diese Sorge war, desto gewaltsamer durfte die herzustellende Verbindung sein; zwischen dem Inhalt des Wunsches und dem der Besorgnis brauchte ein Zmammen hang gar nicht zu bestehen und bestand auch keiner in unserem Beispiele. [519] § 2495Ich kann es nun scharf bezeichnen, was der unbewußte Wunsch
für den Traum bedeutet. Ich will zugeben, daß es eine ganze Klasse von Träumen gibt, zu denen die Anregung vorwiegend oder selbst ausschließlich aus den Resten des Tageslebens stammt, und ich meine, selbst mein Wunsch, endlich einmal Professor extraordinarius zu werden, hätte mich diese Nacht in Ruhe schlafen lassen können, wäre nicht die Sorge um die Gesundheit meines Freundes vom Tage her noch rührig gewesen. Aber diese Sorge hätte noch keinen Traum gemacht; die Triebkraft, die der Traum hedurfte, mußte von einem Wünsche heigesteuert werden; es war Sache der Besor@1is, sich einen solchen Wunsch als Triebkraft des Traumes zu verschaffen. Um es in einem Gleich nis zu sagen: Es ist sehr wohl möglich, daß ein Tagesgedanke die Rolle des Unternehmers für den Traum spielt; aber der Unternehmer, der, wie man sagt, die Idee hat und den Drang, sie in Tat umzusetzen, kann doch ohne Kapital nichts machen; er braucht einen Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und dieser Kapitalist, der den psychischen Aufwand für den Traum beistellg ist alle Male und unweigerlich, was immerl auch der Tagesgedanke sein mag, ein Wunsch aus dem Un-, bewußten. § 2496§ 2497
478 VII. Zur Psychologie der Traumuargiz'nge
§ 2498Andere Male ist der Kapitalist selbst der Untemehmer; das ist
für den Traum sogar der gewöhnlichen Fall. Es ist. durch die Tagesarbeit ein unbewußter Wunsch angeregt werden, und der schafft nun den Traum. Auch für alle anderen Möglichkeiten des hier als Beispiel verwendeten wirtschaftlichen Verhältnisses bleiben die Traumvorgänge parallel; der Unternehmer kann selbst eine Kleinigkeit an Kapital mitbringen; es können mehrere Unternehmer sich an denselben Kapitalisten wenden; es können mehrere Kapi— talisten gemeinsam das für die Unternehmer Erforderliche zu sammensteuern. So gibt es auch Träume, die von mehr als einem Traumwu.nsche getragen werden, und dergleichen Variationen mehr, die leicht zu übersehen sind und uns kein Interesse mehr bieten. Was an dieser Erörterung über den Traumwunsch noch unvoll— ständig ist, werden wir erst später ergänzen können. § 2499Das Tertium comparatianir der hier gebrauchten Gleichnisse,
die in zugemessener Menge zur freien Verfügung gestellte Quan— tität, läßt noch feinere Verwendung zur Beleuchtung der Traum— struktur zu. In den meisten Träumen läßt sich ein mit besonderer sinnlicher Intensität ausgestattetes Zentrum erkennen, wie auf S. 504 ausgeführt. Das ist. in der Regel die direkte Darstellung der Wunscherfüllung, denn, wenn wir die Verschiebungen der Traumarbeit rückgängig machen, finden wir die psychische Inten sität der Elemente in den Traumgedanken durch die sinnliche Intensität der Elemente im Trauminhalt ersetzt. Die Elemente in der Nähe der Wunscherfüllung haben mit; deren Sinn oft: nichts zu tun’ sondern erweisen sich als Abkömmlinge peinlicher, dem Wunsch zuwiderlaufender Gedanken, Durch den oft künstlich her gestellten Zusammenhang mit dem zentralen Element haben sie aber soviel Intensität abbekommen, daß sie zur Darstellung fähig geworden sind. So difl'undiert die darstellende Kraft der Wunsch erfüllung über eine gewisse Sphäre von Zusammenhang, innerhalb deren alle Elemente, auch die an sich mittellosen, zur Darstellung gehoben werden. Bei Träumen mit mehreren treibenden Wünschen § 2500§ 2501
Die Übertragung an die Tagesrmz 479
§ 2502gelingt es leicht, die Sphären der einzelnen Wunscherfüllungen
voneinander abzugrenzen, oft auch die Lücken im Traume als Grenzzonen zu verstehen, § 2503Wenn wir auch die Bedeutung der Tagesreste für den Traum
durch die vorstehenden Bemerkungen eingeschränkt haben, so ver lohnt es doch der Mühe, ihnen noch einige Aufmerksamkeit zu schenken. Sie müssen doch ein notwendiges Ingrediens der Traum bildung sein, wenn uns die Erfahrung mit der Tatsache über raschen kann, daß jeder Traum eine Anknüpfung an einen rezenten Tageseindruck, oft der gleichgültigsten Art, mit in seinem Inhalt erkennen läßt. Die Notwendigkeit für diesen Zusatz zur Traum mischung vermochten wir noch nicht einzusehen. (S. 181.) Sie ergibt sich auch nur, wenn man an der Rolle des unhewußten Wunsches festhält und dann die Neurosenpsychologie um Auskunft befragt, Aus dieser erfährt man, daß die unhewußte Vorstellung § 2504als solche iiberhaupt unfähig ist, ins Vorbewußte einzutreten, und
daß sie dort nur eine Wirkung zu äußern vermag, indem sie sich, § 2505mit einer harmlosen, dem Vorbewußten bereits angehörigen Vor—
§ 2506stellung in Verbindung setzt, auf sie ihre Intensität überträgt und‘
§ 2507sich durch sie decken läßt. Es ist dies die Tatsache der Über
tragung, welche für so viele auffällige Vorfälle im Seelenleben § 2508der Neurotiker die Aufklärung enthält. Die Übertragung kann die‘
§ 2509Vorstellung aus dem Vorbewußten, welche somit zu einer unver
§ 2510dient großen Intensität gelangt, unverändert lassen, oder ihr selbst‘
§ 2511eine Modifikation durch den Inhalt der übertragenden Vorstellung,
§ 2512aufdrängen. Man verzeihe mir die Neigung zu Gleichnissen aus
dem täglichen Leben, aber ich bin versucht zu sagen, die Ver hältnisse liegen für die verdrängte Vorstellung ähnlich wie in un serem Vaterlande fiir den amerikanischen Zahnarzt, der seine Praxis nicht ausüben darf, wenn er sich nicht eines ritz promovierten Doktors der Medizin als Aushängeschild und Deckung vor dem Gesetz bedient. Und ebenso wie es nicht gerade die beschäftigtesten Ärzte sind, die solche Alliancen mit dem Zahntechniker eingehen, § 2513§ 2514
450 VII. Zur Psychnlogie der Traumvorgiinge
§ 2515so werden auch im Psychischen nicht jene vurbewußten oder be»
wußten Vorstellungen zur Deckung einer verdrängten erkoren, die selbst genügend von der im Vorbewußten tätigen Aufmerk— samkeit auf sich gezogen haben. Das Unbewußte umspinnt mit seinen Verbindungen vorzugsweise jene Eindrücke und Vorstellun gen des Vorbewußten, die entweder als indifferent außer Beach tung geblieben sind, oder denen diese Beachtung durch Verwerfung alsbald wieder entzogen wurde. Es ist ein bekannter Satz aus der Assoziationslehre, durch alle Erfahrung bestätigt, daß Vorstellungen, die eine sehr innige Verbindung nach der einen Seite angeknüpft haben, sich wie ablehnend gegen ganze Gruppen von neuen Ver bindungen verhalten; ich habe einmal den Versuch gemacht, eine § 2516‘ Theorie der hysterischen Lähmungen auf diesen Satz zu be
gründen. § 2517Wenn wir annehmen, daß das nördliche Bedürfnis zur Über
tragung von den verdrängten Vorstellungen aus, das uns die Analyse der Neurosen kennen lehrt, sich auch im Traume geltend macht, so erklären sich auch mit einem Schlinge zwei der Rätsel des Traumes, daß jede Traumanalyse eine Verwebung eines rezenten Eindruckes nachweist, und daß dies rezente Element oft von der gleichgültigsten Art ist. Wir fügen hinzu, was wir bereits an anderer Stelle gelernt haben, daß diese menten und ind.ilferenten Elemente als Ersatz der allerältesten aus den Tramngedanken darum so häufig in den Trauminhalt gelangen, weil sie gleichzeitig von der Widerstandmensur am wenigsten zu befürchten haben. Während aber die Zensurfreiheit uns nur die Bevorzugung der trivialen Elemente aufklärt, läßt die Kon stanz der rezenten Elemente auf die Nötigung zur Übertragung durchblicken. Dem Anspruch des Verdrängten auf noch assozia» tionstreies Material genügen beide Gruppen von Eindrücken, die indifferenten, weil sie zu ausgiebigen Verbindungen keinen An § 2518‘ laß geboten haben, die rezenten, weil dazu noch die Zeit ge
‘ fehlt hat. “ § 2519§ 2520
Das Unbewußte und die Tagen-este 481
§ 2521Wir sehen so, daß die Tages:-este, denen wir die indiiferenten
Eindrücke jetzt zurechnen dürfen, nicht nur vom U7zw etwas endehnen, wenn sie an der Traumbildung Anteil gewinnen, nämlich die Triebkraft, über die der verdrängte Wunsch ver fügt, sondern daß sie auch dem Unbewußten etwas Unent behrliches bieten, die notwendige Anhefiung zur Übertragung. Wollten wir hier in die seelischen Vorgänge tiefer eindringen, so müßten wir das Spiel der Erregungen zwischen Vorhewußtem und Unbewußtem schärfer beleuchten, wozu wohl das Studium der Psychoneurosen drängt, aber gerade der Traum keinen An halt bietet. § 2522Nur noch eine Bemerkung über die Tagesreste. Es ist kein
Zweifel, daß sie die eigentlichen Störer des Schlafes sind, und nicht der Traum, der sich vielmehr bemüht, den Schlaf zu hüten. Hierauf werden wir noch später zurückkommen. § 2523Wir haben bisher den Traumwunsch verfolg1‘7 ihn aus dem
Gebiet des Ubw abgeleitet und sein Verhältnis zu den Tagesresten zergliedert, die ihrerseits Wünsche sein können oder psychische Regungen irgendwelcher anderen Art oder einfach mente Ein— drücke. Wir haben so Raum geschaffen für die Ansprüche, die man zugunsten der traumbildenden Bedeutung der Wachen Denk arbeit in all ihrer Mannigfaltigkeit erheben kann. Es wäre nicht einmal unmöglich, daß wir auf Grund unserer Gedankenreihe selbst jene extremen Fälle aufklären, in denen der Traum als Fortsetzer der Tagesarbeit eine ungelöste Aufgabe des Wachens zum glücklichen Ende bringt. Es mangelt uns nur an einem Bei spiel solcher Art, um durch dessen Analyse die infantile oder ver drängte Wunschquelle aufzudecken, deren Heranziehung die Be« mühung der vorbewußten Tätigkeit so erfolgreich verstärkt hat. Wir sind aber um keinen Schritt der Lösung des Rätsels näher gekommen, warum das Unbewußte im Schlafe nichts anderes bieten kann als die Triebkraft zu einer Wunscherfiillung? Die‘ Beantwortung dieser Frage muß ein Licht auf die psychische‘ § 2524Freud. n. 51
§ 2525§ 2526
482 VII. Zur Psychologie der Tnzumuorgir'ngz
§ 2527Natur des Wünschens werfen; sie soll an der Hand des Schema;
vum psychischen Apparat gegeben werden. § 2528Wir zweifeln nicht daran, daß auch dieser Apparat seine heutige
Vollkommenheit erst über den Weg einer langen Entwicklung erreicht hat. Versuchen wir es, ihn in eine frühere Stufe seiner Leistungsfähigkeit zurückzuversetzen. Anderswie zu begründende Annahmen sagen uns, daß der Apparat zunächst dem Bestreben fulgte, sich möglichst reidos zu erhalten, und darum in seinem ersten Aufbau das Schema des Reflexapparates annahm, das ihm gestartete, eine von außen an ihn anlangende sensible Erregung alsbald auf motorischem Wege abzufilhren. Aber die Not des Lebens stört diese einfache Funktion; ihr verdankt der Apparat auch den Anstoß zur weiteren Ausbildung. In der Form der großen Körperbedürfnisse tritt die Not des Lebens zuerst an ihn heran. Die durch das innere Bedürfnis gesetzte Erregung wird sich einen Abfluß in die Motilität suchen, die man als „Innere Veränderung“ oder als „Ausdruck der Gemütsbewegung“ bezeichnen kann. Da hungrige Kind wird hilflos schreien oder zappeln. Die Situation bleibt aber unverändert, denn die vom inneren Bedürfnis aus gehende Erregung entspricht nieht einer momentan stoßenden, sondern einer kontinuierlich wirkenden Kraft. Eine Wendung kann erst eintreten, wenn auf irgendeinem Wege, beim Kinde durch fremde Hilfeleistung, die Erfahrung des Befriedigungserlebnisses gemacht wird, das den inneren Reiz aufhebt. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung (der Nahrung im Beispiel), deren Erinnerungs bild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein nächstesmal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergehen, welche das Erinnenmgsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederher— stellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch § 2529§ 2530
Das Wünscth „ls primäre Tätigkeit des Unbzwußzen 485
§ 2531heißen; das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunsch &
erfüllung, und die volle Besetzung der Wahrnehmung von tler“ Bedürfniserregung her der küneste Weg zur Wunscherfüllung.l Es hindert uns nichts, einen primitiven Zustand des psychischen ‘ Apparate anzunehmen, in dem dieser Weg wirklich so begangen “ wird, das Wünschen also in ein Halluzinieren ausläuft. Diese erste psychische Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität, } nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit ; der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist. 1 Eine bittere Lebenserfabrung muß diese primitive Denktätigkeit ‘ zu einer zweckmäßigeren, sekundären, modifiziert haben. Die Her- “ stellung der Wahrnehmungsidentität auf dem kurzen regredienten Wege im Innern des Apparats hat an anderer Stelle nicht die Folge, welche mit der Besetzung derselben Wahrnehmung von außen her verbunden ist. Die Befriedigung tritt nicht ein, das Bedürfnis dauert fort. Um die innere Besetzung der äußeren gleichwertig zu machen7 müßte dieselbe fortwährend aufrecht er— halten werden, wie es in den halluzinatorischen Psychosen und in den Hunger-phantasien auch wirklich geschieht7 die ihre psy— chische Leistung in der Festhaltung des gewünschten Objekts erschöpfen. Um eine zweckmäßigere Verwendung der psychischen \ Kraft zu erreichen, wird es notwendig, die Valle Regression auf zuhalten, so daß sie nicht über das Erinnerungsbild hinausgeht und von diesem aus andere Wege suchen kann, die schließlich zur Herstellung der gewünschten Identität von der Außenwelt her führen. [E zu] Diese Hemmung sowie die darauf folgende Ablenkung der Erregung wird zur Aufgabe eines zweiten Systems, welches die willkürliche Motil.ität beherrscht, d. h. an dessen Leistung sich ‘ erst die Verwendung der Motilität zu vorher erinnerten Zwecken anschließt. All die komplizierte Denktätigkeit aber, welche sich vom Erinnerungsbild bis zur Herstellung der Wahrnehmungs identität durch die Außenwelt fortspinnt, stellt doch nur einen durch die Erfahrung notwendig gewordenen Umweg zur Wunsch- ‘ § 2532sv
§ 2533§ 2534
484 VII. Zur Psychologie der Traumvorgänge
§ 2535erfüllung dar.‘ Das Denken ist doch nichts anderes als der Er—
satz des halluzinatorischen Wunsches, und wenn der Traum eine Wunscherfüllung ist, so wird das eben selbstverständlich, da nichts anderes als ein Wunsch unseren seelischen Apparat zur Arbeit anzutreiben vermag. Der Traum, der seine Wünsche auf kurzem regredienten Wege erfüllt, hat uns hiemit nur eine Probe der primären, als unzweckmäßig verlassenen Arbeitsweise des psy— chischen Apparates aufbewahrt. In das Nachtleben scheint ger bannt, was einst im Wachen herrschte, als das psychische Leben noch jung und untüchtig war, etwa wie wir in der Kinderstube die abgelegten primitiven Watien der erwachsenen Menschheit, Pfeil und Bogen, wiederfinden. Das Träumen ist ein Stück des überwundenen Kinderseelenlebens. In den Psychosen werden diese sonst im Wachen unterdrückten Arbeitsweisen des psychischen Apparates sich wiederum Geltung erzwingen und dann ihre Unfähigkeit zur Befriedigung unserer Bedürfnisse gegen die Außenwelt an den Tag legen. [E21] § 2536Die unbewußten Wunschregungen streben ofi‘enbar auch bei
Tag sich geltend zu machen, und die Tatsache der Übertragung sowie die Psychosen belehren uns, daß sie auf dem Wege durch das System des Vorbewußten zum Bewußtsein und zur Beherr schung der Motilität durchdringen möchten. In der Zenmr zwi schen Ubw und ”nu, deren Annahme uns der Traum geradezu aufnötigt, haben wir also den Wächter unserer geistigen Gesund— heit zu erkennen und zu ehren. Ist es nun nicht eine Unver sichtigkeit des Wächters, daß er zur Nachaeit seine Tätigkeit ver ringert, die unterdrückten Begnngen des Ubw zum Ausdrucke kommen läßt, die halluzinatorische Regression wieder ermöglicht? Ich denke nicht, denn wenn sich der kritische Wächter zur Ruhe begibt, — wir haben die Beweise dafür, daß er doch nicht tief § 2537)) Van der Wmscherfiülung des Trauma: rühmt L= Lorruin mit Recht:
