Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901-002/1910)

Über das Werk

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  • Diercks, Christine
  • Rohrwasser, Michael
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  • Diercks, Christine
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  • Blatow, Arkadi
  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
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  • Roedelius, Julian
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  • Andorfer, Peter
  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901-002/1910). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1901-002__1910.xml
§ 1

§ 2

2702

§ 3

§ 4

§ 5

Zur Psychopathologie des Alltagslebens

§ 6

(Über Vergessen, Versprechen,

§ 7

Vergreifen, Aberglaube und Irrtum)

§ 8

Von

§ 9

Prof. Dr. Sigm. Freud

§ 10

in Wien

§ 11

Dritte, vermehrte Auflage

§ 12

Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll, Faust, II. Teil, V. Akt.

§ 13

BERLIN 1910

§ 14

VERLAG VON S. KARGER KARLSTRASSE 15

§ 15

Inhaltsangabe.

§ 16

sag: I. Vergessen von Eigennamen ........... 5 II. Vergessen von fremdsprachigen Worten ...... 11 III. Vergessen von Namen und Wortfolgen ...... 17 IV. Uber Kindheits- und Deckerinnerungen ...... 30 V. Das Versprechen ................ 36 VI. Verlesen und Verschreiben ............ 60 VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen ..... 68 VIII. Das Vergreifen ................. 89 IX. Symptom- und Zufallshandlungen ......... 105 X. Irrtümer .................... 115 XI. Kombinierte Fehlleistungen ........... 121 XII. Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. —— Ge

§ 17

sichtspunkte ................. 123

§ 18

I. Vergessen von Eigennamen.

§ 19

Im Jahrgange 1898 der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie habe ich unter dem Titel „Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit“ einen kleinen Aufsatz veröffentlicht, dessen Inhalt ich hier wiederholen und zum Ausgang für weitere Erörterungen nehmen werde. Ich habe dort den häufigen Fall des zeitweiligen Vergessens von Eigennamen an einem prägnanten Beispiel aus meiner Selbstbeobachtung der psychologischen Analyse unterzogen und bin zum Ergebnis gelangt, daß dieser gewöhnliche und praktisch nicht sehr bedeutsame Einzelvorfall von Versagen einer psychischen Funktion — des Erinnerns — eine Aufklärung zuläßt, welche weit über die gebräuchliche Verwertung des Phänomens hinausführt.

§ 20

Wenn ich nicht sehr irre, würde ein Psycholog, von dem man die Erklärung forderte, wie es zugehe, daß einem so oft ein Name nicht einfällt, den man doch zu kennen glaubt, sich begnügen, zu antworten, daß Eigennamen dem Vergessen leichter unterliegen als andersartiger Gedächtnisinhalt. Er würde die plausiblen Gründe für solche Bevorzugung der Eigennamen anführen, eine anderweitige Bedingtheit des Vorganges aber nicht vermuten.

§ 21

Für mich wurde zum Anlaß einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Phänomen des zeitweiligen Namenvergessens die Beobachtung gewisser Einzelheiten, die sich zwar nicht in allen Fällen, aber in einzelnen deutlich genug erkennen lassen. In solchen Fällen wird nämlich nicht nur vergessen, sondern auch falsch erinnert. Dem sich um den entfallenen Namen Bemühenden kommen andere — Ersatznamen — zum Bewußtsein, die zwar sofort als unrichtig erkannt werden, sich aber doch mit großer Zähigkeit immer wieder aufdrängen. Der Vorgang, der zur Reproduktion des gesuchten Namens führen soll, hat sich gleichsam verschoben und so zu einem unrichtigen Ersatz geführt. Meine Voraussetzung ist nun, daß diese Verschiebung nicht psychischer Willkür überlassen ist, sondern gesetzmäßige und berechenbare Bahnen einhält. Mit anderen Worten, ichvermute, daß der oder die Ersatznamen in einem aufspürbaren Zusammenhang mit dem gesuchten Namen stehen, und hoffe, wenn es mir gelingt, diesen Zusammenhang nachzuweisen, dann auch Licht über den Hergang des Namenvergessens zu verbreiten.

§ 22

In dem 1898 von mir zur Analyse gewählten Beispiele war es der Name des Meisters, welcher im Dom von Orvieto die großartigen Fresken von den „letzten Dingen“ geschaffen, den zu erinnern ich mich vergebens bemühte. Anstatt des gesuchten Namens — Signorelli — drängten sich mir zwei andere Namen von Malern aufBotticelli und Boltraffio —, die mein Urteil sofort und entschieden als unrichtig abwies. Als mir der richtige Name von fremder Seite mitgeteilt wurde, erkannte ich ihn sogleich und ohne Schwanken. Die Untersuchung, durch welche Einflüsse und auf welchen Assoziationswegen sich die Reproduktion in solcher Weise — von Signorelli auf Botticelli und Boltraffio — verschoben hatte, führte zu folgenden Ergebnissen:

§ 23

a) Der Grund für das Entfallen des Namens Signorelli ist weder in einer Besonderheit dieses Namens selbst noch in einem psychologischen Charakter des Zusammenhanges zu suchen, in welchen derselbe eingefügt war. Der vergessene Name war mir ebenso vertraut wie der eine der Ersatznamen — Botticelli — und ungleich vertrauter als der andere der Ersatznamen — Boltraffio —, von dessen Träger ich kaum etwas anderes anzugeben wüßte als seine Zugehörigkeit zur mailändischen Schule. Der Zusammenhang aber, in dem sich das Namenvergessen ereignete, erscheint mir harmlos und führt zu keiner weiteren Aufklärung: Ich machte mit einem Fremden eine Wagenfahrt von Ragusa in Dalmatien nach einer Station der Herzegowina; wir kamen auf das Reisen in Italien zu sprechen, und ich fragte meinen Reisegefährten, ob er schon in Orvieto gewesen und dort die berühmten Fresken des *** besichtigt habe.

§ 24

b) Das Namenvergessen erklärt sich erst, wenn ich mich an das in jener Unterhaltung unmittelbar vorhergehende Thema erinnere, und gibt sich als eine Störung des neu auftauchenden Themas durch das vorhergehende zu erkennen. Kurz ehe ich an meinen Reisegefährten die Frage stellte, ob er schon in Orvieto gewesen, hatten wir uns über die Sitten der in Bosnien und in der Herzegowina lebenden Türken unterhalten. Ich hatte erzählt, was ich von einem unter diesen Leuten praktizierenden Kollegen gehört hatte, daß sie sich voll Vertrauen in den Arzt und voll Ergebung in das Schicksal zu zeigen pflegen. Wenn man ihnen ankündigen muß, daß es für den Kranken keine Hilfe gibt, so antworten sie: „Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, hättest du ihn gerettet.“ — Erst in diesen Sätzen finden sich die Worte und Namen: Bosnien, Herzegowina, Herr vor, welche sich in eine Assoziationsreihe zwischen SignorelliBotticelli und Boltraffio einschalten lassen.

§ 25

c) Ich nehme an, daß der Gedankenreihe von den Sitten der Türken in Bosnien usw. die Fähigkeit, einen nächsten Gedanken zu stören, darum zukam, weil ich ihr meine Aufmerksamkeit entzogen hatte, ehe sie noch zu Ende gebracht war. Ich erinnere nämlich, daß ich eine zweite Anekdote erzählen wollte, die nahe bei der ersten in meinem Gedächtnis ruhte. Diese Türken schätzen den Sexualgenuß über alles und verfallen bei sexuellen Störungen in eine Verzweiflung, welche seltsam gegen ihre Resignation bei Todesgefahr absticht. Einer der Patienten meines Kollegen hatte ihm einmal gesagt: „Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert.“ Ich unterdrückte die Mitteilung dieses charakteristischen Zuges, weil ich das heikle Thema nicht im Gespräch mit einem Fremden berühren wollte. Ich tat aber noch mehr; ich lenkte meine Aufmerksamkeit auch von der Fortsetzung der Gedanken ab, die sich bei mir an das Thema „Tod und Sexualität“ hätten knüpfen können. Ich stand damals unter der Nachwirkung einer Nachricht, die ich wenige Wochen vorher während eines kurzen Aufenthaltes in Trafoi erhalten hatte. Ein Patient, mit dem ich mir viele Mühe gegeben, hatte wegen einer unheilbaren sexuellen Störung seinem Leben ein Ende gemacht. Ich weiß bestimmt, daß mir auf jener Reise in die Herzegowina dieses traurige Ereignis und alles, was damit zusammenhängt, nicht zur bewußten Erinnerung kam. Aber die Übereinstimmung Trafoi Boltraffio nötigt mich anzunehmen, daß damals diese Reminiszenz trotz der absichtlichen Ablenkung meiner Aufmerksamkeit in mir zur Wirksamkeit gebracht worden ist.

§ 26

d) Ich kann das Vergessen des Namens Signorelli nicht mehr als ein zufälliges Ereignis auffassen. Ich muß den Einfluß eines Motivs bei diesem Vorgang anerkennen. Es waren Motive, die mich veranlaßten, mich in der Mitteilung meiner Gedanken (über die Sitten der Türken usw.) zu unterbrechen, und die mich ferner beeinflußten, die daran sich knüpfenden Gedanken, die bis zur Nachricht in Trafoi geführt hätten, in mir vom Bewußtwerden auszuschließen. Ich wollte also etwas vergessen, ich hatte etwas verdrängt. Ich wollte allerdings etwas anderes vergessen als den Namen des Meisters vonOrvieto; aber dieses andere brachte es zustande, sich mit diesem Namen in assoziative Verbindung zu setzen, so daß mein Willensakt das Ziel verfehlte, und ich das eine wider Willen vergaß, während ich das andere mit Absicht vergessen wollte. Die Abneigung, zu erinnern, richtete sich gegen den einen Inhalt; die Unfähigkeit, zu erinnern, trat an einem anderen hervor. Es wäre offenbar ein einfacherer Fall, wenn Abneigung und Unfähigkeit, zu erinnern, denselben Inhalt beträfen. — Die Ersatznamen erscheinen mir auch nicht mehr so völlig unberechtigt wie vor der Aufklärung; sie mahnen mich (nach Art eines Kompromisses) eben so sehr an das, was ich vergessen, wie an das, was ich erinnern wollte, und zeigen mir, daß meine Absicht, etwas zu vergessen, weder ganz gelungen noch ganz mißglückt ist.

§ 27

e) Sehr auffällig ist die Art der Verknüpfung, die sich zwischen dem gesuchten Namen und dem verdrängten Thema (von Tod und Sexualität usw., in dem die Namen Bosnien, Herzegowina, Trafoi vorkommen) hergestellt hat. Das hier eingeschaltete, aus der Abhandlung des Jahres 1898 wiederholte Schema sucht diese Verknüpfung anschaulich darzustellen.

§ 28

Der Name Signorelli ist dabei in zwei Stücke zerlegt worden. Das eine Silbenpaar ist in einem der Ersatznamen unverändert wiedergekehrt (elli), das andere hat durch die Übersetzung Signor Herr mehrfache und verschiedenartige Beziehungen zu den im verdrängten Thema enthaltenen Namen gewonnen, ist aber dadurch für die Reproduktion verloren gegangen. Sein Ersatz hat so stattgefunden, als ob eine Verschiebung längs der Namenverbindung „Herzegowina und Bosnien“ vorgenommen worden wäre, ohne Rücksicht auf den Sinn und auf die akustische Abgrenzung der Silben zu nehmen. Die Namen sind also bei diesem Vorgang ähnlich behandelt worden wie die Schriftbilder eines Satzes, der in ein Bilderrätsel (Rebus) umgewandelt werden soll. Von dem ganzen Hergang, der anstatt des Namens Signorelli auf solchen Wegen die Ersatznamen geschaffen hat, ist dem Bewußtsein keine Kunde gegeben worden. Eine Beziehung zwischen dem Thema, in dem der Name Signorelli vorkam, und dem zeitlich ihm vorangehenden verdrängten Thema, welche über diese Wiederkehr gleicher Silben (oder vielmehr Buchstabenfolgen) hinausginge, scheint zunächst nicht auffindbar zu sein.

§ 29

Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu bemerken, daß die von den Psychologen angenommenen Bedingungen der Reproduktion und des Vergessens, die in gewissen Relationen und Dispositionen gesucht werden, durch die vorstehende Aufklärung einen Widerspruch nicht erfahren. Wir haben nur für gewisse Fälle zu all den längst anerkannten Momenten, die das Vergessen eines Namens bewirken können, noch ein Motiv hinzugefügt und überdies den Mechanismus des Fehlerinnerns klar gelegt. Jene Dispositionen sind auch für unseren Fall unentbehrlich, um die Möglichkeit zu schaffen, daß das verdrängte Element sich assoziativ des gesuchten Namens bemächtige und es mit sich in die Verdrängung nehme. Bei einem anderen Namen mit günstigeren Reproduktionsbedingungen wäre dies vielleicht nicht geschehen. Es ist ja wahrscheinlich, daß ein unterdrücktes Element allemal bestrebt ist, sich irgendwo anders zur Geltung zu bringen, diesen Erfolg aber nur dort erreicht, wo ihm geeignete Bedingungen entgegenkommen. Andere Male gelingt die Unterdrückung ohne Funktionsstörung, oder, wie wir mit Recht sagen können, ohne Symptome.

§ 30

Die Zusammenfassung der Bedingungen für das Vergessen eines Namens mit Fehlerinnern ergibt also: 1. eine gewisse Disposition zum Vergessen desselben, 2. einen kurz vorher abgelaufenen Unterdrückungsvorgang, 3. die Möglichkeit, eine äußerliche Assoziation zwischen dem betreffenden Namen und dem vorher unterdrückten Element herzustellen. Letztere Bedingung wird man wahrscheinlich nicht sehr hoch veranschlagen müssen, da bei den geringen Ansprüchen an die Assoziation eine solche in den allermeisten Fällen durchzusetzen sein dürfte. Eine andere und tiefer reichende Frage ist es, ob eine solche äußerliche Assoziation wirklich die genügende Bedingung dafür sein kann, daß das verdrängte Element die Reproduktion des gesuchten Namens störe, ob nicht doch notwendig ein intimerer Zusammenhang der beiden Themata erforderlich wird. Bei oberflächlicher Betrachtung würde man letztere Forderung abweisen wollen und das zeitliche Aneinanderstoßen bei völlig disparatem Inhalt für genügend halten. Bei eingehender Untersuchung findet man aber immer häufiger, daß die beiden durch eine äußerliche Assoziation verknüpften Elemente (das verdrängte und das neue) außerdem einen inhaltlichen Zusammenhang besitzen, und auch in dem Beispiel Signorelli läßt sich ein solcher erweisen.

§ 31

Der Wert der Einsicht, die wir bei der Analyse des Beispiels Signorelli gewonnen haben, hängt natürlich davon ab, ob wir diesen Fall für ein typisches oder für ein vereinzeltes Vorkommnis erklären müssen. Ich muß nun behaupten, daß das Namenvergessen mit Fehlerinnern ungemein häufig so zugeht, wie wir es im Falle Signorelli aufgelöst haben. Fast allemal, da ich dies Phänomen bei mir selbst beobachten konnte, war ich auch imstande, es mir in der vorerwähnten Weise als durch Verdrängung motiviert zu erklären. Ich muß auch noch einen anderen Gesichtspunkt zugunsten der typischen Natur unserer Analyse geltend machen. Ich glaube, daß man nicht berechtigt ist, die Fälle von Namenvergessen mit Fehlerinnern prinzipiell von solchen zu trennen, in denen sich unrichtige Ersatznamen nicht eingestellt haben. Diese Ersatznamen kommen in einer Anzahl von Fällen spontan; in anderen Fällen, wo sie nicht spontan aufgetaucht sind, kann man sie durch Anstrengung der Aufmerksamkeit zum Auftauchen zwingen, und sie zeigen dann die nämlichen Beziehungen zum verdrängten Element und zum gesuchten Namen, wie wenn sie spontan gekommen wären. Für das Bewußtwerden der Ersatznamen scheinen zwei Momente maßgebend zu sein, erstens die Bemühung der Aufmerksamkeit, zweitens eine innere Bedingung, die am psychischen Material haftet. Ich könnte letztere in der größeren oder geringeren Leichtigkeit suchen, mit welcher sich die benötigte äußerliche Assoziation zwischen den beiden Elementen herstellt. Ein guter Teil der Fälle von Namenvergessen ohne Fehlerinnern schließt sich so den Fällen mit Ersatznamenbildung an, für welche der Mechanismus des Beispieles Signorelli gilt. Ich werde aber mich gewiß nicht der Behauptung erkühnen, daß alle Fälle von Namenvergessen in die nämliche Gruppe einzureihen seien. Es gibt ohne Zweifel Fälle von Namenvergessen, die weit einfacher zugehen. Wir werden den Sachverhalt wohl vorsichtig genug dargestellt haben, wenn wir aussprechen: Neben dem einfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein Vergessen vor, welches durch Verdrängung motiviert ist.

§ 32

Il.

§ 33

Vergessen von fremdsprachigen Worten.

§ 34

Der gebräuchliche Sprachschatz unserer eigenen Sprache scheint innerhalb der Breite normaler Funktion gegen das Vergessen geschützt. Anders steht es bekanntlich mit den Vokabeln einer fremden Sprache. Die Disposition zum Vergessen derselben ist für alle Redeteile vorhanden, und ein erster Grad von Funktionsstörung zeigt sich in der Ungleichmäßigkeit unserer Verfügung über den fremden Sprachschatz, je nach unserem Allgemeinbefinden und dem Grade unserer Ermüdung. Dieses Vergessen geht in einer Reihe von Fällen nach demselben Mechanismus vor sich, den uns das Beispiel Signorelli enthüllt hat. Ich werde zum Beweise hierfür eine einzige, aber durch wertvolle Eigentümlichkeiten ausgezeichnete Analyse mitteilen, die den Fall des Vergessens eines nicht substantivischen Wortes aus einem lateinischen Zitat betrifft. Man gestatte mir, den kleinen Vorfall breit und anschaulich vorzutragen.

§ 35

Im letzten Sommer erneuerte ich, — wiederum auf der Ferienreise — die Bekanntschaft eines jungen Mannes von akademischer Bildung, der, wie ich bald merkte, mit einigen meiner psychologischen Publikationen vertraut war. Wir waren im Gespräch — ich weiß nicht mehr wie — auf die soziale Lage des Volksstammes gekommen, dem wir beide angehören, und er, der Ehrgeizige, erging sich in Bedauern darüber, daß seine Generation, wie er sich äußerte, zur Verkümmerung bestimmt sei, ihre Talente nicht entwickeln und ihre Bedürfnisse nicht befriedigen könne. Er schloß seine leidenschaftlich bewegte Rede mit dem bekannten Vergilschen Vers, in dem die unglückliche Dido ihre Rache an Aeneas der Nachwelt überträgt: Exoriare ....., vielmehr er wollte so schließen, denn er brachte das Zitat nicht zustande und suchte eine offenkundige Lücke der Erinnerung durch Umstellung von Worten zu verdecken: Exoriar(e) ex sichtig genug dargestellt haben, wenn wir aussprechen: Neben dem einfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein Vergessen vor, welches durch Verdrängung motiviert ist.

§ 36

Il. Vergessen von fremdsprachigen Worten.

§ 37

Der gebräuchliche Sprachschatz unserer eigenen Sprache scheint innerhalb der Breite normaler Funktion gegen das Vergessen geschützt. Anders steht es bekanntlich mit den Vokabeln einer fremden Sprache. Die Disposition zum Vergessen derselben ist für alle Redeteile vorhanden, und ein erster Grad von Funktionsstörung zeigt sich in der Ungleichmäßigkeit unserer Verfügung über den fremden Sprachschatz, je nach unserem Allgemeinbefinden und dem Grade unserer Ermüdung. Dieses Vergessen geht in einer Reihe von Fällen nach demselben Mechanismus vor sich, den uns das Beispiel Signorelli enthüllt hat. Ich werde zum Beweise hierfür eine einzige, aber durch wertvolle Eigentümlichkeiten ausgezeichnete Analyse mitteilen, die den Fall des Vergessens eines nicht substantivischen Wortes aus einem lateinischen Zitat betrifft. Man gestatte mir, den kleinen Vorfall breit und anschaulich vorzutragen.

§ 38

Im letzten Sommer erneuerte ich, — wiederum auf der Ferienreise — die Bekanntschaft eines jungen Mannes von akademischer Bildung, der, wie ich bald merkte, mit einigen meiner psychologischen Publikationen vertraut war. Wir waren im Gespräch — ich weiß nicht mehr wie — auf die soziale Lage des Volksstammes gekommen, dem wir beide angehören, und er, der Ehrgeizige, erging sich in Bedauern darüber, daß seine Generation, wie er sich äußerte, zur Verkümmerung bestimmt sei, ihre Talente nicht entwickeln und ihre Bedürfnisse nicht befriedigen könne. Er schloß seine leidenschaftlich bewegte Rede mit dem bekannten Vergilschen Vers, in dem die unglückliche Dido ihre Rache an Aeneas der Nachwelt überträgt: Exoriare ....., vielmehr er wollte so schließen, denn er brachte das Zitat nicht zustande und suchte eine offenkundige Lücke der Erinnerung durch Umstellung von Worten zu verdecken: Exoriar(e) ex nostris ossibus ultor! Endlich sagte er geärgert: „Bitte machen Sie nicht ein so spöttisches Gesicht, als ob Sie sich an meiner Verlegenheit weiden würden, und helfen Sie mir lieber. An dem Vers fehlt etwas. Wie heißt er eigentlich vollständig?“Gerne, erwiderte ich und zitierte, wie es richtig lautet:

"§ 39

Exoriar(e) aliquis nostris ex ossibus ultor!

"
§ 40

„Zu dumm, ein solches Wort zu vergessen. Übrigens von Ihnen hört man ja, daß man nichts ohne Grund vergißt. Ich wäre doch zu neugierig, zu erfahren, wie ich zum Vergessen dieses unbestimmten Pronomen aliquis komme.“

§ 41

Ich nahm diese Herausforderung bereitwilligst an, da ich einen Beitrag zu meiner Sammlung erhoffte. Ich sagte also: Das können wir gleich haben. Ich muß Sie nur bitten, mir aufrichtig und kritiklos alles mitzuteilen, was Ihnen einfällt, wenn Sie ohne bestimmte Absicht Ihre Aufmerksamkeit auf das vergessene Wort richten.1)1)

§ 42

„Gut, also da komme ich auf den lächerlichen Einfall, mir das Wort in folgender Art zu zerteilen: a und liquis.“

§ 43

Was soll das? — „Weiß ich nicht.“ — Was fällt Ihnen weiter dazu ein? — „Das setzt sich so fort: ReliquienLiquidationFlüssigkeitFluid. Wissen sie jetzt schon etwas?“

§ 44

Nein, noch lange nicht. Aber fahren sie fort.

§ 45

„Ich denke,“ fuhr er höhnisch lachend fort, „an Simon von Trient, dessen Reliquien ich vor zwei Jahren in einer Kirche in Trient gesehen habe. Ich denke an die Blutbeschuldigung, die gerade jetzt wieder gegen die Juden erhoben wird, und an die Schrift von Kleinpaul, der in all diesen angeblichen Opfern Inkarnationen, sozusagen Neuauflagen, des Heilands sieht.“

§ 46

Der Einfall ist nicht ganz ohne Zusammenhang mit dem Thema, über das wir uns unterhielten, ehe Ihnen das lateinische Wort entfiel.

§ 47

„Richtig. Ich denke ferner an einen Zeitungsartikel in einem italienischen Journal, den ich kürzlich gelesen. Ich glaube, er war überschrieben: Was der h. Augustinus über die Frauen sagt. Was machen Sie damit?“

1) Dies ist der allgemeine Weg, um Vorstellungselemente, die sich verbergen, dem Bewußtsein zuzuführen. Vgl. meine „Traumdeutung“, p. 69. (2. Aufl., p. 71.) § 48

Ich warte.

§ 49

„Also jetzt kommt etwas, was ganz gewiß außer Zusammenhang mit unserem Thema steht.“

§ 50

Enthalten Sie sich gefälligst jeder Kritik und —

§ 51

„Ich weiß schon. Ich erinnere mich eines prächtigen alten Herrn, den ich vorige Woche auf der Reise getroffen. Ein wahres Original. Er sieht aus wie ein großer Raubvogel. Er heißt, wenn Sie es wissen wollen, Benedikt.“

§ 52

Doch wenigstens eine Aneinanderreihung von Heiligen und Kirchenvätern: Der heilige Simon, St. Augustinus, St. Benediktus. Ein Kirchenvater hieß, glaube ich, Origines. Drei dieser Namen sind übrigens auch Vornamen, wie Paul im Namen Kleinpaul.

§ 53

„Jetzt fällt mir der heilige Januarius ein und sein Blutwunder — ich finde, das geht mechanisch so weiter.“

§ 54

Lassen Sie das; der heilige Januarius und der heilige Augustinus haben beide mit dem Kalender zu tun. Wollen Sie mich nicht an das Blutwunder erinnern?

§ 55

„Das werden Sie doch kennen? In einer Kirche zu Neapel wird in einer Phiole das Blut des heiligen Januarius aufbewahrt, welches durch ein Wunder an einem bestimmten Festtage wieder flüssig wird. Das Volk hält viel auf dieses Wunder und wird sehr aufgeregt, wenn es sich verzögert, wie es einmal zur Zeit einer französischen Okkupation geschah. Da nahm der kommandierende General — oder ich irre mich? war es Garibaldi? — den geistlichen Herrn bei Seite und bedeutete ihm mit einer sehr verständlichen Geberde auf die draußen aufgestellten Soldaten, er hoffe, das Wunder werde sich sehr bald vollziehen. Und es vollzog sich wirklich . . .“

§ 56

Nun und weiter? Warum stocken Sie?

§ 57

„Jetzt ist mir allerdings etwas eingefallen . . . das ist aber zu intim für die Mitteilung . . Ich sehe übrigens keinen Zusammenhang und keine Nötigung, es zu erzählen.“

§ 58

Für den Zusammenhang würde ich sorgen. Ich kann Sie ja nicht zwingen zu erzählen, was Ihnen unangenehm ist; dann verlangen Sie aber auch nicht von mir zu wissen, auf welchem Wege Sie jenes Wort „aliquis“ vergessen haben.

§ 59

„Wirklich? Glauben Sie? Also ich habe plötzlich an eine Dame gedacht, von der ich leicht eine Nachricht bekommen könnte, die uns beiden recht unangenehm wäre.“

§ 60

Daß ihr die Periode ausgeblieben ist?

§ 61

„Wie können Sie das erraten?“

§ 62

Das ist nicht mehr schwierig. Sie haben mich genügend darauf vorbereitet. Denken Sie an die Kalenderheiligen, an das Flüssigwerden des Blutes zu einem bestimmten Tage, den Aufruhr, wenn das Ereignis nicht ein- tritt, die deutliche Drohung, daß das Wunder vor sich gehen muß, sonst. . Sie haben ja das Wunder des heiligen Januarius zu einer prächtigen Anspielung auf die Periode der Frau verarbeitet.

§ 63

„Ohne daß ich es gewußt hätte. Und Sie meinen wirklich, wegen dieser ängstlichen Erwartung hätte ich das Wörtchen „aliquis nicht reproduzieren können?“

§ 64

Das scheint mir unzweifelhaft. Erinnern Sie sich doch an Ihre Zerlegung in a—liquis und an die Assoziationen: Reliquien, Liquidation, Flüssigkeit. Soll ich noch den als Kind hingeopferten heiligen Simon, auf den Sie von den Reliquien her kamen, in den Zusammenhang einflechten?

§ 65

„Tun Sie das lieber nicht. Ich hoffe, Sie nehmen diese Gedanken, wenn ich sie wirklich gehabt habe, nicht für Ernst. Ich will Ihnen dafür gestehen, daß die Dame Italienerin ist, in deren Gesellschaft ich auch Neapel besucht habe. Kann das aber nicht alles Zufall sein?“

§ 66

Ich muß es Ihrer eigenen Beurteilung überlassen, ob Sie sich alle diese Zusammenhänge durch die Annahme eines Zufalls aufklären können. Ich sage Ihnen aber, jeder ähnliche Fall, den Sie analysieren wollen, wird Sie auf ebenso merkwürdige „Zufälle“ führen.

§ 67

Ich habe mehrere Gründe, diese kleine Analyse, für deren Überlassung ich meinem damaligen Reisegenossen Dank schulde, zu schätzen. Erstens, weil mir in diesem Falle gestattet war, aus einer Quelle zu schöpfen, die mir sonst versagt ist. Ich bin zumeist genötigt, die Beispiele von psychischer Funktionsstörung im täglichen Leben, die ich hier zusammenstelle, meiner Selbstbeobachtung zu entnehmen. Das weit reichere Material, das mir meine neurotischen Patienten liefern, suche ich zu vermeiden, weil ich den Einwand fürchten muß, die betreffenden Phänomene seien eben Erfolge und Äußerungen der Neurose. Es hat also besonderen Wert für meine Zwecke, wenn sich eine nervengesunde fremde Person zum Objekt einer solchen Untersuchung erbietet. In anderer Hinsicht wird mir diese Analyse bedeutungsvoll, indem sie einen Fall von Wortvergessen ohne Ersatzerinnernbeleuchtet und meinen vorhin aufgestellten Satz bestätigt, daß das Auftauchen oder Ausbleiben von unrichtigen Ersatzerinnerungen eine wesentliche Unterscheidung nicht begründen kann1)1).

§ 68

Der Hauptwert des Beispieles: aliquis ist aber in einem anderen seiner Unterschiede von dem Falle: Signorelli gelegen. Im letzteren Beispiel wird die Reproduktion des Namens gestört durch die Nachwirkung eines Gedankenganges, der kurz vorher begonnen und abgebrochen wurde, dessen Inhalt aber in keinem deutlichen Zusammenhang mit dem neuen Thema stand, in dem der Name Signorelli enthalten war. Zwischen dem verdrängten und dem Thema des vergessenen Namens bestand bloß die Beziehung der zeitlichen Kontiguität; dieselbe reichte hin, damit sich die beiden durch eine äußerlicheAssoziation in Verbindung setzen konnten1)1). Im Beispiele: aliquis hingegen ist von einem solchen unabhängigen verdrängten Thema, welches unmittelbar vorher das bewußte Denken beschäftigt hätte und nun als Störung nachklänge, nichts zu merken. Die Störung der Reproduktion erfolgt hier aus dem Innern des angeschlagenen Themas heraus, indem sich unbewußt ein Widerspruch gegen die im Zitat dargestellte Wunschidee erhebt. Man muß sich den Hergang in folgender Art konstruieren: Der Redner hat bedauert, daß die gegenwärtige Generation seines Volkes in ihren Rechten verkürzt wird; eine neue Generation, weissagt er wie Dido, wird die Rache an den Bedrängern übernehmen. Er hat also den Wunsch nach Nachkommenschaft ausgesprochen. In diesem Momente fährt ihm ein widersprechender Gedanke dazwischen. „Wünschest du dir Nachkommenschaft wirklich so lebhaft? Das ist nicht wahr. In welche Verlegenheit kämest du, wenn du jetzt die Nachricht erhieltest, daß du von der einen Seite, die du kennst, Nachkommen zu erwarten hast? Nein, keine Nachkommenschaft, — wiewohl wir sie für die Rache brauchen.“ Dieser Widerspruch bringt sich nun zur Geltung, indem er genau wie im Beispiel: Signorelli eine äußerliche Assoziation zwischen einem seiner Vorstellungselemente und einem Elemente des beanstandeten Wunsches herstellt, und zwar diesmal auf eine höchst gewaltsame Weise durch einen gekünstelt erscheinenden Assoziationsumweg. Eine zweite wesentliche Übereinstimmung mit dem Beispiel Signorelli ergibt sich daraus, daß der Widerspruch aus verdrängten Quellen stammt und von Gedanken ausgeht, welche eine Abwendung der Aufmerksamkeit hervorrufen würden. — Soviel über die Verschiedenheit und über die innere Verwandtschaft der beiden Paradigmata des Namenvergessens. Wir haben einen zweiten Mechanismus des Vergessens kennen gelernt, die Störung eines Gedankens durch einen aus dem Verdrängten kommenden inneren Widerspruch. Wir werden diesem Vorgang, der uns als der leichter verständliche erscheint, im Laufe dieser Erörterungen noch wiederholt begegnen.

