Die Grenzen der Deutbarkeit (1900-001/1931.3)

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  • Diercks, Christine
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  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
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  • Andorfer, Peter
  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Die Grenzen der Deutbarkeit (1900-001/1931.3). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1900-001__1931.3.xml
§ 1

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DIE GHENZEN DER DEUTBARKEIT (Im)

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Die Frage, ob man von jedem Produkt des Traumlebens eine vollständige und gesiduerte Übersetzung in die Ausdrucksweise des Wadilebens (Deutung) geben kann, soll nicht abstrakt behandelt werden, sondern unter Beziehung auf die Verhältnisse, unter denen man an der Traumdeutung arbeitet.

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Unsere geistigen Tätigkeiten streben entweder ein nützliches Ziel an oder unmittelbaren Lustgewin.n. Im ersteren Falle sind es intellektuelle Entsdieidungen, Vorbereitungen zu Handlungen oder Mitteilungen an andere; im anderen Falle nennen wir sie Spielen und Phantasieren. Bekanntlid: ist audi das Nützlidle nur ein Umweg zur lustvollen Befriedigung. Das Träumen ist nun eine Tätigkeit der zweiten Art, die ja entwidilungsgesdiidutlidi die ursprünglidiere ist. Es ist irrefüh.rend, zu sagen, das Träumen bemühe Sid] um die bevorstehenden Aufgaben des Lebens oder suche Probleme der Tagesarbeit zu Ende zu führen. Damm kümmert sid) das vorbewußte Denken. Dem Träumen liegt soldie nützliche Absicht ebenso ferne wie. die der Vorbereitung einer Mitteilung an einen anderen. Wenn sich der Traum mit einer Aufgabe des Lebens beschäftigt, löst er sie so, wie es einem irrationellen Wunsch, und nid1t so, wie es einer verständigen Überlegung entspricht. Nur eine nützliche Absicht, eine Funktion, muß man dem Traum zusprecben, er soll die Störung des Sd'11afes Verhüten. Der Traum kann besd1rieben werden als ein Stück Phantasieren im Dienste der Erhaltung des Sd11afes.

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Es folgt daraus, daß es dem sdilafenden Id1 im ganzen gleidigiiltig ist, was während der Nacht geträumt wird, wenn der Traum nur leistet, was ihm aufgetragen ist, und daß diejenigen Träume ihre Funktion am besten erfüllt haben, von

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der Deutbarktit 379

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denen man nad'i dem Erwad1en nidits zu sagen weiß. Wenn es so oft anders zugeht, wenn wir Träume erinnern, — audi über Jahre und jahrzehnte, — so bedeutet dies jedesmal einen Einbruch des verdrängten Unbewußten ins normale Idi. Ohne solche Genugtuung hat das Verdrängte seine Hilfe zur Aufhebung der drohenden deafstörung nicht leihen wollen. Wir wissen, es ist die Tatsadie dieses Einbrudm, die dem Traum seine Bedeutung für die Psydiopathologie verscbaflt. Wenn wir sein treibendes Motiv aufdedren können, erhalten wir unvermutete Kunde von den verdrängten Regungen im Unbewußten; andrerseits, wenn wir seine Entstellungen rüdigängig machen, belausd1en wir das vorbewußte Denken in Zuständen innerer Sammlung, die tagsüber das Bewußtsein nicht auf sich gezogen hätten.

§ 9

Niemand kann die Traumdeutung als isolierte Tätigkeit üben; sie bleibt ein Stüdr der analytischen Arbeit. In dieser wenden wir je nach Bedarf unser Interesse bald dem vorbewußten Trauminhalt, bald dem unbewußten Beitrag zur Traumbildung zu, vernadilässigen auch ofl: das eine Element zugunsten des anderen. Es nützte auch nichts, wenn jemand sich vornehmen wollte, Träume außerhalb der Analyse zu deuten. Er würde den Bedingungen der analytisdien Situation doch nicht entgehen, und wenn er seine eigenen Träume bearbeitet, unternimmt er seine Selbstanalyse. Diese Bemerkung gilt nicht für den, der auf die Mitarbeit des Träumen verzichtet und die Deutung von Träumen durch intuitives Erfassen erfahren will. Aber solche Traumdeutung ohne Rücksidn auf die Assoziationen des Träumen bleibt auch im günstigsten Falle ein unwissensdnafl:lidies Virtuosenstüdr von sehr zweifelhaftem Wert.