„Sm fa2iguz xlrl'eurz, um: im obligé dc Mcoun'r :: m tum opinidxre :: lung": qui use :: mmdc ler jou.irswlw yourluinirr.“ § 2538§ 2539
Das Träumm zin Stück des infanzilen Snlenkbzns 485
§ 2540schlummert — so schließt er auch das Tor zur Motilität. Welche
Regungen aus dem sonst gehemrnten Ubw sich auch auf dem Schauplatz tummeln mögen, man kann sie gewähren lassen. sie bleiben harmlos, weil sie nicht imstande sind, den motorischen Apparat in Bewegung zu setzen, welcher allein die Außenwelt verändernd beeinflussen kann. Der Schlafzustand garantiert die Sicherheit der zu bewachenden Festung. Mi_r1der hannlos gestaltet es sich, wenn die Kräfteverschiebung nicht durch den nächtlichen Nachlaß im Kräfteaufwand der kritischen Zensur, sondern durch pathologische Schwächung derselben oder durch pathologische Ver stärkung der unbewußten Erregungen hergestellt wird, so lange das Vorbewußte besetzt und die Tore zur Melilität offen sind. Dann wird der Wächter überwältigt, die unbewußten Erregungen unterwerfen sich das wa, beherrschen von ihm aus unser Reden und Handeln, oder erzwingen sich die halluzinatorische Regression und lenken den nicht für sie bestimmten Apparat vermöge der Anziehung, welche die Wahrnehmungen auf die Verteilung un serer psychischen Energie ausüben. Diesen Zustand heißen wir Psychose. § 2541Wir befinden uns da auf dem besten Wege, an dem psycho
logischen Gerüste weiterzubauen7 das wir mit der Einfügung der beiden Systeme Ubw und wa verlassen haben. Wir haben aber noch Motive genug, bei der Würdigung des Wunsches als einziger psychischer Triebkraft für den Traum zu verweilen. Wir haben die Aufklärung entgegengenommen, daß der Traum darum jedesmal eine Wunscberfüllung ist, weil er eine Leistung des Systems Ubw ist, welches kein anderes Ziel seiner Arbeit als Wunscherfüllung kennt und über keine anderen Kräfte als die der Wunschregungen verfügt. Wenn wir nun auch nur einen Moment länger an dem Recht festhalten wollen, von der Traum— deutung aus so weitgreifende psychologische Spekulationen aufzu führen, so obliegt uns die Verpflichtung zu zeigen, daß wir durch sie den Traum in einen Zusammenhang einreihen, § 2542§ 2543
435 VII. Zur Psychologie der Traumvorgfingz
§ 2544welcher auch andere psychische Bildungen umfassen kann. Wenn
ein System des Ubw — oder etwas ihm für unsere Erörterungen Analoges — existiert, so kann der Traum nicht dessen einzige Äußerung sein; jeder Traum mag eine Wunscherfüllung sein, aber es muß noch andere Formen abnormer Wunscherfüllungen geben als die Träume. Und wirklich gipfelt die Theorie aller psychoneurotischen Symptome in dem einen Satz, daß auch sie als Wunscherfüllungen des Unbewußten aufgefaßt werden müssen. [EH] Der Traum wird durch unsere Aufklärung nur das erste Glied einer für den Psychiater höchst bedeutungsvollen Reihe, deren Verständnis die Lösung des rein psychologischen Anteils der psychiatrischen Aufgabe bedeutet. [E23] Von anderen Gliedern dieser Reihe von Wunscherfüllungen, z. B. von den hysterischen Symptomen, kenne ich aber einen wesentlichen Charakter, den ich am Traume noch vermisse. Ich weiß nämlich aus den im Laufe dieser Abhandlung oftmals angedeuteten Unter suchungen, daß zur Bildung eines hysterischen Symptoms beide Strömungen unseres Seelenlebens zusammemreßen müssen. Das Symptom ist nicht bloß der Ausdruck eines realisierten unbe wußten Wunsches; es muß noch ein Wunsch aus dem Vorbewußten dazukomrnen, der sich durch das nämliche Symptom erfüllt, so daß das Symptom mindestens zweifach determiniert wird, je einmal von einem der im Konflikt befindlichen Systeme her. Einer weiteren Überdeterminjerung sind —— ähnlich wie beim Traum — keine Schranken gesetzt. Die Determinierung, die nicht dem Ubw entstammt, ist, soviel ich sehe, regelmäßig ein Ge dankenzug der Reaktion gegen den unhewußten Wunsch, z. B. eine Selbstbestrafung. Ich kann also ganz allgemein sagen, ein hysterisches Symptom entsteht nur dort, wo zwei gegen sätzliche Wunscherfüllungen, jede aus der Quelle eines anderen psychischen Systems, in einem Ausdruck zu sammentreffen können. [524] Beispiele würden hier wenig fruchten, da nur die vollständige Enthüllung der vorliegenden § 2545§ 2546
Die Wunschtheorie der prychoneuratl'sßhen Symptvme 4.81
§ 2547Komplikation Überzeugung erwecken kann. Ich lasse es darum
bei der Behauptung und bringe ein Beispiel bloß seiner An— schaulichkeit, nicht seiner Beweiskraft wegen. Das hystefische Erbrechen also bei einer Patientin erwies sich einerseits als die Erfüllung einer unbewußten Phantasie aus den Pubertät;— jahren, nämlich des Wunsches, fortwährend gravid zu sein, un gezählt viele Kinder zu haben, wozu später die Erweiterung trat: von möglichst vielen Männern. Gegen diesen unbändigen Wunsch hatte sich eine mächtige Abwehrregung erhoben. Da die Patientin aber durch das Erbrechen ihre Körperfülle und ihre Schönheit verlieren konnte, so daß kein Mann mehr an ihr Gefallen fand, so war das Symptom auch dem strafenden Gedankengang recht und durfte, von beiden Seiten zugelassen, zur Realität werden. Es ist dieselbe Manier auf eine Wunsch erfüllung einzugehen, welche der Partherk‘dnigin gegen den Triumvir Crassus beliebte. Sie meinte, er habe den Feldzug aus Goldg'er unternommen; so ließ sie der Leiche geschmolzenes Gold in den Rachen gießen. „Hier hast du, was du dir ge wünscht hast.“ Vom Traum wissen wir bis jetzt nur, daß er eine Wunscherfilllung des Unbewußten ausdrückt; es scheint, daß das herrschende, vorbewußte System diese gewähren läßt, nachdem es ihr gewisse Entstellungen aufgenötigt hat. Man ist auch wirklich nicht imstande, allgemein einen dem Traumwunsch gegensätzlichen Gedankenzug nachzuweisen, der sich wie sein Widerpart im Traume verwirklicht. Nur hie und da sind uns in den Traumanalysen Anzeichen von Reaktionsschöpfungen he gegnet, z. B. die Zärtlichkeit für Freund R. im Onkeltraum (S. 14.1). Wir können aber die hier vermißte Zutat aus dem Vor bewußten an anderer Stelle auffinden. Der Traum darf einen Wunsch aus dem Ubw nach allerlei Entstellungen zum Ausdruck bringen, während sich das herrschende System auf den Wunsch zu schlafen zurückgezogen hat, und diesen Wunsch durch Her— stellung der ihm möglichen Besetzungsänderungen innerhalb des § 2548§ 2549
488 VII. Zur Psychologie da- Trawrworgängz
§ 2550psychischen Apparates realisiert, endlich ihn die ganze Dauer des
Schlafes über festhält.‘ § 2551Dieser festgehaltene Wunsch des Vorbewußten zu schlafen,
wirkt nun ganz allgemein erleichternd auf die Traumbildung. Denken wir an den Traum des Vaters, den der Lichtschein aus dem Totenzimmer zur Folgerung anregt, die Leiche könne in Brand geraten sein. Wir haben als die eine der psychischen Kräfte, die den Ausschlag dafür geben, daß der Vater im Trauma diesen Schluß zieht, anstatt sich durch den Lichtschein wecken zu lassen, den Wunsch aufgewiesen, der das Leben des im Trauma vorgestellten Kindes um den einen Moment verlängert. Andere aus dem Verdrängten stammende Wünsche entgehen uns wahr—‘ schein.lich, weil wir die Analyse dieses Traumes nicht machen können., Aber als zweite Tfiehkraft dieses Traumes dürfen wir das Schlafbedürfnis des Vaters hinzunehmen; sowie durch den Traum des Leben des Kindes, so wird auch der Schlaf des Vaters um einen Moment verlängert. Den Traum gewähren lassen, heißt diese Motivierung, sonst -mu.ß ic erwachen. Wie bei diesem § 2552.
unbewußten Wunsch seine Unterstützung. Wir haben auf‘S. 955 von Träumen berichtet, die sich offenkundig als Bequemlichkeiw träume geben. Eigentlich haben alle Träume Anspruch auf diese Bezeichnung. Bei den Weckträumen, die den äußeren Sinnesreiz so verarbeiten, daß er mit der Fortsetzung des Schlafensver— träglich wird, ihn in einen Traum verweben, um ihm die An sprüche zu entreißen, die er als Mahnung an die Außenwelt er heben kännte, ist die Wirksamkeit des Wunsches, weiter zu schlafen, am leichtesten zu erkennen. Derselbe muß aber ebenso seinen Anteil an der Gesmttung aller anderen Träume haben, die nur von innen her als Wecker am Schlafzustand rütteln können. § 2553;) Bienen Ger1-nken mim; ich der san.m.=m. von men-m, des D
wecken der: hypnotischen Fonchnng in wenn T-gun. (Du „mail provoq'né m.. Pu-i: 1889.) § 2554Dzr Anteil des Schhfwunsche: 489
§ 2555Was das wa in manchen Fällen dem Bewußtsein mitteilt, wenn
der Traum es zu arg treibt: Aber Laß doch und schlaf" weiter, es ist ja nur ein Traum; das beschreibt, auch ohne daß es laut wird, ganz allgemein das Verhalten unserer herrschenden Seelen— tätigkeit gegen das Träumen. Ich muß die Folgerung ziehen, daß wir den ganzen Schlafzustand über ebenso sicher wissen, daß wir träumen, wie wir es wissen, daß wir schlafen. Es ist durchaus notwendig, den Einwand dagegen gering zu schätzen, daß unser Bewußtsein auf das eine Wissen nie gelenkt wird, auf das andere nur bei bestimmtem Anlaß, wenn sich die Zensur wie überrumpelt fühlt. [E 25] § 2556D
Das VVecken durch den Traum — Die Funktion des Traumes — Der Angsttraum § 2557Seitdem wir wissen, daß das Vorbewußte über die Nacht auf
den Wunsch zu schlafen eingestellt ist, können wir den Traum— vurgang mit Verständnis weiter verfolgen. Wir fassen aber zu nächst unsere bisherige Kenntnis desselben zusammen. Es seien also von der Wacharheit Tagesreste übrig geblieben, denen sich die Energiebesetzung nicht völlig entziehen ließ. Oder es sei durch die Wacharbeit tagsüber einer der unbewußten Wünsche rege geworden, oder es treffe beides zusammen; wir haben die hier mögliche Mannigfaltigkeit bereits erörtert. Schon im Laufe}, des Tages oder erst mit Herstellung des Schlafzustandes hat dem unbewußte Wunsch sich den Weg zu den Tagesresten gebahnt,l seine Übertragung auf sie’bewerkstelligt. Es entsteht nun ein aufi das rezente Material übertregener Wunsch, oder der unterdn'ickte rezente Wunsch hat sich durch Verstärkung aus dem Unbewußten neu belebt. Er möchte nun auf dem normalen Wege der Gedanken— vorgänge durch das wa, dem er mit einem Bestandteil ja ange— hört, zum Bewußtsein vordringen. Aber er stößt auf die Zensur, § 2558§ 2559
490 VII. Zur Psychologie .1„ Traunwargänge
§ 2560die noch besteht, und deren Einfluß er jetzt unterliegt. Hier
nimmt er die Entstellung an, die schon durch die Übertragung auf das Bezente angebahnt war. Bis jetzt ist er nun auf dem Wege, etwas Ähnliches zu werden wie eine Zwangsvorstellung, eine Wahnidee u. dgl., nämlich ein durch Übertragung ver stärkter, durch Zensur im Ausdruck entstellter Gedanke. Nun aber gestattet der Schlafzustand des Vorbewußten nicht das weitere Vordringen; wahrscheinlich hat sich das System durch Herab setzung seiner Erregungen gegen das Eindringen geschützt. Der Traumvorgang schlägt also den Weg der Regression ein, der gerade durch die Eigentümlichkeit des Schlafzustancles eröffnet ist, und folgt dabei der Anziehung, welche Erinnerungsgruppen auf ihn ausüben, die zum Teil selbst nur als visuelle Besetzungen, nicht als Übersetzung in die Zeichen der späteren Systeme vorhanden sind. Auf dem Wege zur Regression erwirbt er Darstellharkeit. Von der Kompression werden wir später handeln. Er hat jetzt das zweite Stück seines mehrmals geknickten Verlaufes zurück gelegt Das erste Stück spann sich progredient von den unbe— wußten Szenen oder Phantasien zum Vorbewußten; das zweite Stück strebt von der Zensurgrenze an wieder zu den Wahr— nehmungen hin. Wenn der Traumvorgang aber Wahrnehmungs— inhalt geworden ist, so hat er das ihm durch Zensur und Schlafl zustand im wa gesetzte Hindernis gleichsam umgangen. Es gelingt ihm, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und vom Be— wußtsein bemerkt zu werden. Das Bewußtsein nämlich, das uns ein Sinnesorgan für die Auffassung psychischer Qualitäten be deutet, ist im Wachen von zwei Stellen her erregbar. Van der Peripherie des ganzen Apparate, dem Wahmehmungssystem, in erster Linie; außerdem von den Lust— und Unlusterregungen, die sich als einzige psychische Qualität bei den Energieumsetzungen im Innern des Apparats ergeben. Alle Vorgänge in den (}}-Systemen sonst, auch die im wa, entbehren jeder psychischen Qualität und sind darum kein Objekt des Bewußtseins, insofern sie ihm nicht § 2561§ 2562
Die psychischen Wege des Traumvorganges 491
§ 2563Lust oder Unlust zur Wahrnehmung liefern. Wir werden uns zur
Annahme entschließen müssen, daß diese Lust- und Unlust enthinclungen automatisch den Ablauf der Besetzmlgs Vorgänge regulieren. Es hat: sich aber später die Notwendig keit herausgestellt, zur Ermöglichung feinerer Leistungen den Vozstellungsablauf unabhängiger von den Unlustzeichen zu ge gestalten. Zu diesem Zwecke bedurfte das Vino—System eigener Qualitäten, die das Bewußtsein anziehen könnten, und erhielt sie höchst wahrscheinlich durch die Verknüpfung der vnrbewußten Vorgänge mit dem nicht qualitätslosen Erinnerungssystem der Sprachzeichen. Durch die Qualitäten dieses Systems wird jetzt das Bewußtsein, das vorher nur Sinnesorgan für die Wahrnehmungen war, auch zum Sinnesorgan für einen Teil unserer Denkvorgänge. Es gibt jetzt gleichsam zwei Sinnesoberflächen, die eine dem Wahr-nehmen, die andere den vorbewußten Denkvorgängen zu gewendet. § 2564Ich muß annehmen, daß die dem wa zugewendete Sinnes—
fläche des Bewußmeins durch den Schlafzustand weit unerregbarer gemacht wird, als die gegen die lV-Systeme gerichtete. Das Auf— geben des Interesses für die nächtlichen Denkvorgänge ist ja auch zweckmäßig. Es soll irn Denken nichts vorfallen; das wa verlangt zu schlafen. Ist der Traum aber einmal Wahrnehmung geworden, so vermag er durch die jetzt gewonnenen Qualitäten das Bewußt— sein zu erregen. Diese Sinneserregung leistet das7 worin überhaupt ihre Funktion besteht; sie dirigiert einen Teil der im wa ver— fügbaren Besetzungsenergie als Aufmerksamkeit auf das Erregende. So muß man also zugeben, daß der Traum jedesmal weckt, einen Teil der ruhenden Kraft des WM; in Tätigkeit versetzt. Er erfährt nun von dieser jene Beeinflussung, die wir als sekundäre Be arbeitung mit Rücksicht auf Zusammenhang und Verständlichkeit bezeichnet haben. Das will sagen, der Traum wird von ihr be— handelt wie‘ jeder andere Wahrnehmungsinhalt; er wird denselben Erwartungsvcrstellungen unterzogen, soweit sein Material sie eben § 2565§ 2566
492 VII, Zur Psychologie der Traumwrgänge
§ 2567zuläßt. Soweit bei diesem dritten Stück des Traumvorganges eine
Ablaufsrichtung in Betracht kommt, ist. es wieder die progrediente. § 2568Zur Verhütung von Mißverständnissen wird ein Wort über die
zeitlichen Eigenschaften dieser Traumvorgänge wohl angebracht sein. Ein sehr anziehender Gedankengang Goblots, der offenbar durch das Rätsel des Mauryschen Guillotinentraumes angeregt ist, sucht danutun, daß der Traum keine andere Zeit in Anspruch nimmt wie die der Übergangsperiode zwischen Schlafen und Er wachen. Das Erwachen braucht Zeit; in dieser Zeit fällt der Traum vor. Man meint, das letzte Bild des Traumes war so stark, daß es zum Erwachen nötigte. In Wirklichkeit war es nur darum so stark, weil wir bei ihm dem Erwachen schon so nahe waren. „Un réve c’est un réveil qui commence.“ § 2569Es ist schon von Dugas hervorgehoben werden, daß Goblot
viel Tatsächliches beseitigen muß, um seine These allgemein zu halten, Es gibt auch Träume, aus denen man nicht erwacht, z. B. manche, in denen man träumt, daß man träumt. Nach unserer Kenntnis der Traumarbeit können wir unmöglich zugeben, daß sie sich nur über die Periode des Erwachens erstrecke. Es muß uns im Gegenteil wahrscheinlich werden, daß das erste Stück der Traumarbeit bereits am Tage, noch unter der Herr schaft des Vorbewußten beginnt Das zweite Stück derselben, die Veränderung durch die Zensur, die Anziehung durch die un bewußten Szenen, das Durchdringen zur Wahrnehmung, das geht wohl die ganze Nacht hindurch fort, und insofern dürften wir immer Recht haben, wenn wir eine Empfindung angeben, wir hätten die ganze Nacht geträumt, auch wenn wir nicht zu sagen wissen, was. Ich glaube aber nicht, daß es notwendig ist, allzu» nehmen, die Traumvorgänge hielten bis zum Bewußtwerden wirklich die zeitliche Folge ein, die wir beschrieben haben; es sei zuerst der übertragene Traumwun.sch vorhanden,7 dann gehe die Entstellung durch die Zensur vor sich, darauf folge die Richtungsänderung zur Regression usw. Wir haben eine solche § 2570§ 2571