1) Feinere Beobachtung schränkt den Gegensatz zwischen der Analyse: Signorelli und der: aliquis betreffs der Ersatzerinnerungen um Einiges ein. Auch hier scheint nämlich das Vergessen von einer Ersatzbildung begleitet zu sein. Als ich an meinen Partner nachträglich die Frage stellte, ob ihm bei seinen Bemühungen, das fehlende Wort zu erinnern, nicht irgend etwas zum Ersatz eingefallen sei, berichtete er, daß er zunächst die Versuchung verspürt habe, ein ab in den Vers zu bringen: nostris ab ossibus (vielleicht das unverknüpfte Stück von a-liquis) und dann, daß sich ihm das Exoriare besonders deutlich und hartnäckig aufgedrängt habe. Als Skeptiker setzte er hinzu, offenbar weil es das erste Wort des Verses war. Als ich ihn hat, doch auf die Assoziationen von Exoriare aus zu achten, gab er mir Exorzismus an. Ich kann mir also sehr wohl denken, daß die Verstärkung von Exoriare in der Reproduktion eigentlich den Wert einer solchen Ersatzbildung hatte. Dieselbe wäre über die Assoziation: Exorzismus von den Namen der Heiligen her erfolgt. Indes sind dies Feinheiten, auf die man keinen Wert zu legen braucht. — Er erscheint nun aber wohl möglich, daß das Auftreten irgend einer Art von Ersatzerinnerung ein konstantes, vielleicht auch nur ein charakteristisches und verräterisches Zeichen des tendenziösen, durch Verdrängung motivierten Vergessens ist. Diese Ersatzbildung bestände auch dort, wo das Auftauchen unrichtiger Ersatznamen ausbleibt, in der Verstärkung eines Elementes, welches dem vergessenen benachbart ist. Im Beispiele: Signorelli war z. B., solange mir der Name des Malers unzugänglich blieb, die visuelle Erinnerung an den Zyklus von Fresken und an sein in der Ecke eines Bildes angebrachtes Selbstporträt überdeutlich, jedenfalls weit intensiver als visuelle Erinnerungsspuren sonst bei mir auftreten. In einem anderen Falle, der gleichfalls in der Abhandlung von 1898 mitgeteilt ist, hatte ich von der Adresse eines mir unbequemen Besuches in einer fremden Stadt den Straßennamen hoffnungslos vergessen, die Hausnummer aber wie zum Spott — überdeutlich gemerkt, während sonst das Erinnern von Zahlen mir die größte Schwierigkeit bereitet. 1) Ich möchte für das Fehlen eines inneren Zusammenhanges zwischen den beiden Gedankenkreisen im Falle Signorelli nicht mit voller Überzeugung einstehen. Bei sorgfältiger Verfolgung der verdrängten Gedanken über das Thema von Tod und Sexualleben stößt man doch auf eine Idee, die sich mit dem Thema der Fresken von Orvieto nahe berührt. § 69

III. Vergessen von Namen und Wortfolgen.

§ 70

Erfahrungen, wie die eben erwähnte, über den Hergang des Vergessens eines Stückes aus einer fremdsprachigen Wortfolge können die Wißbegierde rege machen, ob denn das Vergessen von Wortfolgen in der Muttersprache eine wesentlich andere Aufklärung erfordere. Man pflegt zwar nicht verwundert zu sein, wenn man eine auswendig gelernte Formel oder ein Gedicht nach einiger Zeit nur ungetreu, mit Abänderungen und Lücken reproduzieren kann. Da aber dieses Vergessen das im Zusammenhang Erlernte nicht gleichmäßig betrifft, sondern wiederum einzelne Stücke daraus loszubröckeln scheint, könnte es sich der Mühe verlohnen, einzelne Beispiele von solcher fehlerhaft gewordenen Reproduktion analytisch zu untersuchen.

§ 71

Ein jüngerer Kollege, der im Gespräch mit mir die Vermutung äußerte, das Vergessen von Gedichten in der Muttersprache könnte wohl ähnlich motiviert sein wie das Vergessen einzelner Elemente in einer fremdsprachigen Wortfolge, erbot sich zugleich zum Untersuchungsobjekt. Ich fragte ihn, an welchem Gedicht er die Probe machen wolle, und er wählte „Die Braut von Korinth“, welches Gedicht er sehr liebe und wenigstens strophenweise auswendig zu können glaube. Zu Beginn der Reproduktion traf sich ihm eine eigentlich auffällige Unsicherheit. „Heißt es: „Von Korinthos nach Athen gezogen“, fragte er, oder „Nach Korinthos von Athen gezogen“. Auch ich war einen Moment lange schwankend, bis ich lachend bemerkte, daß der Titel des Gedichts „Die Braut von Korinth“ ja keinen Zweifel darüber lasse, welchen Weg der Jüngling ziehe. Die Reproduktion der ersten Strophe ging dann glatt oder wenigstens ohne auffällige Verfälschung vor sich. Nach der ersten Zeile der zweiten Strophe schien der Kollege eine Weile zu suchen; er setzte bald fort und rezitierte also:

"§ 72

Aber wird er auch willkommen scheinen, Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt? Denn er ist noch Heide mit den Seinen Und sie sind Christen und — getauft.

"
§ 73

Ich hatte schon vorher wie befremdet aufgehorcht; nach dem Schluß der letzten Zeile waren wir beide einig, daß hier eine Entstellung stattgefunden habe. Da es uns aber nicht gelang, dieselbe zu korrigieren, eilten wir zur Bibliothek, um Goethes Gedichte zur Hand zu nehmen und fanden zu unserer Überraschung, daß die zweite Zeile dieser Strophe einen völlig anderen Wortlaut habe, der vom Gedächtnis des Kollegen gleichsam herausgeworfen und durch etwas anscheinend fremdes ersetzt werden war. Es hieß richtig:

"§ 74

„Aber wird er auch willkommen scheinen, Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft.“

"
§ 75

Auf „erkauft“ reimte „getauft“, und es schien mir sonderbar, daß die Konstellation: Heide, Christen und getauft, ihn bei der Wiederherstellung des Textes so wenig gefördert hatte.

§ 76

„Können Sie sich erklären, fragte ich den Kollegen, daß Sie in dem Ihnen angeblich so wohl vertrauten Gedicht die Zeile so vollständig gestrichen haben, und haben Sie eine Ahnung, aus welchem Zusammenhang Sie den Ersatz holen konnten?“

§ 77

Er war imstande, Aufklärung zu geben, obwohl er es offenbar nicht sehr gerne tat. „Die Zeile: Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt, kommt mir bekannt vor; ich muß sie vor kurzem mit Bezug auf meine Praxis gebraucht haben, mit deren Aufschwung ich, wie Sie wissen, gegenwärtig sehr zufrieden bin. Wie dieser Satz aber dahinein gehört? Ich wüßte einen Zusammenhang. Die Zeile „wenn er teuer nicht die Gunst erkauft“ war mir offenbar nicht angenehm. Es hängt das mit einer Bewerbung zusammen, die ein erstes Mal abgeschlagen worden ist, und die ich jetzt mit Rücksicht auf meine sehr gebesserte materielle Lage zu wiederholen gedenke. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, aber es kann mir doch gewiß nicht lieb sein, wenn ich jetzt angenommen werde, mich daran zu erinnern, daß eine Art von Berechnung damals wie nun den Ausschlag gegeben hat.“

§ 78

Das erschien mir einleuchtend, auch ohne daß ich die näheren Umstände zu wissen brauchte. Aber ich fragte weiter: Wie kommen Sie überhaupt dazu, sich und Ihre privaten Verhältnisse in den Text der „Braut von Korinth“ zu mengen? Bestehen vielleicht in Ihrem Falle solche Unterschiede des Religionsbekenntnisses, wie sie im Gedichte zur Bedeutung kommen?

"§ 79

(Keimt ein Glaube neu, wird oft Lieb’ und Treu wie ein böses Unkraut ausgerauft.)

"
§ 80

Ich hatte nicht richtig geraten, aber es war merkwürdig zu erfahren, wie die eine wohlgezielte Frage den Mann plötzlich hellsehend machte, so daß er mir als Antwort bringen konnte, was ihm sicherlich bis dahin selbst unbekannt geblieben war. Er sah mich mit einem gequälten undauch unwilligen Blick an, murmelte eine spätere Stelle des Gedichtes vor sich hin:

"§ 81

„Sieh’ sie an genau!1)1) Morgen ist sie grau.“

"
§ 82

und fügte kurz hinzu: Sie ist etwas älter als ich. Um ihm nicht noch mehr Pein zu bereiten, brach ich die Erkundigung ab. Die Aufklärung erschien mir zureichend. Aber es war gewiß überraschend, daß die Bemühung, eine harmlose Fehlleistung des Gedächtnisses auf ihren Grund zurückzuführen, an so ferne liegende, intime und mit peinlichem Affekt besetzte Angelegenheiten des Untersuchten rühren mußte.

§ 83

Ein anderes Beispiel vom Vergessen in der Wortfolge eines bekannten Gedichtes will ich nach C. G. Jung2)2) und mit den Worten des Autors anführen.

§ 84

„Ein Herr will das bekannte Gedicht rezitieren: „Ein Fichtenbaum steht einsam usw.“ In der Zeile: „Ihn schläfert“ bleibt er rettungslos stecken, er hat „mit weißer Decke“ total vergessen. Dieses Vergessen in einem so bekannten Vers schien mir auffallend, und ich ließ ihn nun reproduzieren, was ihm zu „mit weißer Decke“ einfiel, Es entstand folgende Reihe: „Man denkt bei weißer Decke an ein Totentuch — ein Leintuch, mit dem man einen Toten zudeckt — (Pause) — jetzt fällt mir ein naher Freund ein — sein Bruder ist jüngst ganz plötzlich gestorben — er soll an einem Herzschlag gestorben sein — er war eben auch sehr korpulent — mein Freund ist auch korpulent und ich habe schon gedacht, es könnte ihm auch so gehen — er gibt sich wahrscheinlich zu wenig Bewegung — als ich von dem Todesfall hörte, ist mir plötzlich angst geworden, es könnte mir auch so gehen, da wir in unserer Familie sowieso Neigung zur Fettsucht haben, und auch mein Großvater an einem Herzschlag gestorben ist; ich finde mich auch zu korpulent und habe deshalb in diesen Tagen mit einer Entfettungskur begonnen.“

1) Der Kollege hat übrigens die schöne Stelle des Gedichts sowohl in ihrem Wortlaut wie nach ihrer Anwendung etwas abgeändert: Das gespenstische Mädchen sagt seinem Bräutigam "§ 85

„Meine Kette hab’ ich Dir gegeben; Deine Locke nehm’ ich mit mir fort. Sieh sie an genau! Morgen bist Du grau, Und nur braun erscheinst Du wieder dort.“

"
2) C. G. Jung, Über die Psychologie der Dementia praecox. 1907. Seite 64. § 86

„Der Herr hat sich also unbewußt sofort mit dem Fichtenbaum identifiziert“, bemerkt Jung, „der vom weißen Leichentuch umhüllt ist.“

§ 87

Das nachstehende Beispiel von Vergessen einer Wortfolge, das ich meinem Kollegen Dr. Ferenczi in Budapest verdanke, bezieht sich, anders als die vorigen, auf eine selbstgeprägte Rede, nicht auf einen vom Dichter übernommenen Satz. Es mag uns auch den nicht ganz gewöhnlichen Fall vorführen, daß sich das Vergessen in den Dienst unserer Besonnenheit stellt, wenn ihr die Gefahr droht, einem augenblicklichen Gelüste zu erliegen. Die Fehlleistung gelangt so zu einer nützlichen Funktion. Wenn wir wieder ernüchtert sind, geben wir dann jener inneren Strömung Recht, welche sich vorhin nur durch ein Versagen — ein Vergessen, eine psychische Impotenz — äußern konnte.

§ 88

„In einer Gesellschaft fällt das Wort „Tout comprendre c’est tout pardonner.“ Ich bemerke dazu, daß der erste Teil des Satzes genügt; das „Pardonnieren“ sei eine Überhebung, man überlasse das Gott und den Geistlichen. Ein Anwesender findet diese Bemerkung sehr gut; das macht mich verwegen und — wahrscheinlich um die gute Meinung des wohlwollenden Kritikers zu sichern — sage ich, daß mir unlängst etwas Besseres eingefallen sei. Wie ich es aber erzählen will — fällt es mir nicht ein. — Ich ziehe mich sofort zurück und schreibe die Deckeinfälle auf. — Zuerst kommt der Name des Freundes und der Straße in Budapest, die die Zeugen der Geburt jenes (gesuchten) Einfalles waren; dann der Name eines anderen Freundes, Max, den wir gewöhnlich Maxi nennen. Das führt mich zum Worte Maxime und zur Erinnerung, daß es sich damals (wie im eingangs erwähnten Falle) um die Abänderung einer bekannten Maxime handelte. Seltsamerweise fällt mir dazu nicht eine Maxime, sondern folgendes ein: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“ und dessen veränderte Fassung „der Mensch schuf Gott nach dem seinigen“. Daraufhin taucht sofort die Erinnerung an das Gesuchte ein:

§ 89

„Mein Freund sagte zu mir damals in der Andrássygasse:Nichts Menschliches ist mir fremd,“ worauf ich — auf die psychoanalytischen Erfahrungen ausspielend sagte: „Du solltest weitergehen und bekennen, daß dir nichts Tierisches fremd ist.“

§ 90

Nachdem ich aber endlich die Erinnerung an das Gesuchte hatte, konnte ich es in der Gesellschaft, in der ich mich gerade befand, erst recht nicht erzählen. Die junge Gattin des Freundes, den ich an die Animalität des Unbewußten erinnert hatte, war auch unter den Anwesenden, und ich mußte wissen, daß sie zur Kenntnisnahme solcher unerfreulicher Einsichten gar nicht vorbereitet war. Durch das Vergessen ist mir eine Reihe unangenehmer Fragen ihrerseits und eine aussichtslose Diskussion erspart worden, und gerade das muß das Motiv der „temporären Amnesie“ gewesen sein.

§ 91

„Es ist interessant, daß sich als Deckeinfall ein Satz einstellte, in dem die Gottheit zu einer menschlichen Erfindung degradiert wird, während im gesuchten Satze auf das Tierische im Menschen hingewiesen wurde. Also die Capitis diminutio ist das Gemeinsame. Das Ganze ist offenbar nur die Fortsetzung des durch das Gespräch angeregten Gedankenganges über das Verstehen und Verzeihen.“

§ 92

„Daß sich in diesem Falle das Gesuchte so rasch einstellte, verdanke ich vielleicht auch dem Umstande, daß ich mich aus der Gesellschaft, in der es zensuriert war, sofort in ein menschenleeres Zimmer zurückzog.“

§ 93

Ich habe seither zahlreiche andere Analysen in Fällen von Vergessen oder fehlerhafter Reproduktion einer Wortfolge angestellt und bin durch das übereinstimmende Ergebnis dieser Untersuchungen der Annahme geneigt worden, daß der in den Beispielen „aliquis“ und „Braut von Korinth“ nachgewiesene Mechanismus des Vergessens fast allgemeine Giltigkeit hat. Es ist meist nicht sehr bequem, solche Analysen mitzuteilen, da sie wie die vorstehend erwähnten stets zu intimen und für den Analysierten peinlichen Dingen hinleiten; ich werde die Zahl solcher Beispiele darum auch nicht weiter vermehren. Gemeinsam bleibt all diesen Fällen ohne Unterschied des Materials, daß das Vergessene oder Entstellte auf irgend einem assoziativen Wege, mit einem unbewußten Gedankeninhalt in Verbindung gebracht wird, von welchem die als Vergessen sichtbar gewordene Wirkung ausgeht. —

§ 94

Ich wende mich nun wiederum zu dem Vergessen von Namen, wovon wir bisher weder die Kasuistik noch die Motive erschöpfend betrachtet haben. Da ich gerade diese Art von Fehlleistung bei mir zu Zeiten reichlich beobachten kann, bin ich um Beispiele hierfür nicht verlegen. Die leisen Migränen, an denen ich noch immer leide, pflegen sich Stunden vorher durch Namenvergessen anzukündigen, und auf der Höhe des Zustandes, während dessen ich die Arbeit aufzugeben nicht genötigt bin, bleiben mir häufig alle eigenen Namen aus. Nun könnten gerade Fälle wie der meinige zu einer prinzipiellen Einwendung gegen unsere analytischen Bemühungen Anlaß geben. Soll man aus solchen Beobach

§ 95

tungen nicht folgern müssen, daß die Verursachung der Vergeßlichkeit und speziell des Namensvergessens in Zirkulations- und allgemeinen Funktionsstörungen des Großhirns gelegen ist, und sich darum psychologische Erklärungsversuche für diese Phänomene ersparen? Ich meine keineswegs; das hieße den in allen Fällen gleichartigen Mechanismus eines Vorgangs mit dessen variabeln und nicht notwendig erforderlichen Begünstigungen verwechseln. An Stelle einer Auseinandersetzung will ich aber ein Gleichnis zur Erledigung des Einwandes bringen.

§ 96

Nehmen wir an, ich sei so unvorsichtig gewesen, zur Nachtzeit in einer menschenleeren Gegend der Großstadt spazieren zu gehen, werde überfallen und meiner Uhr und Börse beraubt. An der nächsten Polizeiwachstelle erstatte ich dann die Meldung mit den Worten: Ich bin in dieser und jener Straße gewesen, dort haben Einsamkeit und Dunkelheit mir Uhr und Börse weggenommen. Obwohl ich in diesen Worten nichts gesagt hätte, was nicht richtig wäre, liefe ich doch Gefahr, nach dem Wortlaut meiner Meldung für nicht ganz richtig im Kopfe gehalten zu werden. Der Sachverhalt kann in korrekter Weise nur so beschrieben werden, daß von der Einsamkeit des Ortes begünstigt, unter dem Schutze der Dunkelheit unbekannte Täter mich meiner Kostbarkeiten beraubt haben. Nun denn, der Sachverhalt beim Namenvergessen braucht kein anderer zu sein; durch Ermüdung, Zirkulationsstörung und Intoxikation begünstigt raubt mir eine unbekannte psychische Macht die Verfügung über die meinem Gedächtnis zustehenden Eigennamen, dieselbe Macht, welche in anderen Fällen dasselbe Versagen des Gedächtnisses bei voller Gesundheit und Leistungsfähigkeit zustande bringen kann.

§ 97

Wenn ich die an mir selbst beobachteten Fälle von Namenvergessen analysiere, so finde ich fast regelmäßig, daß der vorenthaltene Name eine Beziehung zu einem Thema hat, welches meine Person nahe angeht, und starke, oft peinliche Affekte in mir hervorzurufen vermag. Nach der bequemen und empfehlenswerten Übung der Züricher Schule (Bleuler, Jung, Riklin) kann ich dasselbe auch in der Form ausdrücken: Der entzogene Name habe einen „persönlichen Komplex“ in mir gestreift. Die Beziehung des Namens zu meiner Person ist eine unerwartete, meist durch oberflächliche Assoziation (Wortzweideutigkeit, Gleichklang) vermittelte; sie kann allgemein als eine Seitenbeziehung gekennzeichnet werden. Einige einfache Beispiele werden die Natur derselben am Besten erläutern:

§ 98

a) Ein Patient bittet mich, ihm einen Kurort an der Riviera zu empfehlen. Ich weiß einen solchen Ort ganz nahe bei Genua, erinnere auch den Namen des deutschen Kollegen der dort praktiziert, aber den Ort selbst kann ich nicht nennen, so gut ich ihn auch zu kennen glaube. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Patienten warten zu heißen und mich rasch an die Frauen meiner Familie zu wenden. „Wie heißt doch der Ort neben Genua, wo Dr. N. seine kleine Anstalt hat, in der die und jene Frau so lange in Behandlung war?“ „Natürlich, gerade du mußtest diesen Namen vergessen. Nervi heißt er." Mit Nerven habe ich allerdings genug zu tun.

§ 99

b) Ein anderer spricht von einer nahen Sommerfrische und behauptet, es gebe dort außer den zwei bekannten ein drittes Wirtshaus, an welches sich für ihn eine gewisse Erinnerung knüpft; den Namen werde er mir sogleich sagen. Ich bestreite die Existenz dieses dritten Wirtshauses und berufe mich darauf, daß ich sieben Sommer hindurch in jenem Ort gewohnt habe, ihn also besser kennen muß als er. Durch den Widerspruch gereizt, hat er sich aber schon des Namens bemächtigt. Das Gasthaus heißt: der Hochwartner. Da muß ich freilich nachgeben, ja ich muß bekennen, daß ich sieben Sommer lang in der nächsten Nähe dieses von mir verleugneten Wirtshauses gewohnt habe. Warum sollte ich hier Namen und Sache vergessen haben? Ich meine, weil der Name gar zu deutlich an den eines Wiener Fachkollegen anklingt, wiederum den „professionellen" Komplex in mir anrührt.

§ 100

c) Ein andermal, im Begriffe auf dem Bahnhof von Reichenhall eine Fahrkarte zu lösen, will mir der sonst so sehr vertraute Name der nächsten großen Bahnstation, die ich schon so oft passiert habe, nicht einfallen. Ich muß ihn allen Ernstes auf dem Fahrplan suchen. Er lautet: Rosenheim. Dann weiß ich aber sofort, durch welche Assoziation er mir abhanden gekommen ist. Eine Stunde vorher hatte ich meine Schwester in ihrem Wohnorte ganz nahe bei Reichenhall besucht; meine Schwester heißt Rosa, also auch ein Rosenheim. Diesen Namen hat mir der „Familienkomplex“ weggenommen.

§ 101

d) Das geradezu räuberische Wirken des „Familienkomplexes" kann ich dann in einer ganzen Anzahl von Beispielen verfolgen.

§ 102

Eines Tages kam ein junger Mann in meine Ordination, jüngerer Bruder einer Patientin, den ich ungezählte Male gesehen hatte, und dessen Person ich mit dem Vornamen zu bezeichnen gewohnt war. Als ich dann von seinem Besuch erzählen wollte, hatte ich seinen, wie ich wußte, keineswegs ungewöhnlichen Vornamen vergessen und konnte ihn durch keine Hilfe zurückrufen. Ich ging dann auf die Straße, um Firmenschilder zu lesen, und erkannte den Namen, sowie er mir das erste Mal entgegentrat. Die Analyse belehrte mich darüber, daß ich zwischen dem Besucher und meinem eigenen Bruder eine Parallele gezogen hatte, die in der verdrängten Frage gipfeln wollte: Hätte sich mein Bruder im gleichen Falle ähnlich oder vielmehr entgegengesetzt benommen ? Die äußerliche Verbindung zwischen den Gedanken über die fremde und über die eigene Familie war durch den Zufall ermöglicht worden, daß die Mütter hier und dort den gleichen Vornamen: Amalia tragen. Ich verstand dann auch nachträglich die Ersatznamen: Daniel und Franz, die sich mir aufgedrängt hatten, ohne mich aufzuklären. Es sind dies, wie auch Amalia, Namen aus den Räubern von Schiller, an welche sich ein Scherz des Wiener Spaziergängers Daniel Spitzer knüpft.

§ 103

e) Ein anderes Mal kann ich den Namen eines Patienten nicht finden, der zu meinen Jugendbeziehungen gehört. Die Analyse führt über einen langen Umweg, ehe sie mir den gesuchten Namen liefert. Der Patient hatte die Angst geäußert, das Augenlicht zu verlieren; dies rief die Erinnerung an einen jungen Mann wach, der durch einen Schuß blind geworden war; daran knüpfte sich wieder das Bild eines anderen Jünglings, der sich angeschossen hatte, und dieser letztere trug denselben Namen wie der erste Patient, obwohl er nicht mit ihm verwandt war. Den Namen fand ich aber erst, nachdem mir die Übertragung einer ängstlichen Erwartung von diesen beiden juvenilen Fällen auf eine Person meiner eigenen Familie bewußt geworden war.

§ 104

Ein beständiger Strom von „Eigenbeziehung“ geht so durch mein Denken, von dem ich für gewöhnlich keine Kunde erhalte, der sich mir aber durch solches Namenvergessen verrät. Es ist, als wäre ich genötigt, alles, was ich über fremde Personen höre, mit der eigenen Person zu vergleichen, als ob meine persönlichen Komplexe bei jeder Kenntnisnahme von anderen rege würden. Dies kann unmöglich eine individuelle Eigenheit meiner Person sein; es muß vielmehr einen Hinweis auf die Art, wie wir überhaupt „Anderes“ verstehen, enthalten. Ich habe Gründe anzunehmen, daß es bei anderen Individuen ganz ähnlich zugeht wie bei mir.

§ 105

Das Schönste dieser Art hat mir als eigenes Erlebnis ein Herr Lederer berichtet. Er traf auf seiner Hochzeitsreise in Venedig mit einem ihm oberflächlich bekannten Herrn zusammen, den er seiner jungen Frau vorstellen mußte. Da er aber den Namen des Fremden vergessen hatte, half er sich das erste Mal mit einem unverständlichen Gemurmel. Als er dann dem Herrn, wie in Venedig unausweichlich, ein zweites Mal begegnete, nahm er ihn beiseite und bat ihn, ihm doch aus der Verlegenheit zu helfen, indem er ihm seinen Namen sage, den er leider vergessen habe. Die Antwort des Fremden zeugte von überlegener Menschenkenntnis: Ich glaube es gerne, daß Sie sich meinen Namen nicht gemerkt haben. Ich heiße wie Sie: Lederer! — Man kann sich einer leicht unangenehmen Empfindung nicht erwehren, wenn man seinen eigenen Namen bei einem Fremden wiederfindet. Ich verspürte sie unlängst recht deutlich, als sich mir in der ärztlichen Sprechstunde ein Herr S. Freud vorstellte. Übrigens nehme ich Notiz von der Versicherung eines meiner Kritiker, daß er sich in diesem Punkte entgegengesetzt wie ich verhalte.

§ 106

f) Die Wirksamkeit der Eigenbeziehung erkennt man auch in folgendem, von Jung1)1) mitgeteilten Beispiel:

§ 107

„Ein Herr Y. verliebte sich erfolglos in eine Dame, welche bald darauf einen Herrn X. heiratete. Trotzdem nun Herr Y. den Herrn X. schon seit geraumer Zeit kennt und sogar in geschäftlichen Verbindungen mit ihm steht, vergißt er immer und immer wieder dessen Namen, so daß er sich mehrere Male bei anderen Leuten danach erkundigen mußte, als er mit Herrn X. korrespondieren wollte.“

§ 108

Indeß ist die Motivierung des Vergessens in diesem Falle durchsichtiger als in den vorigen, welche unter der Konstellation der Eigenbeziehung stehen. Das Vergessen scheint hier direkte Folge der Abneigung des Herrn Y. gegen seinen glücklicheren Rivalen; er will nichts von ihm wissen; „nicht gedacht soll seiner werden.“

§ 109

g) Auf etwas anderem Wege führte die Eigenbeziehung zum Vergessen eines Namens in dem folgenden von Ferenczi mitgeteilten Falle, dessen Analyse besonders durch die Aufklärung der Ersatzeinfälle (wie Botticelli — Boltraffio zu Signorelli) lehrreich wird.

§ 110

„Einer Dame, die etwas von Psychoanalyse gehört hat, will der Name des Psychiaters Jung nicht einfallen.“

§ 111

„Dafür stellen sich folgende Einfälle ein: Kl. (ein Name) — Wilde — Nietzsche — Hauptmann.“

§ 112

„Ich sage ihr den Namen nicht und fordere sie auf, an jeden einzelnen Einfall frei zu assoziieren.“

§ 113

„Bei Kl. denkt sie sofort an Frau Kl., und daß sie eine gezierte, affektierte Person sei, die aber für ihr Alter sehr gut aussehe. „Sie wird nicht alt.“ Als gemeinsamen Oberbegriff von Wilde und Nietzsche nennt sie „Geisteskrankheit“. Dann sagt sie spöttisch: „Sie Freudianer werden so lange die Ursachen der Geisteskrankheiten suchen, bis sie selbst geisteskrank werden.“ Dann: „Ich kann Wilde und Nietzsche nicht ausstehen. Ich verstehe sie nicht. Ich höre, sie waren beide homosexuell; Wilde hat sich mit jungen Leuten abgegeben.“ (Trotzdem sie in diesem Satze den richtigen Namen — allerdings ungarisch — schon ausgesprochen hat, kann sie sich dessen immer noch nicht erinnern.)“

1) Dementia praecox, p. 52. § 114

„Zu Hauptmann fällt ihr Halbe, dann Jugend ein, und jetzt erst, nachdem ich ihre Aufmerksamkeit auf das Wort Jugend lenke, weiß sie, daß sie den Namen Jung gesucht hat.

§ 115

„Allerdings hat diese Dame, die im Alter von 39 Jahren den Gatten verlor und keine Aussicht hat, sich wieder zu verheiraten, Grund genug, der Erinnerung an alles, was an Jugend oder Alter gemahnt, auszuweichen. Auffalend ist die rein inhaltliche Assoziierung der Deck-Einfälle zu dem gesuchten Namen und das Fehlen von Klangassoziationen.“

§ 116

h) Noch anders und sehr fein motiviert ist ein Beispiel von Namenvergessen, welches sich der Betreffende selbst aufgeklärt hat:

§ 117

„Als ich Prüfung aus Philosophie als Nebengegenstand machte, wurde ich vom Examinator nach der Lehre Epikurs gefragt, und dann weiter, ob ich wisse, wer dessen Lehre in späteren Jahrhunderten wieder aufgenommen habe. Ich antwortete mit dem Namen Pierre Gassendi, den ich gerade zwei Tage vorher im Café als Schüler Epikurs hatte nennen hören. Auf die erstaunte Frage, woher ich das wisse, gab ich kühn die Antwort, daß ich mich seit Langem für Gassendi interessiert habe. Daraus ergab sich ein magna cum laude fürs Zeugnis, aber leider auch für später eine hartnäckige Neigung, den Namen Gassendi zu vergessen. Ich glaube, mein schlechtes Gewissen ist schuld daran, wenn ich diesen Namen allen Bemühungen zum Trotz jetzt nicht behalten kann. Ich hätte ihn ja auch damals nicht wissen sollen.“

§ 118

Will man die Intensität der Abneigung gegen die Erinnerung an diese Prüfungsepisode bei unserem Gewährsmann richtig würdigen, so muß man erfahren haben, wie hoch er seinen Doktortitel anschlägt, und für wieviel anderes ihm dieser Ersatz bieten muß.