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Übt man die Traumdeutung nach dem einzigen tedinisclien Verfahren, das Sidi reditfertigen läßt, so merkt man bald, daß der Erfolg durd1aus von der Widerstandsspannung

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zwischen dem erwacbten Ich und dem verdrängten Unbe— wußten abhängig ist. Die Arbeit unter „hohem Widerstands— druck“ erfordert selbst, wie ich an anderer Stelle auseinander— gesetzt habe, ein anderes Verhalten des Analytikers als bei geringem Druck. In der Analyse hat man es durd1 lange Zeiten mit starken Widerständcn zu tun, die nod1 nicht bekannt sind, die jedenfalls nid1t überwunden werden können, solange sie unbekannt bleiben. Es ist also nicht zu verwundem, daß man von den Traumproduktionen des Patienten nur einen gewissen Anteil und audi diesen meist nicht vollständig übersetzen und verwerten kann. Auch wenn man durch die eigene Geiibtheit in die Lage kommt, viele Träume zu verstehen, zu deren Deutung der Träumer wenig Beiträge geliefert hat, soll man gemahnt bleiben, daß die Sicherheit sold1er Deutung in Frage steht, und wird Bedenken tragen, seine Vermutung dem Patienten aufzudrängen.

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Kritische Einwendungm werden nun sagen: Wenn man nid": alle Träume, die. man bearbeitet, zur Deutung bringt, soll man audi nicht mehr behaupten, als man vertreten kann, und sich mit der Aussage bcgnügen, einzelne Träume seien durch Deutung als sinnreich zu erkennen, von anderen wisse man es nid1t. Allein gerade die Abhängigkeit des Deutungs— erfolges vom Widerstand enthebt den Analytiker einer solchen Besdleidenheit. Er kann die Erfahrung machen, daß ein anfangs unverständlicber Traum und] in derselben Stunde durdasid1tig wird, nadadern es gelungen ist, einen Widerstand des Träumen durch eine glücklidle Aussprache zu beseitigen. Plötzlid1 fällt ihm dann ein bisher vergessenes Traumstück ein, das den Sdiliissel zur Deutung bringt, oder es stellt sich eine neue Assoziation ein, mit deren Hilfe das Dunkel Sid] lichten Es kommt auch vor, daß man nad1 Monaten und Jahren analytischer Bemühung auf einen Traum zurückgreifl, der zu Anfang der Behandlung unsinnig und unverständlich

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der Deutlmrkeit 38 1

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erschien, und der nun durch die seither gewonnenen Einsichten eine völlige Klärung erfährt. Nimmt man aus der Theorie des Traumes das Argument hinzu, daß die vorbildlidxen Traumleistungen der Kinder durchwegs sinnvoll und leicht deutbar sind, so wird man Sidi zur Behauptung berechtigt finden, der Traum sei ganz allgemein ein deutbares psyd1isdies Gebilde, wenngleich die Situation nicht immer die Deutung zu geben gestattet.

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Wenn man die Deutung eines Traumes gefunden hat, ist es nicht immer leicht zu entscheiden, ob sie eine „vollständige“ ist, d. h. ob nicht audi andere vorbewußte Gedanken sich durch denselben Traum Ausdruck verschafft haben. Als erwiesen hat dann jener Sinn zu gelten, der sich auf die Einfä.lle des Träumers und die Einschätzung der Situation berufen kann, ohne daß man darum den anderen Sinn jedesmal abweisen dürfte. Er bleibt möglich, wenn audi unerwiesen; man muß Sidi mit der Tatsache einer solchen Vieldeutigkeit der Träume befreunden. Diese ist übrigens nicht jedesmal einer Unvollkommenheit der Deutungsarbeit zur Last zu legen, sie kann ehensowohl an den latenten Traumgedanken selbst haften. Der Fall, daß wir unsicher bleiben, ob eine Äußerung, die wir gehört, eine Auskunfl5, die wir erhalten haben, diese oder jene Auslegung zulassen, außer ihrem offenbaren Sinn noch etwas anderes andeuten, ereignet sich ja auch im Warhleben und außerhalb der Situation der Traumdeutung.

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Zu wenig untersucht sind die interessanten Vorkommnisse, daß derselbe manifeste Trauminhalt gleichzeitig einer konkreten Vorstellungsreihe und einer abstrakten Gedankenfolge, die an erstere angelehnt ist, Ausdruck gibt. Der Traumubeit macht es natürlich Schwierigkeiten, die Vorstellungsmittel für abstrakte Gedanken zu finden.

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