Das Werken durch der: Traum 495
§ 2572Sukzession bei der Beschreibung herstellen müssen; in Wirklichkeit
handelt es sich wohl vielmehr um gleichzeitiges Erproben dieser und jener Wege, um ein Hin- und Herwogen der Erregung, bis endlich durch deren zweckmäßigste Anhäufu.ng gerade die eine Gruppierung die bleibende wird. Ich möchte selbst nach gewissen persönlichen Erfahrungen glauben, daß die Traumarbeit oft mehr als einen Tag und eine Nacht braucht, um ihr Ergebnis zu liefern, wobei dann die außerordentliche Kunst im Aufbau des Traumes alles Wunderbare verliert. Selbst die Rücksicht auf die Verständ lichkeit als Wahrnehmungsereignis kann meiner Meinung nach zur Wirkung kommen, ehe der Traum das Bewußtsein an sich zieht. Von da an erfährt der Vorgang allerdings eine Beschleunigung, da der Traum ja jetzt dieselbe Behandlung erfährt. wie etwas anderes Wahrgenommenes. Es ist wie mit einem Feuerwerk, das stundenlang hergerichtet und dann in einem Moment ent zündet wird. § 2573Durch die Traumarbeit gewinnt der Traumvorgang nun ent
weder die genügende Intensität, um das Bewußtsein auf sich zu ziehen und das Vorbewußte zu wecken, ganz unabhängig von der Zeit und Tiefe des Schlafes; oder seine Intensität ist dazu nicht genügend und er muß bereit bleiben, bis ihm unmittele vor dem Erwachen die beweglicher gewordene Aufmerksamkeit entgegenkommt. Die meisten Träume scheinen mit vergleichsweise geringen psychischen Intensitäten zu arbeiten, denn sie warten das Erwachen ab. Es erklärt sich so aber auch, daß wir in der Regel etwas Geträumtes wahrnehmen, wenn man uns plötzlich aus tiefem Schlafe reißt. Der erste Blick dabei wie beim spontanen Erwachen ti"th den von der Traumarbeit geschafienen Wahr nehmungsinhalt, der nächste dann den von außen gegebenen. § 2574Das größere theoretische Interesse wendet sich aber den
Träumen zu, die mitten im Schlafe zu wecken vermögen. Man darf der sonst überall nachweisbaren Zweckmäßigkeit gedenken und sich fragen, warum dem Traum, also dem unhewußten § 2575§ 2576
494 VII. Zur Psychologie der Traumuargfinge
§ 2577Wunsch, die Macht gelassen wird, den Schlaf, also die Erfüllung
des vorbewußten Wunschec, zu stören. Es muß das wohl an Energierelationen liegen, in welche uns die Einsicht fehlt. Be säßen wir diese, so würden wir wahrscheinlich finden, daß das Gewährenlassen des Traumes und der Aufwand einer gewissen detachierten Aufmerksamkeit für ihn eine Ersparnis an Energie darstth gegen den Fall, daß das Unbewußte nachts ebenso in Schranken gehalten werden sollte wie tagsüber. Wie die Erfahrung zeigt, bleibt das Träumen, selbst wenn es mehrmals in einer Nacht den Schlaf unterbricht, mit dem Schlafen vereinbar. Man erwacht für einen Moment und schläft sofort wieder ein. Es ist, wie wenn man schlafend eine Fliege wegscheucht; man erwacht ad hoc. Wenn man wieder einschläft, hat man die Störung be seitigt. Die Erfüllung des Schlafwunsches ist, wie bekannte Bei spiele vom Ammenschlaf u. dgl. zeigen, ganz gut mit der Unter haltung eines gewissen Aufwandes von Aufmerksamkeit nach einer bestimmten Richtung vereinbar. § 2578Hier verlangt aber ein Einwand gehört zu werden, der auf
einer besseren Kenntnis der unbewußten Vorgänge fußt. Wir haben selbst die unbewußten Wünsche als immer rege bezeichnet. Trotzdem seien sie bei Tag nicht stark genug, sich vernehmbar zu machen. Wenn aber der Schlafzustand besteht, und der un bewußte Wunsch die Kraft gezeigt hat, einen Traum zu. bilden und mit ihm das Vorbewußte zu wecken, warum versiegt diese Kraft, nachdem der Traum zur Kenntnis genommen werden ist? Sollte der Traum sich nicht vielmehr fortwährend erneuern, gerade wie die störende Fliege es liebt, immer wieder nach ihrer Vertreibung wiederzukehren? Mit welchem Recht haben wir be hauptet, daß der Traum die Schlafstörung beseitigt? § 2579Es ist ganz richtig, daß die unbewußten Wünsche immer rege
bleiben. Sie stellen Wege der, die immer gangbar sind, so oft ein Erregungsquantum sich ihrer bedient. Es ist sogar eine hervor— ragende Besonderheit unbewußter Vorgänge, daß sie unzerstörbar § 2580§ 2581
Die Beseitigung der Schhfstörung 495
§ 2582bleiben. Im Unbewußten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts
vergangen oder vergessen. Man bekommt hievon den stärksten Eindruck beim Studium der Neurosen, speziell der Hysterie. Der unbewußte Gedankenweg, der zur Entladung im Anfall führt, ist sofort wieder gangbar, wenn sich genug Erregung angesammelt hat. Die Kränku.ng, die vor dreißig Jahren vorgefallen ist, wirkt, nachdem sie sich den Zugang zu den unbewußten Affektquellen verschafft hat, alle die dreißig Jahre wie eine frische. So oft ihre Erinnerung angerührt wird, lebt sie wieder auf und zeigt sich mit Erregung besetzt, die sich in einem Anfall motorische Abfuhr verschafft. Gerade hier hat die Psychotherapie einzugreifen. Ihre Aufgabe ist es, für die unbewußten Vorgänge eine Erledigung und ein Vergessen zu schaffen. Was wir nämlich geneigt sind, für selbstverständlich zu halten und für einen primären Einfluß der Zeit auf die seelischen Erinnerungsreste erklären, das Abblassen der Erinnerungen und die Affektschwäche der nicht mehr rezenten Eindrücke, das sind in Wirklichkeit sekundäre Veränderungen, die durch muhevolle Arbeit zustande kommen. Es ist das Vorbewußte,. welches diese Arbeit leistet, und die Psychotherapie kann keinen anderen Weg einschlagen, als das Ubw der Herr-\ schaft des wa zu unterwerfen. § 2583Für den einzelnen unbewußten Erregungsvorgang gibt es also
zwei Ausgänge. Entweder er bleibt sich selbst überlassen, dann bricht er endlich irgendwo durch und schafft seiner Erregung für dies eine Mal einen Abfluß in die Motili 't, oder er unter— liegt der Beeinflussung des Vorbewußten, und seine Erregung wird durch dasselbe gebunden anstatt abgeführt. Letzteres aber geschieht beim Traumvorgang. Die Besetzung, die dem zur Wahrnehmung gewordenen Traum von seiten des V bw entgegen— kommt, weil sie durch die Bewußtseinserregung hingelenkt worden ist, bindet die unbewußte Erregung des Traumes und macht sie als Störung unschädlich. Wenn der Träumer für einen Augenblick erwacht, so hat er wirklich die Fliege weggescheucht, die den § 2584§ 2585
495 VII. Zur Psychologie m Traumoorgänge
§ 2586Schlaf zu stören drohte. Es kann uns jetzt ahnen, daß es wirklich
zweckmäßiger und wohlfeiler war, den unbewußten Wunsch ge— währen zu lassen, ihm den Weg zur Regression freizugeben, damit er einen Traum bilde, und dann diesen Traum durch einen kleinen Aufwand von vorbewußter Arbeit zu binden und zu er ledigen, als das Unbew-ußte auch die ganze Zeit des Schlafens über im Zaume zu halten. Es stand ja zu erwarten, daß der Traum, auch wenn er ursprünglich kein zweckmäßiger Vorgang war, im Kräftespiel des seelischen Lebens sich einer Funktion bernächtigt haben würde. Wir sehen, welches diese Funktion isL Er hat die Aufgabe übernommen, die frei gelassene Erregung des Ubw wieder unter die Herrschaft des Vorbewußten zu bringen; er führt dabei die Erregung des Ubw ab, dient ihm als Ventil und sichert gleichzeitig gegen einen geringen Aufwand an Wach— tätigkeit den Schlaf des Vorbewußten. So stellt er sich als ein Kompromij3, ganz wie die anderen psychischen Bildungen seiner Reihe, gleichzeitig in den Dienst der beiden Systeme, indem er beider Wünsche, insoweit sie miteinander verträglich sind, erfüllt. Ein Blick auf die Seite 84. mitgeteilte Robertsche „Ausscheidungs— theorie“ wird zeigen, daß wir diesem Autor in der Hauptsache, in der Bestimmung der Funktion des Traumes, recht. geben müssen, während wir in den Voraussetzungen und in der Würdigung des Traumvorganges von ihm abweichen. [E zu] § 2587Die Einschränkung, insofern beide Wünsche miteinander
verträglich sind, enthält einen Hinweis auf die möglichen Fälle, in denen die Funktion des Traumes zum Scheitern gelangt. Der Traumvorgang wird zunächst als Wunscherfüllung des Unbewußten zugelassen; wenn diese versuchte Wunscherfüllung am Vorbewußten so intensiv riittelt, daß dies seine Ruhe nicht: mehr bewahren kann, so hat der Traum des Kompromiß gebrochen, das andere Stück seiner Aufgabe nicht. mehr erfüllt. Er wird dann sofort abgebrochen und durch das volle Erwachen ersetzt. Es ist eigentlich auch hier nicht die Schuld des Traumes, wenn er, sonst Hüter § 2588§ 2589
Das Scheitern der Traumfimkzion im Angsttrawn 497
§ 2590des Schlafes, als Störer desselben auftreten muß, und braucht uns
gegen seine Zweckmäßigkeit nicht einzunehmen. Es ist dies nicht der einzige Fall im Organismus, daß eine sonst zweckmäßige Ein richtung unzweckmäßig und störend wird, sobald an den Be— dingungen ihres Entstehens etwas geändert ist, und dann dient die Störung wenigstens dem neuen Zweck, die Veränderung an zuzeigen und die Regulierungsmittel des Organismus wider sie wachzurufen. Ich habe natürlich den Fall des Angsttraumes im Auge, und um nicht dem Anscheine recht zu geben, daß ich diesem Zeugen gegen die Theorie der Wunscherfiillung ausweiche, wo in1mer ich auf ihn stoße, will ich der Erklärung des Angst traumes wenigstens mit Andeutungen näher treten. § 2591Daß ein psychischer Vorgang, der Angst entwickelt, darum doch
eine Wunscherfüllung sein kann, enthält für uns längst keinen Widerspruch mehr. Wir wissen uns das Vorkommnis so zu er klären, daß der Wunsch dem einen System, dem Ubw, angehört, während das System des wa diesen Wunsch verworfen und unterdrückt hat. [E 27] Die Unterwerfung des Ubw durch das wa ist auch bei völliger psychischer Gesundheit keine durchgreifende; das Maß dieser Unterdrückung ergibt den Grad unserer psychischen Normalität. Neurotische Symptome zeigen uns an, daß sich die beiden Systeme im Konflikt miteinander befinden; sie sind die Kompromißergebnisse dieses Konflikts, die ihm ein vorläufiges Ende setzen. Sie gestatten einerseits dem Ubw einen Ausweg für den Abflul3 seiner Erregung, dienen ihm als Ausfallstor, und gehen doch anderseits dem wa die Möglichkeit, das Ubw einigermaßen zu beherrschen. Lehrreich ist es z. B., die Bedeutung einer hysteri schen Phobie oder der Platzangst in Betracht zu ziehen. Ein Neu rotiker sei unfähig, allein über die Straße zu gehen, was wir mit Recht als „Symptom“ anführen. Man hehe nun dieses Symptom auf, indem man ihn zu dieser Handlung nötigt, für die er sich unfähig glaubt. Es erfolgt dann ein Angstanfall, wie auch oft ein Angstanfall auf der Straße die Veranlassung für die Her § 2592r„ua, n. 55
§ 2593§ 2594
498 VII. Zur Psychologie der Traumwrgängz
§ 2595stellung der Platzangst geworden ist. Wir erfahren so, daß das
Symptom konstituiert werden ist, um den Ausbruch der Angst zu verhüten; die Phobie ist der Angst wie eine Grenzfestung vorgelegt. § 2596Unsere Erörterung läßt sich nicht weiter führen, wenn wir
nicht auf die Rolle der Affekte bei diesen Vorgängen eingehen, was aber hier nur unvollkommen möglich ist. Stellen wir also den Satz auf, daß die Unterdrückung des Ulm; vor allem darum notwendig wird7 weil der sich selbst überlassene Vorstellungsablauf im Ulm) einen Affekt entwickeln würde, der ursprünglich den Charakter der Lust hatte, aber seit dem Vorgang der Verdrän— gung den Charakter der Unlust trägt. Die Unterdrückung hat den Zweck, aber auch den Erfolg, diese Unlustentwicklung zu verhüten. Die Unterdrückung erstreckt sich auf den Vorstellungs inhalt des Ubw, weil vom Vorstellungsinhalt her die Entbindung der Unlust erfolgen könnte. Eine ganz bestimmte Annahme über die Natur der Affektentwicklung ist hier zugrunde gelegt. Dieselbe wird als eine motorische oder sekretorische Leistung angesehen1 zu welcher der Innervatinnsschlüssel in den Vorstellungen des Ubw gelegen ist. Durch die Beherrschung von seiten des wa werden diese Vorstellungen gleichsam gedrusselt, an der Aus sendung der Affekt entwickelnden Impulse gehemmt. Die Gefahr, wenn die Besetzung von seiten des wa aufhört, besteht also darin, daß die unbewußten Erregungen solchen Aflekt entbinden, der —- infolge der früher stattgehabten Verdrängung — nur als Unlust, als Angst verspürt werden kann. § 2597Diese Gefahr wird durch das Gewährenlassen des Traumvor»
ganges entfesselt Die Bedingungen für deren, Realisierung liegen darin, daß Verdrängungen stattgefunden haben, und daß die unter drückten Wunschregungen stark genug werden können. Sie stehen also ganz außerhalb des psychologischen Rahmens der Traum— bi1dung. Wäre es nicht, daß unser Thema durch dies eine Moment, die Befreiung des Ubw während des Schlafes, mit dem Thema § 2598§ 2599
Der Angxtzraum 499
§ 2600der Angstentwicklung zusammenhinge, so könnte ,ich auf die
Besprechung des Angsttraumes verzichten und mir alle ihm an» hängenden Dunkelheiten hier ersparen. § 2601Die Lehre vom Angsttraum gehört, wie ich schon wiederholt
ausgesprochen habe, in die Neurosenpsychologie. Wir haben weiter nichts mit ihr zu schaffen, nachdem wir einmal ihre Berührungs» stelle mit dem Thema des Traumvorgan.ges aufgezeigt haben. Ich kann nur noch eines tun. Da ich behauptet habe, daß die neu— rutische Angst aus sexuellen Quellen stammt, kann ich Angst— träume der Analyse unterziehen, um das sexuelle Material in deren Traumgedanken nachzuweisen. § 2602Aus guten Gründen verzichte ich hier aui alle die Beispiele,
die mir neurotische Patienten in reicher Fülle bieten, und be vorzuge Angstträume von jugendlichen Personen. § 2603Ich selbst habe seit Jahrzehnten keinen eigentlichen Angsttraum
mehr gehabt. Aus meinem siebenten oder achten Jahre erinnere ich mich an einen solchen, den ich etwa dreißig Jahre später der Deutung unterworfen habe. Er war sehr lebhaft und zeigte mir die geliebte Mutter mit eigentümlich ruhigem, sch’lafendem Gesichtsausdruck, die von zwei (oder drei) Personen mit Vogelschnäbeln ins Zimmer getragen und aufs Bett gelegt wird. Ich erwachte weinend und schreiend und störte den Schlaf der Eltern. Die —— eigentümlich drapierten * überlangen Gestalten mit Vogelschnäheln hatte ich den Illustra tionen der Philippsunschen Bibel entnommen; ich glaube, es waren Götter mit Sperberl—röpferr von einem ägyptischen Grabrelief. Sonst aber liefert mir die Analyse die Erinnerung an einen un gezogenen Hausmeistersjungen, der mit uns Kindern auf der Wiese vor dem Hause zu spielen pflegte; und ich möchte sagen, der hieß Philipp. Es ist mir dann, als hätte ich von dem Knaben zuerst das vulgäre Wort gehört, welches den sexuellen Verkehr bezeichnet und von den Gebildeten nur durch ein lateinisches, durch „coitieren“ ersetzt wird, das aber durch die Auswahl der § 26045
§ 2605§ 2606
500 VII. Zur Prynhabgiz d„ Traumvorgängz
§ 2607Sperberköpfe deutlich genug gekennzeichnet ist. Ich muß die
sexuelle Bedeutung des Wortes aus der Miene des welterfahrenen Lehrmeisters erraten haben. Der Gesichtsausdruck der Mutter im Traume war vom Angesicht des Großvaters lmpiert, den ich einige Tage vor seinem Tode im Koma schnarchend gesehen hatte. Die Deutung der sekundären Bearbeitung im Traume muß also ge— lautet haben, daß die Mutter stirbt, auch das Grabrelief stimmt dazu. In dieser Angst erwachte ich und ließ nicht ab, bis ich die Eltern geweckt hatte. Ich erinnere mich, daß ich mich plötzlich heruhigte, als ich die Mutter zu Gesicht bekam, als ob ich der Beruhigung bedurft hätte: sie ist also nicht gestarben. Diese sekundäre Deutung des Traumes ist aber schon unter dem Einfluß der entwickelten Angst geschehen. Nicht daß ich ängstlid: war, weil ich geträumt hatte, daß die Mutter stirbt; sondern ich deutete den Traum in der vorbewußten Bearbeitung so, weil ich schon unter der Herrschaft der Angst stand. Die Angst aber läßt sich mittels der Verdrängung zurückführen auf ein dunkles, offen— kundig sexuelles Gelüste, das in dem visuellen Inhalt des Traumes seinen guten Ausdruck gefunden hatte. § 2608Ein siebenundzwanzigjähriger Mann, der seit einem Jahr schwer