§ 119

Ich schalte hier noch ein Beispiel von Vergessen eines Städtenamens ein, welches vielleicht nicht so einfach ist wie die vorher angeführten, aber jedem mit solchen Untersuchungen vertrauteren glaubwürdig und wertvoll erscheinen wird. Der Name einer italienischen Stadt entzieht sich der Erinnerung infolge seiner weitgehenden Klangähnlichkeit mit einem weiblichen Vornamen, an den sich vielerlei affektvolle, in der Mitteilung wohl nicht erschöpfend ausgeführte Erinnerungen knüpfen. Herr Dr. S. Ferenczi (Budapest), der diesen Fall von Vergessen an sich selbst beobachtete, hat ihn behandelt, wie man einen Traum oder eine neurotische Idee analysiert, und dies gewiß mit Recht.

§ 120

„Ich war heute bei einer befreundeten Familie; es kamen oberitalienische Städte zur Sprache. Da erwähnt jemand, daß diese den österreichischen Einfluß noch erkennen lassen. Man zitiert einige dieser Städte; auch ich will eine nennen, ihr Name fällt mir aber nicht ein, obzwar ich weiß, daß ich dort zwei sehr angenehme Tage verlebte, was nicht gut zu Freud's Theorie des Vergessens stimmt. — Statt des gesuchten Städtenamens drängen sich mir folgende Einfälle auf: „Capua.“ — „Brescia.“ — „Der Löwe von Brescia.“

§ 121

„Diesen „Löwen“ sehe ich in Gestalt einer Marmorstatue wie gegenständlich vor mir stehen, merke aber sofort, daß er weniger dem Löwen auf dem Freiheitsdenkmal zu Brescia (das ich nur im Bild gesehen habe), als jenem anderen marmornen Löwen ähnelt, den ich am Grabdenkmal der in den Tuillerien gefallenen Schweizer Garde in Luzern gesehen habe, und dessen Reproduktion en miniature auf meinem Bücherschrank steht. Endlich fällt mir der gesuchte Name doch ein: es ist Verona.“

§ 122

„Ich weiß auch sofort, wer an dieser Amnesie schuld war. Niemand anderer als eine frühere Bedienstete der Familie, bei der ich gerade zu Gaste war. Sie hieß Veronika, auf ungarisch Verona, und war mit wegen ihrer abstoßenden Physiognomie wie auch wegen ihrer heiseren, kreischenden Stimme und unleidlichen Konfidenz (wozu sie sich durch die lange Dienstzeit berechtigt glaubte) sehr antipathisch. Auch die tyrannische Art, wie sie seinerzeit die Kinder des Hauses behandelte, war mir unausstehlich. Nun wußte ich auch, was die Ersatzeinfälle bedeuteten.“

§ 123

„An Capua assoziiere ich sofort caput mortuum. Ich verglich Veronikas Kopf sehr oft mit einem Totenschädel. — Das ungarische Wort kapzoi (geldgierig) gab sicher auch eine Determinierung für die Verschiebung her. Natürlich finde ich auch jene viel direkteren Assoziationswege, die Capua und Verona als geographische Begriffe und als italienische Worte mit gleichem Rhythmus miteinander verbinden.“

§ 124

„Das gleiche gilt von Brescia; aber auch hier finden sich verschlungenere Seitenwege der Ideenverknüpfung.“

§ 125

„Meine Antipathie war seinerzeit so heftig, daß ich Veronika förmlich ekelhaft fand und mehrere Male mein Erstaunen darüber äußerte, daß sie doch ein Liebesleben haben und geliebt werden konnte; „sie zu küssen“ — sagte ich — „muß ja einen Brechreiz hervorrufen. Und doch war sie sicher längst in Beziehung zu bringen zur Idee der gefallenen Schweizer Garde.“

§ 126

„Brescia wird, wenigstens hier in Ungarn, nicht mit dem Löwen, sondern einem anderen wilden Tier zusammen sehr oft genannt. Der bestgehaßte Name in diesem Lande wie auch in Oberitalien ist der des Generals Haynau, der kurzwegs die Hyäne von Brescia genannt wird. Vom gehaßten Tyrannen Haynau führt also der eine Gedankenfaden über Brescia zur Stadt Verona, der andere über die Idee des Totengräbertieres mit der heiseren Stimme (der das Auftauchen eines Grabdenkmals mitbestimmt) zum Totenschädel und zum unangenehmen Organ der durch mein Unbewußtes so arg beschimpften Veronika, die seinerzeit in diesem Hause beinahe so tyrannisch gehaust hat wie der österreichische General nach den ungarischen und italienischen Freiheitskämpfen.“

§ 127

„An Luzern knüpft sich der Gedanke an den Sommer, den Veronika mit ihrer Dienstherrschaft beim Vierwaldstätter See in der Nähe von Luzern verbrachte; an die „Schweizer Garde“ wiederum die Erinnerung, daß sie nicht nur die Kinder, sondern auch die erwachsenen Mitglieder der Familie zu tyrannisieren verstand und sich in der Rolle der Garde-Dame gefiel.“

§ 128

„Ich bemerke ausdrücklich, daß diese meine Antipathie gegen V. — bewußt — zu den längst überwundenen Dingen gehört. Sie hat sich inzwischen äußerlich wie in ihren Manieren sehr zu ihrem Vorteile verändert, und ich kann ihr (wozu ich allerdings selten Gelegenheit habe) mit aufrichtiger Freundlichkeit begegnen. Mein Unbewußtes hält, wie gewöhnlich, zäher an der Eindrücken fest, es ist „nachträglich“ und nachtragend.“

§ 129

„Die Tuillerien sind eine Anspielung auf eine zweite Persönlichkeit, eine ältere französische Dame, die die Frauen des Hauses bei vielen Anlässen tatsächlich „gardiert“ hat, und die von Groß und Klein geachtet — wohl ein wenig auch gefürchtet wird. Ich war eine zeitlang ihr élève in französischer Konversation. Zum Wort „élève“ fällt mir noch ein, daß, als ich beim Schwager meines heutigen Gastgebers in Nordböhmen auf Besuch war, ich viel darüber lachen mußte, daß die dortige Landbevölkerung die Elèven der dortigen Forstakademie konsequent „Löwen“ nannte. Auch diese lustige Erinnerung mag an der Verschiebung von der Hyäne zum Löwen beteiligt gewesen sein.“

§ 130

Ich könnte die Beispiele von Namenvergessen vermehren und die Diskussion derselben sehr viel weiter führen, wenn ich nicht vermeiden wollte, fast alle Gesichtspunkte, die für spätere Themata in Betracht kommen, schon hier beim ersten zu erörtern. Doch darf ich mir gestatten, die Ergebnisse der hier mitgeteilten Analysen in einigen Sätzen zusammenzufassen:

§ 131

Der Mechanismus des Namenvergessens (richtiger: des Entfallens, zeitweiligen Vergessens) besteht in der Störung der intendierten Reproduktion des Namens durch eine fremde und derzeit nicht bewußte Gedankenfolge. Zwischen dem gestörten Namen und dem störenden Komplex besteht entweder ein Zusammenhang von vorne herein, oder ein solcher hat sich, oft auf gekünstelt erscheinenden Wegen, durch oberflächliche (äußerliche Assoziationen) hergestellt.

§ 132

Unter den störenden Komplexen erweisen sich die der Eigenbeziehung (die persönlichen, familiären, beruflichen) als die wirksamsten.

§ 133

Ein Name, der infolge von Mehrdeutigkeit mehreren Gedankenkreisen (Komplexen) angehört, wird häufig im Zusammenhange der einen Gedankenfolge durch seine Zugehörigkeit zum anderen, stärkeren Komplex gestört.

§ 134

Unter den Motiven dieser Störungen leuchtet die Absicht hervor, die Erweckung von Unlust durch Erinnern zu vermeiden.

§ 135

Man kann im allgemeinen zwei Hauptfälle des Namenvergessens unterscheiden, wenn der Name selbst an Unangenehmes rührt, oder wenn er mit anderem in Verbindung gebracht ist, dem solche Wirkung zukäme, so daß Namen um ihrer selbst willen oder wegen ihrer näheren oder entfernteren Assoziationsbeziehungen in der Reproduktion gestört werden können.

§ 136

Ein Überblick dieser allgemeinen Sätze läßt uns verstehen, daß das zeitweilige Namenvergessen als die häufigste unserer Fehlleistungen zur Beobachtung kommt.

§ 137

Wir sind indeß weit davon entfernt, alle Eigentümlichkeiten dieses Phänomens verzeichnet zu haben. Ich will noch darauf hinweisen, daß das Namenvergessen in hohem Grade ansteckend ist. In einem Gespräche zweier Personen reicht es oft hin, daß die eine äußere, sie habe diesen oder jenen Namen vergessen, um ihn auch bei der zweiten Person entfallen zu lassen. Doch stellt sich dort, wo das Vergessen induziert ist, der vergessene Name leicht wieder ein.

§ 138

§ 139

Es kommt auch ein fortgesetztes Namenvergessen vor, in dem ganze Ketten von Namen dem Gedächtnis entzogen werden. Hascht man, um einen entfallenen Namen wiederzufinden, nach anderen, mit denen jener in fester Bindung steht, so entfliehen nicht selten auch diese neuen als Anhalt aufgesuchten Namen. Das Vergessen springt so von einem Namen zum andern über, wie um die Existenz eines nicht leicht zu beseitigenden Hindernisses zu beweisen.

§ 140

IV.

§ 141

Über Kindheits- und Deckerinnerungen.

§ 142

In einer zweiten Abhandlung (1899 in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie veröffentlicht) habe ich die tendenziöse Natur unseres Erinnerns an unvermuteter Stelle nachweisen können. Ich bin von der auffälligen Tatsache ausgegangen, daß die frühesten Kindheitserinnerungen einer Person häufig bewahrt zu haben scheinen, was gleichgültig und nebensächlich ist, während von wichtigen, eindrucksvollen und affektreichen Eindrücken dieser Zeit (häufig, gewiß nicht allgemein!) sich im Gedächtnis der Erwachsenen keine Spur vorfindet. Da es bekannt ist, daß das Gedächtnis unter den ihm dargebotenen Eindrücken eine Auswahl trifft, stände man hier vor der Annahme, daß diese Auswahl im Kindesalter nach ganz anderen Prinzipien vor sich geht als zur Zeit der intellektuellen Reife. Eingehende Untersuchung weist aber nach, daß diese Annahme überflüssig ist. Die indifferenten Kindheitserinnerungen verdanken ihre Existenz einem Verschiebungsvorgang; sie sind der Ersatz in der Reproduktion für andere wirklich bedeutsame Eindrücke, deren Erinnerung sich durch psychische Analyse aus ihnen entwickeln läßt, deren direkte Reproduktion aber durch einen Widerstand gehindert ist. Da sie ihre Erhaltung nicht dem eigenen Inhalt, sondern einer assoziativen Beziehung ihres Inhaltes zu einem anderen, verdrängten, verdanken, haben sie auf den Namen „Deckerinnerungen“, mit welchem ich sie ausgezeichnet habe, begründeten Anspruch.

§ 143

Die Mannigfaltigkeiten in den Beziehungen und Bedeutungen der Deckerinnerungen habe ich in dem erwähnten Aufsatze nur gestreift, keineswegs erschöpft. An dem dort ausführlich analysierten Beispiel habe ich eine Besonderheit der zeitlichen Relation zwischen der Deckerinnerung und dem durch sie gedeckten Inhalt besonders hervor gehoben. Der Inhalt der Deckerinnerung gehörte dort nämlich einem der ersten Kinderjahre an, während die durch sie im Gedächtnis vertretenen Gedankenerlebnisse, die fast unbewußt geblieben waren, in späte Jahre des Betreffenden fielen. Ich nannte diese Art der Verschiebung eine rückgreifende oder rückläufige. Vielleicht noch häufiger begegnet man dem entgegengesetzten Verhältnis, daß ein indifferenter Eindruck der jüngsten Zeit sich als Deckerinnerung im Gedächtnis festsetzt, der diese Auszeichnung nur der Verknüpfung mit einem früheren Erlebnis verdankt, gegen dessen direkte Reproduktion sich Widerstände erheben. Dies wären vorgreifende oder vorgeschobene Deckerinnerungen. Das Wesentliche, was das Gedächtnis bekümmert, liegt hier der Zeit nach hinter der Deckerinnerung. Endlich wird der dritte noch mögliche Fall nicht vermißt, daß die Deckerinnerung nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch Kontiguität in der Zeit mit dem von ihr gedeckten Eindruck verknüpft ist, also die gleichzeitige oder anstoßende Deckerinnerung.

§ 144

Ein wie großer Teil unseres Gedächtnisschatzes in die Kategorie der Deckerinnerungen gehört, und welche Rolle bei verschiedenen neurotischen Denkvorgängen diesen zufällt, das sind Probleme, in deren Würdigung ich weder dort eingegangen bin, noch hier eintreten werde. Es kommt mir nur darauf an, die Gleichartigkeit zwischen dem Vergessen von Eigennamen mit Fehlerinnern und der Bildung der Deckerinnerungen hervorzuheben.

§ 145

Auf den ersten Anblick sind die Verschiedenheiten der beiden Phänomene weit auffälliger als ihre etwaigen Analogien. Dort handelt es sich um Eigennamen, hier um komplette Eindrücke, um entweder in der Realität oder in Gedanken Erlebtes; dort um ein manifestes Versagen der Erinnerungsfunktion, hier um eine Erinnerungsleistung, die uns befremdend erscheint; dort um eine momentane Störung — denn der eben vergessene Name kann vorher hundert Male richtig reproduziert worden sein und es von morgen an wieder werden —, hier um dauernden Besitz ohne Ausfall, denn die indifferenten Kindheitserinnerungen scheinen uns durch ein langes Stück unseres Lebens begleiten zu können. Das Rätsel scheint in diesen beiden Fällen ganz anders orientiert zu sein. Dort ist es das Vergessen, hier das Merken, was unsere wissenschaftliche Neugierde rege macht. Nach einiger Vertiefung merkt man, daß trotz der Verschiedenheit im psychischen Material und in der Zeitdauer der beiden Phänomene die Übereinstimmungen weit überwiegen. Es handelt sich hier wie dort um das Fehlgehen des Erinnerns; es wird nicht das vom Gedächtnis reproduziert, was korrekterweise reproduziert werden sollte, sondern etwas anderes zum Ersatz. Dem Falle des Namenvergessens fehlt nicht die Gedächtnisleistung in der Form der Ersatznamen. Der Fall der Deckerinnerungsbildung beruht auf dem Vergessen von anderen, wesentlichen Eindrücken. In beiden Fällen gibt uns eine intellektuelle Empfindung Kunde von der Einmengung einer Störung, nur jedesmal in anderer Form. Beim Namenvergessen wissen wir, daß die Ersatznamen falsch sind; bei den Deckerinnerungen verwundern wir uns, daß wir sie überhaupt besitzen. Wenn dann die psychologische Analyse nachweist, daß die Ersatzbildung in beiden Fällen auf die nämliche Weise durch Verschiebung längs einer oberflächlichen Assoziation zustande gekommen ist, so tragen gerade die Verschiedenheiten im Material, in der Zeitdauer und in der Zentrierung der beiden Phänomene dazu bei, unsere Erwartung zu steigern, daß wir etwas Wichtiges und Allgemeingültiges aufgefunden haben. Dieses Allgemeine würde lauten, daß das Versagen und Irregehen der reproduzierenden Funktion weit häufiger, als wir vermuten, auf die Einmengung eines parteiischen Faktors, einer Tendenz hinweist, welche die eine Erinnerung begünstigt, während sie einer anderen entgegenzuarbeiten bemüht ist.

§ 146

Das Thema der Kindheitserinnerungen erscheint mir so bedeutsam und interessant, daß ich ihm noch einige Bemerkungen widmen möchte, die über die bisherigen Gesichtspunkte hinausgehen.

§ 147

Wie weit zurück in die Kindheit reichen die Erinnerungen? Es sind mir einige Untersuchungen über diese Frage bekannt, so von V. et C. Henri1)1) und Potwin2)2); dieselben ergeben, daß große individuelle Verschiedenheiten bei den Untersuchten bestehen, indem einzelne ihre erste Erinnerung in den 6. Lebensmonat verlegen, andere von ihrem Leben bis zum vollendeten, sechsten, ja achten Lebensjahr nichts wissen. Aber womit hängen diese Verschiedenheiten im Verhalten der Kindheitserinnerungen zusammen, und welche Bedeutung kommt ihnen zu? Es ist offenbar nicht ausreichend, das Material für diese Fragen durch Sammelerkundigung herbeizuschaffen; es bedarf dann noch einer Bearbeitung desselben, an der die auskunftgebende Person beteiligt sein muß.

§ 148

Ich meine, wir nehmen die Tatsache der infantilen Amnesie, des Ausfalls der Erinnerungen für die ersten Jahre unseres Lebens viel zu gleichmütig hin, und versäumen es, ein seltsames Rätsel in ihr zu finden. Wir vergessen, welch hoher intellektueller Leistungen und wie komplizierter Gefühlserregungen ein Kind von etwa vier Jahren fähig ist, und sollten uns geradezu verwundern, daß das Gedächtnis späterer Jahre von diesen seelischen Vorgängen in der Regel so wenig bewahrt hat, zumal da wir allen Grund zur Annahme haben, daß diese selben vergessenen Kindheitsleistungen nicht etwa spurlos an der Entwicklung der Person abgeglitten sind, sondern einen für alle späteren Zeiten bestimmenden Einfluß ausgeübt haben. Und trotz dieser unvergleichlichen Wirksamkeit sind sie vergessen worden! Es weist dies auf ganz speziell geartete Bedingungen des Erinnerns (im Sinne der bewußten Reproduktion) hin, die sich unserer Erkenntnis bisher entzogen haben. Es ist sehr wohl möglich, daß das Kindheitsvergessen uns den Schlüssel zum Verständnis jener Amnesien liefern kann, die nach unseren neueren Erkenntnissen der Bildung aller neurotischen Symptome zugrunde liegen.

1) Enquëte sur les premiers souveniers de l’enfance. L’année psychologique, III, 1897. 2) Study of early memories. Psycholog. Review, 1901 § 149

Von den erhaltenen Kindheitserinnerungen erscheinen uns einige gut begreiflich, andere befremdend oder unverständlich. Es ist nicht schwer, einige Irrtümer inbetreff beider Arten zu berichtigen. Unterzieht man die erhaltenen Erinnerungen eines Menschen einer analytischen Prüfung, so kann man leicht feststellen, daß eine Gewähr für die Richtigkeit derselben nicht besteht. Einige der Erinnerungsbilder sind sicherlich gefälscht, unvollständig, oder zeitlich und räumlich verschoben. Die Angaben der untersuchten Personen wie, ihre erste Erinnerung rühre etwa aus dem zweiten Lebensjahr her, sind offenbar unverläßlich. Es gelingt bald auch Motive zu finden, welche die Entstellung und Verschiebung des Erlebten verständlich machen, aber auch beweisen daß nicht einfache Gedächtnisuntreue die Ursache dieser Erinnerungsfehler sein kann. Starke Mächte aus der späteren Lebenszeit haben die Erinnerungsfähigkeit der Kindheitserlebnisse gemodelt, dieselben Mächte wahrscheinlich, an denen es liegt, daß wir uns allgemein dem Verständnis unserer Kindheitsjahre so weit entfremdet haben.

§ 150

Das Erinnern der Erwachsenen geht bekanntlich an verschiedenem psychischen Material vor sich. Die einen erinnern in Gesichtsbildern, ihre Erinnerungen haben visuellen Charakter; andere Individuen können kaum die dürftigsten Umrisse des Erlebten in der Erinnerung reproduzieren; man nennt solche Personen „Auditifs“ und „Moteurs“ im Gegensatz zu den „Visuels“ nach Charcots Vorschlag. Im Träumen verschwinden diese Unterschiede, wir träumen alle in vorwiegenden Gesichtsbildern. Aber ebenso bildet sich diese Entwicklung für die Kindheitserinnerungen zurück; diese sind plastisch visuell auch bei jenen Personen, deren späteres Erinnern des visuellen Elementes entbehren muß. Das visuelle Erinnern bewahrt somit den Typus des infantilen Erinnerns. Bei mir sind die frühesten Kindheitserinnerungen die einzigen von visuellem Charakter; es sind geradezu plastisch herausgearbeitete Szenen, nur den Darstellungen auf der Bühne vergleichbar. In diesen Szenen aus der Kindheit, ob sie sich nun als wahr oder als verfälscht erweisen, sieht man regelmäßig auch die eigene kindliche Person in ihren Umrissen und mit ihrer Kleidung. Dieser Umstand muß Befremden erregen; erwachsene Visuelle sehen nicht mehr ihre Person in ihren Erinnerungen an spätere Erlebnisse1)1). Es widerspricht auch allen unseren Erfahrungen anzunehmen, daß die Aufmerksamkeit des Kindes bei seinen Erlebnissen auf sich selbst anstatt ausschließlich auf die äußeren Eindrücke gerichtet wäre. Man wird so von verschiedenen Seiten her zur Vermutung gedrängt, daß wir in den sog. frühesten Kindheitserinnerungen nicht die wirkliche Erinnerungsspur, sondern eine spätere Bearbeitung derselben besitzen, eine Bearbeitung, welche die Einflüsse mannigfacher späterer psychischer Mächte erfahren haben mag. Die „Kindbeitserinnerungen“ der Individuen rücken so ganz allgemein zur Bedeutung von „Deckerinnerungen“ vor und gewinnen dabei eine bemerkenswerte Analogie mit den in Sagen und Mythen niedergelegten Kindheitserinnerungen der Völker.

§ 151

Wer eine Anzahl von Personen mit der Methode der Psychoanalyse seelisch untersucht hat, hat bei dieser Arbeit reichlich Beispiele von Deckerinnerungen jeder Art gesammelt. Die Mitteilung dieser Beispiele wird aber gerade durch die vorhin erörterte Natur der Beziehungen der Kindheitserinnerungen zum späteren Leben außerordentlich erschwert; um eine Kindheitserinnerung als Deckerinnerung würdigen zu lassen, müßte man oft die ganze Lebensgeschichte der betreffenden Person zur Darstellung bringen. Es ist nur selten, wie im nachstehenden hübschen Beispiel möglich, eine einzelne Kindheitserinnerung aus ihrem Zusammenhange für die Mitteilung herauszuheben.

§ 152

Ein 24 jähriger Mann hat folgendes Bild aus seinem 5. Lebensjahr bewahrt. Er sitzt im Garten eines Sommerhauses auf einem Stühlchen neben der Tante, die bemüht ist, ihm die Kenntnis der Buchstaben beizubringen. Die Unterscheidung von m und n bereitet ihm Schwierigkeiten, und er bittet die Tante, ihm doch zu sagen, woran man erkennt, was das eine und was das andere ist. Die Tante macht ihn aufmerksam, daß das m doch um ein ganzes Stück, um den dritten Strich mehr habe als das n. — Es fand sich kein Anlaß, die Zuverlässigkeit dieser Kindheitserinnerung zu bestreiten; ihre Bedeutung hatte sie aber erst später erworben, als sie sich geeignet zeigte, die symbolische Vertretung für eine andere Wißbegierde des Knaben zu übernehmen. Denn, so wie er damals den Unterschied zwischen m und n wissen wollte, so bemühte er sich später, den Unterschied zwischen Knaben und Mädchen zu erfahren, und wäre gewiß einverstanden gewesen, daß gerade diese Tante seine Lehrmeisterin werde. Er fand dann auch heraus, daß der Unterschied ein ähnlicher sei, daß der Bub wiederum ein ganzes Stück mehr habe als das Mädchen, und zur Zeit dieser Erkenntnis weckte er die Erinnerung an die entsprechende kindliche Wißbegierde.

1) Ich behaupte dies nach einigen von mir eingeholten Erkundigungen. § 153

An einem einzigen Beispiel möchte ich noch zeigen, welchen Sinn eine Kindheitserinnerung durch analytische Bearbeitung gewinnen kann, die vorher keinen Sinn zu enthalten schien. Als ich in meinem 43. Jahr begann, mein Interesse den Resten der Erinnerung an die eigene Kindheit zuzuwenden, fiel mir eine Szene auf, die mir seit langem — wie ich meinte, seit jeher — von Zeit zu Zeit zum Bewußtsein gekommen war, und die nach guten Merkzeichen vor das vollendete dritte Lebensjahr verlegt werden durfte. Ich sah mich fordernd und heulend vor einem Kasten stehen, dessen Türe mein um 20 Jahre älterer Halbbruder geöffnet hielt, und dann trat plötzlich meine Mutter, schön und schlank, wie von der Straße zurückkehrend ins Zimmer. In diese Worte hatte ich die plastisch gesehene Szene gefaßt, mit der ich sonst nichts anzufangen wußte. Ob mein Bruder den Kasten — in der ersten Übersetzung des Bildes hieß es „Schrank“ — öffnen oder schließen wollte, warum ich dabei weinte, und was die Ankunft der Mutter damit zu tun habe, das alles war mir dunkel; ich war versucht, mir die Erklärung zu geben, daß es sich um die Erinnerung an eine Hänselei des älteren Bruders handle, die durch die Mutter unterbrochen wurde. Solche Mißverständnisse einer im Gedächtnis bewahrten Kindheitsszene sind nichts Seltenes; man erinnert sich einer Situation, aber dieselbe ist nicht zentriert, man weiß nicht, auf welches Element derselben der psychische Akzent zu setzen ist. Analytische Bemühung führte mich zu einer ganz unerwarteten Auffassung des Bildes. Ich hatte die Mutter vermißt, war auf den Verdacht gekommen, daß sie in diesem Schrank oder Kasten eingesperrt sei, und forderte darum den Bruder auf, den Kasten aufzusperren. Als er mir willfahrte und ich mich überzeugte, die Mutter sei nicht im Kasten, fing ich zu schreien an; dies ist der von der Er innerung festgehaltene Moment, auf den alsbald das meine Sorge oder Sehnsucht beschwichtigende Erscheinen der Mutter folgte. Wie kam aber das Kind zu der Idee, die abwesende Mutter im Kasten zu suchen? Gleichzeitige Träume wiesen dunkel auf eine Kinderfrau hin, von welcher noch andere Reminiszenzen erhalten waren, wie z. B. daß sie mich gewissenhaft anzuhalten pflegte, ihr die kleinen Münzen abzuliefern, die ich als Geschenke erhalten hatte, ein Detail, das selbst wieder auf den Wert einer Deckerinnerung für Späteres Anspruch machen kann. So beschloß ich denn, mir diesmal die Deutungsaufgabe zu erleichtern, und meine jetzt alte Mutter nach jener Kinderfrau zu befragen. Ich erfuhr allerlei, darunter, daß die kluge aber unredliche Person während des Wochenbettes der Mutter große Hausdiebstähle verübt hatte und auf Betreiben meines Halbbruders dem Gericht übergeben worden sei. Diese Auskunft gab mir das Verständnis der Kinderszene wie durch eine Art von Erleuchtung. Das plötzliche Verschwinden der Kinderfrau war mir nicht gleichgültig gewesen; ich hatte mich gerade an diesen Bruder mit der Frage gewendet, wo sie sei, wahrscheinlich, weil ich gemerkt hatte, daß ihm eine Rolle bei ihrem Verschwinden zukomme, und er hatte ausweichend und wortspielerisch, wie seine Art noch heute ist, geantwortet: sie ist „eingekastelt“. Diese Antwort verstand ich nun nach kindlicher Weise, ließ aber zu fragen ab, weil nichts mehr zu erfahren war. Als mir nun kurze Zeit darauf die Mutter abging, argwöhnte ich, der schlimme Bruder habe mit ihr dasselbe angestellt wie mit der Kinderfrau und nötigte ihn, mir den Kasten zu öffnen. Ich verstehe nun auch, warum in der Übersetzung der visuellen Kinderszene die Schlankheit der Mutter betont ist, die mir als neu wiederhergestellt aufgefallen sein muß. Ich bin 2½ Jahre älter als die damals geborene Schwester, und als ich 3 Jahre alt wurde, fand das Zusammenleben mit dem Halbbruder ein Ende.

§ 154

V.

§ 155

Das Versprechen.

§ 156

Wenn das gebräuchliche Material unserer Rede in der Muttersprache gegen das Vergessen geschützt erscheint, so unterliegt dessen Anwendung um so häufiger einer anderen Störung, die als „Versprechen“ bekannt ist. Das beim normalen Menschen beobachtete Versprechen macht den Eindruck der Vorstufe für die unter pathologischen Bedingungen auftretenden sogenannter „Paraphasien.“

§ 157

Ich befinde mich hier in der ausnahmsweisen Lage, eine Vorarbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben Meringer und C. Mayer eine Studie über „Versprechen und Verlesen“ publiziert, an deren Gesichtspunkte die meinigen nicht heranreichen. Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist nämlich Sprachforscher und ist von linguistischen Interessen zur Untersuchung veranlaßt worden, den Regeln nachzugehen, nach denen man sich verspricht. Er hoffte, aus diesen Regeln auf das Vorhandensein „ "eines gewissen geistigen Mechanismus" “ schließen zu können, „ "in welchem die Laute eines Wortes, eines Satzes, und auch die Worte untereinander in ganz eigentümlicher Weise verbunden und verknüpft sind" “ (S. 10).

§ 158

Die Autoren gruppieren die von ihnen gesammelten Beispiele des „Versprechens“ zunächst nach rein deskriptiven Gesichtspunkten als Vertauschungen (z. B. die Milo von Venus anstatt Venus von Milo), Vorklänge oder Antizipationen (z. B. es war mir auf der Schwest ... auf der Brust so schwer), Nachklänge, Postpositionen (z. B. „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen“ für anzustoßen), Kontaminationen (z. B. „Er setzt sich auf den Hinterkopf“ aus: „Er setzt sich einen Kopf auf“ und: „Er stellt sich auf die Hinterbeine“), Substitutionen (z. B. „Ich gebe die Präparate in den Briefkasten“ statt Brütkasten), zu welchen Hauptkategorieen noch einige minder wichtige (oder für unsere Zwecke minder bedeutsame) hinzugefügt werden. Es macht bei dieser Gruppierung keinen Unterschied, ob die Umstellung, Entstellung, Verschmelzung usw. einzelne Laute des Wortes, Silben oder ganze Worte des intendierten Satzes betrifft.

§ 159

Zur Erklärung der beobachteten Arten des Versprechens stellt Meringer eine verschiedene psychische Wertigkeit der Sprachlaute auf. Wenn wir den ersten Laut eines Wortes, das erste Wort eines Satzes innervieren, wendet sich der Erregungsvorgang bereits den späteren Lauten, den folgenden Worten zu, und soweit diese Innervationen miteinander gleichzeitig sind, können sie einander abändernd beeinflussen. Die Erregung des psychisch intensiveren Lautes klingt vor oder hallt nach und stört so den minderwertigen Innervationsvorgang. Es handelt sich nun darum, zu bestimmen, welche die höchstwertigen Laute eines Wortes sind. Meringer meint: „ "Wenn man wissen will, welchem Laute eines Wortes die höchste Intensität zukommt, so beobachte man sich beim Suchen nach einem vergessenen Wort, z. B. einem Namen. Was zuerst wieder ins Bewußtsein kommt, hatte jedenfalls die größte Intensität vor dem Vergessen (S. 160). Die hochwertigen" "Laute sind also der Anlaut der Wurzelsilbe und der Wortanlaut und der oder die betonten Vokale" “ (S. 162).

