Die sittliche Verantwortung für den Inhalt der Träume (1900-001/1931)

Über das Werk

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  • Diercks, Christine
  • Rohrwasser, Michael
  • Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen, Referenzsystem
  • Diercks, Christine
  • Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie
  • Blatow, Arkadi
  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
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  • Roedelius, Julian
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  • Andorfer, Peter
  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Die sittliche Verantwortung für den Inhalt der Träume (1900-001/1931). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1900-001__1931.xml
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DIE SIT’I‘LICHE VERANTWORTUNG FÜR DEN INHALT DER TBÄUME

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(ms)

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Im einleitenden Abschnitt der „Traumdeutung“ („Die wissenschal’clidie Literatur der Traumprobleme“) habe ich dar— gestellt, in weldier Weise die Autoren auf die peinlich empfundene Tatsache reagieren, daß der zügellose Inhalt der Träume so ofi: dem sittliehen Empfinden du Träumers wider— spricht. (Ich vermeide absid1tlich, von „kriminellen“ Träumen zu reden, denn ich halte diese über das psychologische Interesse hinausgreifende Bezeichnung für völlig entbehrlich.) Aus der unsittlichen Natur der Träume hat sich begreiflicherweise ein neues Motiv ergeben, die psychische Wertung des Traumes zu verleugnen. Wenn der Traum ein sinnloses Produkt gestörter Seelentätigkeit ist, dann entfällt ja jeder Anlaß, für den anscheinenden Inhalt des Traumes eine Verantwortlichkeit zu übernehmen.

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Dies Problem der Verantwortlichkeit fiir den manifesten Trauminhalt ist durch die Aufklärungen der „Traumdeutung“ gründlidi verschoben, ja eigentlidl beseitigt werden.

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Wir Wissen jetzt, der manifeste Inhalt ist ein Blendwerk, eine Fassade. Es lohnt sich nicht, ihn einer ethischen Prüfung zu unterziehen, seine Verstöße gegen die Moral ernster zu nehmen als die gegen Logik und Mathematik. Wenn vom „Inhalt“ des Traumes die Rede ist, kann man nur den Inhalt der vorbewußten Gedanken und den der verdrängten Wunsdlregung meinen, die durch die Deutungsarbeit hinter der Traumfassade aufgededit werden. Immerhin hat auch diese unsittlidle Fassade eine Frage an uns zu stellen. Wir haben doch gehört, daß die latenten Traumgedanken eine strenge Zensur zu bestehen haben, ehe ihnen die Aufnahme in den

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Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 24.

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37° Die sittlicbe Verantwommg

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manifesten Inhalt gestattet wird. Wie kann es also geschehen, daß diese Zensur, die sonst Geringfügigeres beanständet, gegen die manifest unmoralischen Träume so vollkommen versagt?

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Die Antwort ist nicht nahe bei der Hand, wird vielleicht nicht ganz befriedigend ausfallen können. Man wird zunädist diese Träume der Deutung unterziehen und dann finden, daß einige von ihnen der Zensur keinen Anstoß geboten haben, weil sie im Grunde nichts Böses bedeuten. Es sind harmlose Prahlereien, Identifikationen, die eine Maske vortäusdnen wollen; sie wurden nid“: zensuriert, weil sie nicht die Wahr— heit sagten. Andere aber — es sei zugestanden: die größere Anzahl — bedeuten wirklidi, was sie ankündigen, sie haben keine Entstellung durch die Zensur erfahren. Sie sind der Allde von unsittlidren, inzestuösen und perversen Regungen oder von mörderischen, sadistisdlen Geliisten. Auf mandue dieser Träume reagiert der Träumer mit angstvollem Erwadnen; dann ist die Situation uns nicht mehr unklar. Die Zensur hat ihre Tätigkeit versäumt, es wird zu spät bemerkt, und die Angstenrwidrlung ist nun der Ersatz für die unterbliebene Entstellung. In noch anderen Fällen sold1er Träume wird audit diese Afiektäußerung vermißt.‘Der anstößige Inhalt wird von der im Schlaf erreichten Höhe der Sexualerregung getragen oder er genießt die Toleranz, die aud1 der Wachende für einen Wumfall, eine Zornesstimmung, ein Sd1welgen in grausamen Phantasien üben kann.

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Unser Interesse für die Genese dieser manifest unsittlichen Träume erleidet aber eine große Herabsetzung, wenn wir aus der Analyse erfahren, daß die Mehrzahl der Träume, — harmlose, ai'fekrlose und Angstträume, — wenn man die Entstellungen der Zensur rückgängig gemad1t hat, sich als Erfüllungen unmoralischer —- egoistischer, sadistischer, perverser, in— zestuöser — Wunschregungen enthüllen. Diese verkappten Verbrecher sind wie in der Welt des Wadllebens unvergleidn—

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lich häufiger als die mit oflenem Visier. Der aufrichtige Traum vom sexuellen Verkehr mit der Mutter, dessen ]okaste im „König Udipus“ gedenkt, ist eine Seltenheit gegen all die mannigfaltigen Träume, welehe die Psychoanalyse in gleichem Sinne deuten muß.