leidend ist, hat zwischen elf und dreizehn Jahren wiederholt unter schwerer Angst geträumt, daß ein Mann mit einer Hacke ihm nachsetzt; er möchte laufen, ist aber wie gelähmt und kommt nicht von der Stelle. Das ist wohl ein gutes Muster eines sehr gemeinen und sexuell unverdächtigen Angst traumes. Bei der Analyse gerät der Träumer zuerst auf eine, der Zeit nach spätere Erzählung seines Onkels, daß er auf der Straße von einem Verdächtigen Individuum nächtlich angefallen wurde, und schließt selbst aus diesem Einfall, daß er zur Zeit des Tmumes von einem ähnlichen Erlebnis gehört haben kann. Zur Hacke er innert er, daß er sich in jener Lebenszeit einmal beim Holzver— kleinem mit der Hecke an der Hand verletzt hatte. Er gerät dann unvermittelt auf sein Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder, den § 2609§ 2610
Analysen von Angstträwnen 501
§ 2611er zu mißhandeln und hinzuwerfen pflegte, erinnert sich speziell
eines Males, wo er ihn mit dem Stiefel an den Kopf traf, so dsß er blutete und die Mutter dann äußerte; Ich habe Angst, er wird ihn noch einmal umbringen. Während er so beim Thema der Gewalttat festgehalten scheint, taucht ihm plötzlich eine Erinne rung aus dem neunten Lebensjahr auf. Die Eltern waren spät nach Hause gekommen, gingen, während er sich schlafend stellte, zu Bene, und er hörte dann ein Keuchen und andere Geräusche, die ihm unheimlich vorkamen, konnte auch die Lage der beiden im Bene erranen. Seine weiteren Gedanken zeigen, daß er zwischen dieser Beziehung der Eltern und seinem Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder eine Analogie hergestth hatte. Er subsumierte, was bei den Eltern verfiel, unter den Begrifi: Gewalttet und Kauferei. Ein Beweis für diese Auffassung war ihm, daß er oft Blut im Bene der Mutter bemerkt hatte. § 2612Daß der sexuelle Verkehr Erwachsener den Kindern, die ihn
bemerken, unheimlich vorkommt und Angst in ihnen erweckt, ist, möchte ich sagen, Ergebnis der täglichen Erfahrung. Ich habe für diese Angst die Erklärung gegeben, daß es sich um eine sexuelle Erregung handelt, die von ihrem Verständnis nicht be wältigt wird, auch wohl darum auf Ablehnung stößt, weil die Eltern in sie verflochten sind, und die darum sich in Angst ver— wandelt. In einer noch früheren Lebensperiode stößt die sexuelle Regung fiir den gegengeschlechtlichen Teil des Eltempaares noch nicht auf Verdrängung und äußert sich frei, wie wir gehört haben (S, 260). § 2613Auf die bei Kindern so häufigen nächtlichen Angstanfälle mit
Halluzinationen (den Pavor noctumus) würde ich dieselbe Erklä rung unbedenklich anwenden. Es kann sich auch da nur um un— verstandene und abgelehnte sexuelle Regungen handeln, bei deren Aufzeichnung sich auch wahrscheinlich eine zeitliche Periudizität heramstellen würde, da eine Steigerung der sexuellen Libido eben— sowohl durch zufällige erregende Eindrücke, als auch durch die § 2614§ 2615
509 VII. Zur Psyckohzgie da- Traumvnrgängz
§ 2616spontanen, schubweise eintrefienden Entwicklungsvorg‘änge erzeugt
werden kann. § 2617Mir fehlt es an dem erforderlichen Beobachtungsmaterial, um diese
Erklärung durchzuführen. [E28] Den Kinderärzten scheint es da gegen an dem Gesichtspunkte zu fehlen., der allein das Verständnis der ganzen Reihe von Phänomenen sowohl nach der somafischen als auch nach der psychischen Seite gestattet. Als ein komischß Beispiel, wie nahe man, durch die Scheuklappen der medizini schen Mythologie geblendet, am Verständnis solcher Fälle vorbei— gehen kann, möchte ich den Fall einführen, den ich in der These über den Pavor nocturnus von Debacker, 1881 (p. 66), gefunden habe. § 2618Ein dreizehnjähriger Knabe von schwacher Gesundheit begann
ängstlich und verträumt zu werden, sein Schlaf wurde unruhig und fast jede Woche einmal'durch einen schweren Anfall von Angst mit Halluzinationen unterbrochen. Die Erinnerung en diese Träume war immer sehr deutlich. Er konnte also erzählen, daß der Teufel ihn angeschrien habe: Jetzt haben wir dich, jetzt haben wir dich, und dann roch es nach Pech und Schwefel, und das Feuer verbrannte seine Haut. Aus diesem Traum schreckte er dann auf, konnte zuerst nicht schreien, bis die Stimme frei wurde und man ihn deutlich sagen hörte: „Nein, nein, nicht mich, ich hab‘ ja nichts getan“, oder auch: „Bitte, nicht, ich werd' es nie mehr tun.“ Einige Male sagte er auch: „Albert hat das nicht getan.“ Er vermied es später, sich auszukleiden, „weil das Feuer ihn nur ergreife, wenn er ausgekleidet sei.“ Mitten aus diesen Teufelsträumen, die seine Gesundheit in Gefahr brachten, wurde er aufs Land geschickt, erholte sich dort im Verlaufe von ein einhalb Jahren und gestand dann einmal fünfzehn Jahre alt: „Ja n’osais pas l’avauer, mais féprouuais mntinuzllement des picotemenzs er des surzzcizaziam- aux parties;‘ & la fin, Geld § 2619.) Von mir hervorgehoben; iibrigen; nicht mißverstöndh’ch.
§ 2620§ 2621
Der Pavor nacturnus 5°5
§ 2622m’e'rwrvait tant que plusieurs fois, j’ai penre’ me jetar par la
fenétre du dortoir.“ § 2623Es ist wahrlich nicht schwer zu ernsten, 1) daß der Knabe in
früheren Jahren masturbiert, es wahrscheinlich geleugnet hatte und mit schweren Strafen für seine Unart bedroht werden war. (Sein Geständnis: Je ne le fzrai plus,- sein Leug-neu: Aüzert n’a jamais fait ga; 2) daß unter dem Andrang der Pubertät die Versuchung zu masturbieren in dem Ritzel an den Genitalien wieder erwachte; daß aber jetzt }) ein Verdrängungskampf in ihm losbrach, der die Libido unterdrückte und sie in Angst verwandelte, welche Angst nachträglich die damals angedrohten Strafen aufnahm. § 2624Hören wir dagegen die Folgerungen unseres Autors (p. 69):
„Es geht aus dieser Beobachtung hervor, daß 1) der Einfluß der Pubertät bei einem Knaben von geschwächter Gesundheit einen Zustand von großer Schwäche herbeiführen, und daß es dabei zu einer sehr erheblichen Gehirnanämie‘ kommen kann. § 26252) Diese Gehirnanämie eneugt eine Charakterveränderung,
dämonornanische Halluzinationen und sehr heftige nächtliche, viel leicht auch tägliche Angstzustände. § 2626} ) Die Dämonomanie und die Selbstverwürfe des Knaben gehen
auf die Einflüsse der religiösen Erziehung zurück, die als Kind auf ihn gewirkt hatten. § 26274) Alle Erscheinungen sind infolge eines längeren Landaufent
haltes durch körperliche Übung und Wiederkehr der Kräfte nach abgelaufener Pubertät verschwunden. § 2628;) Vielleicht darf man der Heredität und der alten Syphilis
des Vaters einen prädispunierenden Einfluß auf die Entstehung des Gehirnzustandes beim Rinde zuschreiben.“ § 2629Das Schlußwort: „Nous avons fait entrer cette observatian dans
le cadre des de7ires apyre’tiques d'inanition, var c’est & l’ische'mie ce’re’brale que nous rattachons cat e’tat particulier.“ § 2630,) Meine Hervorhebung
§ 2631§ 2632
504 VII. Zur Psychobg-iz der Traumuarga'hge
§ 2633E
Der Primär- und der Sekundärvargang — Die Verdrängung § 2634Indem ich den Versuch wagte, tiefer in die Psychologie der
Traumvorgänge einzudringen, habe ich eine schwierige Aufgabe unternommen, welcher auch meine Darstellungskunst kaum ge wachsen ist. Die Gleichzeitigkeit eines so komplizierten Zusammen hanges durch ein Nacheinander in der Beschreibung wiederzugeben und dabei bei jeder Aufstellung voraussetzungslos zu erscheinen, will meinen Kräften zu schwer werden. Es rächt sich nun an mir, daß ich bei der Darstellung der Traumpsychologie nicht der hismrischen Entwicklung meiner Einsichten folgen kann. Mir waren die Gesichtspunkte für die Auffassung des Traumes durch vorhergegangene Arbeiten über die Psychologie der Neurosen ge geben, auf die ich mich hier nicht beziehen soll und doch immer wieder beziehen muß, während ich in umgekehrter Richtung vor gehen und vom Traume aus den Anschluß an die Psychologie der Neurosen erreichen möchte. Ich kenne alle Beschwerden, die sich hieraus für den Leser ergeben; aber ich weiß kein Mittel, sie zu vermeiden. § 2635Unbefriedigt von dieser Sachlage, verweile ich gerne bei einem
anderen Gesichtspunkte, der mir den Wert meiner Bemühung zu heben scheint. Ich fand ein Thema vor, das von den schärfsten Widersprüchen in den Meinungen der Autoren beherrscht war, wie die Einführung des ersten Abschnittes gezeigt hat. Nach unserer Bearbeitung der Traumprobleme ist für die meisten dieser Widersprüche Raum geschaffen werden. Nur zweien der geäußerten Ansichten, daß der Traum ein sinnloser und ein somaüscher Vor gang sei, mußten wir selbst entschieden widersprechen; sonst aber haben wir allen einander wider-sprechenden Meinungen an irgend— einer Stelle des verwickelten Zusammenhanges Recht geben und nachweisen können, daß sie etwas Richtiges herausgefunden hatten. § 2636§ 2637
Die Versäan der Widersprüche in der Traumlehrz 505
§ 2638Daß der Traum die Anregungen und Interessen des Wachlehens
fortsetzt, hat sich durch die Aufdeckung der verborgenen Traum— gedanken ganz allgemein bestätigt. Diese beschäftigen sich nur mit dem, was uns wichtig scheint und uns mächtig interessiert. Der Traum gibt sich nie mit Kleinigkeiten ab. Aber auch das Gegenteil haben wir gelten lassen, daß der Traum die gleich gültigen Abfälle des Tages aufklaubt und sich eines großen Tages interesses nicht eher bemächtigen kann, als bis es sich der Wach arbeit einigermaßen entzogen hat. Wir fanden dies gültig für den Trauminhalt, der den Traumgedanken einen durch Entstellung veränderten Ausdruck gibt. Der Traumvorgang, sagten wir, be— mächtigt sich aus Gründen der Assoziationsmechanik leichter des frischen oder des gleichgültigen Vorstellungsmaterials, welches von der wachen Denktätigkeit noch nicht mit Beschlag belegt ist, und aus Gründen der Zensur überträgt er die psychische Intensität von dem Bedeutsamen, aber auch Anstößigen, auf das Indifferente. Die Hyp8rmnesie des Traumes und die Verfügung über das Kind heitsmaterial sind zu Grundpfeilern unserer Lehre geworden; in unserer Traumtheorie haben wir dem aus dem Infantilen stammen— den Wunsch die Rolle des unentbehrlichen Motors für die Traum bildung zugeschrieben. An der experimentell nachgewiesenen Be deutung der äußeren Sinnesreize während des Schlafes zu zweifeln, konnte uns natürlich nicht einfallen, aber wir haben dieses Ma terial in dasselbe Verhältnis zum Traumwunsch gesetzt wie die von der Tagarbeit erübrigten Gedankenreste. Daß der Traum den objektiven Sinnesreiz nach Art einer Illusion deutet7 brauchen wir nicht zu bestreiten; aber wir haben das von den Autoren un bestimmt gelassene Motiv für diese Deutung hinzugefügt. Die Deutung erfolgt so, daß das wahrgenommene Objekt für die Schlafstörung unschädlich und für die Wunscherfiillung verwendbar Wird. Den subjektiven Erregungszustand der Sinnesorgane während des Schlafes, der durch Trumbull Ladd nachgewiesen scheint, lassen wir zwar nicht als besondere Traumquelle gelten, aber wir § 2639§ 2640
596 VII. Zur Psychologie der Trawrwargänge
§ 2641wissen ihn durch regrediente Belebung der hinter dem Traum
wirkenden Erinnerungen zu erklären. Auch den inneren organi schen Sensationen, die gern zum Angelpunkt der Traumerklärung genommen werden, ist in unserer Auffassung eine, wenngleich hescheidenere Rolle verblieben. Sie stellen uns — die Sensatinnen des Fallens, Schwebens, Gehemmtseins — ein allezeit bereites Material dar, dessen sich die Traumarbeit zum Ausdruck der Traumgedanken, so oft es Not tut, bedient. § 2642Daß der Traumvorgang ein rapider, momentaner ist, erscheint
uns richtig für die Wahrnehmung des vorgebildeten Trauminhaltes durch das Bewußtsein; für die vorhergehenden Stücke des Traum— vorganges haben wir einen langsamen, wogenden Ablauf wahr— scheinlich gefunden. Zum Rätsel des überreichen, in den kürzesten Moment zusammengedrängten Trauminhaltes konnten wir den Beitrag liefern, daß es sich dabei um das Aufgrei.fen bereits fertiger Gebilde des psychischen Lebens handle. Daß der Traum von der Erinnerung entstth und verstümmelt wird, fanden wir richtig, aber nicht hinderlich, da dies nur das letzte manifeste Stück einer von Anfang der Traumbildung an wirksamen Entstellungsarbeit ist. In dem erbitterten und einer Versöhnung scheinbar unfihigen Streits, ob das Seelenleben nachts schlafe oder über all seine Leistungsfa'higkeit wie bei Tag verfüge, haben wir beiden Teilen recht und doch keinem ganz recht geben können. In den Traum gedanken fanden wir die Beweise einer höchst komplizierten, mit fast allen Mitteln des seelischen Apparates arbeitenden, intellektu ellen Leistung; doch ist es nicht abznweisen, daß diese Traum— gedanken bei Tag entstanden sind, und es ist unentbehrlich an zunehmen, daß es einen Schlafzustand des Seelenlebens gibt So kam selbst die Lehre vum partiellen Schlaf zur Geltung; aber nicht in dem Zerfall der seelischen Zusammenhänge haben wir die Charakteristik des Schlafzustandes gefunden, sondern in der Einstellung des den Tag beherrschenden psychischen Systems auf den Wunsch zu schlafen. Die Ablenkung von der Außenwelt be § 2643§ 2644
Die Versöhnung der Widersprüche in der Traumhhrs 5u7
§ 2645wahne auch für unsere Auffassung ihre Bedeutung; sie hilft, wenn
auch nicht als einziges Moment, die Regression der Traumdar— stellung ermöglichen. Der Verzicht auf die willkürliche Lenkung des Vorstellungsablaufes ist'unbestreithar; aber das psychische Leben wird darum nicht ziellos, denn wir haben gehört, daß nach dern Aufgeben der gewol.lten Zielvorstellungen ungewollte zur Herr schaft gelangen. Die lockere Assoziationsverknüpfung im Traume haben wir nicht nur anerkannt, sondern ihrer Herrschaft einen weit größeren Umfang zugewiesen, als geahnt werden konnte; wir haben aber gefunden, daß sie nur der erzwungene Ersatz für eine andere, korrekte und sinnvolle ist. Gewiß nannten auch wir den Traum absurd; aber Beispiele konnten uns lehren, wie klug der Traum ist, wenn er sich absurd stellt. Von den Funktionen, die dem Traume zuerkannt werden sind, trennt uns kein Wider— spruch. Daß der Traum die Seele wie ein Ventil entlaste, und daß nach Roberts Ausdka allerlei Schädliches durch das Vorstellen im Traume unschädlich gemacht wird, trifft nicht nur genau mit unserer Lehre von der zweifachen Wunscherfüllung durch den Traum zusammen, sondern wird für uns sogar nach seinem Wort laut verständlicher als bei Robert. Das freie Sicher-gehen der Seele im Spiele ihrer Fähigkeiten findet sich bei uns wieder in dem Gewährenlassen des Traumes durch die vorbewußte Tätig4 keit. Die „Rückkehr auf den embryonalen Standpunkt des Seelen— 18b9n5 im Traume“ und die Bemerkung von Havelock Ellis, „an arßhaic world of past emotions and impzrfect thoughts“, er— 5Ch9inen uns als glückliche Vorwegnahmen unserer Ausführungen, die primitive, bei Tag unterdrückte Arbeitsweisen an der Traum bildung beteiligt sein lassen; [E 29] und wie bei Delage wird bei uns das „Unterdrückte“ zur Triehfeder des Träumens. § 2646Die Rolle, welche Scherner der Traumphantasie zuschreibt
und die Deutungen Scherners selbst haben wir in vollem Um— fange anerkannt, aber ihnen gleichsam eine andere Lokalität im Problem anweisen müssen. Nicht der Traum bildet die Phantasie, § 2647§ 2648
508 VII. Zur Psychologie der Traumvorgänge
§ 2649sondern an der Bildung der Traumgedanken hat die unbewußte
Phantasietätigkeit den größten Anteil. Wir bleiben Scherner für den Hinweis auf die Quelle der Traumgedanken verpflichtet; aber fast alles, was er der Traumarbeit zuschreibt, ist der Tätigkeit des bei Tag regsamen Unbewußten zuzurechnen, welche die Anre— gungen für die Träume nicht minder ergibt als die für die neu rotiscben Symptome. Die Traumerbeit mußten wir von dieser Tätigkeit als etwas gänzlich Verschiedenes und weit mehr Ge hundenes absondem. Endlich haben wir die Beziehung des Traumes zu den Seelenstörungen keineswegs aufgegeben, sondern sie auf § 2650neuem Boden fester begründet.