§ 160

Ich kann nicht umhin, hier einen Widerspruch zu erheben. Ob der Anlaut des Namens zu den höchstwertigen Elementen des Wortes gehöre oder nicht, es ist gewiß nicht richtig, daß er im Falle des Wortvergessens zuerst wieder ins Bewußtsein tritt; die obige Regel ist also unbrauchbar. Wenn man sich bei der Suche nach einem vergessenen Namen beobachtet, so wird man verhältnismäßig häufig die Überzeugung äußern müssen, er fange mit einem bestimmten Buchstaben an. Diese Überzeugung erweist sich nun ebenso oft als unbegründet wie als begründet. Ja, ich möchte behaupten, man proklamiert in der Mehrzahl der Fälle einen falschen Anlaut. Auch in unserem Beispiel: Signorelli ist bei dem Ersatznamen der Anlaut und sind die wesentlichen Silben verloren gegangen; gerade das minderwertige Silbenpaar elli ist im Ersatznamen Botticelli dem Bewußtsein wiedergekehrt. Wie wenig die Ersatznamen den Anlaut des entfallenen Namens respektieren, mag z. B. folgender Fall lehren: Eines Tages ist es mir unmöglich, den Namen des kleinen Landes zu erinnern, dessen Hauptort Monte Carlo ist. Die Ersatznamen für ihn lauten:

§ 161

Piemont, Albanien, Montevideo, Colico.

§ 162

Für Albanien tritt bald Montenegro ein, und dann fällt mir auf, daß die Silbe Mont (Mon ausgesprochen) doch allen Ersatznamen bis auf den letzten zukommt. Es wird mir so erleichtert, vom Namen des Fürsten Albert aus das vergessene Monaco aufzufinden. Colico ahmt die Silbenfolge und Rhythmik des vergessenen Namens ungefähr nach.

§ 163

Wenn man der Vermutung Raum gibt, daß ein ähnlicher Mechanismus wie der fürs Namenvergessen nachgewiesene auch an den Erscheinungen des Versprechens Anteil haben könne, so wird man zu einer tiefer begründeten Beurteilung der Fälle von Versprechen geführt. Die Störung in der Rede, welche sich als Versprechen kundgibt, kann erstens verursacht sein durch den Einfluß eines anderen Bestandteils derselben Rede, also durch das Vorklingen oder Nachhallen, oder durch eine zweite Fassung innerhalb des Satzes oder des Zusammenhanges, den auszusprechen man intendiert — hierher gehören alle oben Mehringer und Mayer entlehnten Beispiele —; zweitens aber könnte die Störung analog dem Vorgang im Falle Signorelli zustande kommen durch Einflüsse außerhalb dieses Wortes, Satzes oder Zusammenhanges, von Elementen her, die auszusprechen man nicht intendiert, und von deren Erregung man erst durch eben die Störung

§ 164

Du Venprechen. 39 Kenntnis erhält. In der Gleichzeitigkeit der Erregung läge das Gemeinsame, in der Stellung innerhalb oder außerhalb desselben Satzes oder Zusammenhanges das Unterscheidende fiir die beiden Entstehung!» arten des Versprechens. Der Unterschied erscheint zunächst nicht so groß, als er für gewisse Folgerungen aus der Symptomatologie des Versprechens in Betracht kommt. Es ist aber klar, daß man nur im ersteren Falle Aussicht hat, aus den Erscheinungen des Versprechens Schlüsse aui einen Mechanismus zu ziehen, der Laute und Worte zur gegenseitigen Beeinflussung ihrer Artikulation miteinander verknüpft, also Schlüsse, wie sie der Sprach.forscher aus dem Studium des Versprechens zu gewinnen hoffte. Im Falle der Störung durch Einflüsse außerhalb des nämlichen Satzes oder Redezusammenhanges würde 5 sich vor allem darum handeln, die störenden Elemente kennen zu lernen, und dann entständ.e die Frage, ob auch der Mechanismus dieser Störung die zu vermutenden Gesetze der Sprachbildung verraten kann.

§ 165

Man darf nicht behaupten, daß Me r i n g er und M a y er die Möglichkeit der Sprechstörung durch „kompliziertere psychische Einflüsse“, durchElemente außerhalb desselbenWortes, Satzes oder derselben Redeiolge übersehen haben. Sie mußten ja bemerken, daß die Theorie der psychischen Ungleichwertigkeit der Laute strenge genommen nur für die Aufklärung der Lautstörungen, sowie der Vor- und Nachklänge ausreicht. Wo sich die Wortstörungen nicht auf Lautstörungen reduzieren lassen, z. B. bei den Substitutionen und Kontaminationen von Worten, haben auch sie unbedenklich die Ursache des Versprechens a u B e r h al ”0 des intendierten Zusammenhanges gesucht und diesen Sachverhalt durch schöne Beispiele erwiesen. Ich zitiere folgende Stellen:

§ 166

(S. 62.) „Rn. erzählt von Vorgängen, die er in seinem Innern für „Schweinereien“ erklärt. Er sucht aber nach einer milden Form und beginnt: „Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein gekommen. . .“ M a ye r und ich waren anwesend und Ru. bestätigte, daß er „Schweinereien“ gedacht hatte. Daß sich dieses gedachte Wort bei „Vorschein“ ver-riet und plötzlich wirksam wurde, findet in der Ähn— lichkeit der Wörter seine genügende Erklärung.“ —

§ 167

(S. 73.) „Auch bei den Substitutionen spielen wie bei den Kontaminationen und in wahrscheinlich viel höheremGrade die „schwebenden oder „vagierenden“ Sprachbilder eine große Rolle. Sie sind, wenn auch unter der Schwelle des Bewußtseins, so doch noch in wirksamer Nähe, können leicht durch eine Ähnlichkeit des zu sprechenden Kenn plexes herangezogen werden und führen dann eine Entgleisung herbei

§ 168

§ 169

40 Das Venprechen.

§ 170

oder kreuzen den Zug der Wörter. Die „schwebenden“ oder „vagie» renden" Sprachbilder sind, wie gesagt, oft die Nachzügler von ln'irzlich abgelaufenen Sprachprozessen (Nachklänge).”

§ 171

(S. 97.) „Eine Entgleisung ist auch durch Ähnlichkeit möglich, wenn ein andeer ähnliches Wort nahe unter der Bewußtseinsschwelle liegt, ohne daß es gesprochen zu werden bestimmt w 5. r e. Das ist der Fall bei den Substitutionen. — 50 hoffe ich, daß man beim Nachprüien meine Regeln wird bestätigen müssen. Aber dazu ist notwendig, daß man (wenn ein anderer spricht) s i c h K la r h e it darüber verschafft, an was Alles der Sprecherged a c h t h a t.!) Hier ein 1ehrreicher Fall. Klassendirektor Li. sagte in unserer Gesellschaft: „Die Frau würde mir Furcht einlagen.“ Ich wurde stutzig, denn das 1 schien mir unerklärlich. Ich erlaubte mir, den Sprecher auf seinen Fehler „einlagen“ für „einiagen“ aufmerksam zu machen, worauf er sofort antwortete: „Ja, das kommt daher, weil ich dachte: ich wäre nicht in der Lage usw."

§ 172

„Ein anderer Fall. Ich frage R. v. Schid., wie es seinem kranken Pferde gehe. Er antwortete: „Ja, das d r a u t . . dauert vielleicht noch einen Monat. „Das „draut“ mit seinem r war mit unverständlich, denn das r von dauert konnte unmöglich so gewirkt haben. Ich machte also R. v. S. aufmerksam, worauf er erklärte, er habe gedacht, „das ist eine tr aurig e Geschichte." Der Sprecher hatte also zwei Anworten im Sinne und diese vermengten sic ."

§ 173

Es ist wohl unverkennbar, wie nahe die Rücksichtnahme auf die „vagierenden“ Sprachbilder, die unter der Schwelle des Bewußtseins stehen und. nicht zum Gesprochenwerden bestimmt sind, und die For— derung, sich zu erkundigen, an was der Sprecher alles gedacht.habe, an die Verhältnisse bei unseren „Analysen“ herankommen. Auch wir suchen unbewußtes Material, und zwar auf dem nämlichen Wege, nur daß wir von den Einfällen des Befragten bis zur Auffindung des störenden Elementes einen längeren Weg durch eine komplexe Assoziationsreihe zurückzulegen haben.

§ 174

Ich verweile noch bei einem anderen interessanten Verhalten, für das die Beispiele M e rin ger s Zeugnis ablegen. Nach der Einsicht des Autors selbst ist es irgend eine Ähnlichkeit eines Wortes im intendierten Satz mit einem anderen nicht intendierten, welche dem letzteren gestattet, sich durch die Verursachung einer Entstehung, Mischbildung,

§ 175

1) Von mir hervorgehoben.

§ 176

§ 177

Das Versprechen. 4I Kompromißbildung (Kontamination) im Bewußtsein zur Geltung zu bringen. lagen, dauert, Vorschein. jagen, traurig, .. . schwein.

§ 178

Nun habe ich in meiner Schrift über die „Traumdeutung“ 1) dargetan, welchen Anteil die Ve r d i c h t u n g s arbeit an der Entstehung des sog. manifesten Trauminhaltes aus den latenten Traumgedanken ' hat. Irgend eine Ähnlichkeit der Dinge oder der Wortvorstellungen zwischen zwei Elementen des unbemßten Materials wird da zum Anlaß genommen, um ein Drittes, eine Misch. oder Kompromißvorstellung zu schaffen, welche im Trauminhalt ihre beiden Komponenten vertritt, und die infolge dieses Ursprungs so häufig mit widersprechenden Einzelbestimrnungen ausgestattet ist. Die Bildung von Substitutioan und Kontaminationen heim Versprechen ist somit ein Beginn jener Verdichtungsarbeit, die wir in eifrigster Tätigkeit am Aufbau des Traumes beteiligt finden. ’

§ 179

In einem kleinen für weitere Kreise bestimmten Aufsatz (Neue freie Presse vom 23. Aug. rgoo: „Wie man sich versprechen kann“) hat M e r i n g e r eine besondere praktische Bedeutung für gewisse Fälle von Wortvertauschungen in Anspruch genommen, für solche nämlich, in denen man ein Wort durch sein Gegenteil dem Sinne nach ersetzt. „Man erinnert sich wohl noch der Art, wie vor einiger Zeit der Präsident des österreichischen Abgeordnetenhauses die Sitzung e r ö { l n e t e: „Hohes Haus! Ich konstatiere die Anwesenheit von so und soviel Herren und erkläre somit die Sitzung für „g e s c h l n s s e n!“ Die allgemeine Heiterkeit machte ihn erst aufmerksam, und er verbesserte den Fehler. Im vorliegenden Falle wird die Erklärung wohl diese sein, daß der Präsident sich Wü n s c h t e , er'wäre schon in der Lage, die Sitzung, von der wenig Gutes zu erwarten stand, zu schließen, aber * eine häufige Erscheinung —— der Nebengedanke setzte sich wenigstens teilweise durch, und das Resultat war „geschlossen“ für „eröifnet“, also das Gegenteil dessen, was zu sprechen beabsichtigt war. Aber viel— fältige Beobachtung hat mich belehrt, daß man gegensätzliche Worte überhaupt sehr häufig mit einander verteuscht; sie sind eben schon in unserem Sprachbewußtsein assoziiert, liegen hart nebeneinander und werden leicht irrtümlich aufgerufen."

§ 180

Nicht in allen Fällen von Gegensatzvertauschung wird es so leicht, wie hier im Beispiel des Präsidenten, wahrscheinlich zu machen, daß

§ 181

‘) Die Traumdeutung. Leipzig und Wien, 1900, 2. Aufl. 1909.

§ 182

§ 183

42 Du Versprechen.

§ 184

das Versprechen infolge eines Widerspruch geschieht, der sich im Innern des Redners gegen den geäußerten Satz erhebt. Wir haben den analogen Mechanismus in der Analyse des Beispiels: aliquis gefunden; dort äußerte sich der innere Widerspruch im Vergessen eines Wortes anstatt seiner Ersetzung durch das Gegenteil. Wir wollen aber zur Ausgleichung des Unterschiedes bemerken, daß das Wörtchen aliquis eines ähnlichen Gegensatzes, wie ihn „schließen“ zu „eröitnen“ ergibt, eigentlich nicht fähig ist, und daß „eröffnen“ als gebräuchlicher Bestandteil des Redeschatzes dem Vergessen nicht unterworfen sein kann.

§ 185

Zeigen uns die letzten Beispiele von Meringer und Mayer, daß die Sprechstönrng ebensowohl durch den Einfluß vor- und nach— klingender Laute und Worte desselben Satzes entstehen kann, die zum Ausgesprochenwerden bestimmt sind, wie durch die Einwirkung von Worten außerhalb des intendierten Satzes, cl e r e n E r r e g u n g sich sonstnichtverratenhätte,sowerdenwirzunäehsterfahren wollen, ob man die beiden Klassen von Versprechen scharf sondern, und wie man ein Beispiel der einen von einem Fall der anderen Klasse unter— scheiden kann. An dieser Stelle der Erörterung muß man aber der Äußerungen Wundts gedenken, der in seiner eben erscheinenden umfassenden Bearbeitung der Entwicklungsgesetze der Sprache (Völker— psychologie, I. Band, I. Teil S. 371 u. ff., 1900) auch die Erscheinungen des Versprechens behandelt. Was bei diesen Erscheinungen und anderen, ihnen verwandten, niemals fehlt, das sind nach Wu ndt gewisse psychische Einflüsse, „Dahin gehört zunächst als positive Bedingung der ungehemmte Fluß der von den gesprochenen Leuten angeregten Laut- und Wortassoziationen. Ihm tritt der Wegfall oder der Nachlaß der diesen Lauf hemmenden Wirkungen des Willens und der auch hier als Willensfunktion sich betätigenden Aufmerksamkeit als negatives Moment zur Seite. Ob jenes Spiel der Assoziation darin sich äußert, das ein kommender Laut antizipiert oder die vorausgegangenen reproduziert, oder ein gewohnheitsmäßig eingeübter zwischen andere eingeschaltet wird, oder endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken — alles dies bezeichnet nur Uriterschiede in der Richtung und allenfalls in dern Spielraum der stattfindenden Assoziaüonen, nicht in der allgemeinen Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen zweifelhait sein, welcher Form man eine bestimmte Störung zuzurechnen, oder ob man sie nicht mit größerem Rechte nach dem Prinzip der Komplikation der

§ 186

§ 187

Du Versprechen. 43

§ 188

U r s a c h e n ‘) auf ein Zusammentreffen mehrerer Motive zurückzuführen habe“ (S. 380 und 381).

§ 189

Ich halte diese Bemerkungen Wu ndts für vollberechtigt*und sehr instruktiv. Vielleicht könnte man mit größerer Entschiedenheit als Wundt betonen, daß das positiv begünstigende Moment der Sprechiehler — der ungehemmte Fluß der Assoziationen — und das negative — der Nachlaß der hemmenden Aufmerksamkeit -—— regelmäßig miteinander zur Wirkung gelangen, so daß beide Momente nur zu verschiedenen Bestimmungen des nämlichen Vorganges werden. Mit dem Nachlaß der hemmenden Aufmerksamkeit tritt eben der ungehemmte Fluß der Assoziationen in Tätigkeit; noch unzweifelhafter ausgedrückt: d u r c h diesen Nachlaß.

§ 190

Unter den Beispielen von Versprechen, die sich selbst gesammelt, finde ich kaum eines, bei dem ich die Sprechstörung einzig und allein auf das, was Wu 11 dt „Kontaktwirkung der Laute“ nennt, zurückfüh.ren müßte. Fast regelmäßig entdecke ich überdies einen störenden Einfluß von etwas a u B er h all) der intendierten Rede, und das Störende ist entweder ein einzelner, unbewußt gebliebener Gedanke, der sich durch das Versprechen kundgibt und oft erst durch eingehende Analyse zum Bewußtsein gefördert werden kann, oder es ist ein allgemeineres psychisches Motiv, welches sich gegen die ganze Rede richtet.

§ 191

Beispiel a): Ich will gegen meine Tochter, die beim Einbeißen in einen Apfel ein garstiges Gesicht geschnitten hat, zitieren:

§ 192

Der Affe gar possierlich ist,

§ 193

Zumal wenn er vom Apfel fril3t. Ich beginne aber: Der A pf e. .. Dies scheint eine Kontamination von „A ff e” und „A p f el” (Kompromißbildung) oder kann auch als Antizipation des vorbereiteten „.,Apfe “ aufgefaßt werden. Der genauere Sachverhalt ist aber der: Ich hatte das Zitat schon einmal begonnen und mich das erstemal dabei nicht versprochen. Ich versprach mich erst bei der Wiederholung, die sich als notwendig ergab, weil die Angesprochene, von anderer Seite mit Beschlag belegt, nicht zuhörte. Diese Wiederholung, die mit ihr verbundene Ungeduld, des Satzes ledig zu werden, muß ich in die Motivierung des Sprechfehlers, der sich als eine Verdichtungsleistung darstellt, mit einrechnen.

§ 194

b) Meine Tochter sagt: Ich schreibe der Frau S c h r e Singer . . . Die Frau heißt Schlesinger. Dieser Sprechfehler hängt wohl mit

§ 195

1) Von mir hervorgehoben.

§ 196

§ 197

44 Du Verlprecheu.

§ 198

einer Tendenz zur Erleichterung der Artikulation zusammen, denn das 1 ist nach wiederholtem r schwer auszusprechen. Ich muß aber hinzufügen, daß sich dieses Versprechen bei meiner Tochter ereignete, nach— dem ich ihr wenige Minuten zuvor „Apie“ anstatt „Afie" vorgasagt hatte. Nun ist das Versprechen in hohem Maße ansteckend, ähnlich wie das Namenvergeesen, bei dem M e r i n g e r und M a y e r diese Eigentümlichkeit bemerkt haben. Einen Grund für diese psychische Kontagiosität weiß ich nicht anzugeben.

§ 199

c) „Ich klappe zusammen wie ein Tassenmescher—Taschenmesser“, sagt eine Patientin zu Beginn der Behmdlungsstunde, die Laute vertauschend, wobei ihr wieder die Artikulationsschwierigkeit („Wiener Weiber Wäscherinnen waschen weiße Wäsche" —— „Fischflosse“ und ähnliche Prüfworte) zur Entschuldigung dienen kann. Auf den Sprechfehler aufmerksam gemacht, erwidert sie prompt: „ja, das ist nur, weil Sie heute „Ernscht" gesagt haben." Ich hatte sie wirklich mit der Rede empfangen: „Heute wird es also Ernst“ (weil es die letzte Stunde vor dem Urlaub werden sollte) und hatte das „Ernst" scherz— ha.ft zu „Ernscht" verbreiten, Im Laufe der Stunde verspricht sie sich immer wieder von neuem, und ich merke endlich, daß sie mich nicht bloß imitiert, sondern daß sie einen besonderen Grund hat, im Unbewußten bei dem Worte Ernst als Namen zu verweilen.‘)

§ 200

d) „Ich bin so verschnupft, ich kann nicht durch die A s e n a t — men—Nase atmen“ passiert derselben Patientin ein anderes Mal. Sie weiß sofort, wie sie zu diesem Sprechiehler kommt. „Ich steige jeden Tag in der Hasenauergasse in die Tramway, und heute früh ist mir während des Wartens auf den Wagen eingefallen, wenn ich eine Französin wäre, würde ich As e n aner aussprechen, denn die Franzosen lassen das H im Anlaut immer weg.“ Sie bringt dann eine Reihe von Reminiszenzen an Franzosen, die sie kennen gelernt hat, und langt nach weitläufigen Umwegen bei der Erinnerung an, daß sie als I4 jähriges Mädchen in dem kleinen Stück „Kurmärker und Picarde“ die Picarde gespielt und damals gebrochen Deutsch gesprochen hat.

§ 201

1) Sie stand nämlich, wie sich zeigte, unter dem Einfluß von unbewuan Gedanken über Schwangerschaft und Kindcrverhütung. Mit den Worten: „zu— sammengeklappt wie ein Taschenmesser“, welche sie bewußt als Klage verbrachte, wollte sie die Haltung des Kindes im Mutterleibe beschreiben. Das Wort „Ernst“ in meiner Anrede hatte sie an den Namen (S. Ernst) der bekannten Wiener Firma, in der Kärtlmerstraße gemahnt. welche sich als Verkaufsstätte von Schutzmitu:ln gegen die Konzeption zu annoncieren pflegt.

§ 202

§ 203

Das Verfiprechen. 45

§ 204

Die Zufälligkeit, daß in ihrem Logierhaus ein Gast aus Paris angekommen ist, hat die ganze Reihe von Erinnerungen wachgerufen. Die Lautvertauschung ist also Folge der Störung durch einen unbewußten Gedanken aus einem ganz fremden Zusammenhang.

§ 205

e) Ähnlich ist der Mechanismus des Versprechens bei einer anderen Patientin, die mitten in der Reproduktion einer längst verschollenen Kindererinnemng von ihrem Gedächtnis verlassen wird. An welche Körperstelle die vorwitzige und lüsterne Hand des Anderen gegriffen hat, will ihr das Gedächtnis nicht mitteilen, Sie macht unmittelbar darauf einen Besuch bei einer Freundin und unterhält sich mit ihr über Sommerwohnungen. Gefragt, wo denn ihr Häuschen in M. gelegen sei, antwortet sie: an der Berglende anstatt Berglehne.

§ 206

i) Eine andere Patientin, die ich nach Abbruch der Stunde frage, wie % ihrem Onkel geht, antwortet: „Ich weiß nicht, ich sehe ihn jetzt nur i n fl a g r a n t i“. Am nächsten Tage beginnt sie: „Ich habe mich recht gaschämt, Ihnen eine so dumme Antwort gegeben zu haben. Sie müssen mich natürlich für eine ganz ungebildete Person halten, die beständig Fremdwörter verwechselt. Ich wollte sagen: e n p as 5 an t.” Wir wußten damals noch nicht, woher sie die unrichtig angewendeten Fremdworte genommen hatte. In derselben Sitzung aber brachte sie als Fortsetzung des vortägigen Themas eine Reminiszenz, in welcher das Ertapptwerden in £ 1 a g r a n t i die Hauptrolle spielte. Der Sprechfehler am Tage vorher hatte also die damals noch nicht bewußt gewordene Erinnerung antizipiert.

§ 207

g) Gegen eine Andere muß ich an einer gewissen Stelle der Analyse die Vermutung aussprechen, daß sie sich zu der Zeit, von welcher wir eben handeln, ihrer Familie geschämt und ihrem Vater einen uns noch unbekannten Vorwurf gemacht habe. Sie erinnert sich nicht daran, erklärt es übrigens für unwahrscheinlich. Sie setzt aber das Gespräch mit Bemerkungen über ihre Familie iort: „Man muß ihnen das eine lassen: Es sind doch besondere Menschen, sie haben alle G e i z — ich wollte sagen G e is t." Das war denn auch wirklich der Vorwurf, den sie aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatte. Daß sich in dem Versprechen gerade jene Idee durchdräng't, die man zurückhalten will, ist ein häufig% Vorkommnis (vgl. den Fall von M e rin g e r: zum Vor« schwein gekommen). Der Unterschied liegt nur darin, daß die Person bei M e ri n g e r etwas zurückhalten will, was ihr bewußt ist, während meine Patientin das Zurückgehaltene nicht weiß, oder wie man auch sagen kann, nicht weiß, daß sie etwas, und was sie zmückhält. =@

§ 208

§ 209

46 Das Versprechen.

§ 210

h) „Wenn Sie Teppiche kaufen wollen, so gehen sie nur zu Kaufmann in der Mathäusgasse. Ich glaube, ich kann Sie dort auch empfehlen“, sagt mir eine Dame. Ich Wiederhole: „Also bei M a t häus . . . .bei Kaufmann will ich sagen.“ Es sieht aus wie Folge von Zerstreutheit, wenn ich den einen Namen an Stelle des anderen wiederhole. Die Rede der Dame hat mich auch wirklich zerstreut gemacht, denn sie hat meine Aufmerksamkeit auf anderes gelenkt, was mir weit wichtiger ist als Teppiche. In der Mathäusgasse steht nämlich das Haus, in dem meine Frau als Braut gewohnt hatte. Der Eingang des Hauses war in einer anderen Gase, und nun merke ich, daß ich deren Namen vergessen habe und ihn mir erst auf einem Umweg bewußt machen muß. Der Name Mathäus, bei dem ich verweile, ist mir also ein Ersatzname für den vergessenen Namen der Straße. Er eignet sich besser dazu als der Name Kaufmann, denn Matthäus ist ausschließlich ein Personenname, was Kaufmann nicht ist, und die vergessene Straße heißt auch nach einem Personennamen: R a d e t z k y.

§ 211

i) Folgenden Fall könnte ich ebensogut bei den später zu be— sprechenden „Irrtümern“ unterbringen, führe ihn aber hier an, weil die Iantbeziehungen, auf Grund deren die Wortersetzung erfolgt, ganz besonders deutlich sind. Eine Patientin erzählt mir ihren Traum: Ein Kind hat beschlossen, sich durch einen Schlangenbiß zu töten. Es führt den Entschluß aus. Sie sieht zu, wie es sich in Krämpfen windet usw. Sie soll nun die Tagesanknüpfung für diesen Traum finden. Sie erinnert sofort, daß sie gestern abend eine populäre Vorlesung über erste Hilfe bei Schlangenbissen mit angehört hat. Wenn ein Er— wachsener und ein Kind gleichzeitig gebissen werden sind, so soll man zuerst die Wunde des Kindes behandeln. Sie erinnert auch, welche Vorschriften für die Behandlung der Vortragende gegeben hat. Es käme sehr viel darauf an, hatte er auch geäußert, von welcher Art man ge— bissen werden ist. Hier unterbreche ich sie und frage: Hat er denn nicht gesagt, daß wir nur sehr wenige giftige Arten in unserer Gegend haben, und welche die gefürchteten sind ? „Ja, er hat die K l a p p e r schlange hervorgehoben." Mein Lachen macht sie dann aufmerksam, daß sie etwas Unrichtiges gesagt hat. Sie korrigiert jetzt aber nicht etwa den Namen, sondern sie nimmt ihre Aussage zurück. „ja so, die kommt ja bei uns nicht vor; er hat von der Viper gesprochen. Wie gerate ich nur auf die Klapperschlange?” Ich vermutete, durch die Einmengung der Gedanken, die sich hinter ihrem Traum verborgen hatten. Der Selbstmord durch Schlangenbiß kann kaum etwas anderes sein als eine

§ 212

Jlspielung auf die schöne Kleopatra. Die weitgehende Lautähnlichkeit

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Das Verlprecben. 47

§ 215

der beiden Worte, die Übereimtimmung in den Buchstaben KI . . p . . r in der nämlichen Reihenfolge und in dem betonten & sind nicht zu ver« kennen. Die gute Beziehung zwischen den Namen K l ap pe r Schlange und K le 0 p a t r a erzeugt bei ihr eine momentane Einschränkung des Urteils, derzufolge sie an der Behauptung, der Vortragende habe sein Publikum in Wien in der Behandlung von Klapperschlangenbissen unterwiesen, keinen Anstoß nimmt. Sie weiß sonst so gut wie ich, daß diese Schlange nicht zur Fauna unserer Heimat gehört. Wir wollen es ihr nicht verübeln, daß sie an die Versetzung der Klapperschlange nach Egypten ebensowenig Bedenken knüpfte, denn wir sind gewöhnt, alles Außereuropäjsche, Exotische zusammenzuwerfen, und ich selbst mußte mich einen Moment besinnen, ehe ich die Behauptung aufstellte, daß die Klapperschlange nur der neuen Welt angehört.

§ 216

Weitere Bestätigungen ergeben sich bei Fortsetzung der Analyse. Die Träumerin hat gestern zum erstenmal die in der Nähe ihrer Wohnung aufgestellte A n t 0 ni u s gruppe von S t r a ß e r besichtigt. Die; war also der zweite Trauma.nlaß (der erste der Vortrag über Schlangenbisse). In der Fortsetzung ihres Traumes wiegte sie ein Kind in ihren Armen, zu welcher Szene ihr das Gretchen einf'a'llt. Weitere Einfälle bringen Reminiszenzen an „A r r i a und M e 5 s a l i n a“. Das Auftauchen so vieler Narren von Theaterstücken in den Traumgednnken läßt be— reits vermuten, daß bei der Träumerin in früheren Jahren eine geheim gehaltene Schwärmerei für den Beruf der Schauspielerin bestand. Der Anfang des Traumes: „Ein Kind hat beschlossen, sein Leben durch einen Schlangenbiß zu enden“, bedeutet wirklich nichts anderes als: Sie hat sich als Kind vorgenommen, einst eine berühmte Schau— spielerin zu werden. Von dem Namen M e s s a l i n a zweigt endlich der Gedankenweg ab, der zu dem wesentlichen Inhalt dieses Traumes führt. Gewisse Vorfälle der letzten Zeit haben in ihr die Besorgnis erweckt, daß ihr einziger Bruder eine nicht standesgemäße Ehe mit. einer Nicht-Arierin, eine Més alli ance eingehen könnte.

§ 217

k) Ein völlig harmloses, oder vielleicht uns nicht genügend in seinen Motiven aufgeklärtes Beispiel will ich hier wiedergeben, weil es einen durchsichtigen Mechanismus erkennen läßt:

§ 218

Ein in Italien reisender Deutscher bedarf eines Riemens, um seinen. schadhaft gewordenen Koffer zu umschniiren. Das Wörterbuch liefert ihm für Riemen das italienische Wort c 0 r r e g gi a.. Dieses Wort werde ich mir leicht merken, meint er, indem ich an den Maler (C 0 r r e g gi o) denke. Er geht dann in einen Laden und verlangt: una ! i b e r a.

§ 219

§ 220

48 Du! Versprechen.

§ 221

Es war ihm anscheinend nicht gelungen, das deutsche Wort in seinem Gedächtnis durch das italienische zu ersetzen, aber seine Bemühung war doch nicht gänzlich ohne Erfolg geblieben. Er wußte, daß er sich an den Namen eines Malers halten müsse, und so geriet er nicht auf jenen Malernamen, der an das italienische Wort anklingt, sondern an einen andern, der sich dem deutschen Worte Riemen annähert. Ich hätte dieses Beispiel natürlich ebensowohl beim Namenvergessen wie hier beim Versprechen unterbringen können.

§ 222

Als ich Erfahrungen von Versprechen für die erste Auflage dieser Schrift sammelte, ging ich so vor, daß ich alle Fälle, die ich beobachten konnte, darunter also auch die minder eindrucksvollen, der Analyse unterzog. Seither haben manche Andere sich der amüsanten Mühe, Versprechen zu sammeln und zu analysieren, unterzogen und mich so in den Stand gesetzt, Auswahl aus einem reicheren Material zu schöpien.

§ 223

]) Ein junger Mann sagt zu seiner Schwester: Mit den D. bin ich jetzt ganz zerfallen, ich grüße sie nicht mehr. Sie antwortet: Überhaupt eine saubere Li p p s c h a f t. Sie wollte sagen: S i p p schaft, aber sie drängte noch zweierlei in dem Sprechirrtum zusammen, daß ihr Bruder einst selbst mit der Tochter dieser Familie einen Flirt begonnen hatte, und daß es von dieser hieß, sie habe sich in letzter Zeit in eine emst— haite unerlaubte Lie bs chat t eingelassen.

§ 224

m) Eine Anzahl von Beispielen entnehme ich einem Aufsatze meines Kollegen Dr. W. S t e k el aus dem Berliner Tageblatt vom 4. Januar 1904, betitelt „Unbewußte Geständnisse“.