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Ich habe über diesen Charakter der Träume, der ja das Motiv für die Traumentstellung abgibt, in diesem Buche so ausführlid'i gehandelt, daß ich nun rasd1 über den Sachverhalt hinweg zu dem uns vorliegenden Problem sdrreiten kann: Muß man die Verantwortlidrkeit für den Inhalt seiner Träume übernehmen? Zu: Vefvollständigung sei nur hinzugefügt, daß der Traum nid1t immer unsittlidie Wunscherfüllungen bringt, sondern häufig audi energisdie Reaktionen dagegen in der Form von „Strafträumen“. Mit anderen Worten, die Traumzensur kann sich nicht nur in Entstellungen und in Angstentwicklung äußern, sondern sie mag sich so weit aufraffen, daß sie den unsittlidlen Inhalt ganz austilgt und. ihn durdi einen anderen zur Sühne bestimmten ersetzt, an dem jener aber erkannt werden kann. Das Problem der Verantwortlid1keit für den unsittlichen Trauminhalt besteht aber nicht mehr für uns, wie einst für die Autoren, die nichts von latenten Traumgedanken und vom Verdrängten in unserem Seelenleben wußten. Selbstverständlich muß man sich für seine bösen Traumregungen verantwortlid: halten. Was will man sonst mit ihnen machen? Wenn der —- richtig verstandene — Trauminhalt nicht die Eingebung fremder Geister ist, so ist er ein Stück von meinem Wesen. Wenn ich die in mir vorfindlichen Strebungen nach sozialen Maßstäben in gute und böse klassifizieren will, so muß ich für beide Arten die Verantwortlidlkeit tragen, und wenn ich abwehrend sage, was unbekannt, unbewußt und verdrängt in mir ist, das ist nicht mein „Ich“, so stehe ich nicht auf dem Boden der Psycho— analyse, habe ihre Aufschlüsse nicht angenommen und kann

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durch die Kritik meiner Nebenmensd'ien, durch die Störungen meiner Handlungen und die Verwirrungen meiner Gefühle eines Besseren helehrt werden. Idi kann erfahren, daß dies von mir Verleugnete nidit nur in mir „ist“, sondern gelegentlidi auch aus mir „wirkt“.

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Im metapsydiologisdien Sinne gehört dies böse Verdrängte allerdings nid": zu meinem „Id-r", — wenn idi nämlidi ein moralisch untadeliger Mensdi sein sollte, — sondern zu einem „Es“, dem mein Ich aufsitzt. Aber dies Ich hat sich aus dem Es entwickelt, es bildet eine biologische Einheit mit ihm, ist nur ein besonders modifizierter, peripherisd1er Anteil von ihm, unterliegt dessen Einflüssen, gehord1t den Anregungen, die von dem Es ausgehen. Es wäre ein aussiehtsloses Beginnen für irgendeinen viralen Zweck, das Ich vom Es zu trennen.

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Übrigens, wenn id1 audi meinem moralischen Hodimut nachgehen und dekretieren wollte, für alle sittlidien Wertungen darf idi das Böse im Es vernaclilässigen und braudie mein Ich nicht dafür verantwortlid1 zu madien, was nützte es mir? Die Erfahrung zeigt mir, daß idi es dodi tue, daß idi gezwungen bin, es irgendwie zu tun. Die Psychoanalyse hat uns einen krankhaften Zustand kennen gelehrt, die Zwangsneurose, in dem sich das arme Idi für allerlei böse Regungen sdiuldig fühlt, von denen es nichts weiß, die ihm zwar im Bewußtsein vorgehalten werden, zu denen es Sidi aber unmöglidi bekennen kann. Ein wenig davon findet sich bei jedem Normalen. Sein „Gewissen" ist merkwürdigerweise um so empfindlicher, je moralischer er ist. Man stelle sich dagegen vor, daß ein Mensch desto „anfälliger“ ist, um so mehr an Infektionen und Wirkungen von Träumen leidet, — je gesünder er ist. Das kommt wohl daher, daß das Gewissen selbst eine Reaktionshildung auf das Böse ist, das im Es verspiirt wird. Je stärker dessen Unterdrückung, desto reger das

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Gewissen.

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Dem ethisdien Narzißnius des Menschen sollte es genügen, daß er in der Tatsadie der Traumentstellung, in den Angstund Strafträumen ebenso deutlidie Beweise seines sittlid1en Wesens erhält wie durch die Traumdeutung Belege für Existenz und Stärke seines bösen Wesens. Wer, damit nicht zufrieden, „besser“ sein Will, als er gesdiafl'en ist, möge versuchen, ob er es‘ im Leben Weiter bringt als zur Heuchelei oder zur Hemmung.

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Der Arzt wird es dem Juristen überlassen, für soziale Zwecke eine künstlich auf das metapsydlologisd1e Ich eingeschränkte Verantwortlichkeit aufzustellen. Es ist allgemein bekannt, auf welche Schwierigkeiten es stößt, aus dieser Konstruktion praktische Folgen abzuleiten, die den Gefühlen der Menschen nidit Widerstreiten.

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DIE OKKULTE BEDEUTUNG DES TRAUMES (ms)

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Wenn der Probleme des Traumlebens kein Ende abzuseben ist, so kann sich nur der darüber verwundern, der eben vergißt, daß alle Probleme des Seelenlebens audi am Traume wiederkehren, vermehrt um einige neue, die die besondere Natur der Träume betrefien. Viele der Dinge, die wir am Traum studieren, weil sie Sidi uns dort zeigen, haben aber mit dieser psyd1isdien Besonderheit des Traumes nichts oder wenig zu tun. So ist zum Beispiel die Symbolik kein Traum— problem, sondern ein Thema unseres arcbaisdien Denkens, unserer „Grundsprad'ie“ nach des Paranoi.kers Schreber trefflicbem Ausdruck, sie beherrscht den Mythus und das reli— giöse Ritual nidit minder als den Traum; kaum daß der Traumsymbolik die Eigenheit verbleibt, vorwiegend sexuell Bedeutsames zu verhiillen! Audi der Angsttraum braucht seine Aufklärung nicht von der Traumlehre zu erwarten, die Angst

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