Durch das Neue in unserer Traumlehre wie durch eine höhere § 2651Einheit zusammengehalten, finden wir also die verschiedenartigsten
und widersprechendsten Ergebnisse der Autoren unserem Gebäude eingefügt, manche derselben anders gewendet, nur wenige gänzlich verworfen. Aber auch unser Aufbau ist noch unfem'g. Von den vielen Unklarheiten abgesehen, die wir durch unser Vordringen in das Dunkel der Psychologie auf uns gezogen haben, scheint auch noch ein neuer Widerspruch uns zu bedrücken. Wir haben einerseits die Traumgedanken durch völlig normale geistige Arbeit entstehen lassen, anderseits aber eine Reihe von ganz abnormen Denkvorgängen unter den Traumgedanken, und vun ihnen aus zum Trauminhalt aufgefunden, welche wir dann bei der Traum deutung wiederholen. Alles, was wir die „Traumarbeit“ geheißen haben, scheint sich von den uns als korrekt bekannten Vorgängen so weit zu entfernen, daB die härtesten Urteile der Autoren über die niedrige psychische Leistung des Träumens uns wohl ange bracht diinken müssen. § 2652Hier schafien wir vielleicht nur durch noch weiteres Vordringen
Aufklärung und Abhilfe. Ich will eine der Konstellationen heraus greifen, die zur Traumbildung führen: § 2653Wir haben erfahren, daß der Traum eine Anzahl von Gedanken
ersetzt, die aus unserem Tageslehen smmmen und vollkommen § 2654§ 2655
Der Widerspruch zwischen den beiden Stücken der Traumarbeit 509
§ 2656logisch gefügt sind. Wir können darum nicht bezweifeln, daß
diese Gedanken unserem normalen Geistesleben entstammen. Alle Eigenschaften, welche wir an unseren Gedankengängen hoch— schätzen, durch welche sie sich als komplizierte Leistungen hoher Ordnung kennzeichnen, finden wir an den Traumgedanken wieder. Es besteht aber keine Nötigung anzunehmen, daß diese Gedanken arbeit während des Schlafes vollzogen wurde, was unsere bisher festgehaltene Vorstellung vom psychischen Schlafzustand arg be— irren würde. Diese Gedanken können vielmehr sehr wohl vom Tage stammen, sich von ihrem Anstoß an, unserem Bewußtsein unbemerkt, fortgesetzt haben und fanden sich dann mit dem Ein schlafen als fertig vor. Wenn wir aus dieser Sachlage etwas ent«v nehmen sollen, so ist es höchstem der Beweis, daß die kom« pliziertesten Denkleistungen ohne Mittun des Bewußt—‘ Seins möglich sind, was wir ohnedies aus jeder Psychoanalyse eines Hysterischen oder einer Person mit Zwangsvorstellungem erfahren mußten. Diese Traumgedanken sind an ich sicherlich nicht bewußtseinsunfiihig; wenn sie uns tagsüber nicht bewußt werden sind, so mag dies verschiedene Gründe haben. Das Be wußtwerden hängt mit der Zuwendung einer bestimmten psychi schen Funktion, der Aufmerksamkeit, zusammen, die, wie es scheint nur in bestimmter Quantität aufgewendet wird, welche von dem betreffenden Gedankengang durch andere Ziele abgelenkt sein mochte. Eine andere Art7 wie solche Gedankengänge dem Bewußtsein vorenthalten werden können, ist folgende: Von unserem bewußten Nachdenken her wissen wir, daß wir bei Anwendung der Aufmerksamkeit einen bestimmten Weg verfolgen. Kommen wir auf diesem Wege an eine Vorstellung, welche der Kritik nicht stand hält, so brechen wir ab; wir lassen die Aufmerksamkeits besetzung fallen. Es scheint nun, daß der begonnene und ver lassene Gedankengang sich dann fortspinnen kann, ohne daß sich ihm die Aufmerksamkeit wieder zuwendet, wenn er nicht an einer Stelle eine besnnders hohe Intensität erreicht, welche die § 2657§ 2658
v
§ 2659«„ „ „sich bis
§ 2660510 VII. Zur Psychologie der Traunwargänge
§ 2661Aufmerksamkeit erzwingt. Eine anfängliche, etwa mit Bewußtsein
erfolgte Verwerfung durch das Urteil, als unrichtig oder als un brauchbar für den aktuellen Zweck des Denkaktes, kann also die Ursache sein, daß ein Denkvorgang vom Bewußtsein unbemerkt um Einschlafen fortsetzt. § 2662Resürnieren wir, daß wir einen solchen Gedankengang einen
§ 2663‘ vorbewußten heißen, ihn für völlig korrekt halten, und daß er
§ 2664ebensowohl ein bloß vemachlässigter, wie ein abgebrochener, unter
drückter sein kann. Sagen wir auch frei heraus, in welcher Weise wir uns den Vorstellungsablauf veranschaulichen. Wir glauben, daß von einer Zielvorstellung aus eine gewisse Enegungsgröße, die wir „Besetzungsenergie“ heißen, längs der durch diese Ziel— vorstellung ausgewählten Assoziationswege verschoben wird. Ein „vernachlässigter“ Gedankengang hat eine solche Besetzung nicht erhalten; von einem „unterdrückten“ oder „verworfenen“ ist sie wieder zurückgezogen werden; beide sind ihren eigenen Erregungen überlassen. Der zielbesetzte Gedankengang wird unter gewissen Bedingungen fähig, die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich zu ziehen, und erhält dann durch dessen Vermittlung eine „Überbesetzung“. Unsere Annahmen über die Natur und Leistung des Bewußtseins werden wir ein wenig später klarlegen müssen. § 2665Ein so im Vorbewußten angeregter Gedankengang kann spontan
erlöschen oder sich erhalten. Den ersteren Ausgang stellen wir uns so vor, daß seine Energie nach allen von ihm ausgehenden Assoziationsrichtungen difiundiert, die ganze Gedankenkette in einen erregten Zustand versetzt, der für eine Weile auhält, dann aber abklingt, indem die abfuhrbeclürftige Erregung sich in ruhende Besetzung umwandelt. Tritt dieser erste Ausgang ein, so hat der Vorgang weiter keine Bedeutung für die Traumbildung. Es lauern aber in unserem Vorbewußten andere Zielvorstellungen, die aus den Quellen unserer unbewußten und immer regen Wünsche stammen. Diese können sich der Erregung in dem sich selbst § 2666§ 2667
Die „abmrmm“ Vorgänge bei der Traumarbeit 511
§ 2668überlassenen Gedankenkreise bemächtigen, stellen die Verbindung \
§ 2669zwischen ihm und dem unbewußten Wunsche her, übertragen
§ 2670ihm die dem unhewußten Wunsch eigene Energie, und von jetzt‘
§ 2671an ist der vernachlässigte oder unterdrückte Gedankengang im
§ 2672stande sich zu erhalten, obwohl er durch diese Verstärkung'
§ 2673keinen Anspruch auf den Zugang zum Bewußtsein erhält. Wir‘
§ 2674können sagen, der bisher vorbewußte Gedankengang ist ins Un- ;
§ 2675bewußte gezogen werden.
§ 2676Andere Konstellationen zur Traumhildung wären, daß der vor—
bewu.ßte Gedankengang von vornherein in Verbindung mit dem unbewußten Wunsche stand, und darum auf Abweisung von seiten der herrschenden Zielhesetzung stieß, oder daß ein un bewußter Wunsch aus anderen (etwa somatischen) Gründen rege geworden ist, und ohne Entgegenkommen eine Übertragung auf die vom wa nicht besetzten psychischen Reste sucht. Alle drei Fälle treffen endlich in einem Ergebnis zusammen, daß ein Ge— dankenzug im Vorbewußten zustandekomrnt, der von der vor bewußten Besetzung verlassen, vom unbewußlen Wunsch her Besetzung gefunden hat. § 2677Von da an erleidet der Gedankenzug eine Reihe von Um
wandlungen, die wir nicht mehr als normale psychische Vorgänge anerkennen, und die ein uns befremdendes Resultat7 eine psycho pathologische Bildung, ergeben. Wir wollen dieselben herausheben und zusammenstellen: § 2678!) Die Intensitäten der einzelnen Vorstellungen werden nach
ihrem ganzen Betrage abflußt‘a'hig und übergeben von einer Von stellung auf die andere, so daß einzelne mit großer Intensität versehene Vorstellungen gebildet werden. Indem sich dieser Vor gang mehrmals wiederholt, kann die Intensität eines ganzen Gedankenzuges schließlich in einem einzigen Vorstellungselement gesammelt sein. Dies ist die Tatsache der Kompression oder Verdichtung, die wir während der Traumarbeit kennen gelernt haben. Sie trägt die Hauptschuld an dem befrerndenden Eindruck § 2679§ 2680
5„ VII. Zur Psychologie der menvorgäng:
§ 2681des Traumes, denn etwas ihr Analoges ist uns aus dem normalen
und dem Bewußtsein zugänglichen Seelenleben ganz unbekannt. Wir haben auch hier Vorstellungen, die als Knotenpunkte oder als Endergebnisse ganzer Gedankenketten eine große psychische Bedeutung besitzen, aber diese Wertigkeit äußert sich in keinem für die innere Wahrnehmung sinnfälligen Charakter; das in ihr Vorgestellte wird darum in keiner Weise intensiver. Im Verdichtungs Vorgang setzt sich aller psychische Zusammenhang in die Intensität des Vorstellungsinhaltes um. Es ist der nämliche Fall, wie wenn ich in einem Buch ein Wort, dem ich einen überragenden Wert für die Auffassung des Textes beilege, gesperrt oder fett drucken lasse. In der Rede würde ich dasselbe Wort laut und langsam sprechen und nachdrücklich betonen. Das erstere Gleichnis fühlt unmittelbar zu einem der Traumarbeit entlehnten Beispiele (Trimethylamin im Traum von Irmas Injektion). Die Kunsthistoriker machen uns darauf aufmerksam, daß die ältesten historischen Skulpturen ein ähn liches Prinzip befolgen, indem sie die Ranggröße der dargestellten Personen durch die Bildgröße zum Ausdruck bringen. Der König wird zwei- oder dreimal so groß gebildet als sein Gefolge oder der überwundene Feind. Ein Bildwerk aus der Römerzeit wird sich zu demselben Zweck fei.nerer Mittel bedienen. Es wird die Figur des Imperators in die Mitte stellen, ihn hoch aufgerichtet zeigen, be— sondere Sorgfalt auf die Durchbildung seiner Gestalt verwenden, die Feinde zu seinen Füßen legen, ihn aber nicht mehr als Riesen unter Zwergen erscheinen lassen. Indes ist die Verbeugung des Untergebenen vor seinem Vorgesetzten in unserer Mitte noch heute ein Nachklang jenes alten Darstellungsprinzips. § 2682Die Richtung, nach welcher die Verdichtungen des Traumes
fortschreiten, ist einerseits durch die korrekten vorbewußten Relationen der Traumgedanken, anderseits durch die Anziehung der visuellen Erinnerungen im Unbewußten vorgeschrieben. Der Erfolg der Verdichtungsarbeit erzielt jene Intensitäten, die zum Durchbruch gegen die Wahrnehmungssysteme erfordert werden. § 2683§ 2684
Die „abmrmen“ Vorgänge bei der Traumarbzit 515
§ 26852) Es werden wiederum durch freie Übertragbarkeit der Inten
sitäten und im Dienste der Verdichtung Mittelvorstellungen gebildet, Kompromisse gleichsam (vgl. die zahlreichen Beispiele). Gleichfalls etwas Unerhörtes im normalen Vorstellungseblauf, bei dem es vor allem auf die Auswahl und Festhaltung des „richtigen“ Vorstellungselementes ankommt. Dagegen ereignen sich Misch vvie Kompromißbildungen außerordentlich häufig, wenn wir für die vorbewußten Gedanken den sprachlichen Ausdruck suchen, und werden als Arten des „Versprechens“ angeführt. § 2686}) Die Vorstellungen, die einander ihre Intensitäten übertragen,
stehen in den lockersten Beziehungen zueinander, und sind durch solche Arten von Assoziationen verknüpft, welche von unserem Denken verschmäht und nur dem witzigen Effekt zur Ausnützung überlassen werden. Insbesondere gelten Gleichklangs und Wortlautassoziationen als den anderen gleichwertig. § 26874) Einander widersprechende Gedanken streben nicht danach,
einander aufzuhehen, sondern bestehen nebeneinander, setzen sich oft, als ob kein Widerspruch bestünde, zu Verdichtungs produkten zusammen, oder bilden Kompromisse, die wir unserem Denken nie verzeihen würden, in unserem Handeln aber oft gutheißen. § 2688Dies wären einige der auffälligsten ahnormen Vorgänge, denen
im Laufe der Traumarbeit die vorher rationell gebildeten Traum gedanken unterzogen werden. Man erkennt als den Hauptcharakter derselben, daß aller Wert darauf gelegt wird, die besetzende Energie beweglich und abfuhrfähig zu machen; der Inhalt und die eigene Bedeutung der psychischen Elemente, an denen diese Besetzungen haften, wird zur Nebensache. Man könnte noch meinen, die Verdichtung und Kompromißbildung geschehe nur im Dienste der Regression, wenn es sich darum handelt, Gedanken in Bilder zu verwandeln. Allein die Analyse * und noch deut licher die Synthese — solcher Träume, die der Regression auf Bilder entbehren, z. B. des Trauma „Autodidasker — Gespräch § 2689run—!, ll. 55
§ 2690§ 2691
514 VII. Zur Psychologiz der Traumvorgiing:
§ 2692mit Professor N.“ ergeben die nämlichen Verschiebung? und
Verdichtungsvorgänge wie die anderen. § 2693So können wir uns also der Einsicht nicht verschließen, daß
an der Traumbildung zweierlei wesensverschiedene psychische Vor gänge beteiligt sind; der eine schafi"t vollkommen korrekte, dem normalen Denken gleichwertige Traumgedanken; der andere ver fahn mit denselben aut eine höchst befremdende, inkorrekte Weise. Den letzteren haben wir schon im Abschnitt VI als die eigentliche Traumarbeit abgesondert. Was haben wir nun zur Ableitung dieses letzteren psychischen Vorgangs vorzubringen? § 2694Wir könnten hier eine Antwort nicht geben, wenn wir nicht
ein Stück weit in die Psychologie der Neurosen, speziell der Hysterie, eingedrungen wären. Aus dieser aber erfahren wir, daß die nämlichen inkorrekten psychischen Vorgänge —— und noch andere nicht aufgezählte —— die Herstellung der hysterischen Symptome beherrschen. Auch bei der Hysterie finden wir zunächst Eine Reihe von völlig korrekten, unseren bewußten ganz gleich» wenigen Gedanken, von deren Existenz in dieser Form wir aber nichts erfahren können, die wir erst nachträglich rekonstmieren. Wenn sie irgendwo zu unserer Wahrnehmung durchgedrungen sind, so ersehen wir aus der Analyse des gebildeten Symptoms, daß diese normalen Gedanken eine abnorme Behandlung erlitten haben und mittels Verdichtung, Kompromißbildung, über oberflächliche Assoziationen, unter Deckung der Wider— sprüche, eventuell auf dem Wege der Regression in das Symptom übergefiihrt wurden, Bei der vollen Identität zwischen den Eigentümlichkeiten der Traumarbeit und der psychi schen Tätigkeit, welche in die psychoneurotischen Symptome aus läuft, werden wir uns für berechtigt halten, die Schlüsse, zu denen uns die Hysterie nötig-t, auf den Traum zu übertragen. § 2695Aus der Lehre von der Hysterie entnehmen wir den Satz,
daß solche abnorme psychische Bearbeitung eines nor— malen Gedankenzuges nur dann vorkommt, wenn dieser § 2696§ 2697
Die nämlichen abrwrmen Vorgänge bei den Neuro.v2n 515
§ 2698zur Übertragung eines unbewußten Wunsches geworden
ist, der aus dem Infantilen stammt und sich in der Ver— drängung befindet. Diesem Satz zuliehe haben wir die Theorie des Traumes auf die Annahme gebaut7 daß der treibende Traum wunsch allemale aus dem Unbewußten stammt7 was, wie wir selbst zugestanden, sich nicht allgemein nachweisen, wenn auch nicht zurückweisen, läßt. Um aber sagen zu können, was die „Verdrängung“ ist, mit deren Namen wir schon so oft gespielt haben, müssen wir ein Stück an unserm psychologischen Gerüste weiter bauen. § 2699Wir hatten uns in die Fiktion eines primitiven psychischen
Apparates vertieft, dessen Arbeit durch das Bestreben geregelt wird, Anhäufung von Erregung zu vermeiden und sich möglichst erregungslos zu erhalten. Er war darum nach dem Schema eines Reflexapparats gebaut; die Motilität, zunächst der Weg zur inneren Veränderung des Körpers, war die ihm zu Gebote stehende Abfuhrbahn. Wir erörterten dann die psychischen Folgen eines Befriedigungserlebnjsses und hätten dabei schon die zweite An nahme einfügen können, daß Anhäufung der Erregung — nach gewissen uns nicht bekümmemden Modalitäten * als Unlust empfunden wird und den Apparat in Tätigkeit versetzt, um das Befriedigungsergebnis, bei dem die Verringerung der Erregung als Lust verspürt wird7 wieder herbeizuführen. Eine solche, von der Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat heißen wir einen Wunsch; wir haben gesagt, nicht; anderes als ein Wunsch sei imstande, den Apparat in Bewegung zu bringen, und der Ablauf der Erregung in ihm werde automatisch durch die Wahrnehmungen von Lust und Unlust geregelt. Das erste Wünschen dürfte ein halluzinatorisches Besetzen der Befi'iedigungs erinnerung gewesen sein. Diese Halluzination erwies sich aber, wenn sie nicht bis zur Erschöpfung festgehalten werden sollte, als untüchtig, das Auihören des Bedürfnisses, alsu die mit der Be friedigung verbundene Lustj herbeizuführen. § 2700„.