§ 225

„Ein unangenehmes Stück meiner unbewußten Gedanken enthüllt das folgende Beispiel. Ich schicke voraus, daß ich in meiner Eigenschaft als Arzt niemals auf meinen Erwerb bedacht bin und immer nur das Interesse des Kranken im Auge habe, was ja eine selbstverständliche Sache ist. Ich befinde mich bei einer Kranken, der ich nach schwerer Krankheit in einem Rekonvaleszentenstadium meinen ärztlichen Beistand leiste. Wir haben schwere Tage und Nächte mitgemacht. Ich bin glücklich, sie besser zu finden, male ihr die Wonnen eines Aufenthaltes in Abbazzia. aus und gebrauche dabei den Nachsatz: „Wenn Sie, was ich hoffe, das. Bett bald nic h t verlassen werden ——“. Offenbar entsprang das einem egoistischen Motive des Unbewußten, diese wohlhabende Kranke noch länger behandeln zu dürfen, einem Wünsche, der meinem wachen Bewußtsein vollkommen fremd ist, und den ich mit Entriistung zurückweisen würde.“

§ 226

n) Ein anderes Beispiel (Dr. W. S t e ke 1). „Meine Frau nimmt eine Französin für die Nachmittage auf und will, nachdem man sich über

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Das Versprechen. 49

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die Bedingungen geeinigt hatte, ihre Zeugnisse zurückbehalten. Die Französin bittet, sie behalten zu dürfen, mit der Motivierung: ]e cherche encore pour les aprés-midis, pardon, pour les avant-midis. Offenbar hatte hatte sie die Absicht, sich noch anderweitig umzusehen und. vielleicht bessere Bedingungen zu erhalten—eine Absicht, die sie auch ausgeführt hat.“

§ 230

0) „Ich soll einer Frau die Leviten lesen, und ihr Mann, auf dessen Bitte das geschieht, steht lauschend hinter der Türe. Am Ende meiner Predigt, die einen sichtlichen Eindruck gemacht hatte, sagte ich: „Küß die Hand, gnädiger Herr!“ Dem Kundigen hatte ich damit verraten, daß die Worte an die Adresse des Herrn gerichtet waren, daß_ich sie um seinetwilleu gesprochen hatte.“

§ 231

p) Dr. S t e k e 1 berichtet von sich selbst, daß er zu einer Zeit zwei Patienten aus Triest in Behandlung gehabt habe, die er immer verkehrt zu begrüßen pflegte. „Guten Morgen, Herr Peloni “ sagte ich zu Askoli — „Guten Morgen, Herr Askoli“ zu Peloni. Er war anfangs geneigt, dieser Verwechslung keine tiefere Motivierung zuzuschreiben, sondern sie durch die mehrfachen Gemeinsamkeiten der beiden Herren zu erklären. Er ließ sich aber leicht überzeugen, daß die Namenver— tauschung hier einer Art von Prahlerei entsprach, indem er durch sie jeden seiner italienischen Patienten wissen lassen konnte, er sei nicht der einzige Triestiner, der nach Wien gekommen sei, um seinen ärztlichen Rat zu suchen.

§ 232

q) Dr, 5 t e k el selbst in einer stürmischen Generalversammlung: Wir 5 t r eit e n. (schreiten) nun zu Punkt 4 der Tagesordnung.

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r) Ein Professor in seiner Antrittsvorlesung: „Ich bin nicht g e n e i g t (geeignet), die Verdienste meine; sehr geschätzten Vorgängers zu schildern.“

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5) Dr. S t e k el zu einer Dame, bei welcher er Basedowsche Krank— heit vermutet: „Sie sind um einen Kropf (Kopf) größer als Ihre Schwester.“

§ 235

t) Dr. S t e k el berichtet: Jemand will das Verhältnis zweier Freunde schildern, von denen einer als Jude charakterisiert werden soll. Er sagt: Sie lebten zusammen wie K es t o r und P o l 1 a k. Das war durchaus kein Witz, der Redner hatte das Versprechen selbst nicht bemerkt und wurde erst von mir darauf aufmerksam gemacht.

§ 236

u) Gelegentlich ersetzt ein Versprechen eine ausführliche Charakteristik. Eine junge Dame, die das Regiment im Hause führt, erzählt von ihrem leidenden Manne, er sei beim Arzt gewesen, um ihn nach

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Freud. Puychopnthulogie des Alltagslebens. 4

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50 Das Versprechen.

§ 240

der ihm zuträglichen Diät zu befragen. Der Arzt habe aber gesagt, darauf käme es nicht an. „Er kann essen und trinken, was ic h will.“

§ 241

v) Auf ein ganz besonders schönes und lehrreiches Beispiel von Versprechen möchte ich nicht verzichten, obwohl es sich nach Angabe meines Gewährsmannes vor etwa 20 Jahren zugetragen hat. Eine Dame äußerte einmal in einer Gesellschaft — man hört es den Worten an, daß sie im Eifer und unter dem Drucke allerlei geheimer Reguugen zustande gekommen sind: Ja, eine Frau muß schön sein, wenn sie den Männern gefallen soll. Da hat es ein Mann viel besser; wenn er nur seine fü nf geraden Glieder hat, mehr braucht er nicht! Dieses Beispiel gestattet uns einen guten Einblick in den intimen Mechanismus einß Versprechens durch Verdichtung oder einer Konta— mination (vgl. p. 37). Es liegt nahe anzunehmen, daß hier zwei sinnähnliche Redeweisen verschmelzen sind:

§ 242

wenn er seine vier geraden Glieder hat wenn er seine { iin { Sinne beisamrnen hat. Oder aber das Element gerade ist das Gemeinsame zweier Redeintentionen gewesen, die gelautet haben: wenn er nur seine g e r a d e n Glieder hat alle fünf gerade sein lassen.

§ 243

& hindert uns auch nichts anzunehmen, daß beide Redensarten, die von den fünf Sinnen und die von den geraden fünf mitgewirkt haben, um in den Satz von den geraden Gliedern zunächst eine Zahl und dann die geheimsinnige fünf anstatt der simpeln vier einzuführen. , Diese Verschmelzung Wäre aber gewiß nicht erfolgt, wenn sie nicht in der als Versprechen resultierenden Form einen eigenen guten Sinn hätte, den einer zynischen Wahrheit, wie sie von einer Frau allerdings nicht ohne Bernä.ntelurg bekannt werden darf. —— Endlich wollen wir nicht versäumen aufmerksam zu machen, daß die Rede der Dame ihrem Wortlaut nach ebensowohl einen vortrefilichen Witz wie ein lustiges Versprechen bedeuten kann. Es hängt nur davon ab, ob sie diese Worte mit bewußter Absicht oder —— mit unbewußter Absicht gesp‘ochen hat. Das Benehmen der Rednerin in unserem Falle widerlegte allerdings die bewußte Absicht und schloß den Witz aus.

§ 244

Herrn Dr. Alf. R o hits e k in Wien verdanke ich den Hinweis auf zwei von einem altfranzösischen Autor bemerkte Fälle von Ver— sprechen, die ich unübersetzt wiedergeben werde.

§ 245

B r a n t 6 m e (1527—1614) Vies des Dames galantes. Discours second: „Si ay—je cogneu une trés belle et honneste dame de par le wende, qui, devisant avec un honneste gentilhomrne de la cour des

§ 246

§ 247

Du Versprechen. 5 I

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affaires de la guerre durant ces civilos, elle luy dit: „J’ay ouy dire que le my a faiet rompre tous les c . . . de ce pays n. Elle vouloit dire los p a n t s. Pensez que, venant de coucher d’avec son mary, ou songeant a son amant, elle avoit encor ce nom frais en labouche; et le gentilhamma s’en aschauifer en amours d’elle pour ce mat.“

§ 249

„Une autre deine que j'ai cogneue, entretenant une autre grand deine plus qu’elle, et luy lonant et exaltant ss beautez, elle luy dit apräs: „Non, madame, ce que je vous en dis, ce n’est point pour vous adultérer; voulant dire adulater, comme elle le rhabilla ainsi: pensez qu’elle songeoit a l’adultére et a adultérer."

§ 250

Bei dem psychotherapeutischen Verfahren, dessen ich mich zur Auflösung und Bßeitigung neurotischer Symptome bediene, ist-sehr häufig die Aufgabe gßtellt, aus den wie zufällig vorgebrachten Reden und Einiällen des Patienten einen Gedanketh aufzuspiiren, der zwar sich zu verbergen bemüht ist, aber doch nicht umhin kann, sich in mannig'faltigster Weise unabsichtlich zu verraten. Dabei leistet oft das Versprechen die wertvollsten Dienste, wie ich an den überzeugend— sten und anderseits sonderbarsten Beispielen dartun könnte. Die Patienten sprechen z. B. von ihrer Tante und nennen sie konsequent, ohne da Versprechen zu merken, „meine Mutter", oder bezeichnen ihren Mann als ihren „Bruder“. Sie machen mich auf diße Weise aufmerksam, daß sie diese Personen miteinander „identifiziert“, in eine Reihe gebracht haben, welche für ihr Gefühlslehen die Wiederkehr desselben Typus bedeutet. Oder: ein junger Mann von 20 Jahren stellt sich mir in der Sprechstunde mit den Worten vor: Ich bin der V a. t e r des N. N., den Sie behandelt haben. — Pardon, ich will sagen, der Bruder; er ist ja um vier Jahre älter als ich. Ich verstehe, daß er durch dieses Versprechen ausdrücken will, daß er wie der Bruder durch die Schuld des Vaters erkrankt sei, wie der Bruder Heilung verlange, daß aber der Vater derjenige ist, dem die Heilung am dringlichsten wäre. Andere Male reicht eine ungewöhnlich klingende Wortiiigung, eine gezwungen erscheinende Ausdrucksweise hin, um den Anteil eine: verdrängten Gedankens an der anders motivierten Rede des Patienten autzndecken.

§ 251

In groben wie in solchen feineren Redestörungen, die sich eben noch dem „Versprechen“ subsumier_en lassen, finde ich also nicht den Einfluß von Kontaktwirkungen der Laute, sondern den von Gedanken außerhalb der Redeintention maßgebend für die Entstehung des Versprechens und hinreichend zur Aufhellung des zustande gekommenen

§ 252

4.

§ 253

§ 254

52 Du Veuprechen.

§ 255

Sprechfehlers. Die Gesetze, nach denen die Laute verändernd aufeinander einwirken, möchte ich nicht anzweifeln; sie scheinen mir aber nicht wirksam genug, um für sich allein die korrekte Ausführung der Rede zu stören. In den Fällen, die ich genauer studiert und durchschaut habe, stellen sie bloß den vorgebildeten Mechanismus dar, dessen sich ein ferner gelegenes psychisches Motiv hequemerweise bedient, ohne sich aber an den Machtbereich dieser Beziehungen zu binden. In einer großen Reihe von Suhstitutionen wird beim Versprechen von solchen Lautgesetzen völlig abgeseh e n. Ich befinde mich hierbei in voller Übereinstimmung mit W u n d t , der gleichfalls die Bedingungen des Versprechens als zusammengßetzte und weit über die Kontaktwirkungen der Laute hinausgehende vermutet.

§ 256

Wenn ich diese „entfernteren psychischen Einflüsse“ nach Wundts Ausdruck für gesichert halte, so weiß ich andererseits von keiner Abhaltung, um auch zuzugeben, daß bei beschleunigter Rede und einigermaßen abgelenkter Aufmerksamkeit die Bedingungen fürs Versprechen sich leicht aufdas vonMeringerundMayer bestimmte Maß ein. schränken können. Bei einem Teil der von diesen Autoren gesammelten Beispiele ist wohl eine komplizierten Auflösung wahrscheinlicher. Ich greife etwa den vorhin angeführten Fall heraus:

§ 257

' Eswarmirauider$chwest„. B r u s t so schwer.

§ 258

Geht es hier wohl so einiach zu, daß das s c h w e das gleichwertige B r u als Vorkla.ng verdrängt ? Es ist kaum abzuweisen, daß die Laute schwe außerdem durch eine besondere Relation zu dieser Vordringlichkeit befähigt werden. Diese könnte dann keine andere sein als die Assoziation: Schwester — Bruder, etwa noch: Brust der S c h w e s t e r , die zu anderen Gedankenkreisen hinüberleitet. Dieser hinter der Szene unsichtbare Helfer verleiht dem sonst harmlosen s ehw e die Macht, deren Erfolg sich als Sprechiehler äußert.

§ 259

Fiir anderes Versprechen läßt sich annehmen, daß der Anklang an obszöne Worte und Bedeutungen das eigentlich Störende ist. Die absichtliche Entstehung und Verzerrung derWorte und Redensarten, die bei unartigen Menschen so beliebt ist, bezweckt nichts anderes, als beim harmlosen Anlaß an das Verpönte zu mahnen, und diese Spielerei ist so häufig, daß es nicht wunderbar wäre, wenn sie sich auch unabsichtlich und wider Willen durchsetzen sollte. Beispiele wie: E i scheißweibchen für Eiweißscheibchen, Apopos Fritzfür Apropos, LoknskapitäliürLotuskapitälusw.

§ 260

§ 261

Dal Venprecheu. 5 3

§ 262

vielleicht noch die Alabiisterbacbse' (Alahßterbüchse) der hl. Magdalena gehören wohl in diese Kategoriel). — „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzusteßen“, ist kaum etwas anderes als eine unbeabsichtigte Parodie als Nachklang einer beabsichtigten. Wenn ich der Chef wäre, zu dessen Feierlichkeit der Festredner diesen Lapsus beigetragen hätte, würde ich wohl daran denken, wie klug die Römer gehandelt haben, als sie den Soldaten des triumphierenden Imperators gestatteten, den inneren Einspruch gegen den Gefeierten in Spott— liedern laut zu äußern. —— M e ri n g e r erzählt von sich selbst, daß er zu einer Person, die als die älteste der Gesellschaft mit dem vertraulichen Ehrennamen „Senexl“ oder „altes Senexl" angesprochen wurde, einmal gesagt habe: „Prost Senex altesl!“ Er erschrak selbst über diesen Fehler (S. 50). Wir können uns vielleicht seinen Affekt deuten, wenn wir daran mahnen, wie nahe „Altesl“ an den Schimpt „alter Esel“ kommt. Auf die Verletzung der Ehriurcht vor dem Alter (d. i., auf die Kindheit reduziert, vor dem Vater) sind große innere Strafen gesetzt.

§ 263

Ich hoffe, die Leser werden den Wertunterschied dieser Deutungen, die sich durch nichts beweisen lassen, und der Beispiele, die ich selbst gesammelt und durch Analysen erläutert habe, nicht vernachlässigen. Wenn ich aber im stillen immer noch an der Erwartung festhalte, auch die scheinbar einfachen Fälle von Versprechen würden sich auf Störung durch eine halb unterdrückte Idee 3 u B e r h al b des intendierten Zusammenhanges zurückiühren lasen, so verlockt mich dazu eine sehr beachtenswerte Bemerkung von M e rin g e r. Dieser Autor sagt, es ist merkwürdig, daß niemand sich versprochen haben will. Es gibt sehr gescheute und ehrliche Menschen, welche beleidigt sind, wenn man ihnen sagt, sie hätten sich versprochen. Ich getraue mich nicht, diese Behauptung so allgemein zu nehmen, wie sie durch das „niemand“ von M e r in g e r hingestellt wird. Die Spur Afiekt aber, die am Nachweis des Versprechens hängt und offenbar von der Natur des Schämens ist, hat ihre Bedeutung. Sie ist gleichzusetzen dem Ärger, wenn wir einen vergessenen Namen nicht erinnern, und der Verwunde— rung über die Haltbarkeit einer scheinbar belanglosen Erinnerung, und weist allemal auf die Beteiligung eines Motivs am Zustandekommen der Störung hin.

§ 264

Das Verdrehen von Namen entspricht einer Schmähung, wenn es absichtlich geschieht, und dürfte in einer ganzen Reihe von Fällen, _ I) Bei einer meiner Patientinnen setzte sich das Versprechen als Symptom so lange fort. bis es auf den Kinderstreich, das Wort r u i niet e 11 durch u r it 11 i e r e n zu ersetzen, zurückgeführt war.

§ 265

§ 266

54 Du Venprechen.

§ 267

wo es als unabsichtliches Versprechen auftritt, dieselbe Bedeutung haben. Jene Person, die nach M aye rs Bericht einmal „Freuder“ sagte anstatt F r e u d , weil sie kurz darauf den Namen „B r e u e r“ verbrachte (S. 38), ein andermal von einer F r e u e r - B r e u d schen Methode (5. 28) sprach, war wohl ein Fachgenosse und von dieser Methode nicht sonderlich entzückt. Einen gewiß nicht anders auf— zuklärenden Fall von Namensentstellung werde ich weiter unten beim Verschreiben mitteilenJ)

§ 268

In diesen Fällen mengt sich als störendes Moment eine Kritik ein, welche bei Seite gelassen werden soll, weil sie gerade in dem Zeitpunkte der Intention des Redners nicht entspricht.

§ 269

Umgekehrt muß die Namensersetzung, die Aneignung des fremden Namens, die Identifizierung mittelst des Namenversprechens eine Anerkennung bedeuten, die im Augenblicke aus irgend welchen Gründen im Hintergrunde verbleiben soll. Ein Erlebnis dieser Art erzählt Dr. F e r e n e z i aus seinen Schuljahren:

§ 270

„In der ersten Gymnasialklasse habe ich (zum ersten Male in meinem Leben) öffentlich (d. h. vor der ganzen Klasse) ein Gedicht rezitieren müssen. Ich war gut vorbereitet und war bestürzt, gleich beim Beginn durch eine Lachsalve gestört zu werden. Der Professor erklärte mir dann diesen sonderbaren Empfang: ich sagte nämlich den Titel des Gedichtes „Aus der Ferne“, ganz richtig, nannte aber als Autor nicht den wirklichen Dichter, sondern — mich selber. Der Name des Dichters ist A 1 e x a n d e r (Sändor) P e t 6 f i. Die Gleichheit des Vornamen mit meinem eigenen begünstigte die Verwechslung; die eigentliche Ursache desselben aber war sicherlich die, daß ich mich damals in meinen geheimen Wünschen mit dem gefeierten Dichterhelden identifizierte. Ich hegte für ihn auch bewußt eine an Anbetung grenzende Liebe und Hochachtung. Natürlich steckt auch der ganze leidige Ambitionskomplex hinter dieser Fehlleistung.“

§ 271

Eine ähnliche Identifizierung mittelst des vertauschten Namens wurde mir von einem jungen Arzt berichtet, der sich zaghait und verehrungsvoll dem berühmten V i roh o w mit den Worten vorstellte: Dr. Virch ow. Der Protessor wendete sich erstaunt zu ihm und fragte: Ah, heißen Sie auch Virchow? Ich weiß nicht, wie der

§ 272

1) Man kann auch bemerken, daß gerade Aristokratcn besonders häufig die Namen von Ärzten. die sie konsultiert haben, entstellen, und darf daraus schließen. daß sie dieselben innerlich gering schätzen, trotz der Höfliehkeit, mit welcher sie ihnen zu begegnen pflegen.

§ 273

§ 274

Du Versprechen. 55

§ 275

junge Ehrgeizige das Versprechen rechtfertigte, ob er die anmutende Ausrede fand, er sei sich so klein neben dem großen Namen vorgekommen, daß ihm sein eigener entschwinden mußte, oder ob er den Mut hatte zu gestehen, er hoffe auch noch einmal ein so großer Mann wie Virch o w zu werden, der Herr Geheimrat möge ihn darum nicht so geringschätzig behandeln. Einer dieser beiden Gedanken — oder vielleicht gleichzeitig beide — mag den jungen Mann bei seiner Vorstellung in Verwirrung gebracht haben,

§ 276

Aus höchst persönlichen Motiven muß ich es in der Schwebe lassen, ob eine ähnliche Deutung auch auf den anzufiihrenden Fall anwendbar ist. Auf dem internationalen Kongreß in Amsterdam 1907 war die von mir vertretene Hysterielehre Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Einer meiner energischasten Gegner soll sich in seiner Brandrede gegen mich wiederholt in der Weise versprochen haben, daß er sich an meine Stelle setzte und in meinem Namen sprach. Er sagte z. B.: B r e u e r und ic h haben bekanntlich nachgewiesen, während er nur zu sagen beabsichtigen konnte: B r e u e r und F r e u d. Der Name dieses Gegners zeigt nicht die leiseste Klangähnlichkeit mit dem meinigen. Wir werden durch dieses Beispiel wie durch viele andere Fälle von Namensvertauschung beim Versprechen daran gemahnt, daB das Versprechen jener Erleichterung, die ihm der Gleichklang gewährt, völlig entbehren und sich, nur auf verdeckte inhaltliche Beziehungen gestützt, durchsetzen kann.

§ 277

In anderen und weit bedeutsameren Fällen ist es Selbstkritik, innerer Widerspruch gegen die eigene Äußerung, was zum Versprechen, ja zum Ersatz des Intendierten durch seinen Gegensatz nöfigt. Man merkt dann mit Erstaunen, wie der Wortlaut einer Beteuerung die Absicht derselben aufhebt, und wie der Sprachfehler die innere Unaufrichtigkeit bloßgelegt hatl). Das Versprechen wird hier zu einem mimjschen Ausdrucksmittel, freilich oftmals für den Ausdruck dessen, was man nicht sagen wollte, zu einem Mittel des Selbstverrats. '50 z. B. wenn ein Mann, der in seinen Beziehungen zum Weihe den sog. normalen Verkehr nicht bevorzugt, in ein Gespräch über ein fiir kokett erklärtes Mädchen mit den Worten einfällt: Im Umgang mit mir würde sie sich das K o e t t i e r e n schon abgewöhnen. Kein Zweifel, daß es nur das andere Wort k o i t i e r e 11 sein kann, dessen Einwirkung auf das intendierte k o k e t t i e r e n solche Abänderung zuzuschreiben ist

§ 278

1) Durch solches Versprechen brandmarkt z. B. A n z e 11 gr u b e r im ..(3’wissenswurm“ den heuchlerischen Erbschleicher.

§ 279

§ 280

56 Dal Versprechen.

§ 281

Die zufällige Gunst des Sprechmaterials läßt oft Beispiele von Ver— sprechen entstehen, denen die geradezu niederschmettemde Wirkung einer Enthüllung oder der volle komische Effekt eines Witzes zukommt.

§ 282

So in nachstehendem vom Kollegen Dr. R ei t ler beobachteten und mitgeteilten Falle:

§ 283

„Diesen neuen, reizenden Hut haben Sie wohl sich selbst aufgepntzt ?" sagte eine Dame in bewunderndem Tone zu einer anderen.

§ 284

„Die Fortsetzung des beabsichtigten Lobes mußte nunmehr unter— bleiben; denn die im stillen geübte Kritik, der Hutaufputz sei eine „Patzerei“, hatte sich denn doch viel zu deutlich in dem unliebsamen Versprechen geäußert, als daß irgend welche Phrasen konventioneller Bewunderung noch glaubwürdig erschienen wären.“

§ 285

Oder wie in einem von Dr. F e r e 11 &: zi mitgeteilten Falle:

§ 286

„Kommen Sie geschminkt“ (anstatt geschwind) sagte eine meiner Patientinnen zu ihrer deutsch sprechenden Schwiegermutter. Sie verriet durch diesen Lapsus, was sie gerade vor ihr verheim]ichen wollte: den Unwillen über die Gefallsucht der alten Frau.“

§ 287

Es kommt gar nicht so selten vor, daß jemand, der in einer anderen als seiner Muttersprache redet, sein Ungeschick zu den sinnvollsten Versprechungen in der ihm fremden Sprache verwendet.

§ 288

Oder in folgendem von Dr. Max Graf erlebtem Beispiele:

§ 289

„In der Generalversarnrnlung des ]oumalistenvereins „Concordia“ hält ein junges, stets geldbediirftiges Mitglied eine heftige Oppositionsrede und sagt in seiner Erregung: „Die Herren Vo r s c h u B mitglieder (anstatt V o r stands- oder Aus 5 c h u B mitglieder). Dieselben haben das Recht, Darlehen zu bewilligen, und auch der junge Redner hat ein Darlehensgesucb eingebracht.“

§ 290

Erheiternd wirkt das Versprechen, wenn es als Mittel benützt wird, um Während eines Widerspruches zu bestätigen, was dem Arzte in der psychoanalytiscben Arbeit sehr willkommen sein mag. Bei einem meiner Patienten hatte ich einst einen Traum zu deuten, in welchem der Name ] an n e r vorkam. Der Träumer kannte eine Person dieses Namens, es ließ sich aber nicht finden, weshalb diese Person in den Zusammenhang des Traumes aufgenommen war, und darum wagte ich die Vermutung, es könne bloß wegen des Namens, der an den Schimpf Gauner anklinge, geschehen sein. Der Patient widersprach rasch und energisch, versprach sich aber dabei und bestätigte meine Vermutung, indem er sich der Ersetzung ein zweites Mal bediente. Seine Antwort lautete: Das erscheint mir doch zu jewagt. Als ich ihn auf das Versprechen aufmerksam machte, gab er meiner Deutung nach.

§ 291

§ 292

Das Versprechen. 57

§ 293

Wenn im ernsthaften Wortstreit ein solches Versprechen, welches die Redeabsicht in ihr Gegenteil verkehrt, sich dem einen der beiden Streiter ereignet, so setzt es ihn sofort in Nachteil gegen den anderen, der & selten versäumt, sich seiner verbesserten Position zu bedienen.

§ 294

Es wird dabei klar, daß die Menschen ganz allgemein dem Versprechen wie anderen Fehlleistungen dieselbe Deutung geben, wie ich sie in diesem Buche vertrete, auch wenn sie sich in der Theorie nicht für diese Auffassung einsetzen und wenn sie für ihre eigene Person nicht geneigt sind, auf die rnit der Duldung der Fehlhandlungen ver— bundene Bequemlichkeit zu verzichten. Die Heiterkeit und der Hohn, die solches Fehlgehen der Rede im entscheidenden Moment mit Gewißheit hervorrufen, zeugen gegen die angeblich allgemein zugelassene Konvention. ein Versprechen sei ein Lapsus linguae und psychologisch bedeutungslos. Es war kein geringerer als der deutsche Reichskanzler Fürst Bülow, der durch solchen Einspruch die Situation zu retten versuchte, als ihm der Wortlaut seiner Verteidigungsrede für seinen Kaiser (Nov. 1907) durch ein Versprechen ins Gegenteil nmschlug.

§ 295

„Was nun die Gegenwart, die neue Zeit Kaiser Wilhelms II., angeht, so kann ich nur wiederholen, was ich vor einem Jahre gesagt habe, daß es unbillig und ungerecht wäre, von einem Ring verantwortlicher Ratgeber um unseren K a i s e r z u s p r e c h e n (lebhafte Zuruie: Unverantwortlicher), u n v e r a n t w o r t 1 i c h e r Ratgeber zu sprechen. Verzeihen Sie den Lapsus linguae.“ (Heiterkeit.)

§ 296

“ Indes der Satz des Fürsten B ii 1 o w war durch die Häufung der Negationen einigermaßen undurchsichtig ausgefallen; die Sympathie für den Redner und die Rücksicht auf seine schwierige Stellung wirkten dahin, daß dies Versprechen nicht weiter gegen ihn ausgenützt wurde. Schlimmer erging es ein Jahr später an demselben Orte einem anderen, der zu einer r ü c k h al t 1 o s e n Kundgebung an den Kaiser anifordern wollte und dabei durch ein böses Versprechen an andere in seiner loyalen Brust wohnende Gefühle gemahnt wurde:

§ 297

„Latt mann (Dtsch.-sm.)z Wir stellen uns bei der Frage der Adresse auf den Boden der G e s c h ä t t s o r d n n n g des Reichstages. Danach hat der Reichstag das Recht, eine solche Adresse an den Kaiser einzureichen. Wir glauben, daß der einheitliche Gedanke und der Wunsch des deutschen Volkes dahin geht, eine e i n h e i t l i c h e K u n d g e b u n g auch in dieser Angelegenheit zu erreichen, 'nnd

§ 298

§ 299

58 Du Versprechen.

§ 300

wenn wir das in einer Form tun können, die den monarchischen Gefühlen durchaus Rechnung trägt, so sollen wir das auch rückgratlos tun. (Stürmische Heiterkeit, die minutenlang anhält.) Meine Herren, es hieß nicht rückgratlos, sondern r ii c k h a l t l o s (Heiterkeit), und solche rückhaltlose Äußerung des Volkes, das wollen wir hoffen, nimmt auch unser Kaiser in dieser schweren Zeit entgegen.“

§ 301

Der „V o r w i r t 5“ vom 12. November 1908 versäumte es nicht, die psychologische Bedeutung dieses Versprechens aufzuzeigen: „Riickgratlos vor dem Kaiserthron.“

§ 302

„Nie ist wohl je in einem Parlament von einem Abgeordneten in unfreiwilliger Selbstbezichtigung seine und der Parlamentsmehrheit Haltung gegenüber dem Monarchen so treffend gekennzeichnet werden, wie das dem Antisemiten Lattmann gelang, als er am zweiten Tage der Interpellation mit teierlichem Pathos in das Bekenntnis entgleiste, er und seine Freunde wollten dem Kaiser r ü c k g r a tl os ihre Meinung sagen.“

§ 303

„Stürmische Heiterkeit auf allen Seiten erstickte die weiteren Worte des Unglücklichen, der es noch für notwendig hielt, ausdrücklich entschuldigend zu stammeln, er meine eigentlich „rückhaltlos".“

§ 304

Ein schönes Beispiel von Versprechen, welches nicht so sehr den Verrat des Redners als die Orientierung des außer der Szene stehenden Hörers bezweckt, findet sich im W all e 11 s t e i 11 (Piccolomini, I. Aufzug, 5. Auftritt) und zeigt uns, daß der Dichter, der sich hier dieses Mittels bedient, Mechanismus und Sinn des Versprechens wohl gekannt hat. Max Piccolomini hat in der vorhergehenden Szene aufs leidenschaftlichste für den Herzog Partei genommen und dabei von den Segnnngen des Friedens geschwärrnt, die sich ihm auf seiner Reise enthüllt, während er die Tochter Wallensteins ins Lager begleitet. Er läßt seinen Vater und den Abgasanclten des Hofes, Questenberg, in voller Bestiirzung zurück. Und nun geht der fünfte Auftritt weiter:

§ 305

Questenberg: 0 weh uns! Steht es 50?

§ 306

Freund, und wir lassen ihn in diesem Wahn Dahingehen, rufen ihn nicht gleich

§ 307

Zurück, daß wir die Augen auf der Stelle Ihm öffnen ?

§ 308

Octavio: (am einem tiefen Nachdenken zu sich kommend)

§ 309

Mir hat er sie jetzt geöffnet. Und mehr erblick ich, als mich freut.

§ 310

§ 311

Das Versprechen. 59

§ 312

Questenberg: Was ist es, Freund?

§ 313

Octavio: Fluch über diese Reise! Questenberg: Wieso? Was ist es? Octavia: Kommen Sie! Ich muß

§ 314

Segleich die unglückselige Spur verfolgen, Mit meinen Augen sehen — kommen Sie —— (will ihn fortfiihren). Questenberg: Was denn? Wohin? Octavia (pressiert): Zu ihr! Questenberg: Zu — Octavia (korrigiert sich): Zum Herzog! Gehen wir! usw. Dies kleine Versprechen: Zu ihr anstatt: Zu ihm soll uns verraten, daß der Vater das Motiv der Parteinahme seines Sohnes durchschaut hat, während der Höfling klagt, „daß er in lauter Rätseln zu ihm rede“.