§ 2701§ 2702
516 VII. Zur Psycholugie der Traumvargiinge
§ 2703Es wurde so eine zweite Tätigkeit * in unserer Ausdrucks—
weise die Tätigkeit eines zweiten Systems — notwendig, welche nicht gestartete, daß die Erinnerungsbesetzung zur Wahrnehmung vordrin‘ge und von dort aus die psychischen Kräfte binde, sondern die vom Bedürfnisreiz ausgehende Erregung auf einen Umweg leite, der endlich über die willkürliche Motilitäl: die Außenwelt so verändert, daß die reale Wahrnehmung des Befriedigungs Objektes eintreten kann. So weit haben wir das Schema des psychi‘ schen Apparate bereits verfolgt; die beiden Systeme sind der Keim zu dem, was wir als Uhr:; und Win; in den voll aus gebildeten Apparat einsetzen. § 2704Um die Außenwelt zweckmäßig durch die Motilität verändern
zu können, bedarf es der Anhäufung einer großen Summe von Erfahrungen in den Erinnerungssystemen und einer mannigfachen Fixierung der Beziehungen, die durch verschiedene Zielvorstellungen in diesem Erinnerungsmaterial hervorgerufen werden. Wir gehen nun in unseren Annahmen weiter. Die vielfach tastende, Be— setzungen aussendende und wieder einziehende Tätigkeit des zweiten Systems bedarf einerseits der freien Verfügung über alles Erinnernmgsmaterial, anderseits wäre es überflüssiger Aufwand, wenn sie große Besetzungsquantitäten auf die einzelnen Denkwege schickte, die dann umweckmäßig abströrnen und die für die Ver änderung der Außenwelt notwendige Quantität verringern würden. Der Zweckmäßigkeit zu Liebe postuliere ich also, daß es dem zweiten System gelingt, die Energiebesetzungen zum größeren Anteil in Ruhe zu erhalten, und nur einen kleineren Teil zur Verschiebung zu verwenden Die Mechanik dieser Vorgänge ist mir ganz unbekannt; wer mit diesen Vorstellungen Ernst machen wollte, müßte die physikalischen Analogien heraussuchen und sich einen Weg zur Veranschaulichung des Bewegungsvorganges bei der Neuronen-egung bahnen. Ich halte nur an der Vorstellung fest, daß die Tätigkeit des ersten Ö-Systems auf freies Ab strömen der Erregungsquantitäten gerichtet ist, und daß das § 2705§ 2706
Ableitung der Verdrängung 517
§ 2707zweite System durch die von ihm ausgehenden Besetzungen eine
Hemmung dieses Abstrümens, eine Verwandlung in ruhende Bu.L setzung, wohl unter Niveauerhöhung, herbeiführt. Ich nehme also an, daß der Ablauf der Erregung unter der Herrschaft des zweiten Systems an ganz andere mechanische Verhältnisse ge— knüpft wird, als unter der Herrschaft des ersten. Hat das zweite System seine probende Denkarbeit beendigt, so hebt es auch die Hemmung und Stauung der Erregungen auf und läßt dieselben zur Moulität abfließen. § 2708FA ergibt sich nun eine interessante Gedankenfolge, wenn man
die Beziehungen dieser Abflußhemmung durch das zweite System zur Regulierung durch das Unlustprinzip ins Auge faßt. Suchen wir uns das Gegenstück zum primären Befriedigungserlebnis auf, das äußere Schreckerlebnis. Es wirke ein Wahmehmungsreiz auf den primitiven Apparat ein, der die Quelle einer Schmerz— enegung ist. Es werden dann so lange ungeordnete motorische Äußerungen erfolgen, bis eine derselben den Apparat der Wahr nehmung und gleichzeitig dem Schmerz entzieht, und diese wird bei Wiederauftreten der Wahrnehmung sofort wiederholt werden (etwa als Fluchtbewegung), bis die Wahrnehmung wieder ver schwunden ist. Es wird aber hier keine Neigung übrig bleiben, die Wahrnehmung der Schmerzquelle halluzinatorisch oder anders wie wieder zu besetzen. Vielmehr wird im Primären Apparat die Neigung bestehen, dies peinliche Erinnerungshild sofort, wenn es irgendwie geweckt wird, wieder zu verlassen, weil ja des Über fließen seiner Erregung auf die Wahrnehmung Unlust hervor rufen würde (genauer: hervorzurufen beginnt). Die Abwendung von der Erinnerung, die nur eine Wiederhulung der einstigen Flucht vor der Wahrnehmung ist7 wird auch dadurch erleichtert, daß die Erinnerung nicht wie die Wahrnehmung genug Qualität besitzt, um das Bewußtsein zu erregen und hiedurch neue Be— setzung an sich zu ziehen. Diese mühelos und regelmäßig erfol— gende Abwendung des psychischen Vorganges von der Erinnerung § 2709§ 2710
513 VII. Zur Psychologie der Traumv0rgängz
§ 2711des einst Peinlichen, gibt uns das Vorbild und das erste Beispiel der
psychischen Verdrängung. Es ist allgemein bekannt, wieviel von dieser Abwendung vom Peinlichen, von der Takt-ik des Vogels Strauß, noch im normalen Seelenleben des Erwachsenen nach weisbar geblieben ist. § 2712Zufolge des Unlustyrinzips ist das erste ill-System also über—
haupt unfähig, etwas Unangenehmes in den Denkzusarnmenhang zu ziehen. Das System kann nichts anderes als wünschen. Bliebe es so, so wäre die Denkarbeit des zweiten Systems gehindert, welches die Verfügung über alle in der Erfahrung niedergelegten Erinnerungen braucht. Es eröffnen sich nun zwei Wege; entweder macht sich die Arbeit des zweiten Systems vom Unlustprinzip völlig frei, setzt ihren Weg fort, ohne sich um die Erinnerungs unlust zu kümmern; oder sie versteht es, die Unlusterinnerung in solcher Weise zu besetzen, daß die Unlustentbindung dabei ver mieden wird. Wir können die erste Möglichkeit zurückweisen, denn das Unlustprinzip zeigt sich auch als Regulator für den Erregungsablauf des zweiten Systems; somit werden wir auf die zweite gewiesen, daß dies System eine Erinnerung so besetzt, daß der Abfluß von ihr gehemmt wird, also auch der einer motori schen Innervation vergleichbare Abfluß zur Entwicklung der Unlust. Zur Hypnthese, daß die Besetzung durch das zweite System gleichzeitig eine Hemmung für den Abfluß der Errwng darstellt, werden wir also von zwei Ausgangspunkten her ge— leitet, von der Rücksicht auf das Unlustprinzip und von dem 1Prinzip des kleinsten Innervationsaufwandes. Halten wir aber daran fest, — es ist der Schlüssel zur Verdrängungslebre, , daß das zweite System nur dann eine Vorstellung besetzen kann, wenn es imstande ist, die von ihr ausgehende Unlust entwicklung zu hemmen. Was sich etwa dieser Hemmung entzöge, bliebe auch für das zweite System unzugänglich, würde dem Unlustprinzip zufolge alsbald verlassen werden. Die Hem mung der Unlust braucht indes keine vollständige zu sein; ein § 2713§ 2714
Primär- und Sekundiirvnrglmg 519
§ 2715Beginn derselben muß zugelassen werden, da es dem zweiten
System die Natur der Erinnerung und etwa deren mangelnde Eignung für den vom Denken gesuchten Zweck anzeigt. § 2716Den psychischen Vorgang, welchen das erste System allein zu
läßt, werde ich jetzt Primärvorgang nennen; den, der sich unter der Hemmung des zweiten ergibt, Sekundärvorgang. Ich kann noch an einem anderen Punkte zeigen, zu welchem Zwecke das zweite System den Primärvorgang korrigieren muß. Der Primärvorgang strebt nach Abfuhr der Erregung, um mit der so gesammelten Erregungsgröße eine Wahrnehmungsidentität her zustellen; der Sekundärvorgang hat diese Absicht verlassen und an ihrer Statt die andere aufgenommen, eine Denkidentität zu er« zielen. Das ganze Denken ist nur ein Umweg von der als Ziel vorstellung genommenen Befriedigungserinnemng bis zur identischen Besetzung derselben Erinnerung, die auf dem Wege über die motorischen Erfahrungen wieder erreicht werden soll. Das Denken muß sich für die Verbindungswege zwischen den Vorstellungen interessieren, ohne sich durch die Intensitäten derselben beirren zu lassen. Es ist aber klar, daß die Verdichtungen von Vor stellungen, Mittel- und Kompromißbildungen in der Erreichung dieses Identitätszieles hinderlich sind; indem sie die eine Vor stellung für die andere setzen, lenken sie vom Wege ab, der von der ersteren weiter geführt hätte. Solche Vorgänge werden also im sekundären Denken sorgfältig vermieden. Es ist auch nicht schwer zu übersehen, daß das Unlustprinzip dem Denkvur« gang, welchem es sonst die wichtigsten Anhaltspunkte bietet, auch Schwierigkeiten in der Verfolgung der Denkidentität in den Weg legt. Die Tendenz des Denkens muß also dahin geben, sich von der ausschließlichen Regulierung durch das Unlust— prinzip immer mehr zu befreien und die Affektentwicklung durch die Denkarbeit auf ein Mindestes, das noch als Signal ver— wertbar ist, einzuschränken. Durch eine neuerliche Überbesetzung] die das Bewußtsein vermittelt, soll diese Verfeinerung der Leistung § 2717§ 2718
590 VII. Zur Psychologie der Trawrworgängz
§ 2719erzielt werden. Wir wissen aber, daß diese selbst im normalen
Seelenieben selten vollständig gelingt, und daß unser Denken der Fälschung durch die Einmengung des Unlustprinzips immer zu gänglich bleibt. § 2720Aber nicht dies ist. die Lücke in der Funktionstüchtigkeit
unseres seelischen Apparates, durch welche es möglich wird, daß Gedanken7 die sich als Ergebnisse der sekundären Denkarbeit dar stellen, dem primären psychischen Vorgang verfallen, mit welcher Formel wir jetzt die zum Traume und zu den hysterischen Symptomen führende Arbeit beschreiben können. Der Fall von Unzulänglichkeit ergibt sich durch das Zusammentreflen zweier Momente aus unserer Entwäcklungsgeschichte, von denen das eine ganz dem seelischen Apparat anheimfällt und einen maßgebenden Einfluß auf das Verhältnis der beiden Systeme ausgeübt hat, das andere im wechselnden Betrage zur Geltung kommt und Trieb kräfte organischer Herkunft ins Seelenleben einführt. Beide stammen aus dem Kinderleben und sind ein Niederschlag der Veränderung, die unser seelischer und sometischer Organismus seit den infan dien Zeiten erfahren hat. § 2721Wenn ich den einen psychischen Vorgang im Seelenapparat
den primären benannt habe, so tat ich dies nicht allein mit Rücksicht auf die Bangord.nung und Leistungsfa'higkeit, sondern durfte auch die zeitlichen Verhältnisse bei der Namengebung mit— sprechen lassen. Ein psychischer Apparat, der nur den Primär vorgang besäße, existiert. zwar unseres Wissens nicht und ist in soferne eine theoretische Fiktion; aber soviel ist tatsächlich1 daß die Primärvorgänge in ihm von Anfang an gegeben sind, während die sekundären erst allmählich im Laufe des Lebens sich ausbilden, die primären hemmen und überlagern und ihre volle Herrschaft über sie vielleicht erst mit der Lehenshöhe erreichen. Infolge dieses verspäteten Einneflens der sekundären Vorgänge bleibt der Kern unseres Wesens, aus unbewußten Wunschregungen bestehend, unfaßbar und unhemmbar für das Vorbewußte, dessen Rolle ein § 2722§ 2723
Aflehverwandlwlg 591
§ 2724für allemale darauf beschränkt wird, den aus dem Unbewußten
stammenden Wunschregungen die zweckmäßigsten Wege anzu weisen. Dieee unbewußten Wünsche stellen für alle späteren seelischen Bestrebungen einen Zwang dar, dem sie sich zu fügen haben, den etwa abzuleiten und auf höher stehende Ziele zu lenken sie sich bemühen dürfen. Ein großes Gebiet des Er« innemngsmaterials bleibt auch infolge dieser Verspätung der vor— bewußten Besetzung unzugänglich. § 2725Unter diesen aus dem Infantilen stammenden, unzerstörbaren
und unhemmbaren Wunscbregurtgen befinden sich nun auch solche, deren Erfüllungen in das Verhältnis des Widerspruchs zu den Zielvorsüellungen des sekundären Denkens getreten sind. Die Erfüllung dieser Wünsche würde nicht mehr einen Lust-, sondern einen Urdustaffekt hervorrufen, und eben diese Affektver— Wandlung macht das Wesen dessen aus, was wir als „Ver drängung“ bezeichnen. Au.f welchem Wege, durch welche Triebkxäfte eine solche Verwandlung vor sich gehen kann, darin besteht das Problem der Verdrängung, das wir hier nur zu streifen brauchen. Es genügt uns festzuhalten, daß eine solche Affektverwandlung im Laufe der Entwicklung vorkommt (man denke nur an das Auftreten des anfänglich fehlenden Ekels im Kinderleben), und daß sie an die Tätigkeit des sekundären Systems geknüpft ist. Die Erinnerungen, von denen aus der unbewußte Wunsch die Aßekhentbindung hervorruft, waren dem wa niemals zugänglich; darum ist deren Affektentbindung auch nicht zu hemmen. Eben wegen dieser Affektentwicklung sind diese Vor— stellungen jetzt auch nicht von den vorbewußten Gedanken her zugänglich, auf die sie ihre Wunschkraft übertragen haben. Viel mehr tritt das Unlustprinzip in Kraft und veranlaßt, daß das wa sich von diesen Übertragungsgedanken abwendet. Dieselben werden sich selbst überlassen, „verdrängt“, und somit wird das Vorhanden sein eines infentilen, dem VW von Anfang an entzogenen Er innenmgsschatzes zur Vorbedingung der Verdrängung. § 2726§ 2727
522 VIL Zur Psychologie d„ Traumvargänge
§ 2728Im günstigsten Falle nimmt die Unlustentwicklung ein Ende,
sowie den Übertragungsgedanken im wa die Besetzung entzogen ist, und dieser Erfolg kennzeichnet das Eingreifen des Unlust prinzips als zweckmäßig. Anders aber, wenn der verdrängte un bewußte Wunsch eine organische Verstärkung erfährt, die er seinen Übertragungsgedanken leihen, wodurch er sie in den Stand setzen kann, mit ihrer Erregung den Versuch zum Durchdringen zu machen, auch wenn sie von der Besetzung des wa verlassen worden sind. Es kommt dann zum Abwehrkarnpf, indem das wa den Gegensatz gegen die verdräng‘ten Gedanken verstärkt, und in weiterer Folge zum Durchdringen der Übertragungsgeclanken, welche Träger des unbewußten Wunsches sind, in irgendeiner Form von Kompromiß durch Symptombildung. Von dem Moment aber, da die verdrängten Gedanken von der unbewußten Wunsch erregung kräftig besetzt, von der vorbewußten Besetzung dagegen verlassen sind, unterliegen sie dem primären psychischen Vorgang, zielen sie nur auf motorische Abfuhr oder, wenn der Weg frei ist, auf halluzinatnrische Belebung der gewünschten Wflhmehmungs identität. Wir haben früher empirisch gefunden, daß die be— schriebenen inkorrekten Vorgänge sich nur mit Gedanken abspielen, die in der Verdrängung stehen. Wir erfassen jetzt ein weiteres Stück des Zusammenhanges. Diese inkorrekten Vorgänge sind die im psychischen Apparat primären; sie treten überall dort ein, wo Vorstellungen von der vorhewußten Besetzung verlassen, sich selbst überlassen werden und sich mit der ungehemmten, nach Abfluß strebenden Energie vom Unbewußten her erfüllen können. Einige andere Beobachtungen kommen hinzu, die Auffassung zu stützen, daß diese inkorrekt genannten Vorgänge nicht wirklich Fälschungen der normalen, Denkfehler, sind, sondern die von einer Hemmung befreiten Arbeitsweisen des psychischen Apparats. So sehen wir, daß die Überleitung der vorbewußten Erregung auf die Motilität nach denselben Vorgängen geschieht, und daß die Verknüpfung der vorbewußten Vorstellungen mit Worten leicht § 2729§ 2730
Die abmmwn Vorgänge sind die primären 5:5
§ 2731die nämlichen, der Unaufmerksamkeit zugeschriebenen Verschie—
bungen und Vermengungen zeigt. Endlich möchte sich ein Be— weis für den Arbeitszuwachs, der bei der Hemmung dieser pri mären Verlaufsweisen notwendig wird, aus der Tatsache ergeben, daß wir einen komischen Effekt, einen durch Lachen abzu führenden Überschuß erzielen, wenn wir diese Verlaufs— weisen des Denkens zum Bewußtsein vordringen lassen. § 2732Die Theorie der Psychoneurosen behauptet mit ausschließender
Sicherheit, daß es nur sexuelle Wunschregungen aus dem Infan— tilen sein können, welche in den Entwicklungsperioden der Kind— heit die Verdrängung (Affektverwandlung) erfahren haben, in späteren Entwicklungsperioden dann einer Erneuerung fähig sind, sei es infolge der sexuellen Konstitution, die sich ja aus der ur sprünglichen Bisexualität heraushildet, sei es infolge ungünstiger Einflüsse des sexuellen Lebens, und die somit die Triebkräfte für alle psychoneurotische Symptombildung abgeben. Nur durch die Einführung dieser sexuellen Kräfte sind die in der Theorie der Verdrängung noch flufweisbaren Lücken zu schließen. Ich will es dahingestellt sein lassen, ob die Forderung des Sexuellen und Infantilen auch für die Theorie des Trauma erhoben werden darf; ich lasse diese hier unvollendet, weil id: schon durch die Annahme, der Traumwunsch stamme jedesmal aus dem Unbewußten, einen Schritt weit über das Beweisbare hinausgegangen bin.‘ Ich § 27331) E. im:! hier wie nn ander-n sun-„ Lücken in dcr hmheimng des ’I'humu,
die ich .h.inhflich bel-nen h.hn, weil deren Aiufiilllmg einmeitl einen zu großen Aufwand, mdeneiu die Anlehnung an ein dem Tnumu Eremdu Mama-1 erfordern würde. So h-h- ich „ z. B. vermieden umzugehen, ob ich „ne dem Worte „unm n:nmß einen „„im Sinn verbinde m mit dern wm; „verdrängt“. z. dürfie nur klar gaworden "in, am letneren die Zugehörigkeit sum Unhewußtm nix-ker .1 du erltere hmm Ich bin .nf n.. naheliegende Problem nicht eingegangen, wurum die Tnumgedlnken die Entltdlung durch die Zen:ur auch fiir den Full eff-hm, du: lie uf die progrediante Fortlettung nnn. Bewußtsein verzichten und sich fiir den Weg der Regrenicn entscheiden, ndg1. Unterlusungen mehr. Es kun mir vor allem dann! „„ einen Eindruck van den Prnhlem- 111 erwecken, zu denen die weitere Zergliedenmg du Truman-heit fiihrt, und die anderen Thenth ln1udeutzn, mit denen an... .nf dem Wege zunmmmtrifit. m: Enucheiduug. In welcher sun: di. Verfolgung |.bgebrochen werden „u. in mir dnnn nicht immer leicht § 2734§ 2735
524 VII. Zur Psychologie der Traum-mrgiinge
§ 2736will auch nicht weiter untersuchen, worin der Unterschied im
Spiel der psychischen Kräfte bei der Traumbildung und bei der Bildung der hysterischen Symptome gelegen ist; es fehlt uns ja hiezu die genauere Kenntnis des einen der in Vergleich zu hängenden Glieder. Aber auf einen anderen Punkt lege ich Wert und schicke das Bekenntnis voraus, daß ich nur dieses Punktes wegen all die Erörterungen über die beiden psychischen Systeme, ihre Arbeitsweisen und die Verdrängung hier aufgenommen habe. Es kommt jetzt nämlich nicht darauf an, ob ich die in Rede stehen den psychologischen Verhältnisse annähernd richtig, oder, wie bei so schwierigen Dingen leicht möglich, schief und lückenhaft auf gefaßt habe. Wie immer die Deutung der psychischen Zensur, der korrekten und der abnormen Bearbeitung des Trauminhalls sich verändern mag, es bleibt gültig, daß solche Vorgänge bei der Traumbildung wirksam sind, und daß sie die größte Analogie im wesentlichen mit den bei der hysterischen Symptomhildung erkannten Vorgängen zeigen. Nun ist der Traum kein patho— logisches Phänomen; er hat keine Störung des psychischen Gleich gewichtes zur Voraussetzung; er hinterläßt keine Schwächung der Leistungsfa'higkeit. Der Einwand, daß meine Träume und die meiner neurotischen Patienten nicht auf die Träume gesunder Menschen schließen lassen, dürfte wohl ohne Würdigung abzu— weisen sein. Wenn wir also aus den Phänomenen auf deren Triebkräfte schließen, so erkennen wir, daß der psychische § 2737geworden _ Daß ich die Rolle des sexuellen Vorstellungilellenl fiir den Traum
nicht erschöpf-d behandelt und die Deutung von Träumen mit offenkundig lmeflem Inhalt vermieden habe, heruht nur einer besonderen Motiviernng, die sich vielleicht mit der Erwurmng der Leser nicht deckt. Es liegt gerade meinen Auch-nungen und den Lehrmninungen, die ich in der Neuropnthulogie vertrate, völlig ferne, das Sexualleben all ein Pndendum unluuhen, das weder den Arzt nach den wissen lchnftl.ichen Forscher zu hekümme'rn lm. Auch finde ich die sitth'ch: Entrii.mmg lächerlich, durch „ich. der mem„ des Artemidores aus n.l.li uber die „Symbolik der Träume“ sich bewegen ließ, das dort enthaltene Kapitel um |:xuelle Träume der Kenntnis der Leser zu unterlnhlngen. Für mich war allein an Einsicht maßgebend, nun ich mich bei der Erklänmg sexueller Träume tief in die noch url— geklärten Prohlerne der Perversinn und der Bisexunlitiit verrtrieken müßte, und so spme ich mir dies Material für einen „dem Zusammenhnng. § 2738§ 2739
Der Fortbestand des Untzrdrüclrzen 595
§ 2740Mechanismus, dessen sich die Neurose bedient, nicht erst durch
eine das Seelenleben ergreifende kranlrhafte Störung geschaffen wird, sondern in dem normalen Aufbau des seelischen Apparates bereitliegt. Die beiden psychischen Systeme, die Übergangszensur zwischen ihnen, die Hemmung und Überlagerung der einen Tätig— keit durch die andere, die Beziehungen beider zum Bewußtsein — uder was eine richtige-re Deutung der tatsächlichen Verhältnisse an deren Statt ergeben mag; v das alles gehört zum normalen Aufbau unseres Seeleninstruments, und der Traum zeigt uns einen der Wege, die zur Kenntnis der Struktur desselben führen. Wenn wir uns mit einem Minimum von völlig gesichertem Er kenntniszuwachs begnügen wollen, so werden wir sagen, der Traum beweist uns, daß das Unterdrückte auch beim normalen Menschen fortbesteht und psychischer Leistungen fähig bleibt. Der Traum ist selbst eine der Äußerungen dieses Unter drückten, nach der Theorie ist er es in allen Fällen, nach der greifbaren Erfahrung wenigstens in einer großen Anzahl, welche die auffälligen Charaktere des Traumlebens gerade am deutlichsten zur Schau trägt. Das seelisch Unterdrückte, welches im Wachlehen durch die gegensätzliche Erledigung der Widersprüche am Ausdruck gehindert und von der inneren Wahrnehmung ab geschnitten wurde, findet im Nachtleben und unter der Herrschaft der Kompromißbildungen Mittel und Wege, sich dem Bewußtsein aufzudrängen. § 2741Flectzrz ,ri nequeo Superos, thzronta movebo,
§ 2742[na]
§ 2743Indem wir der Analyse des Traumes folgen, bekommen wir
ein Stück weit Einsicht in die Zusammensetzung dieses aller wunderharsten und allergeheimnisvollsten Instruments, freilich nur ein kleines Stück weit, aber es ist damit der Anfang gemacht, um von anderen — pathologisch zu heißenden * Bildungen her weiter in die Zerleging desselben vorzudringen. Denn die Krank— § 2744§ 2745
5efi VII. Zur Psychologie der Traumuargängz
§ 2746heit * wenigstens die mit Recht funktionell genannte —— hat
nicht die Zertrürnmerung dieses Apparats, die Herstellung neuer Spaltungen in seinem Innern zur Voraussetzung; sie ist dyna misch aufzuklären durch Stärkung und Schwächung der Kompo— nenten des Kräftespiels, von dem so viele Wirkungen während der normalen Funktion verdeckt sind. An anderer Stelle könnte noch gezeigt werden, wie die Zusammensetzung des Apparats aus den beiden Instanzen eine Verfeinerung auch der normalen Leistung gestattet, die einer einzigen unmöglich wäre.‘ § 2747F
Das Unbewußte und das Bewußtsein — Die Realität § 2748Wenn wir genauer zusehen, ist es nicht der Bestand von zwei
Systemen nahe dem motorischen Ende des Apparats, sondern von zweierlei Vorgängen oder Ablaufsarten der Erregung, deren Annahme uns durch die psychologischen Erörterungen der vor— stehenden Abschnitte nahegelegt wurde. Es gälte uns gleich; denn unsere Hilfsvorstellungen fallen zu lassen, müssen wir immer bereit sein, wenn wir uns in der Lage glauben, sie durch etwas anderes zu ersetzen, was der unbekannten Wirklichkeit besser an genähert ist. Versuchen wir es jetzt, einige Anschauungen richtig zustellen, die sich mißverständlich bilden konnten, so lange wir die beiden Systeme im nächsten und rohesten Sinne als zwei Lokalitäten innerhalb des seelischen Apparats im Auge hatten, Anschauungen, die ihren Niederschlag in den Ausdrücken „ver drängen" und „durchdringen“ zllrückgelassen haben. Wenn wir § 2749;) Der Traum ist nicht das einzige Phänomen, welches die Psychopathologie auf
die Psychologie zu begründen gestattet. In einer kleinen, noch nicht abgeschlossenen Reihe von Aufsätzen in der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ (Uber den psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit, iags _ Uher Deuherinnemngen, 1899) auch: ich eine Anzahl von alltäglichen psyehhehen Erscheinungen eh Stütz=n der nämlichen Erkennülil “X deuten. [E 31] § 2750§ 2751
Das Unbewußte und das Bzwußuzin 527
§ 2752also sagen, ein unbewußter Gedanke strebe nach Übersetzung ins
Vorbewußte, um dann zum Bewußtsein durchzudringen, so meinen wir nicht, daß ein zweiter, an neuer Stelle gelegener Gedanke gebildet werden soll, eine Umschrift gleichsam, neben welcher das Original fonbesteht, und auch vom Durchdringen zum Be wußtsein wollen wir jede Idee einer Ortsveränderung sorgfältig ablösen. Wenn wir sagen, ein vorbewußter Gedanke wird ver drängt und dann vom Unbewußten aufgenommen, so könnten uns diese dem Vorstellungskreis des Kampfes um ein Terrain ent lehnten Bilder zur Annahme verlocken, daß wirklich in der einen psychischen Lokalität eine Anordnung aufgelöst und durch eine neue in der anderen Lokalität ersetzt wird. Für diese Gleichnisse 591.zen wir ein, was dem realen Sachverhalt besser zu entsprechen scheint, daß eine Energiebesetzung auf eine bestimmte Anordnung verlegt oder von ihr zurückgezogen wird, so daß das psychische Gebilde unter die Herrschaft einer Instanz gerät oder ihr ein? zogen ist. Wir ersetzen hier wiederum eine topische Vorstellungs» weise durch eine dynamische; nicht das psychische Gebilde er scheint uns als das Bewegliche, sondern dessen Innervation. [E 32] § 2753Dennoch halte ich es für zweckmäßig und berechtigt, die an»
schauliche Vorstellung der beiden Systeme weiter zu pflegen. Wir weichen jedem Mißbrauch dieser Darstellungsweise aus, wenn wir uns erinnern, daß Vorstellungen, Gedanken, psychische Gebilde im allgemeinen überhaupt nicht in organischen Elementen des Nervensystems lokalisiert werden dürfen, sondern sozusagen zwischen ihnen, wo Widerstände und Bal'mungen das ihnen entsprechende Korrelat bilden. Alles, was Gegenstand unserer inneren Wahrnehmung, werden kann, ist virtuell, wie das durch den Gang der Lichtstrahlen gegebene Bild im Fernrohr. Die Systeme aber, die selbst nichts Psychisches sind und nie unserer psychischen Wahrnehmung zugänglich werden, sind wir berechtigt anzunehmen gleich den Linsen des Fernrohrs, die das Bild ent— werfen. In der Fortsetzung dieses Gleichnisses entspräche die Zensur § 2754§ 2755
528 VII. Zur Psychologie der Traunworgänge
§ 2756zwischen zwei Systemen der Strahlenbrechung beim Übergang in
ein neues Medium. § 2757Wir haben bisher Psychologie auf eigene Faust getrieben; es
ist Zeit, sich nach den Lehrmeinungen umzusehen, welche die heutige Psychologie beherrschen, und deren Verhältnis zu unseren Aufstellungen zu prüfen. Die Frage des Unbewußten in der Psychologie ist nach dem kräftigen Worte von Lipps‘ weniger eine psychologische Frage, als die Frage der Psychologie. Solange die Psychologie diese Frage durch die Worterklärung erledigte, das „Psychische“ sei eben das „Bewußte“, und „unbewußte psychische Vorgänge“ ein greifbarer Widezsinn, blieb eine psychoe logische Verwertung der Beobachtungen, welche ein Arzt an abnormen Seelenzuständen gewinnen konnte, ausgeschlossen. Erst dann treffen der Arzt und der Philosoph zusammen, wenn beide anerkennen, unbewußte psychische Vorgänge seien „der zweck mäßige und wohlherechtigte Ausdruck fiir eine feststehende Tat— sache“. Der Arzt kann nicht anders, als die Versicherung, „das Bewußtsein sei der unentbehrliche Charakter des Psychischen“, mit Achselzucken zurückweisen, und etwa, wenn sein Respekt vor den Äußerungen der Philosophen noch stark genug ist, annehmen, sie behandelten nicht dasselbe Objekt und trieben nicht die gleiche Wissenschaft. Denn auch nur eine einzige verständnisvolle Beob achtung des Seelenlebens eines Neurotikers, eine einzige Traum analyse, muß ihm die unerschütterliche Überzeugung aufdrängen, daß die kompliziertesten und korrektesten Denkvorgänge, denen man doch den Namen psychischer Vorgänge nicht Versagen wird, vorfallen können, ohne das Bewußtsein der Person zu erregen. [E 33] Gewiß erhält der Arzt von diesen unbewußten Vorgängen nicht eher Kunde, als bis sie eine Mitteilung oder Beobachtung zu lassende Wirkung auf das Bewußtsein ausgeübt haben. Aber dieser Bewußtseinseffekt kann einen von dem unbewußten Vorgang ganz § 27581) Der Begriff des Urdmwußten in der Psychologie. _ Vortrag auf dem Dritten
Inlemutionnlen Kongreß für Psychologie zu München 1897. § 2759§ 2760
Die Überscha'ißung des Bewußtsein: 599
§ 2761abweichenden psychischen Charakter zeigen, so daß die innere
Wahrnehmung unmöglich den einen als den Ersatz des anderen erkennen kann. Der Arzt muß sich das Recht wahrenY durch einen Schlußprozeß vom Bewußtseinseflekt zum unbewußten psychischen Vorgang vorzudringen; er erfährt auf diesem Wege, daß der Bewußtseinsefi'ekt nur eine entfernte psychische Wirkung des unbewußten Varganges ist, und daß letzterer nicht als solcher bewußt geworden ist, auch daß er bestanden und gewirkt hat; ohne sich noch dem Bewußtsein irgendwie zu verraten. § 2762Die Rückkehr von der Überschätzung der Bewußtseinseigen
schaft wird zur unerläßlichen Vorbedingung für jede richtige Ein sicht in den Hergang des Psychischen. Das Unbewußte muß nach dem Ausdrucke von Lipps als allgemeine Basis des psychischen Lebens angenommen werden. Das Unbewußte ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich einschließt; alles Bewußte hat eine unbewußte Vorstufe, während das Unbewußte auf dieser Stufe stehen bleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leistung beanspruchen kann. Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbe kannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane. § 2763Wenn der alte Gegensatz von Bewußtleben und Traumleben
durch die Einsetzung des unbewußten Psychischen in die ihm gebührende Stellung entwenet ist, so werden eine Reihe von Traumprnblemen abgestreift, welche frühere Autoren noch ein gehend beschäftigt haben. So manche Leistungen, über deren Vollziehung im Traume man sich wundern konnte, sind nun nicht mehr dem Traum anzurechnen, sondern dem auch bei Tage arbeitenden unbewußten Denken. Wenn der Traum mit einer symbolisierenden Darstellung des Körpers, nach Seherner, zu spielen scheint, so wissen wir, dies ist. die Leistung gewisser unbewußter Phantasien, die wahrscheinlich sexuellen Regungen § 2764:::-mi. 11. 5,
§ 2765§ 2766
550 VII. Zur Pryclwbagie der Traumvorgängz
§ 2767nachgehen, und die nicht nur im Traum, sondern auch in den
hysterischen Phobien und anderen Symptomen zum Ausdruck kommen. Wenn der Traum Arbeiten des Tages fortführt und erledigt und selbst wertvolle Einfa'lle ans Licht fördert, so haben wir hievon nur die Traumverkleidung abzuziehen als Leistung der Traum arbeit und als Marke der Hilfeleistung dunkler Mächte der Seelen tiefen (vgl. den Teufel in Tartinis Sonatentraum). Die intellektuelle Leistung selbst fallt denselben Seelenkräften zu, die tagsüber alle solche vollbringen. Wir neigen wahrscheinlich in viel zu hohem Maße zur Überschätzung des bewußten Charakters auch der intellektuellen und künstlerischen Produktion. Aus den Mitteilungen einiger höchstproduktiven Menschen, wie Goethe und Helm holtz7 erfahren wir doch eher, daß das Wesentliche und Neue ihrer Schöpfungen ihnen einfallsartig gegeben wurde und fast fertig zu ihrer Wahmehmung kam. Die Mithilfe der bewußten Tätigkeit in anderen Fällen hat nichts Befremdendes, wo eine Anstrengung aller Geisteskräfte verlag. Aber es ist das viel mißbrauchte Vorrecht der bewußten Tätigkeit, daß sie uns alle anderen verdecken darf, wo immer sie mittut. § 2768Es verlohnt sich kaum der Mühe, die historische Bedeutung
der Träume als ein besonderes Thema aufzustellen. Wo ein Häupt— ling etwa durch einen Traum zu einem kühnen Unternehmen bestimmt wurde, dessen Erfolg verändernd in die Geschichte ein» gegiifien hat, da ergibt sich ein neues Problem nur so lange7 als man den Traum wie eine fremde Macht anderen vertrauteren Seelenkräften gegenüberstellt, nicht mehr, wenn man den Traum als eine Form des Ausdrucks für Begungen betrachtet, auf denen bei Tage ein Widerstand lastete, und die sich bei Nacht Ver— stärkung aus tiefliegenden Erregungsquellen holen konnten. [E 34] Die Achtung aber, mit der dem Traum bei den alten Völkern begegnet wurde, ist eine auf richtige psychologische Ahnung gegründete Huldigu.ng vor dem Ungehändjgten und Unzerstör— § 2769baren in der Menschenseele, dem Dämonischen, welches den