§ 315

Die hier vertretene Auffassung des Versprechens hält übrigens der Probe an dem Kleinsten Stand. Ich habe wiederholt zeigen können, daß die geringfügigsten und naheliegendsten Fälle von Redein'ung ihren guten Sinn haben und die nä.mliche Lösung zulassen wie die auffälligeren Beispiele. Eine Patientin, die ganz gegen meinen Willen, aber mit starkem eigenem Vorsatze einen kurzen Ausflug nach Budapest unternimmt, rechtfertigt sich vor mir, sie gehe ja nur für drei T a g e dahin, verspricht sich aber und sagt: nur für drei Wochen. Sie verrät, daß sie mir zum Trotze lieber drei Wochen als drei Tage in jener Gesellschaft bleiben will, die ich als unpassend für sie erachte. —» Ich soll mich eines Abends entschuldigen, daß ich meine Frau nicht vom Theater abgeholt und sage: Ich war In Minuten n a ch 10 Uhr beim Theater. Man korrigiert mich: Du Willst sagen: vor 10 Uhr. Natürlich wollte ich v o r 10 Uhr sagen. N a c h 10 Uhr wäre ja keine Entschuldigung. Man hatte mir gesagt, auf dem Theaterzettel stehe, Ende vor 10 Uhr. Als ich beim Theater anlangte, fand ich das Vostibül verdunkelt und das Theater entleert. Die Vorstellung war eben friiher zu Ende gewesen und meine Frau hatte nicht auf mich gewartet. Als ich auf die Uhr sah, fehlten noch 5 Minuten zu 10 Uhr. Ich nahm mir aber vor, meinen Fall zu Hause günstiger darzustellen und zu sagen, es hätten noch 10 Minuten zur zehnten Stunde gefehlt. Leider verdarb mir das Versprechen die Absicht und stellte meine Unauirichtigkeit bloß, indem es mich selbst mehr bekennen ließ, als ich zu bekennen hatte.

§ 316

Man gelangt von hier aus zu jenen Redestörungen, die nicht mehr als Versprechen beschrieben werden, weil sie nicht das einzelne Wort,

§ 317

§ 318

60 Verlegen und Verschreiben.

§ 319

sondern Rhythmus und Ausführung der ganzen Rede beeinträchtigen, wie z. B. das Stammeln und Stottern der Verlegenheit. Aber hier wie dort ist es der innere Konflikt, der uns durch die Störung der Rede verraten wird. Ich glaube wirklich nicht, daß jemand sich versprechen würde in der Audienz bei Seiner Majestät, in einer ernstgemeinten Liebeswerbung, in einer Verteidigungsrede um Ehre und Namen vor den Ge— schworenen, kurz in all den Fällen, in denen man ganz dabei ist , wie wir so bezeichnend sagen. Selbst bis in die Schätzung des Stils, den ein Autor schreibt, dürfen wir und sind wir gewöhnt, das Erklärungs— prinzip zu tragen, welches wir bei der Ableitung des einzelnen Sprechiehlers nicht entbehren können. Eine klare und unzweideutige Schreibweise belehrt uns, daß der Autor hier mit sich einig ist, und wo wir gezwungenen und gewundenen Ausdruck finden, der, wie so richtig gesagt wird, nach mehr als einem Scheine schielt, da können wir den Anteil eines nicht genugsam erledigten, komplizierenden Gedankens erkennen oder die erstickte Stimme der Selbstkn'fik des Autors heraushöreul).

§ 320

VI.

§ 321

Verlesen und Verschreiben.

§ 322

Daß für die Fehler im Lesen und Schreiben die nämlichen Gesichtspunkte und Bemerkungen Geltung haben wie für die Sprechiehler, ist bei der inneren Verwandtschaft dieser Funktionen nicht zu verwundem. Ich werde mich hier darauf beschränken, einige sorgfältig analysierte Beispiele mitzuteilen, und keinen Versuch unternehmen, das Ganze der Erscheinungen zu umfassen.

§ 323

A. Verlesen.

§ 324

3) Ich durchblättere im Caféhause eine Nummer der „Leipziger Illustrierten“, die ich schräg vor mir halte, und lese als Unterschrift eines sich über die Seite erstreckenden Bildes: Eine Hochzeitsfeier in d e r 0 d y s s e e. Aufmerksam geworden und verwundert rücke ich

§ 325

1) Ce qu'on coneoit bien S'nnnonce clairement Es les mut: pour le dir: Arrivent aisément. Boilenu, Art poétique.

§ 326

sondern Rhythmus und Ausführung der ganzen Rede beeinträchtigen, wie z. B. das Stammeln und Stottern der Verlegenheit. Aber hier wie dort ist es der innere Konflikt, der uns durch die Störung der Rede verraten wird. Ich glaube wirklich nicht, daß jemand sich versprechen würde in der Audienz bei Seiner Majestät, in einer ernstgemeinten Liebeswerbung, in einer Verteidigungsrede um Ehre und Namen vor den Geschworenen, kurz in all den Fällen, in denen man ganz dabei ist, wie wir so bezeichnend sagen. Selbst bis in die Schätzung des Stils, den ein Autor schreibt, dürfen wir und sind wir gewöhnt, das Erklärungsprinzip zu tragen, welches wir bei der Ableitung des einzelnen Sprechfehlers nicht entbehren können. Eine klare und unzweideutige Schreibweise belehrt uns, daß der Autor hier mit sich einig ist, und wo wir gezwungenen und gewundenen Ausdruck finden, der, wie so richtig gesagt wird, nach mehr als einem Scheine schielt, da können wir den Anteil eines nicht genugsam erledigten, komplizierenden Gedankens erkennen oder die erstickte Stimme der Selbstkritik des Autors heraushören1)1).

§ 327

VI.

§ 328

Verlesen und Verschreiben.

§ 329

Daß für die Fehler im Lesen und Schreiben die nämlichen Gesichtspunkte und Bemerkungen Geltung haben, wie für die Sprechfehler, ist bei der inneren Verwandtschaft dieser Funktionen nicht zu verwundern. Ich werde mich hier darauf beschränken, einige sorgfältig analysierte Beispiele mitzuteilen, und keinen Versuch unternehmen, das Ganze der Erscheinungen zu umfassen.

§ 330

A. Verlesen.

§ 331

a) Ich durchblättere im Caféhaus eine Nummer der „Leipziger Illustrierten", die ich schräg vor mir halte, und lese als Unterschrift eines sich über die Seite erstreckenden Bildes: Eine Hochzeitsfeier in der Odyssee. Aufmerksam geworden und verwundert rücke ichmir das Blatt zurecht und korrigiere jetzt: Eine Hochzeitsfeier an der Ostsee. Wie komme ich zu diesem unsinnigen Lesefehler? Meine Gedanken lenken sich sofort auf ein Buch von Ruths „Experimentaluntersuchungen über Musikphantome usw.“, das mich in der letzten Zeit viel beschäftigt hat, weil es nahe an die von mir behandelten psychologischen Probleme streift. Der Autor verspricht für nächste Zeit ein Werk, welches „Analyse und Grundgesetze der Traumphänomene“ heißen wird. Kein Wunder, daß ich, der ich eben eine „Traumdeutung“ veröffentlicht habe, mit größter Spannung diesem Buche entgegensehe. In der Schrift Ruths über Musikphantome fand ich vorne im Inhaltsverzeichnis die Ankündigung des ausführlichen induktiven Nachweises, daß die althellenischen Mythen und Sagen ihre Hauptwurzeln in Schlummer- und Musikphantomen, in Traumphänomenen und auch in Delirien haben. Ich schlug damals sofort im Texte nach, um herauszufinden, ob er auch um die Zurückführung der Szene, wie Odysseus vor Nausikaa erscheint, auf den gemeinen Nacktheitstraum wisse. Mich hatte ein Freund auf die schöne Stelle in G. Kellers „Grünem Heinrich“ aufmerksam gemacht, welche diese Episode der Odyssee als Objektivierung der Träume des fern von der Heimat irrenden Schiffers aufklärt, und ich hatte die Beziehung zum Exhibitionstraum der Nacktheit hinzugefügt (2. Aufl. S. 170). Bei Ruths entdeckte ich nichts davon. Mich beschäftigen in diesem Falle offenbar Prioritätsgedanken.

"§ 332

1)1) Ce qu’on conçoit bien S’annonce clairement Es les mots pour le dire Arrivent aisément. Boileau, Art poétique.

§ 333

"
§ 334

b) Wie kam ich dazu, eines Tages aus der Zeitung zu lesen: „Im Faß durch Europa, anstatt: zu Fuß?“ Diese Auflösung bereitete mir lange Zeit Schwierigkeiten. Die nächsten Einfälle deuteten allerdings: Es müsse das Faß des Diogenes gemeint sein, und in einer Kunstgeschichte hatte ich unlängst etwas über die Kunst zur Zeit Alexanders gelesen. Es lag dann nahe, an die bekannte Rede Alexanders zu denken: Wenn ich nicht Alexander wäre, möchte ich Diogenes sein. Auch schwebte mir etwas von einem gewissen Hermann Zeitung vor, der in eine Kiste verpackt sich auf Reisen begeben hatte. Aber weiter wollte sich der Zusammenhang nicht herstellen, und es gelang mir nicht, die Seite in der Kunstgeschichte wieder aufzuschlagen, auf welcher mir jene Bemerkung ins Auge gefallen war. Erst Monate später fiel mir das beiseite geworfene Rätsel plötzlich wieder ein, und diesmal zugleich mit seiner Lösung. Ich erinnerte mich an die Bemerkung in einem Zeitungsartikel, was für sonderbare Arten der Beförderung die Leute jetzt wählten, um nach Paris zur Weltausstellung zu kommen, und dort war auch, wie ich glaube, scherzhaft

§ 335

62 Verleeen und Venchreiben.

§ 336

mitgeteilt werden, daß irgend ein Herr die Absicht habe, sich von einem anderen Heim in einem Faß nach Paris rollen zu lassen.

§ 337

Natürlich hätten diese Leute kein anderes Motiv, als durch solche Tor— heiten Aufsehen zu machen. Hermann Zeitung war in der“ Tat der Name desjenigen Mannes, der für solche außergewöhnliche Beförderungen das erste Beispiel gegeben hatte. Dann fiel mir ein, daß ich einmal einen Patienten behandelt, dessen krankhafte Angst vor der Zeitung sich als Reaktion gegen den krankhaften E h r g e i z auflöste, sich gedruckt und als berühmt in der Zeitung erwähnt zu sehen. Der ma.zedonische Alexander war gewiß einer der ehrgeizigsten Männer, die je gelebt. Er klagte ja., daß er keinen Horner finden werde, der seine Taten besinge. Aber wie konnte ich nur nicht d aran denken, daß ein anderer Alexander mir näher stehe, daß Alexander der Name meines jüngeren Bruders ist! Ich fand nun sofort den anstößigen und der Verdrängung bedürftigen Gedanken inbetreff dieses Alexanders und die aktuelle Veranlassung für ihn. Mein Bruder ist Sachverständiger in Dingen, die Tarife und Transpor te angehen, und sollte zu einer gewissen Zeit für seine Lehrtätigkeit an einer kommerziellen Hochschule den Titel Professor erhalten. Für die gleiche B e i ö r d e r u n g war ich an der Universität seit mehreren Jahren vorgeschlagen, ohne sie erreicht zu haben. Unsere Mutter äußerte damals ihr Befremden darüber, daß ihr kleiner Sohn eher Professor werden sollte als ihr großer. So stand es zur Zeit, als ich die Lösung für jenen Leseirrtum nicht finden konnte. Dann erhoben sich Schwierigkeiten auch bei meinem Bruder; seine Chancen, Professor zu werden, fielen noch unter die meinigen. Da aber wurde mir plötzlich der Sinn jenes Verlesens offenbar; es war, als hätte die Minderung in den Chancen des Bruders ein Hindernis beseitigt. Ich hatte mich so benommen, als läse ich die Ernennung des Bruders in der Zeitung und sagte mir dabei: Merkwürdig, daß man wegen solcher Dummheiten (wie er sie als Beruf betreibt) in der Zeitung stehen (d. h. zum Professor ernannt werden) kann! Die Stelle über die hellenistische Kunst im Zeitalter Alexanders schlug ich dann ohne Mühe auf und überzeugte mich zu meinem Erstaunen, daß ich während des vorherigen Suchens wiederholt auf derselben Seite gelesen und jedesmal wie unter der Herrschaft einer negativen Halluzination den betreffenden Satz übergangen hatte. Dieser enthielt übrigens gar nichts, was mir‘ Aufklärung brachte, was des Vergessens wert gewesen wäre. Ich meine, das Symptom des Nichtauffindens im Buche ist nur zu meiner Irretührung geschaffen werden. Ich sollte die Fortsetzung der Gedanken

§ 338

§ 339

. Vale-en und Venchreiben. . 63

§ 340

verknüpfung dort suchen, wo meiner Nachforschung ein Hindernis in den Weg gelegt war, also in irgend einer Idee über den mazedonischen Alexander, und sollte so vom gleichnamigen Bruder sicherer nbgelenkt werden. Dies gelang auch vollkommen; ich richtete alle meine Bemühungen darauf, die verlorene Stelle in jener Kunstgeschichte wieder aufzuiinden.

§ 341

Der Doppelsinn des Wortes „B e f 5 r d e r u n g“ ist in diesem Falle die Assoziationsbriicke zwischen den zwei Komplexen, dem unwichtigen, der durch die Zeitungsnotiz angeregt wird, und dem interessanteren, aber anstößigen, der sich hier als Störung des zu Lesenden geltend machen darf. Man ersieht aus diesem Beispiel, daß es nicht immer leicht wird, Vorkommnisse wie diesen Leseiehler aufzuklären. Gelegentlich ist man auch genötigt, die Lösung des Rätsels auf eine günstigere Zeit zu verschieben. ]e schwieriger sich aber die lösungsarbeit erweist, desto sicherer darf man erwarten, daß der endlich aufgedeckte störende Gedanke von unserem bewußten Denken als fremdartig und gegensätzlich beurteilt werden wird.

§ 342

c) Ich erhalte eines Tages einen Brief aus der Nähe Wiens, der mir eine erschütternde Nachricht mitteilt. Ich rufe auch sofort meine Frau an und fordere sie zur Teilnahme daran auf, daß die arme Wilhelm M. so schwer erkrankt und von den Ärzten aufgegeben ist. An den Worten, in welche ich mein Bedauern kleide, muß aber etwas falsch geklungen haben, denn meine Frau wird mißtrauisch, verlangt den Brief zu sehen und äußert als ihre Überzeugung, so könne es nicht darin stehen, denn niemand nenne eine Frau nach dem Namen des Manns, und überdies sei der Korrespondentin der Vorname der Frau sehr wohl bekannt. Ich verteidige meine Behauptung hartnäckig und verweise auf die so gebräuchlichen Visitkarten, auf denen eine Frau sich selbst mit dem Vornamen des Manns bezeichnet. Ich muß endlich den Brief zur Hand nehmen, und wir lesen darin tatsächlich „der arme W. M.“, ja sogar was ich ganz übersehen hatte: „d e r arme Dr. W. M.". Mein Versehen bedeutete also einen, sozusagen krampfhaften, Versuch, die traurige Neuigkeit von dem Marine auf die Frau zu überwälzen. Der zwischen Artikel, Beiwort und Name eingeschobene Titel paßte schlecht zu der Forderung, es müßte die Frau gemeint sein. Darum wurde er auch beim Lesen beseitigt. Das Motiv dieser Verfälschung war aber nicht, daß mir die F ran weniger sympathisch wäre als der Mann, sondern das Schicksal des armen Mannes hatte meine Besorgnissa um eine andere, mir nahe stehende Person rege gemacht, welche eine der mir bekannten Krankheitsbedingungen mit diesem Falle gemeinsam hatte.

§ 343

§ 344

64 Verlelen und Verschreibn.

§ 345

d) Ärgerlich und lächerlich ist mir ein Verlesen, dem ich sehr häufig unterliege, wenn ich in den Ferien in den Straßen einer fremden Stadt spaziere. Ich lese dann jede Ladentafel, die dem irgendwie entgegenkommt als: Antiquitäten. Hierin äußert sich die Aben— teuerlust des Sammlers.

§ 346

e) B l e ul e r erzählt in seinem bedeutsamen Buche .,Aiiektivität, Suggestibilität, Paranoia" (1906) S. 121: „Beim Lesen hatte ich einmal das intellektuelle Gefühl, zwei Zeilen weiter unten meinen Namen zu sehen. Zu meinem Erstaunen finde ich nur das Wort „Blutkörperchen“. Unter vielen Tausenden von mir analysierten Verlesungen des peripheren wie des zentralen Gesichtsfeldes ist dieses der krasseste Fall. Wenn ich etwa meinen Namen zu sehen glaubte, so war das Wort, das dazu Anlaß gab, meist viel ähnlicher meinem Namen, in den meisten Fällen mußten geradezu alle Buchstaben des Namens in der Nähe vorhanden sein, bis mir ein solcher Irrtum begegnen konnte. In diesem Falle ließ sich aber der Beziehungswahn und die Illusion sehr leicht begründen: Was ich gerade 135, war das Ende einer Bemerkung über eine Art schlechten Stiles von wissenschaftlichen Arbeiten, von der ich mich nicht frei fühlte.“

§ 347

f) In den „Witzigen und Satirischen Einfällen“ von L i c h t e n berg findet sich eine Bemerkung, die wohl einer Beobachtung ent— stammt und die ganze Theorie des Verlesens enthält: Er las immer Agamemnon statt „angenommen“, so sehr hatte er den Homer gelesen.

§ 348

B. Verschreiben.

§ 349

a) Auf einem Blatte, welches kurze tägliche Aufzeichnungen meist von geschäftlichen] Interesse enthält, finde ich zu meiner Überraschung mitten unter den richtigen Daten des Monats September eingeschlossen das verschriebene Datum „Donnerstag, den 20. Okt.“ Es ist nicht schwierig, diese Antizipation aufzuklären, und zwar als Aus« druck eines Wunsches. Ich bin wenige Tage vorher frisch von der F erienreise zurückgekehrt und fühle mich bereit für ausgiebige ärztliche Beschäftigung, aber die Anzahl der Patienten ist noch gering. Bei meiner Ankunft fand ich einen Brief von einer Kranken vor, die sich für den 20. 0 k t 0 b e r ankündigte. Als ich die gleiche Tageszahl im September niederschrieb, karm ich wohl gedacht haben: Die X. sollte doch schon da. sein; wie schade um den vollen Monat! und in diesem Gedanken rückte ich das Datum vor. Der störende Gedanke ist in diesem Falle kaum ein anstößiger zu nennen; dafiir weiß ich auch

§ 350

§ 351

Verlag und Venchreiben. 65

§ 352

sofort die Auflösung des Schreibfehlers, nachdem ich ihn erst bemerkt habe. Ein ganz analoges und ähnlich motivietes Verschreiben wiederhole ich dann im Herbst des nächsten jahren.

§ 353

b) Ich erhalte die Korrektur meines Beitrags zum Jahresbericht für Neurologie und Psychiatrie und muß natürlich mit besonderer Sorgfalt die Autornamen revidieren, die, weil verschiedenen Nationen angehörig, dem Setzer die größten Schwierigkeiten zu bereiten pflegen. Manchen iremd klingenden Namen finde ich wirklich noch zu korrigieren, aber einen einzigen Namen hat merkwürdiger Weise der Setzer g e g e n mein Manuskript verbessert und zwar mit vollem Rechte. Ich hatte nämlich B u ck r h a r d geschrieben, woraus der Setzer B u r c k — h a 'r d erriet Ich hatte die Abhandlung eines Gehurtshelfers über den Einfluß der Geburt auf die Entstehung der Kinderlähmungen selbst als verdienstlich gelobt, wiißte auch nichts gegen deren Autor zu sagen, aber den gleichen Namen wie er trägt auch ein Schriftsteller in Wien, der mich durch eine unverständige Kritik über meine „Traumdeutung“ geärgert hat. Es ist gerade so, als hätte ich mir bei der Niederschrift des Namen Burckhard, der den Geburtshelfer bezeichnete, etwas Argos über den anderen B., den Schriftsteller, gedacht, denn Namenverdrehen bedeutet häufig genug, wie ich schon beim Versprechen erwähnt habe, Schmähung‘).

§ 354

c) Ein anscheinend ernsterer Fall von Verschreiben, den ich vielleicht mit ebensoviel Recht dem „Vergreiien" einordnen könnte: Ich habe die Absicht, mir aus der Postsparkasse die Summe von 300 Kronen kommen zu lassen, die ich einem zum Kurgebrauch abwesenden Verwandten schicken will. Ich bemerke dabei, daß mein Konto auf 4380 Kr. lautet und nehme mir vor, es jetzt auf die runde Summe von 4000 Kr. herunterzusetzen, die in der nächsten Zeit nicht angegriffen werden soll. Nachdem ich den Scheck ordnungsmäßig ausgeschrieben und die der Zahl entsprechenden Ziffern ausgeschnitten habe, merke ich plötzlich, daß ich nicht 380 Kr., wie ich wollte, sondern gerade 488 bestellt habe, und erschrecke über die Unzuverlässigkeit meines Tuns. Den Schreck erkenne ich bald als unberechtigt; ich bin ja jetzt nicht ä.imer geworden, als ich vorher war. Aber ich muß eine ganze Weile dariiber nachsinnen,

§ 355

1) Vgl. etwa. die Stelle im Julius Caesar III, 3: Cinna Ehrlich, mein Name ist Cinna B ü r g e r. Reißt ihn in Stücke! er ist ein Verschworener. Cin n 3. Ich bin Cinna der Poetl Ich bin nicht Cinna. der Verschworene. B ürg er. Es tut nichts; sein Name ist Cinna, reißt ihm den Namen aus dem Herzen und laßt ihn laufen. Freud, Psychnpavhn1n;i: des Alltagsleben 5

§ 356

§ 357

66 Valencia und Verschreiben.

§ 358

welcher Einfluß hier meine erste Intention gestört hat, ohne sich meinem Bewußtsein anzukiindigen. Ich gerate zuerst auf falsche Wege, will die beiden Zahlen, 380 und 438, voneinander abziehen, weiß aber dann nicht, was ich mit der Differenz anfangen soll. Endlich zeigt mir ein plötzlicber Einfall den wahren Zusammenhang. 438 entspricht ja 2 e h n P r o z e n t des ganzen Konto von 4380 Kr.! 10% Rabatt hat man aber beim B uchhändler. Ich besinne mich, daß ich vor wenigen Tagen eine Anzahl medizinischer Werke, die ihr Interesse für mich verloren haben, ausgesucht, um sie dem Buchhändler gerade für 300 Kronen anzubieten. Er fand die Fordenmg zu hoch und versprach, in den nächsten Tagen endgültige Antwort zu sagen. Wenn er mein Angebot annimmt, so hat er mir gerade die Summe ersetzt, welche ich fü' den Kranken verausgaben soll. Es ist nicht zu verkennen, daß es mir um diese Ausgabe leid tut. Der Affekt bei der Wahrnehmung meines Irrtums läßt sich besser verstehen als Furcht, durch solche Ausgaben am zu werden. Aber beides, das Bedauern wegen dieser Ausgabe und die an sie geknüpfte Verarmungsangst, sind meinem Bewußtsein völlig fremd; ich habe das Bedaueru nicht verspürt, als ich jene Summe zusagte, und fände die Motivierung desselben lächerlich. Ich würde mir eine solche Regung wahrscheinlich gar nicht zutrauen, wenn ich nicht durch die Übung in Psychoanalysen bei Patienten mit dem Verdrängten im Seelenleben ziemlich vertraut wäre, und wenn ich nicht vor einigen Tagen einen Traum gehabt hätte, welcher die nämliche Lösung eriorderte‘).

§ 359

d) Nach meinem Kollegen Dr. W. S t ek el zitiere ich folgenden Fall, für dessen Authenzität ich gleichfalls einstehen kann: „Ein geradezu unglaubliches Beispiel im Verschreiben und Verlesen ist in der Redaktion eines verbreiteten Wochenblattes vorgekommen. Die betreffende Leitung wurde öffentlich als „käuflich“ bezeichnet; es galt, einen Artikel der Abwehr und Verteidigung zu schreiben. Das geschah auch — mit großer Wärme und großem Pathos. Der Chefredakteur des Blattes las den Artikel, der Verfasser selbstverständlich mehrmals im Manuskript, dann noch im Bürstenabzuge, alle waren sehr befriedigt. Plötzlich meldet sich der Korrektor, und macht auf einen kleinen Fehler aufmerksam, der der Aufmerksamkeit aller entgangen war. Dort stand es ja deutlich: Unsere Leser werden uns das Zeugnis ausstellen, daß wir

§ 360

1) Es ist dies jener Traum, den ich in einer kurzen Abhandlung. „Uber den Traum", No. VIII der „Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens", herausgegeben von Löw enfeld und Kurella, rpm, zum Paradigma genommen habe.

§ 361

§ 362

Verleien und Vmchreihen. 67

§ 363

immerineigennützigs terWeisefür dasWohlder Allgemeinheit eingetreten sind. Selbstverständlich sollte es u n e i g e n n ii t z i g s t e r Weise heißen. Aber die wahren Gedanken brachen mit elementarer Gewalt durch die pathetische Rede.”

§ 364

e) Ein Arzt hat ein Kind untersucht und schreibt nun ein Rezept für dasselbe nieder, in welchem Ale oh 01 vorkommt. Die Mutter belästigt ihn während dieser Tätigkeit mit törichten und überflüssigen Fragen. Er nimmt sich innerlich fast vor, sich jetzt darüber nicht zu ärgern, führt diesen Vorsatz auch durch, hat sich aber während der Störung verschrieben. Auf dem Rezept steht anstatt Al (: o h 01 zu lesen Achol 1).

§ 365

f) Eine Dame richtet an ihre Schwester einige beglückwünschende Zeilen zum Einzug in deren neue und geräumige Wohnung. Eine dabei anwesende Freundin bemerkt, daß die Schreiberin eine falsche Adresse auf den Brief gesetzt hat, und zwar nicht die der eben verlassenen Wohnung, sondern die der ersten, längst aufgegebenen, welche die Schwester als eben verheiratete Frau bezogen hatte. Sie macht die Schreiberin darauf aufmerksam. Sie haben Recht, muß diese zugeben, aber wie komme ich darauf? Warum habe ich das getan? Die Freundin meint: Wahrscheinlich gönnen Sie ihr die schöne große Wohnung nicht, die sie jetzt bekommen 5011, während Sie sich selbst im Raum beengt fühlen, und versetzen sie darum in die erste Wohnung zurück, in der sie es auch nicht besser hatte. Gewiß gönne ich ihr die neue Wohnung nicht, gesteht die Andere ehrlich zu. Sie setzt dann fort: Wie schade, daß man bei diesen Dingen immer so gemein ist!

§ 366

W u n d t gibt eine bemerkenswerte Begründung für die leicht zu bestätigende Tatsache, daß wir uns leichter verschreiben als versprechen (1. c. S. 374). „Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hemmungsiunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen. Wird die den Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch mechanische Ursachen verlangsamt wie beim Schreiben . . . ., so treten daher solche Antizipationen besonders leicht ein.“

§ 367

Die Beobachhmg der Bedingungen, unter denen das Verlesen auftritt, gibt Anlaß zu einem Zweifel, den ich nicht unerwähnt lassen möchte, weil er nach meiner Schätzung der Ausgangspunkt einer fruchb baren Untersuchung werden kann. Es ist jedermann bekannt, wie häufig heim V o r le 5 e n die Aufmerlsamkeit des Lesenden den Text

§ 368

1) Etwa: Keine Galle. "

§ 369

§ 370

68 Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

§ 371

verläßt und sich eigenen Gedanken zuwendet. Die Folge dieses Abschweifens der Aufmerksamkeit ist nicht selten, daß er überhaupt nicht anzugeben weiß, was er gelesen hat, wenn man ihn im Vorlesen unterbricht und befragt. Er hat. dann wie automatisch gelesen, aber er hat fast immer richtig vorgelesen. Ich glaube nicht, daß die Lasefehler sich unter solchen Bedingungen merklich vermehren. Von einer ganzen Reihe von Funktionen sind wir auch gewöhnt anzunehmen, daß sie automatisch, also von kaum bewußter Aufmerksamkeit begleitet, am exaktesten vollzogen werden. Daraus scheint zu folgen, daß die Aufmerksamkeitsbedingung der Sprech—, Lese- und Schreibfehler anders zu bestimmen ist, als sie bei W u n d t lautet (Wegfall oder Nachlaß der Aufmerksamkeit). Die Beispiele, die wir der Analyse unterzogen haben, gaben uns eigentlich nicht das Recht, eine quantitative Verminderung der Aufmerksamkeit anzunehmen; wir fanden, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist, eine S t 6 r u n g der Aufmerksamkeit dnrch einen fremden, Anspruch erhebenden Gedanken.

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VII.

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Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

§ 374

Wenn jemand geneigt sein sollte, den Stand unserer gegenwärtigen Kenntnis vom Seelenleben zu überschätzen, so brauchte man ihn nur an die Gedächtnisfunktion zu mahnen, um ihn zur Bescheidenheit zu zwingen. Keine psychologische Theorie hat es noch vermocht, von dem fundamentalen Phänomen des Erinnerns und Vergessens im Zusammenhange Rechenschaft zu geben; ja, die vollständige Zergliederung dessen, was man als tatsächlich beobachten kann, ist noch kaum in Angriff genommen. Vielleicht ist uns heute das Vergessen rätselhaf‘ter geworden als das Erinnern, seitdem uns das Studium des Traumes ,und pathologischer Ereignisse gelehrt hat, daß auch das plötzlich wieder im Bewußtsein auftauchen kann, was wir für längst vergessen geschätzt haben.

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Wir sind allerdings im Besitze einiger weniger Gesichtspunkte, für welche wir allgemeine Anerkennung erwarten. Wir nehmen an, daß das Vergessen ein spontaner Vorgang ist, dem man einen gewissen zeitlichen Ablauf zuschreiben kann. Wir heben hervor, daß beim Vergßsen eine gewisse Auswahl unter den dargebotenen Eindrücken statt

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verläßt und sich eigenen Gedanken zuwendet. Die Folge dieses Abschweifens der Aufmerksamkeit ist nicht selten, daß er überhaupt nicht anzugeben weiß, was er gelesen hat, wenn man ihn im Vorlesen unterbricht und befragt. Er hat dann wie automatisch gelesen, aber er hat fast immer richtig vorgelesen. Ich glaube nicht, daß die Lesefehler sich unter solchen Bedingungen merklich vermehren. Von einer ganzen Reihe von Funktionen sind wir auch gewöhnt anzunehmen, daß sie automatisch, also von kaum bewußter Aufmerksamkeit begleitet, am exaktesten vollzogen werden. Daraus scheint zu folgen, daß die Aufmerksamkeitsbedingung der Sprech-, Lese- und Schreibfehler anders zu bestimmen ist, als sie bei Wundt lautet (Wegfall oder Nachlaß der Aufmerksamkeit). Die Beispiele, die wir der Analyse unterzogen haben, gaben uns eigentlich nicht das Recht, eine quantitative Verminderung der Aufmerksamkeit anzunehmen; wir fanden, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist, eine Störung der Aufmerksamkeit durch einen fremden, Anspruch erhebenden Gedanken.

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Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

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Wenn jemand geneigt sein sollte, den Stand unserer gegenwärtigen Kenntnis vom Seelenleben zu überschätzen, so brauchte man ihn nur an die Gedächtnisfunktion zu mahnen, um ihn zur Bescheidenheit zu zwingen. Keine psychologische Theorie hat es noch vermocht, von dem fundamentalen Phänomen des Erinnerns und Vergessens im Zusammenhange Rechenschaft zu geben; ja, die vollständige Zergliederung dessen, was man als tatsächlich beobachten kann, ist noch kaum in Angriff genommen. Vielleicht ist uns heute das Vergessen rätselhafter geworden als das Erinnern, seitdem uns das Studium des Traumes und pathologischer Ereignisse gelehrt hat, daß auch das plötzlich wieder im Bewußtsein auftauchen kann, was wir für längst vergessen geschätzt haben.

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Wir sind allerdings im Besitze einiger weniger Gesichtspunkte, für welche wir allgemeine Anerkennung erwarten. Wir nehmen an, daß das Vergessen ein spontaner Vorgang ist, dem man einen gewissen zeitlichen Ablauf zuschreiben kann. Wir heben hervor, daß beim Vergessen eine gewisse Auswahl unter den dargebotenen Eindrücken statt

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findet und ebenso unter den Einzelheiten eines jeden Eindrucks oder Erlebnisses. Wir kennen einige der Bedingungen für die Haltbarkeit im Gedächth und für die Erweckharkeit dessen, was sonst vergessen würde. Bei unzähligen Anlässen im täglichen Leben können wir aber bemerken, wie unvollständig und unbefriedigend unsere Erkenntnis ist. Man höre zu, wie zwei Personen, die gemeinsam äußere Eindrücke empfangen, z. B. eine Reise miteinander gemacht haben, eine Zeitlang später ihre Erinnerungen austauschen. Was dem einem fest im Gedächtnis geblieben ist, das hat der andere oft vergessen, als ob es nicht geschehen wäre, und zwar ohne daß man ein Recht zur Behauptung hätte, der Eindruck sei für den einen psychisch bedeutsamen“ gewesen als für den anderen. Eine ganze Anzahl der die Auswahl fürs Gedächtnis hestinunenden Momente entzieht sich offenbar noch unserer Kenntnis.

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In der Absicht, zur Kenntnis der Bedingungen des Vergessens einen kleinen Beitrag zu liefern, pflege ich die Fälle, in denen mir das Vergessen selbst widerfährt, einer psychologischen Analyse zu unterziehen. Ich beschäftige mich in der Regel nur mit einer gewissen Gruppe dieser Fälle, mit jenen nämlich, in denen das Vergessen mich in Erstaunen setzt, weil ich nach meiner Erwartung das Betreffende wissen sollte. Ich will noch bemerken, daß ich zur Vergeßlichkeit im allgemeinen (für Erlebtes, nicht für Gelerntes!) nicht neige, und daß ich durch eine kurze Periode meiner Jugend auch außergewöhnlicher Gedächtnisleistungen nicht unfähig war. In meiner Schulknabenzeit war es mir selbstverständlich, die Seite des Buches, die ich gelesen hatte, auswendig hersagen zu können, und kurz vor der Universität war ich imstande, populäre Vorträge Wissenschaftlichen Inhalts unmittelbar nachher fast wortgetreu niederzuschreiben, In der Spannung vor dem letzten medizinischen Rigorosum muß ich noch Gebrauch von dem Rest dieser Fähigkeit gemacht haben, denn ich gab in einigen Gegenständen den Prü.tern wie automatisch Antworten, die sich getreu mit dem Text des Lehrbuches deckten, welchen ich doch nur einmal in der größten Hast durchflogen hatte.

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Die Verfügung über den Gedächtnisschatz ist seither bei mir immer schlechter geworden, doch habe ich mich bis in die letzte Zeit hinein überzeugt, daß ich mit Hilfe eines Kunstgriftes weit mehr erinnern kann, als ich mir sonst zutraue. Wenn z. B. ein Patient in der Sprech— stunde sich darauf beruft, daß ich ihn schon einmal’gesehen habe, und ich mich weder an die Tatsache noch an den Zeitpunkt erinnern kann, so helfe ich mir, indem ich rate, d. h. mir rasch eine Zahl von Jahren, von der Gegenwart an gerechnet, einfallen lasse. Wo Auf—

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schreibungen oder die sichere Angabe des Patienten eine Kontrolle meines Einfalles ermöglichen, da zeigt es sich, daß ich selten um mehr als ein Halbjahr bei über 10 Jahren geh-rt habel). Ähnlich, wenn ich einen entfernteren Bekannten treffe, den ich aus Höflichkeit nach seinen kleinen Kindern frage. Erzählt er von den Fortschritten derselben, so suche ich mit einfallen zu lassen, wie alt das Kind jetzt ist, kontrolliere durch die Auskunft des Vaters und gehe höchstens um einen Monat, bei älteren Kindern um ein Vierteljahr fehl, obwohl ich nicht angeben kann, welche Anhaltspunkte ich für diese Schätzung hatte. Ich bin zuletzt so kühn geworden, daß ich meine Schätzung immer spontan vorbringe, und laufe dabei nicht Gefahr, den Vater durch die Bloßstellung meiner Unwissenheit über seinen Sprößling zu krä.nken. Ich erweitere so mein bewußtes Erinnern durch Anrufen meines jedenfalls weit reichhaltigeren unbewußten Gedächtnisses.

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Ich werde also über auffällige Beispiele von Vergessen, die ich zumeist an mir selbst beobachtet, berichten. Ich unterscheide Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen, also von Wissen, und Ver— gessen von Vorsätzen, also Unterlassungen. Das einförmige Ergebnis der ganzen Reihe von Beobachtungen kann ich voranstellem I n allen Fällen erwies sich das Vergessen als begründet durch ein Unlustmotiv.

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A. Vergessen von Eindrücken und Kenntnissen.

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a) Im Sommer gab mir meine Frau einen an sich harmlosen Anlaß zu heftigem Ärger. Wir saßen an der Table d'höte einem Herrn aus Wien gegenüber, den ich kannte, und der sich wohl auch an mich zu erinnern wußte. Ich hatte aber meine Gründe, die Bekarmtschaft nicht zu erneuern. Meine Frau, die nur den ansehnlichen Namen ihres Gegen— über gehört hatte, verriet zu sehr, daß sie seinem Gespräch mit den Nachbarn zuhörte, denn sie wandte sich von Zeit zu Zeit an mich mit Fragen, die den dort gßponnenen Faden aufnehmen. Ich wurde ungeduldig und endlich gereizt. Wenige Wochen später führte ich bei einer Verwandten Klage über dieses Verhalten meiner Frau. Ich war aber nicht imstande, auch nur ein Wort von der Unterhaltung jenes Herrn zu erinnern. Da ich sonst eher nachtragend bin und keine Einzelheit einen Vox-falls, der mich geärgert hat, vergessen kann, ist meine Amnesie in diesem Falle wohl durch Rücksichten auf die Person der Ehefrau

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1) Gewöhnlich pflegen dann im Laufe der Besprechung die Einzelheiten des damaligen ersten Besuches bewußt aufzutanehen.

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motiviert. Ähnlich erging es mir erst vor kurzem wieder. Ich wollte mich gegen einen intim Bekannten über eine Äußerung meiner Frau lustig machen, die erst vor wenigen Stunden gefallen war, fand mich aber in diesem Vorsatz durch den bemerkenswerten Umstand gehindert, daß ich die betreffende Äußerung spurlos vergessen hatte. Ich mußte erst meine Frau bitten, mich an dieselbe zu erinnern. Es ist leicht zu verstehen, daß dies mein Vergessen analog zu fassen ist der typischen Urteilsstörung, welcher wir unterliegen, wenn es sich um unsere nächsten Angehörigen handelt. ‘

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I)) Ich hatte es übernommen, einer fremd im Wien angekommenen Dame eine kleine eiserne Handkassette zur Aufbewahrung ihrer Dokumente und Gelder zu besorgen. Als ich mich dazu erbot, schwebte mir mit ungewöhnlicher visueller Lebhattigkeit das Bild einer Auslage in der Inneren Stadt vor, in welcher ich solche Kassen gesehen haben mußte. Ich konnte mich zwar an den Namen der Straße nicht erinnern, fühlte mich aber sicher, daß ich den Laden auf einem Spaziergang durch die Stadt auffinden werde, denn meine Erinnerung sagte mir, daß ich. unzählige Male an ihm vorübergegangen sei. Zu meinem Ärger gelang es mir aber nicht, diese Auslage mit den Kassetten aufzufinden, obwohl ich die Innere Stadt nach allen Richtungen durchstreifte. Es blieb mir nichts anderes übrig, meinte ich, als mir aus einem Adressenkalender die Kassenl'abrikanten herauszusuchen, um dann auf'einem zweiten Rundgang die gesuchte Auslage zu identifizieren. Es bedurfte aber nicht soviel; unter den im Kalender angezeigten Adressen befand sich eine, die sich mir sofort als die vergessene enthüllte. Es war richtig, daß ich mgezählte Male an dem Auslagefenster vorübergegangen war, jedesmal nämlich, wenn ich die Familie M. besucht hatte, die seit langen Jahren in dem nämlichen Hause wohnt. Seitdem dieser intime Verkehr einer völligen Entfremdung gewichen war, pflegte ich, ohne mir von den Gründen Rechenschaft zu geben, auch die Gegend und das Haus zu meiden. Ani jenem Spaziergang durch die Stadt hatte ich, als ich die Kassetten in der Auslage suchte, jede Straße in der Umgebung begangen, dieser einen aber war ich, als ob ein Verbot darauf läge, ausgewichen. Das Unlustmotiv, welches in diesem Fall meine Unorientiertheit ver— schuldete, ist greifbar. Der Mechanismus des Vergessens ist aber nicht mehr so einfach wie im vorigen Beispiel. Meine Abneigung gilt natürlich nicht dem Kassenfabrikanten, sondern einem anderen, von dem ich nichts wissen will, und überträgt sich von diesem anderen auf die Gelegenheit, wo sie das Vergessen zustande bringt. Ganz ähnlich hatte im Falle B u r c k h a t d der Groll gegen den einen den Schreib

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fehler im Namen hervorgebracht, wo es sich um den anderen handelte. Was hier die Namensgleichheit leistete, die Verknüpfung zwischen zwei im Wesen verschiedenen Gedankenkreisen herzustellen, das konnte im Beispiel von dem Auslagefenster die Kontiguität im Raum, die untrennbare Nachbarschaft, ersetzen. Übrigens war dieser letzte Fall fester gefiigt; es fand sich noch eine zweite inhaltliche Verknüpfung vor, denn unter den Gründen der Entfremdung mit der im Hause wohnenden Familie hatte das Geld eine Rolle gespielt.

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c) Ich werde von dem Bureau B. & R. bestth, einen ihrer Beamten ärztlich zu besuchen. Auf dem Wege zu dessen Wohnung beschäftigt mich die Idee, ich müßte schon wiederholt in dem Hause gewesen sein, in welchem sich die Firma befindet. Es ist mir, als ob mir die Tafel derselben in einem niedrigen Stockwerk aufgefallen wäre, während ich in einem höheren einen ärztlichen Besuch zu machen hatte. Ich kann mich aber weder daran erinnern, welches dieses Haus ist, noch wen ich dort besucht habe. Obwohl die ganze Angelegenheit gleichgültig und bedeutungslos ist, beschäftige ich mich doch mit ihr und erfahre endlich auf dem gewöhnlichen Umwege, indem ich meine Einfälle dazu samrnle, daß sich einen Stock über den Lokalitäten der Firma B. & R. die Pension F i s c h e r befindet, in welcher ich häufig Patienten besucht habe. Ich kenne jetzt auch das Haus, welches die Bureaus und die Pension beherbergt. Rätselhaft ist mir noch, welches Motiv bei diesem Vergessen im Spiele war. Ich finde nichts für die Erinnerung Anstößigß an der Firma selbst oder an Pension Fischer oder an den Patienten, die dort wohnten. Ich vermute auch, daß es sich um nicht sehr Peinliches handeln kann; sonst wäre es mir kaum gelungen, mich des Vergessenen auf einem Umwege wieder zu bemächtigen, ohne äußere Hilfsmittel wie im vorigen Beispiel heranzuziehen. Es fällt mir endlich ein, daß mich eben vorhin, als ich den Weg zu dem neuen Patienten antrat, ein Herr auf der Straße gegrüßt hat, den ich Mühe hatte zu erkennen. Ich hatte diesen Mann vor Monaten in einem anscheinend schweren Zustand gesehen und die Diagnose der progressiven Paralyse über ihn verhängt, dann aber gehört, daß er hergestth sei, so daß mein Urteil unrichtig gewesen wäre. Wenn nicht etwa hier eine der Remissionen vorliegt, die sich auch bei Dementia paralytica finden, so daß meine Diagnose doch noch gerechtfertigt wäre! Von dieser Begegnung ging der Einfluß aus, der mich an die Nachbarschaft der Bureaus von B. & R. vergessen ließ, und mein Interesse, die Lösung des Vergessenen zu finden, war von diesem Fall strittiger Diagnostik her übertragen. Die assoziative Verknüpfung aber wurde bei geringem inneren Zusammen—

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hang — der wider Erwarten Genesene war auch Beamter eines großen Bureaus, welches mit Kranke zuzuweisen pflegte —— durch eine Namensgleichheit besorgt. Der Arzt, mit welchem gemeinsam ich den fraglichen Paralytiker gesehen hatte, hieß auch F is c h e r , wie die in dem Haus befindliche, vom Vergessen betroffene Pension.

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d) Ein Ding v erle gen heißt ja nichts anderes als vergessen, wohin man es gelegt hat, und wie die meisten mit Schriften und Büchern hantierenden Personen bin ich auf meinem Schreibtisch wohl orientiert und weiß das Gesuchte mit einem Griff hervorzuholen. Was anderen als Unordnung erscheint, ist für mich historisch gewordene Ordnung. Warum habe ich aber unlängst einen Bücherkatalog, der mir zugeschickt wurde, so verlegt, daß er unauffindbar geblieben ist? Ich hatte doch die Absicht, ein Buch, das ich darin angezeigt fand, „Über die Sprache“, zu bestellen, weil es von einem Autor herrührt, dessen geistreich belebten Stil ich liebe, dessen Einsicht in der Psychologie und dessen Kenntnisse in der Kulturhistorie ich zu schätzen weiß. Ich meine, gerade darum habe ich den Katalog verlegt. Ich pflege nämlich Bücher dieses Autors zur Aufklärung unter meinen Bekannten zu verleihen, und vor wenigen Tagen hat mir jemand bei der Rückstellung gesagt: „Der Stil erinnert mich ganz an den Ihrigen, und auch die Art zu denken ist dieselbe.“ Der Redner wußte nicht, an was er mit dieser Bemerkung rührte. Vor Jahren, als ich noch jünger und anschlußbedürftiger war, hat mir ungefähr das Nämliche ein älterer Kollege gesagt, dem ich die Schriften eines bekannten medizinischen Autors angepriesen hatte. „Ganz Ihr Stil und Ihre Art.“ So beeinflußt hatte ich diesem Autor einen um näheren Verkehr werbenden Brief geschrieben, wurde aber durch eine kühle Antwort in meine Schranken zurückgewiesen. Vielleicht verbergen sich außerdem noch frühere abschreckende Erfahrungen hinter dieser letzten, denn ich habe den verlegten Katalog nicht wiedergefunden und bin durch dieses Vorzeichen wirklich abgehalten werden, das angezeigte Buch zu bestellen, obwohl ein wirkliches Hindernis durch das Verschwinden des Kataloges nicht geschaffen werden ist. Ich habe ja die Namen des Buches und des Autors im Gedächtnis behaltenl).

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e) Ein anderer Fall von Verlegen verdient wegen der Be—

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dingungen, unter denen das Verlegte wiedergefunden wurde, unser Interesse. Ein jüngerer Mann erzählt mir: Es gab vor einigen Jahren

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1) Für vielerlei Zulälligkeiten. die man seit Th. Vischer der „Tücke des Objekts" zuschreibt. möchte ich ähnliche Erklärungen vorschlagen.

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Mißverständnisse in meiner Ehe, ich fand meine Frau zu kühl, und obwohl ich ihre vortreiflichen Eigenschaften gerne anerkannte, lebten wir ohne Zärtlichkeit nebeneinander. Eines Tages brachte sie mir von einem Spaziergange ein Buch mit, das sie gekauft hatte, weil es mich interessieren dürfte. Ich dankte für dißes Zeichen von „Aufmerksamkeit“, versprach das Buch zu lesen, legte es mir zurecht und fand es nicht wieder. Monate vergingen so, in denen ich mich gelegentlich an dies verschollene Buch erinnerte und es auch vergeblich aufzufinden versuchte. Etwa ein halbes Jahr später erkrankte meine, getrennt von uns wohnende, geliebte Mutter. Meine Frau verließ das Haus, um ihre Schwiegermutter zu pflegen. Der Zustand der Kranken wurde ernst und gab meiner Frau Gelegenheit, sich von ihren besten Seiten zu zeigen. Eines abends komme ich begeistert von der Leistung meiner Frau und dankerfüllt gegen sie nach Hause. Ich trete zu meinem Schreibtisch, öffne ohne bestimmte Absicht, aber wie mit somnambuler Sicherheit eine bestimmte Lade desselben und zuoberst in ihr finde ich das so lange vermißte, das verlegte Buch.

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f) Das nachstehende Beispiel von „Verlegen“ entspricht einem Typus, der jedem Psychoanalytiker bekannt geworden ist. Ich darf angeben, der Patient, der dieses Verlegen produzierte, hat den Schlüssel dazu selbst gefunden:

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Ein in psychoanalytjscher Behandlung stehender Patient, bei dem die sommerliche Unterbrechung der Kur in eine Periode des Widerstandes und schlechten Beiindens fällt, legt abends beim Entkleiden seinen Schlüsselbund, wie er meint, auf den gewohnten Platz. Dann erinnert er sich, daß er für die Abreise am nächsten Tag, dem letzten der Kur, an dem auch das Honorar fällig wird, noch einige Gegenstände aus dem Schreibtisch nehmen will, wo er auch das Geld ver— wahrt hat. Aber die Schlüssel sind — verschwunden. Er beginnt seine kleine Wohnung systematisch, aber in steigender Erregung abzusuchen — ohne Erfolg. Da er das „Verlegen“ der Schlüssel als Symptomhandlung, also als beabsichtigt, erkennt, weckt er seinen Diener, um mit Hilfe einer „unbetangenen" Person weiterzusuchen. Nach einer weiteren Stunde gibt er das Suchen auf und fürchtet, daß er die Schlüssel verloren habe. Am nächsten Morgen bestellt er beim Fabrikanten der Schreibtischkasse neue Schlüssel, die in aller Eile angefertigt werden. Zwei Bekannte, die ihn im Wagen nach Hause begleitet haben, wollen sich erinnern, etwas auf dem Boden klirren gehört zu haben, als er aus dem Wagen stieg. Er ist überzeugt, daß ihm die Schlüssel aus der Tasche gefallen sind. Abends präsentierte ihm der Diener trium—

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phierend die Schlüssel. Sie lagen zwischen einem dicken Buch und einer dünnen Broschüre, einer Arbeit einen meiner Schüler, die er zur Lektüre für die Ferien mitnehmen wollte, so geschickt hingelegt, daß niemand sie dort vermutet hätte. Es war ihm dann unmöglich, die Lage der Schlüssel so unsichtbar nachzuahmen. Die unbewußte Geschicklichkeit, rnit der ein Gegenstand infolge von geheimen aber starken Motiven verlegt wird, erinnert ganz an die „somnambule Sicherheit“. Das Motiv war natürlich Unmut über die Unterbrechung der Kur und die geheime Wut, bei so schlechtem Befinden ein hohes Honorar zahlen zu müssen.

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Wenn man die Fälle von Verlegen übersieht, wird es wirklich schwer anzunehmen, daß ein Verlegen jemals anders als infolge einer unbewußten Absicht erfolgt.

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g) Im Sommer des jahres Igor erklärte ich einmal einem Freunde, mit dem ich damals in regem Gedankenaustausch über wissenschaftliche Fragen stand: Diese neurotischen Probleme sind nur dann zu lösen, wenn wir uns ganz und voll auf den Boden der Annahme einer ursprünglichen Bisexualität des Individuums stellen. Ich erhielt zur Antwort: „Das habe ich dir schon vor 2% Jahren in Br. gesagt, als wir jenen Abendspaziergang machten. Du wolltest damals nichts davon hören." Es ist nun schmerzhch, so zum Aufgeben seiner Originalität aufgefordert zu werden. Ich konnte mich an ein solches Gespräch und an diese Eröffnung meines Freundes nicht erinnern. Einer von uns beiden mußte sich da. täuschen; nach dem Prinzip der Frage cui prodest? mußte ich das sein. Ich habe im Laufe der nächsten Wochen in der Tat alles so erinnert, wie mein Freund es in mir erwecken wollte; ich weiß selbst, was ich damals zur Antwort gab: Dabei halte ich noch nicht, ich will mich darauf nicht einlassen. Aber ich bin seither um ein Stück toleranter geworden, wenn ich irgendwo in der medizinischen Literatur auf eine der wenigen Ideen stoße, mit denen man meinen Namen verknüpfen kann, und wenn ich dabei die Erwähnung meinös Namens vermisse.

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Ausstellungen an seiner Ehefrau — Freundschaft„ die ins Gegenteil umschlagen hat —— Irrtum in ärztlicher Diagnostik — Zurück« weisung durch Gleichstrebende — Entlehnung von Ideen; es ist wohl kaum zufällig, daß eine Anzahl von Beispielen des Vergessers, die ohne auswahl gesammelt werden sind, zu ihrer Auflösung des Eingehens auf , so peinliche Themata bedürfen. Ich vermute vielmehr, daß jeder andere, der sein eigenes Vergessen einer Prüfung nach den Motiven unterziehen will, eine ähnliche Musterkarte von Widerwärtigkeiten

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aufzeichnen können wird. Die Neigung zum Vergessen des Unan« genehmen scheint mir ganz allgemein zu sein; die Fähigkeit dazu ist wohl bei verschiedenen Personen verschieden gut ausgebildet. Manches A b 1 e u g n e n , das uns in der ärztlichen Tätigkeit begegnet, ist wahr— scheinlich “auf V e r g e s s e n zurückzuführen 1). Unsere Auffassung eines solchen Vergessens beschränkt den Unterschied zwischen dem und jenem'Benehmen allerdings auf rein psychologische Verhältnisse und gestattet uns, in beiden Reaktionsweisen den Ausdruck desselben Motivs zu sehen. Von all den zahlreichen Beispielen der Verleugnung unangenehmer Erinnerungen, die ich bei Angehörigen von Kranken gmehen habe, ist mir eines als besonders seltsam im Gedächtnis ge— blieben. Eiue Mutter informierte mich über die Kinderjahre ihres nervenkranken, in der Pubertät befindlichen Sohnes und erzählte dabei, daß er wie seine Geschwister bis in späte Jahre an Bettnässen gelitten habe, was ja für eine neurotische Krankengoschichte nicht bedeu

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1) Wenn man sich bei einem Menschen erkundigt. ob er vor in oder 15 Jahren eine luet:ische Infektion durchgemacht hat, vergißt man zu leicht daran, daß du Befragte diesen Krankheitszuiall psychisch ganz anders behandelt hat als etwa einen akuten Rheumatismus. — In den Anamnesen, welche Eltern über ihre neurot-isch erkrankten Töchter geben. ist der Anteil des Vergessens von dem des Verbergens kaum je mit Sicherheit zu sondern. weil alles, was der späteren Verheiratung des Mädchens im Wege steht, von den Eltern systematisch beseitigt, d. h. verdrängt wird. — Ein Mann. der vor kurzem seine geliebte Frau an einer Lungenaifekticn verloren, teilt mir nachstehenden Fall von Irreführnng der ärztlichen Erkundigung mit, der nur au! solches Vergessen zurückführbar ist: „Als die Plenritis meiner armen Frau nach vielen Wochen noch nicht weichen wollte. wurde Dr, P. als Conailiarius berufen. Bei der Aufnahme der Anamnese stellte er die üblichen Fragen. 11. a. auch, ob in der Familie meiner Frau etwa Lungenkmnkheiten vorgekommen seien. Meine Frau verneinte und auch ich erinnerte mich nicht. Bei der Verabschiedung des Dr. P. kommt das Gespräch wie zufällig auf Ausflüge, und meine Frau sagt: ja auch bis Langersdori, wo mein armer Bruder begraben liegt, ist eine weite Reise. Dieser Bruder war vor etwa 15 Jahren nach mehrjährigern tuberkulösen Leiden gestorben. Meine Frau hatte ihn sehr geliebt und mir oft von ihm gesprochen. Ja, es fiel mir ein, daß sie seinerzeit. als die Plenritis festgestellt wurde, sehr besorgt war und trübsinnig meinte: Auch mein Bruder ist an der Lunge gestorben. Nun aber war die Erinnerung daran so sehr verdrängt, daß sie auch nach dern vorhin angeführten Anspruch über den Ausflug nach L. keine Veranlasmng fand, ihre Auskunft über Erkrankungen in ihrer Familie zu. korrigieren. Mir selbst fiel das Vergessen in demselben Moment wieder ein, wo sie von Langerudori sprach." ‘

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tungslos ist. Einige Wochen später, als sie sich Auskunft über den Stand der Behandlung holen wollte, hatte ich Anlaß, sie auf die Zeichen konstitutioneller Krankheitsveranlagung bei dem jungen Mann aufmerksam zu machen, und berief mich hierbei auf das anarnnestisch erhobene Bettnässen. Zu meinem Erstaunen bestritt sie die Tatsache sowohl fiir dies als auch für die anderen Kinder, fragte mich, woher ich das wissen könne, und hörte endlich von mir. daß sie selbst es mir vor kurzer Zeit erzählt habe, was also von ihr vergessen werden war!).

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Man findet also auch bei gesunden, nicht neurotisrhen Menschen reichlich Anzeichen dafür, daß sich der Erinnerung an peinliche Ein-4 drücke, der Vorstellung peinlicher Gedanken, ein Widerstand entgegensetzt 2). Die volle Bedeutung dieser Tatsache läßt sich aber erst ermessen,

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‘) In den Tagen. während ich mit der Niedelschrift dieser Seiten beschäftigt war. ist mir folgender, fast unglaublicher Fall von Vergessen wideriahren. Ich revidiere am 1. Januar mein ärztliches Buch, um meine Honorarreohnungen aussenden zu können. stoße dabei im Juni auf den Namen M. . . .] und kann mich an eine zu ihm gehörige Person nicht erinnern. Mein Befremden wächst. indem ich beim Weiterblättern bemerke. daß ich den Fall in einem Sanatorium behandelt. und daß ich ihn durch Wochen täglich besucht habe. Einen Kranken, mit dem man sich unter solchen Bedingungen beschäftigt. vergißt man als Arzt nicht nach kaum 6 Monaten. Sollte & ein Mann, ein Paralytiker, ein Fall ohne Intense gewesen sein. frage ich mich? Endlich bei dem Vermerk über das empfangene Honorar kommt mir all die Kenntnis wieder. die sich der Erinnerung entäehen wollte. M. . . ,I war ein „ jährigen Mädchen gewesen. der merkwürdigste Fall meiner letzten Jahre. welcher mir eine Ichre hinterlassen. die ich kaum je vergessen werde. und dessen Ausgang mir die peinlichsten Stunden bereitet hat. Das Kind erkrankte an unzweideutiger Hysterie. die sich auch unter meinen Händen rasch und gründlich besserte. Nach dieser Besserung wurde mir das Kind von den Eltern entzogen; es klagte noch über abdominale Schmerzen. denen die Hauptrolle im Symptombild der Hysterie zugeiallen war. Zwei Monate später war 3 an Sarkom der Unterleibsdrüsen gestorben. Die Hysterie, zu der das Kind nebstbei prädisponiert war, hatte die Tumorbildnng zur provozierenden Ursache genommen. und ich hatte. von den Lirmenden, aber harmlosen Erscheinungen der Hysterie gefesselt, vielleicht die ersten Anzeichen der schleichenden unheilvollen Erkrankung übersehen.

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') A. Pick hat kürzlich (Zur Psychologie des Vergessene bei Geistes— und Nervenhanken, Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalish'k von H. Gross) eine Reihe von Autoren zusammengestellt. die den Einfluß effektiver Faktoren auf das Gedächtnis würdigen und —— mehr oder minder deutlich -— den Beitrag anerkennen, den das Abwehrbeutreben gegen Unlnst zum Vergesen leistet. Keiner von uns allen hat aber das Phänomen und 85119

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wenn man in die Psychologie neurotischer Personen eingeht. Man ist genötigt, ein solches elementares Abwehrbestre ben gegen Vorstellungen, welche Unlustempfindungen erwecken können, ein Bestreben, das sich nur dem Fluchtretlex bei Schmerzreizen an die Seite stellen läßt, zu einem der Hauptpieiler des Mechanismus zu machen, welcher die hysterischen Symptome trägt. Man möge gegen die Annahme einer solchen Abwehrtendenz nicht einwenden, daß wir es im Gegenteil häufig genug unmöglich finden, peinliche Erinnerungen, die uns verfolgen, los zu werden und peinliche Affektregungen wie Reue, Gewissensvorwiirfe zu verscheuchen, Es wird ja nicht behauptet, daß diese Abwehrtendenz sich überall durchzusetzen vermag, daß sie nicht im Spiel der psychischen Kräfte auf Faktoren stoßen kann, welche zu anderen Zwecken das Entgegengesetzte anstreben und. ihr zum Trotz zustande bringen. Als das architektonische Prinzip des seelischen Apparates läßt sich die Schichtung, der Aufbau aus einander überlagernden Instanzen erraten, und es ist sehr wohl möglich, daß dies Abwehrbestreben einer niedrigeren psychischen Instanz angehört, von höheren Instanzen aber gehemmt wird. Es spricht jedenfalls fiir die Existenz und Mächtigkeit dieser Tendenz zur Abwehr, wenn wir Vorgänge wie die in unseren Beispielen von Vergessen auf sie zurück« führen können. Wir sehen, daß manches um seiner selbst willen vergessen wird; wo dies nicht möglich ist, verschiebt die Abwehrtendenz ihr Ziel und bringt wenigstens etwas anderes, minder Bedeutsarnes, zum Vergessen, welchß in assoziative Verknüpfung mit dem eigentlich Anstößigen geraten ist.

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Der hier entwickelte Gesichtspunkt, daß peinlicbe Erinnerungen mit besonderer Leichtigkeit dern motivierten Vergesen verfallen, verdiente auf mehrere Gebiete bezogen zu werden, in denen er heute noch keine oder eine zu geringe Beachtung gefunden hat. So erscheint er mir noch immer nicht genügend scharf betont bei der Würdigung von Zeugenaussagen vor Gericht 1), wobei man offenbar der unter Eidstellung des Zeugen einen allzu großen purifizierenden Einfluß auf

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psychologische Begründung so erschöpfend und zugleich so eindrucksvoll darstellen können wie Nietzsche in einem seiner Aphorismen (Jenseits von Gut und Böse. II. Hauptstück 68): „Das habe ich getan, sagt mein „Ge. dächtnis". Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."

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1) Vgl. H a. n s G r 0 B , Kriminalpsychologie 1898.