§ 2770§ 2771
Zweierlei Unbewußtcr 551
§ 2772Traumwunsch hergibt, und das wir in unserem Unbewußten
wiederfinden. § 2773Ich sage nicht ohne Absicht, in unserem Unbewußten,
denn was wir so heißen, deckt sich nicht mit dem Unbewußten der Philosophen, auch nicht mit dem Unbewußmen bei Lipps. Dort soll es bloß den Gegensatz zu dem Bewußten bezeichnen; daß es außer den bewußten Vorgängen auch unhewußte psychische gibt, ist die heiß hestrittene und energisch verteidigte Erkenntnis. Bei Lipps hören wir von dem weiter reichenden Satz, daß alles Psychische als unhewußt vorhanden ist, einiges davon dann auch als bewußt. Aber nicht zum Erweis für diesen Satz haben wir die Phänomene des Traumes und der hysterischen Symptom— bildung herangezogen; die Beobachtung des normalen Tageslebens reicht allein hin, ihn über jeden Zweifel festzustellen. Das Neue, was uns die Analyse der psychopathologischen Bildungen und schon ihres ersten Gliedes, der Träume, gelehrt, besteht darin, daß das Unbewußte —— also das Psychische , als Funktion zweier ge sonderter Systeme vorkommt und schon im nomalen Seelenleben so vorkommt. Es gibt also zweierlei Unbewußtes, was wir von den Psychologen noch nicht gesondert finden. Beides ist Unbe wußtes im Sinne der Psychologie; aber in unserem ist das eine, das wir Ubw heißen, auch bewußtseinsunfähig, während das andere wa von uns darum so genannt wird, weil dessen Er regungen, zwar auch nach Einhaltung gewisser Regeln, vielleicht erst unter Überstehung einer neuen Zensur, aber doch ohne Rücksicht auf das Ubw-System zum Bewußtsein gelangen können Die Tatsache, daß die Erregungen, um zum Bewußtsein zu kommen, eine nnabänderliche Reihenfolge, einen Instanzenzug durchzumachen haben, der uns durch_ihre Zensurveränderung ver raten wurde, diente uns zur Aufstellung eines Gleichnisses aus der Räumlichkeit. Wir beschrieben die Beziehungen der beiden Systeme zueinander und zum Bewußtsein, indem wir sagten, das System wa stehe wie ein Schirm zwischen dem System Ubw § 2774u'
§ 2775§ 2776
559 VII. Zur Psychologie ,in Traumvorgängz
§ 2777und dem Bewußtsein. Das System wa Sperre nicht nur den Zn
gang zum Bewußtsein, es beherrschte auch den Zugang zur will— kürlichen Motilität und verfüge über die Aussendung einer mobilen Besetzungsenergie, von der uns ein Anteil als Aufmerksamkeit vertraut ist. [E 35] § 2778Auch von der Unterscheidung Ober- und Unterbewußtsein,
die in der neueren Literatur der Psychoneurosen so beliebt ge worden ist, müssen wir uns femhalten, da gerade sie die Gleich stellung des Psychischen und des Bewußten zu betonen scheint. § 2779Welche Rolle verbleibt in unserer Darstellung dem einst all«
mächtigen, alles andere verdeckenden Bewußtsein? Keine andere, als die eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten. Nach dem Grundgedanken unseres schematischen Versuches können wir die Bewußtseinswahrnehmung nur als die eigene Leistung eines besonderen Systems auffassen, für welches sich die Abkürzungsbezeichnung Bw empfiehlt. Dies System denken wir uns in seinen mechanischen Charakteren ähnlich wie die Wahmehmungssysteme W, also erregbar durch Qualitäten, und unfähig, die Spur von Veränderungen zu bewahren, also ohne Gedächtnis. Der psychische Apparat, der mit dem Sinnesorgan der W-Systeme der Außenwelt zugekehrt ist, ist selbst Außenwelt für das Sinnesorgan des Bw, dessen teleologische Rechtfertigung in diesem Verhältnisse ruht. Das Prinzip des Instanzenzugs, welches den Bau des Apparats zu beherrschen scheint, tritt uns hier nochmals entgegen. Das Material an Erregungen fließt dem Bw—Sinnesorgan von zwei Seiten her zu, von dem W—System her, dessen durch Qualitäten bedingte Erregung wahrscheinlich eine neue Verarbeitung durchmacht, bis sie zur bewußten Empfindung wird, und aus dem Innern des Apparates selbst, dessen quantitative Vorgänge als Qualitätenreihe der Lust und Unlust empfunden werden, wenn sie bei gewissen Veränderungen angelangt sind. § 2780Die Philosophen, welche inne wurden7 daB korrekte und hoch
zusammengesetzte Gedankenbildungen auch ohne Dazutun des § 2781§ 2782
Die Funktion des Bewußtde 555
§ 2783Bevvmßtseins möglich sind, haben es dann als Schwierigkeit er
funden, dem Bewußtsein eine Verriehtung zuzuschreiben; es erschien ihnen als überflüssige Spiegelung des vollendeten psychi— schen Vorganges. Die Analogie unseres Bw—Systems mit den Wahr nehmungssystemen entreißt uns dieser Verlegenheit. Wir sehen, daß die Wahrnehmung durch unsere Sinnesorgane die Folge hat, eine Aufmerksamkeitsbesetzung auf die Wege zu leiten, nach denen die ankommende Sinneserregung sich verbreitet; die quali tative Erregung des H’-Systems dient der mobilen Quantität im psychischen Apparat als Regulator ihres Ablaufs. Dieselbe Ver riehtung können wir für das überlagernde Sinnesorgan des Bw Systems in Anspruch nehmen. Indem es neue Qualitäten wahr nimmt, leistet es einen neuen Beitrag zu: Lenkung und zweck mäßigen Verteilung der mobilen Besetzungsquantitäten. Mittels der Lust» und Unlustwahmehmung beeinflußt es den Verlauf der Besetzungen innerhalb des sonst unbewußt und durch Quantitäts Verschiebungen arbeitenden psychischen Apparates. Es ist wahr SCh8inlich, daß das Unlustprinzip die Verschiebungen der Besetzung zunächst automatisch regelt; aber es ist sehr wohl möglich, daß das Bewußtsein dieser Qualitäten eine zweite und feinere Regulie rung hinzutut, die sich sogar der ersteren widersetzen kann und die Leistungsfähigkeit des Apparates vervollliommnet, indem sie ihn gegen seine ursprüngliche Anlage in den Stand setzt, auch was mit Unlustentbindung verknüpfi ist, der Besetzung und Bearbeith zu unterziehen. Aus der Neurosenpsychologie erfährt man, daß diesen Regulierungen durch die Qualitäts» erregung der Sinnesorgane eine große Rolle bei der Funktions tätigkeit des Apparates zugedacht ist. Die automatische Herrschaft des primären Unlustprinzips und die damit verbundene Ein schränkung der Leistungsfähigkeit wird durch die sensibeln Regu lierungen, die selbst wieder Automatismen sind, gebrochen. Man erfährt, daß die Verdrängung, die, ursprünglich zweckmäßig, doch in schädlichen Verzicht auf Hemmung und seelische Beherrschung § 2784§ 2785
554 VII. Zur Psychologie der Traumuorgz'inge
§ 2786ausläuft, sich so viel leichter an Erinnerungen als an Wahr»
nehmu.ugen vollzieht, weil bei ersteren der Besetzungszuwachs durch die Erregung der psychischen Sinnesorgane aushleiben muß. Wenn ein abzuwehrender Gedanke einerseits nicht bewußt wird, weil er der Verdrängung unterlagen ist, so kann er andere Male nur darum verdrängt werden, weil er aus anderen Gründen der Bewußtseinswahrnehmung entzogen wurde. Es sind das Winke, deren sich die Therapie bedient, um vollzogene Verdrängungen rückgängig zu machen. § 2787Der Wert der Überbesetzung, welche durch den regulierenden
Einfluß des Bw-Sinnesorgans auf die mobile Quantität hergestellt wird, ist im teleologischen Zusammenhang durch nichts besser dargetan, als durch die Schöpfung einer neuen Qualitätenreihe und somit einer neuen Regulierung, welche das Vorrecht des Menschen vor den Tieren ausmacht. Die Denkvorgänge sind nämlich an sich qualitätslos bis auf die sie begleitenden Lust- und Unlusterregungen, die ja als mögliche Störung des Denkens in Schranken gehalten werden sollen. Um ihnen eine Qualität zu verleihen, werden sie beim Menschen mit den Worterinnerungen assoziiert, deren Qualitätsreste genügen, um die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich zu ziehen und von ihm aus dern Denken eine neue mobile Besetzung zuzuwenden. § 2788Die ganze Mannigfaltigkeit der Bewußtseinsprobleme läßt sich
erst bei der Zergliederung der hysten'schen Denkvorgänge übersehen. Man empfängt dann den Eindruck, daß auch der Übergang vom Vorbewußten zur Bewußtseinsbesetzung mit einer Zensur ver knüpft ist, ähnlich der Zensur zwischen Ubw und wa. Auch diese Zensur setzt erst bei einer gewissen quantitativen Grenze ein, so daß ihr wenig intensive Gedankenbildungen entgehen. Alle möglichen Fälle der Abhaltung von dem Bewußtsein sowie des Durchdringens zu demselben unter Einschränkungen, finden sich im Rahmen der psychaneurotischen Phänomene vereinigt; sämtlich weisen Sie auf den innigen und zweiseitigen Zusammen § 2789§ 2790
Zensur und Bewußtsein 555
§ 2791hang zwischen Zensur und Bewußtsein hin. Mit der Mitteilung
zweier derartiger Vorkommnisse will ich diese psychologischen Erörterungen beschließen. § 2792Ein Konsilium im Vurjahre führte mich zu einem intelligent
und unbefangen blickenden Mädchen. Ihr Aufzug ist befremdend, wo doch sonst die Kleidung des Weibes bis in die letzte Fake beseelt ist, trägt sie einen Strumpf herabhängend und zwei Knöpfe der Bluse offen. Sie klagt über Schmerzen in einem Bein und entblößt unaufgefordert eine Wade. Ihre Hauptklage aber lautet wörtlich: Sie hat ein Gefühl im Leib, als ob etwas darin stecken würde, was sich hin und her bewegt und sie durch und durch erschüttert. Manchmal wird ihr dabei der ganze Leib wie steif. Mein mitanwesender Kollege sieht mich dabei an; er findet die Klage nicht mißverständlich. Merkwürdig erscheint uns beiden, daß die Mutter der Kranken sich dabei nichts denkt; sie muß sich ja wiederholt in der Situation befunden haben, welche ihr Kind beschreibt. Das Mädchen selbst hat keine Ahnung von dem Belang ihrer Rede, sonst würde sie dieselbe nicht im Munde führen. Hier ist es gelungen, die Zensur so abzublenden, daß eine sonst im Vorbewußten verbleibende Phantasie wie harm los in der Maske einer Klage zum Bewußtsein zugelassen wird. § 2793Ein anderes Beispiel: Ich beginne eine psychoanalytiscbe Be
handlung mit einem vierzehnjährigen Knaben, der an Tic con vulsi.f, hysterischem Erbrechen, Kopfschmerz u. dgl. leidet, indem ich ihm versichere, er werde nach dem Augenschluß Bilder sehen oder Einfülle bekommen, die er mir mitteilen soll. Er antwortet in Bildern. Der letzte Eindruck, ehe er zu mir gekommen ist, lebt in seiner Erinnerung visuell auf. Er hatte mit seinem Onkel ein Brettspiel gespielt und sieht jetzt das Brett vor sich. Er er örtert verschiedene Stellungen, die günstig sind oder ungünstig, Züge, die man nicht machen darf. Dann sieht er auf dem Brett einen Dolch liegen, einen Gegenstand, den sein Vater besitzt, den aber seine Phantasie auf das Brett verlegt. Dann liegt eine Sichel § 2794§ 2795
556 VII. Zur P:7clwlogie der Traumvorgänge
§ 2796auf dem Brett7 dann kommt eine Sense hinzu, und jetzt tritt
das Bild eines alten Bauern auf, der das Gras vor dem entfernten heimatlichen Hause mit der Sense mäht. Nach wenigen Tagen habe ich das Verständnis für diese Aneinanderreihung von Bildern gewonnen. Unerfreuliche Familienverhiiltnisse haben den Knaben in Aufregung gebracht. Ein harter, iähzorniger Vater, der mit der Mutter in Unfrieden lebte, desen Erziehungsmittel Drohungen waren,- die Scheidung des Vaters von der weichen und zärtlichen Mutter; die Wiederverheiratung des Vaters, der eines Tags eine junge Frau als die neue Mama nach Hause brachte. In den ersten Tagen nachher brach die Krankheit des vienehnjährigen Knaben aus. Es ist die unterdrückte Wut gegen den Vater, die jene Bilder zu verständlichen Anspielungen zusammengesetzt hat. Eine Reminis zenz aus der Mythologie hat das Material gegeben. Die Siehe] ist die, mit der Zeus den Vater entmannte, die Sense und das Bild des Bauern schildern den Kronos, den gewalttätigen Alten, der seine Kinder frißg und an dem Zeus so unkindlich Rache nimmt. Die Heirat des Vaters war eine Gelegenheit, ihm die Vorwürfe und Drohungen zurückzugeben, die das Kind früher einmal von ihm gehört hatte, weil es mit den Genitalien spielte (das Brettspiel; die verbotenen Züge; der Dolch, mit dem man umbringen kann). Hier sind es lang ver-drängte Erinnerungen und deren unbewußt gebliebene Abkömmlinge, die auf dem ihnen eröffneten Umwege sich als scheinbar sinnlose Bilder ins Be wußtsein schleichen. § 2797So wurde ich also den theoretischen Wert der Beschäftigung
mit dem Traum in den Beiträgen zur psychologischen Erkenntnis und in der Vorbereitung für das Verständnis der Psychoneurosen suchen. Wer vermag zu ahnen, zu welcher Bedeutung sich eine gründliche Bekanntschaft mit dem Bau und den Leistungen des Seelenapparates noch erheben kann, wenn schon der heutige Stand unseres Wissens eine glückliche therapeutische Beeinflussung der an sich heilbaren Formen von Psychoneurosen gestattet? Und der § 2798§ 2799
Die Frage nach der Realität des Unbewußnn 537
§ 2800praktische Wert dieser Beschäftigung, höre ich fragen, für die
Seelenkenntnis, die Aufdeckung der verborgenen Charaktereigen schaften der einzelnen? Haben denn die unbewußten Regungen, die der Traum offenbart, nicht den Wert von realen Mächten im Seelenleben? Ist die ethische Bedeutung der unterdrückten Wünsche gering anzuschlagen, die, wie sie Träume schaden7 eines Tages anderes schaffen können? § 2801Ich fühle mich nicht berechtigt, auf diese Fragen zu antworten.
Meine Gedanken haben diese Seite des Traumproblems nicht weiter verfolgt. Ich meine nur, jedenfalls hatte der römische Kaiser Unrecht, welcher einen Untertanen hinrichten ließ, weil dieser geträumt hatte, daß er den Imperator ermordet. Er hätte sich zuerst darum bekümmem sollen, was dieser Traum bedeutete; sehr wahrscheinlich war es nicht dasselbe, was er zur Schau trug. Und selbst, wenn ein Traum, der anders lautete, diese majestäts verbrecherische Bedeutung hätte, wäre es noch am Platze, des Wortes von Plata zu gedenken, daß der Tugendhafte sich begm'igt, von dem zu träumen, was der Böse im Leben tut. Ich meine also, am besten gibt man die Träume frei. Ob den unbewußten Wünschen Realität zuzuerkennen isg kann ich nicht sagen. Allen Übergangs— und Zwischengedanken ist sie natürlich abzusprechen. Hat man die unbewußten Wünsche, auf ihren letzten und wahrsten Ausdruck gebracht7 vor sich, so muß man sich wohl erinnern, daß auch dem psychisch Realen mehr als nur eine Existenzform zukommt [Eee] Für das praktische Bedürfnis der Charakterbeur teilung des Menschen genügt zumeist die Tat und die bewußt sich äußemde Gesinnung. Die Tat vor allem verdient in die erste Reihe gestellt zu werden, denn viele zum Bewußtsein durch gedmngene Impulse werden noch durch reale Mächte des Seelen lebens vor ihrem Einmünden in die Tat aufgehoben; ja, sie be gegnen oft dnrmn keinem psychischen Hindernis auf ihrem Wege, weil das Unbewußte ihrer anderweitigen Verhinderung sicher ist. Es bleibt auf alle Fälle lehneich, den viel durchwühlten Boden § 2802§ 2803
553 VII. Zur Psychologie der Traumvorgängz
§ 2804kennen zu lernen, auf dem unsere Tugenden sich stolz erheben.
Die nach allen Richtungen hin dynamisch bewegte Komplikation eines menschlichen Charakters fügt sich höchst selten der Erledi gung durch eine einfache Alternative, wie unsere überjährte Morallehre es möchte. § 2805Und der Wert des Traumes für die Kenntnis der Zukunft?
Daran ist natürlich nicht zu denken. Man möchte dafür einsetzen: für die Kenntnis der Vergangenheit. Denn aus der Vergangenheit stammt der Traum in jedem Sinne. Zwar entbehrt auch der alte Glaube, daß der Traum uns die Zukunft zeigt, nicht völlig des Gehalts an Wahrheit. Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörharen Wunsch zum Ebenhild jener Vergangen heit gestaltet. § 2806[mm/„mm c]
§ 2807§ 2808
VIII
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§ 2895NACHTBAG
§ 2896am wihrend der Korrektur der letzten Bogen im Sepuember i899 erhielt ich
Kenntnis von einer kl:inen Schrift. „Induklee Untersuchungen über die Fundamental getetee der piyehienlien Phänomene“ von Dr. Ch. Ruths, 1898, we1ehe eine größere Axbeit über die Andys: der Träume ankünrligt. Nach den vom Autor gegebenen Andeutungen darf ich erwarten, rluß seine Resultate in manchen Punkten mit den meinigm eu..n.menceeffen, [E 2] § 2897