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dessen psychischen Ktäitespiel zutraut. Daß man bei der Entstehung der Traditionen und der Sagengeschichte eines Volkes einem solchen Motiv, das dem Nationalgefühl Peinliche aus der Erinnerung aus'zumerzen, Rechnung tragen muß, wird allgemein zugestanden. Vielleicht würde sich bei genauerer Verfolgung eine vollständige Analogie herausstellen zwischen der Art, wie Völkertraditiunen und wie die Kindheitserinnenmgen des einzelnen Individuums gebildet werden.

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Ganz ähnlich wie beim Nameuvergessen kann auch beim Vergessen von Eindrücken Fehlerinnem eintreten, das dort, wo es Glauben findet, als Erinnerungstäuschung bezeichnet wird. Die Erinnerungetäürschung in pathologischen Fällen —— in der Paranoia spielt sie geradezu die Rolle eines konstituierenden Momentes bei der Wahnbildung — hat eine ausgedehnte Literatur wachgeruien, in welcher ich durchgängig den Hinweis auf eine Motivierung derselben vermisse. Da auch dieses Thema der Neurosenpsychologie angehört, entzieht es sich in unserem Zusammenhange der Behandlung. Ich werde dafür ein sonderbares Beispiel einer eigenen Erinnerungstäuschung mitteilen, bei dem die Motivierung durch unbewußtes verdrängtes Material und die Art und Weise der Verknüpfung mit demselben deutlich genug kenntlich werden.

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Als ich die späteren Abschnitte meines Buches über Traumdeutung schrieb, befand ich mich in einer Sommerirische ohne Zugang zu Bibliotheken und Nachschlagebüchem und war genötigt, mit Vorbehalt späterer Korrektur, allerlei Beziehungen und Zitate aus dem Gedächtnis in das Manuskript einzutragen. Beim Abschnitt über das Tagträumen fiel mir die ausgezeichnete Figur des armen Buchhalters im „N a b a b“ von Alph. Daudet ein, mit welcher der Dichter wahrscheinlich seine eigene Träumerei geschildert hat. Ich glaubte mich an eine der Phantasien, die dieser Mann — Mr. ]ocelyn nannte ich ihn —— auf seinen Spaziergängen durch die Straßen von Paris ausbriitet, deutlich zu erinnern und begann sie aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Wie also Herr ]ocelyn auf der Straße sich kühn einem durchgehenden Pferd entgegenwirft, es zum Stehen bringt, der Wagenschlag sich öffnet, eine hohe Persönlichkeit dem Coupé entsteigt, Herrn ]ocelyn die Hand drückt und ihm sagt: „Sie sind mein Retter, Ihnen verdanke ich mein Leben. Was kann ich für Sie tun ?“ '

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Etwaige Ungenauigkeiten in der Wiedergabe dieser Phantasie, tröstete ich mich, würden sich leicht zu Hause verbessern lassen, wenn ich das Buch zur Hand nähme. Als ich dann aber den „N 3 hab“ durchblätterte, um die druckbereite Stelle meines Manuskriptfls zu vergleichen, fand ich zu meiner größten Beschämung und Bestürzung

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nichts von einer solchen Träumerei dä Herrn ]ocelyn darin, ja der arme Buchhalter trug gar nicht diesen Namen, sondern hieß Mr. ] oyeus e. Dieser zweite Irrtum gab dann bald den Schlüssel zur Klärung des ersten, der Erinnerungstäißchung. Joyeux (wovon der Name die feminine Form darstellt): so und nicht anders müßte ich ja meinen eigenen Namen: Fr e u d ins Französische übersetzen. Woher konnte also die fälschlich erinnerte Phantasie sein, die ich D an de t zugeschrieben hatte? Sie konnte nur ein eigenes Produkt sein, ein Tagtraum, den ich selbst gemacht, und der mir nicht bewußt geworden, oder der mir einst bewußt gewesen, und den ich seither gründlich vergessen habe. Vielleicht daß ich ihn selbst in Paris gemacht, wo ich oft genug einsam und voll Sehnsucht durch die Straßen spaziert bin, eines Helfels und Protektors sehr bedürftig, bis Meister C h a. r c o t mich dann in seinen Verkehr zog. Den Dichter des „N ab ab“ habe ich dann wiederholt im Hause C h ar c 0 t 5 gesehen. Das Ärgerliche an der Sache ist nur, daß ich kaum irgend einem anderen Vorstellungs— kreis so feiudselig gegenüberstehe, wie dem des Protegiertwerdens. Was man in unserem Vaterlande davon sieht, verdirbt einem alle Lust daran, und meinem Charakter sagt die Situation des Protektionskindas überhaupt wenig zu. Ich habe immer ungewöhnlich viel Neigung dazu verspiirt, „selbst der brave Mann zu sein“. Und gerade ich mußte dann an solche, übrigens nie erfüllte, Tagträume gemahnt werden. Außerdem ist der Vorfall auch ein gutes Beispiel dafür, wie die zurückgeha.ltene — in der Paranoia siegreich hervorbrechende — Beziehung zum eigenen Ich uns in der objektiven Erfassung der Dinge stört und verwirrt.

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Ein anderer Fall von Erinnenmgstäuschung, der sich befriedigend aufklären ließ, mahnt an die später zu besprechende „fausse reconnaissauce“ (vgl. Seite 139): Ich hatte einem meiner Patienten, einem ehrgeizigen und sehr befähigten Marine erzählt, daß ein junger Student sich kürzlich durch eine interessante Arbeit „Der Künstler, Versuch einer Sexualpsychologie“ in den Kreis meiner Schüler einge— führt habe. Als diese Schrift IV. Jahre später gedruckt vorlag, behauptete mein Patient, sich mit. Sicherheit daran erinnern zu können, daß er die Ankündigung derselben bereits vor meiner ersten Mit— teilung (einen Monat oder ein halbes Jahr vorher) irgendwo, etwa in einer Buchhändleranzeige, gelesen habe. Es sei ihm diese Notiz auch damals gleich in den Sinn gekommen, und er konstatiere überdies, daß der Autor den Titel verändert habe, da es nicht mehr „Versuch“, sondern „Ansätze zu einer Sexualpsychologie“ heiße. Sorgiältige

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Erkundigung beim Autor und Vergleichung aller Zeitangaben zeigten indes, daß mein Patient etwas Unmögliches erinnern wollte. Von jener Schrift war nirgends eine Anzeige vor dem Drucke erschienen, am wenigsten aber 12% Jahre vor ihrer Drucklegung. Als ich eine Deutung dieser Erinnerungstäuschung unterließ, brachte derselbe Mann eine gleichwertige Erneuerung derselben zustande. Er meinte, vor kurzem eine Schrift über „Agoraphobie“ in dem_Auslagefenster einer Buchhandlung bemerkt zu haben, und suchte derselben nun durch Nach— forschung in allen Verlagskatalogen habhait zu werden. Ich konnte ihn dann aufklären, warum diese Bemühung erfolglos bleiben mußte. Die Schrift über Agoraphobie bestand erst in seiner Phantasie als unbewußter Vorsatz und sollte von ihm selbst abgefaßt werden. Sein Ehrgeiz, es jenem jungen Marine gleichmtun und durch eine solche wissenschaftth Arbeit zum Schüler zu werden, hatte ihn zu jener ersten wie zur wiederholten Erinnenmgstäuschung geführt. Er besann sich dann auch, daß die Buchhändlerarmeige, welche ihn zu diesem falschen Erkennen gedient hatte, sich auf ein Werk, betitelt: „Genesis, Das Gesetz der Zeugung” .bezog. Die von ihm erwähnte Abänderung des Titels kam aber auf meine Rechnung, denn ich Wllßte mich selbst zu erinnern, daß ich dise Ungenauigkeit in der Wiedergabe des Titels „Versuch — anstatt: Ansä " begangen hatte.

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B. Das Vergessen von Vorsitzen.

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Keine andere Gruppe von Phänomenen eignet sich besser zum Beweis der These, daß die Geringfiigigkeit der Aufmerksamkeit für sich allein nicht hinreiche, die Fehlleistung zu erklären, als die des Vergessens von Vorsitzen. Ein Vorsatz ist ein Impuls zur Handlung, der bereits Billigung gefunden hat, dessen Ausführung aber auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben wurde. Nun kann in dem so geschaffenen Intervall allerdings eine derartige Veränderung in den Mo— tiven eintreten, daB der Vorsatz nicht zur Ausführung gelangt, aber dann wird er nicht vergessen, sondern revidiert und aufgehoben. Das Vergessen von Vorsätzen, dem wir alltäglich und in allen möglichen Situationen unterliegen, pflegen wir uns nicht durch eine Neuerung in der Motivengleichung zu erklären, sondern lassen es gemeinhin unerklärt, oder wir suchen eine psychologische Erklärung in der Annahme, gegen die Zeit der Ausführung hin habe sich die erforderliche Aufmerksamkeit fiir die Handlung nicht mehr bereit gefunden, die doch für das Zustandekommen des Vorsatzes unerläßliche Bedingung war, damals also für die nämliche Handlung zur Verfügung stand. Die Beobachtung

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Freud, Psychopadiolozie des Mugilebens.

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unseres normalen Verhaltens gegen Vorsätze läßt uns diesen Erklärungs— versuch als willkürlich abweisen. Wenn ich des Morgens einen Vorsatz fasse, der abends ausgeführt werden soll, so kann ich im Laufe des Tages einigemal an ihn gemah.nt werden. Er braucht aber tagsüber überhaupt nicht mehr bewußt zu werden. Wenn sich. die Zeit der Ausführung nähert, fällt er mir plötzlich ein und veranlaßt mich, die zur vorgesetzten Handlung nötigen Vorbereitungen zu treffen. Wenn ich auf einen Spaziergang einen Brief mitnehme, welcher noch befördert werden soll, so brauche ich ihn als normales und nicht nervöses Individuum keineswegs die ganze Strecke über in der Hand zu tragen und unterdessen nach einem Briefkasten auszuspähen, in den ich ihn werfe, sondern ich pflege ihn in die Tasche zu stecken, meiner Wege zu gehen, meine Gedanken frei schweifen zu lassen, und ich rechne darauf, daß einer der nächsten Briefkästen meine Aufmerksamkeit erregen und mich veranlassen wird, in die Tasche zu greifen und den Brief hervorzuziehen. Das normale Verhalten bei gefaßtem Vorsatz deckt sich vollkommen mit dem experimentell zu erzeugenden Benehmen von Personen, denen man eine sog. „posthypnotische Suggestion auf lange Sich “ in der Hypnose eingegeben hat 1). Man ist gewöhnt, das Phänomen in folgender Art zu beschreiben: Der suggerierte Vorsatz schlummert in den betreffenden Personen, bis die Zeit seiner Aus— führung herannaht. Dann wacht er auf und treibt zur Handlung. In zweierlei Lebenslagen’gibt sich auch der Laie Rechenschaft davon, daß das Vergessen in bezug auf Votsätze keineswegs den Anspruch erheben darf, als ein nicht weiter zurückfiihrbares Elementar— phänomen zu gelten, sondern zum Schluß auf uneingestandene Motive berechtigt. Ich meine: im Liebesverhältnis und in der Militärabhängig— keit. Ein Liebhaber, der das Rendezvous versäumt hat, wird sich vergeblich bei seiner Dame entschuldigen, er habe leider ganz daran vergessen. Sie wird nicht versäumen, ihm zu antworten: „Vor einem Jahr hättest du es nicht vergessen. Es liegt dir eben nichts mehr an mir.“ Selbst wenn er nach der oben erwähnten psychologischen Erklärung griffe und sein Vergessen durch gehäufte Geschäfte entschuldigen wollte, wurde er nur erreichen, daß die Dame — so scharfsichtig geworden wie der Arzt in der Psychoanalyse -— zur Antwort gäbe: „Wie merkwürdig, daß sich solche geschäftlichen Störungen früher nicht ereignet haben.” Gewiß Will auch die Dame die Möglich—

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1) Vgl. B er u h aim , Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und. Psychotherapie, 1892.

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keit des Vergessens nicht in Abrede stellen; sie meint nur, und nicht mit Unrecht, aus dem unabsichtlichen Vergessen sei ungefähr der nämliche Schluß auf ein gewisses Nichtwollen zu ziehen wie aus der bewußten Ausflucht.

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Ähnlich wird im militärischen Dienstverhältnis der Unterschied zwischen der Unterlassung durch Vergessen und der infolge von Absicht prinzipiell, und zwar mit Recht, vernachlässigt. Der Soldat darf an nichts vergessen, was der militärische Dienst von ihm fordert. Wenn er doch daran vergißt, obwohl ihm die Forderung bekannt ist, so geht dies so zu, daß sich den Motiven, die auf Erfüllung der militärischen Forderung dringen, andere Gegenmotive entgegen— stellen. Der Einjährige etwa, der sich beim Rapport entschuldigen wollte, er habe v e r g e s s e n , seine Knöpfe blank zu putzen, ist der Strafe sicher. Aber diese Straie ist geringfügig zu nennen im Vergleich zu jener, der er sich aussetzte, wenn er das Motiv seiner Unterlassung sich und seinem Vorgesetzten eingestehen wurde: „Der elende Gamaschendienst ist mir ganz zuwider.“ Wegen dieser Strafersparnis, aus ökonomischen Gründen gleichsam, bedient er sich des Vergessens als Ausrede, oder es kommt als Kompromiß zustande.

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Frauendienst wie Militärdienst erheben den Anspruch, daß alles zu ihnen Gehörige dem Vergessen entn'ickt sein müsse, und erwecken so die Meinung, Vergessen sei zulässig bei unwichtigen Dingen, während es bei wichtigen Dingen ein Anzeichen davon sei, daß man sie wie unwichtige behandeln wolle, ihnen also die Wichtigkeit abspreche. Der Gesichtspunkt der psychischen Wertschätzung ist hier in der Tat nicht abzuweisen. Kein Mensch vergißt Handlungen auszuführen, die ihm selbst wichtig erscheinen, ohne sich dem Verdachte geistiger Störung auszusetzen. Unsere Untersuchung kann sich also nur auf das Vergessen von mehr oder minder nebensächlichen Vorsätzen erstrecken; für ganz und gar gleichgültig werden wir keinen Vorsatz erachten, denn in diesem Falle wäre er wohl gewiß nicht gefaßt werden.

§ 459

Ich habe nun wie bei den früheren Funktionsstörungen die bei mir selbst beobachteten Fälle von Unterlassung durch Vergessen gesammelt und aufzuklären gesucht und hierbei ganz allgemein gefunden, daß sie auf Einmengung unbekannter und uneingestandener Motive —— oder, wie man sagen kann, auf einen G e g e n W i 11 e n — zurückzuführen waren. In einer Reihe dieser Fälle befand ich mich in einer dem Dienstverhältnisse ähnlichen Lage, unter einem Zwange, gegen welchen ich es nicht ganz aufgegeben hatte, mich zu süäuben, so daß ich durch Vergessen gegen ihn demonstrierte. Dazu gehört, daß ich

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besonders leicht vergesse, zu Geburtstagen, Jubiläen, Hochzeitsfeiern und Standeserhöhungen zu gratulieren. Ich nehme es mit immer wieder vor und überzeuge mich immer mehr, daß es mir nicht gelingen “will. Ich bin jetzt im Begriffe, darauf zu verzichten, und den Motiven, die sich sträuben, mit Bewußtsein Recht zu geben. In einem Übergangsstadium habe ich einem Freund, der mich hat, auch für ihn ein Glückwunschtelegramm zum bestimmten Termin zu besorgen, vorher gesagt, ich würde an beide vergessen, und es war nicht zu verwundern, daß die Prophezeiung wahr wurde. Es hängt nämlich mit schmerz— hohen Lebenserfahrungen zusammen, daß ich nicht imstande bin, Anteilnahme zu äußern, wo diese Äußerung notwendigerweise übertrieben ausfallen muß, da für den geringen Betrag meiner Ergriifenheit der entsprechende Ausdruck nicht zulässig ist. Seitdem ich erkannt, daß ich oft vorgebliche Sympathie bei anderen für echte genommen habe, befinde ich mich in einer Auflehnung gegen diese Konventionen der Mitgefühlsbezeugung, deren soziale Nützlichkeit ich anderseits einsehe. Kondolenzen bei Todesfällen sind von dieser zwiespältigen Behandlung ausgenommen; wenn ich mich zu ihnen entschlossen habe, versäume ich sie auch nicht. Wo meine Geiühlsbetätigung mit gesellschaftlicher Pflicht nichts mehr zu tun hat, da findet sie ihren Ausdruck auch niemals durch Vergessen gehemmt.

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Ähnlich erklären sich durch den Widerstreit einer konventionellen Pflicht und einer nicht eingstandenen inneren Schätzung die Fälle. in denen man Handlungen auszuführen vergißt, die man einem anderen zu seinen Gunsten auszuführen versprochen hat. Hier trifft es dann regelmäßig zu, daß nur der Gönner an die entschuldigende Kraft des Vergessens glaubt, während der Bittsteller sich ohne Zweifel die richtige Antwort gibt: Er hat kein Interesse daran, sonst hätte er es nicht vergessen. Es gibt Menschen, die man als allgemein vergeBlich bezeichnet und darum in ähnlicher Weise als entschuldigt gelten läßt wie etwa den Kurzsichtigen, wenn er auf der Straße nicht grüßt 1). Diese Personen vergessen alle kleinen Versprechungen, die sie gegeben, lassen alle Aufträge unausgeführt, die sie empfangen haben,

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1) Frauen sind mit ihrem (einen Verständnis tür nnbewußte seelische Vorgänge in der Regel eher geneigt, es als Beleidigung anzusehen, wenn man sie auf der Straße nicht erkennt. also nicht grüßt, als an die nächstliegenden Erklärungen zu denken, daß der Säumige kumichtig sei oder in Gedanken vereunken sie nicht bemerkt habe. Sie schließen, man hätte sie schon bemerkt, wenn man sich „etwas nur: ihnen machen wurde“.

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erweisen sich also in kleinen Dingen als unverläßlich und’erheben dabei die Forderung, daß man ihnen diese kleineren Verstöße nicht übelnehmen, d. b. nicht durch ihren Charakter erklären, sondern auf organische Eigentümlichkeit zurücktühren solle‘). Ich gehöre selbst nicht zu diesen Leuten und habe keine Gelegenheit gehabt, die Handlungen einer solchen Person zu analysieren, um durch die Auswahl des Vergasens die Motivierung desselben aufzudecken. Ich kann mich aber der Vermutung per analogiam nicht erwehren, daß hier ein ungewöhnlich großes Maß von nicht eingestandener Geringsch.ätzung des anderen das Motiv ist, welches das konstitutionelle Moment für seine Zwecke ausbeutet.

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Bei anderen Fällen sind die Motive des Vergessens weniger leicht aufzniinden und erregen, wenn gefunden, ein größeres Befremden. So merkte ich in irüheren jahren, daß ich bei einer größeren Anzahl von Krankenbesuchen nie an einen anderen Besuch vergesse als bei einem Gratispatienten oder bei einem Kollegen. Aus Beschämung hierüber habe ich mir angewöhnt, die Besuche des Tages schon am Morgen als Vorsatz zu notieren. Ich weiß nicht, ob andere Ärzte auf dem nämlichen Wege zu der gleichen Übung gekommen sind. Aber man gewinnt so eine Ahnung davon, was den sog. Neurastheniker veranlaßt, die Mitteilungen, die er dem Arzt machen will, auf dem berüchtigten „Zettel“ zu notieren. Angeblich fehlt es ihm an Zutrauen zur Reproduktionsleistung seines Gedächtnisses. Das ist gewiß richtig, aber die Szene geht zumeist so vor sich: Der Kranke hat seine verschie

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1) Dr. Ferenezi berichtet von sich, daß er selbst ein .,Zerstreuter" gewesen ist und seinen Bekannten durch die Häufigkeit und Sonderharkeit seiner Fehlhandlnngen auffällig war. Die Zeichen dieser .,Zerstrentheit" sind aber fast völlig gesehwunden. seitdem er die psychoannlytische Behandlung von Kranken zu üben begann und sich genütigt sah, auch der Analyse seines eigenen lchs Aufmerksamkeit zuzuwenden. Man verzichtet, meint er, auf die Fehlhandlungen. wenn man seine eigene antwortlichkeit um so vieles anszndehnen lernt. Er hält daher mit Recht die Zerstrentheit für einen Zustand. der von nnbewußten Komplexen abhängig und durch Psychoanalyse heilbar ist. Eines Tages aber stand er unter dem Selbltvorwurfe, bei einem Patienten einen Kunstfehler in der Psychoanalyse begangen zu haben. An diesem Tag stellten sich alle seine früheren „Zemtreutheiten“ wieder ein. Er stolperte mehrmals im Gehen auf der Straße (Darstellung jenes .,ianx pas" in der Behandlung), vergaß seine Brieftasche zu Hause. wollte auf der Trambehn einen Kreuzer weniger zahlen. hatte seine Kleidungsstücke nicht ordentlich zngeknöpft u. dgl.

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denen Beschwerden und Anfragen höchst langatmig vorgebracht. Nachdem er fertig geworden ist, macht er einen Moment Pause, darauf zieht er den Zettel hervor, und sagt entschuldigend: Ich habe mir etwas aufgeschrieben, weil ich mir so gar nichts merke. In der Regel findet er auf dem Zettel nichts Neues. Er wiederholt jeden Punkt und beantwortet ihn selbst: Ja, danach habe ich schon gefragt. Er demonstriert mit dem Zettel wahrscheinlich nur eines seiner Symptome, die Häufigkeit, mit der seine Vorsätze durch Einmengung dunkler Motive gestört werden.

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Ich rühre ferner an Leiden, an welchen auch der größere Teil der mir bekannten Gesunden krankt, wenn ich zugestehe, daß ich besonders in früheren Jahren sehr leicht und für lange Zeit vergessen habe, entlehnte Bücher zurückzugeben, oder daß es mir besonders leicht begegnet ist, Zahlungen durch Vergessen aufzuschieben. Unlängst verließ ich eines Morgens die Tabaktmfik, in welcher ich meinen täglichen Zigarreneinkauf gemacht hatte, ohne ihn zu bezahlen. Es war eine höchst harmlose Unterlassung, denn ich bin dort bekannt und konnte daher erwarten, am nächsten Tage an die Schuld gemahnt zu werden. Aber die kleine Versäumnis, der Versuch, Schulden zu machen, steht gewiß nicht außer Zusammenhang mit den Budgeterwägungen, die mich den Vortag über beschäftigt hatten. In bezug auf das Thema von Geld und Besitz lassen sich die Spuren eines zwiespältigen Verhaltens auch bei den meisten sog. anständigen Menschen leicht nachweisen. Die primitive Gier des Säuglinge, der sich aller Objekte zu bemächtigen sucht (um sie zum Munde zu führen), zeigt sich vielleicht allgemein als nur unvollständig durch Kultur und Erziehung überwunden!)

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1) Der Einheit des Themas zu].iehe darf ich hier die gewählte Einteilung durchbrechen und dem oben Gessgten anschließen. daß in bezug auf Geldsnchen das Gedächtnis der Menschen eine besondere Parteilichkeit zeigt. Erinnerungstäuschungen, etwas bereits bezahlt zu haben, sind, wie ich von mir selbst weiß, oft sehr hartnäckig. Wo der gewinnsiichtigen Absicht abseits von den großen Interessen der Lebensführung, und daher eigentlich zum Scherz, freier Lauf gelassen wird wie beim Kartenspiel, neigen die ehrlichsten Männer zu Irrtümern, Erinnerungs- und Reoheniehlern und finden sich selbst, ohne recht zu wissen wie, in kleine Betrügereien verwickelt. Auf solchen Freiheiten beruht nicht zum mindesten der psychisch erfrischend: Chuukter des Spiels. Das Sprichwort, daß man beim Spiel den Chunkter des Menschen erkennt. ist zuzugeben. wenn man hinzufügen will: den unterdrückten Charakter, ——- Wenn es unabsichtliche Rechen— fehler bei Zahlkell.nern noch gibt, so nnbuliegen sie offenbar derselben Beurteilung. —— Im Knufmsnnsstnnde kann man häufig eine gewisse Zögerung in der

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Ich fürchte, ich bin mit allen bisherigen Beispielen einfach banal geworden. Es kann mir aber doch nur recht sein, wenn ich auf Dinge stoße, die jedermann bekannt sind, und. die jeder in der nämlichen Weise versteht, da ich bloß vorhabe, das Alltägliche zu sammeln und wissenschaftlich zu verwerten. Ich sehe nicht ein, weshalb der Weis— heit, die Niederschlag der gemeinen Lebenserfahrung ist, die Aufnahme unter die Erwerbungen der Wissenschaft versagt sein sollte. Nicht die Verschiedenheit der Objekte, sondern die strengere Methode bei der Feststellung und das Streben nach weitreichenden Zusammenhang machen den wesentlichen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit aus.

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Für die Vorsätze von einigem Belang haben wir allgemein gefunden, daß sie dann vergessen werden, wenn sich dunkle Motive gegen sie erheben. Bei noch weniger wichtigen Vorsitzen erkennt man als zweiten Mechanismus des Vergessens, daß ein Gegenwille sich von wo anders her auf den Vorsatz überträgt, nachdem zwischen jenem andern und dem Inhalt des Vorsatzes eine ä u B e 1- li c h e Assoziation hergestth worden ist. Hierzu gehört folgendes Beispiel: Ich lege Wert auf schönes Löschpapier und nehme mir vor, auf meinem heutigen Nachmittagswegin die Innere Stadt neues einzukaufen. Aber an vier aufeinanderfolgendenTagenvergesse ich daran, bis ich mich befrage, welchen Grund diese Unterlassung hat. Ich finde ihn dann leicht, nachdem ich mich besonnen habe, daß ich zwar „Ifischpapier" zu schreiben, aber „Fließpapier“ zu sagen gewöhnt bin. „Fließ“ ist der Name eines Freundes in Berlin, der mir in den nämlichen Tagen Anlaß zu einem quälenden, besorgten Gedanken gegeben hatte. Diesen Gedanken kann ich nicht los werden, aber die Abwehmeigung (vgl. S. 78) äußert sich, indem sie sich mittels der Wortgleichheit auf den indifferenten und darum wenig resistenten Vorsatz überträgt.

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Direkter Gegenwille und entferntere Motivierung treffen in folgendem Falle von Aufschub zusammen: In der Sammlung „Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens“ hatte ich eine kurze Abhandlung über

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Veransgnhnng von Geldmmmen, bei der Bezahlung von Rechnungen und dgl. beobachten, die dem Eigner keinen Gewinn bringt. londern nur psychologisch zu verstehen ist 111 eine Äußerung des Gegenwillens, Geld von sich zu tun. —— Mit den intimsten und am wenigsten klu gewordenen chungen hängt es zu— sammen, wenn gerade Frauen eine besondere Unlust zeigen, den Arzt zu honorieren. Sie haben gewöhnlich ihr Portemonnaie vergeuen, können darum in der Ordinlt'ion nicht zahlen, vergessen denn regelmäßig. das Honom vom Henne an; zu 1ehicken, und setzen es In durch, daß man sie umsanlt— „urn ihre: schönen Augen willen“ —— behandelt hat. Sie zahlen gleichsun mit ihrem Anblick.

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den Traum geschrieben, welche den Inhalt meiner „Traumdeutung" reslimiert. B ergma nn in Wiesbaden sendet eine Korrektur und bittet um umgebende Erledigung, weil er das Heft noch vor Weihnachten ausgeben will. Ich mache die Korrektur noch in der Nacht und lege sie auf meinen Schreibtisch, um sie am nächsten Morgen mitzunehmen. Am Morgen vergesse ich daran, erinnere mich erst nachmittags beim Anblick des Kreuzbandes auf meinem Schreibtisch. Ebenso vergesse ich die Korrektur am Nachmittage, am Abend und am nächsten Morgen, bis ich mich aufraife und am Nachmittag des zweiten Tages die Korrektur zu einem Brief— kasten trage, verwundert, was der Grund dieser Verzögerung sein mag. Ich will sie offenbar nicht absenden, aber ich finde nicht, warum. Auf demselben Spaziergang trete ich aber bei meinem Wiener Verleger, der auch das Traumbuch publiziert hat, ein, mache eine Bestellung und sage dann, wie von einem plötzlichen Einfall ge— trieben: „Sie wissen doch, daß ich den „Traum“ ein zweites Mal ge— schrieben habe?“ — „Ah, da würde ich doch bitten.“ — „Beruhigen Sie sich, nur einkurzerAufsatz für die Löwenfeld-Kurellasche Sammlung.“ Es war ihm aber doch nicht recht; er besorgte, der Vortrag würde dem Absatz des Buches schaden. Ich widersprach und fragte endlich: „Wenn ich mich früher an Sie gewendet hätte, würden Sie mir die Publikation untersagt haben?“ —— „Nein, das keineswegs.“ Ich glaube selbst, daß ich in meinem vollen Recht gehandelt und nichts anderes getan habe, als was allgemein üblich ist; doch scheint es mir gewiß, daß ein ähnliches Bedenken, wie es der Verleger äußerte, das Motiv meiner Zögerung war, die Korrektur abzusenden. Dies Bedenken geht auf eine frühere Gelegenheit zurück, bei welcher ein anderer Verleger Schwierigkeiten erhob, als ich, wie unvermeidlich, einige Blätter Text aus einer früheren, in anderem Verlag erschienenen Arbeit über zerebra.le Kinderlähmung unverändert in die Bearbeitung desselben Themas im Handbuch von N oth— n a g el hinüber-nahm. Dort findet aber der Vorwurf abermals keine Anerkennung; ich hatte auch damals meinen ersten Verleger (identisch mit dem der „Traumdeutung“) loya.l von meiner Absicht verständigt. Wenn aber diße Erinnerungsreihe noch weiter zurückgeht, so rückt sie mir einen noch früheren Anlaß vor, den einer Übersetzung aus dem Französischen, bei welchem ich wirklich die bei einer Publikation in ,Betracht kommenden Eigentumsrechte verletzt habe. Ich hatte dem übersetzten Text Anmerkungen beigefügt, ohne für diese An— merkungen die Erlaubnis des Autors nachgesucht zu haben, und habe

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Das Vergreifen. 89

§ 487

einige Jahre später Grund zur Annahme bekamen, daß der Autor mit dieser Eigenmächtigkeit unzufrieden war.

§ 488

Es gibt ein Sprichwort, welches die populäre Kenntnis verrät, daß das Vergessen von Vorsätzen nichts Zutälliges ist. „Was man einmal zu tun vergessen hat, das vergißt man dann noch öfter.“

§ 489

ja, man kann sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, daß alles, was man über das Vergessen und die Fehlhandlungen überhaupt sagen kann, den Menschen ohnedies wie etwas Selbstverständliches bekannt ist. Wunderbar genug, daß es doch notwendig ist, ihnen dies so Wohlbekannte vors Bewußtsein zu rücken! Wie oft habe ich sagen gehört: Gib mir diesen Auftrag nicht, ich werde gewiß an ihn vergessen. Das Eintreffen dieser Vorhersagung hatte dann sicherlich nichts Mystisches an sich. Der so sprach, verspürte in sich den Vorsatz, den Auftrag nicht auszuführen, und weigerte sich nur, sich zu ihm zu bekennen.

§ 490

Das Vergessen von Vorsätzen erfährt übrigens eine gute Beleuchtung durch etwas, was man als das „Fassen von falschen Vor» Sätzen“ bezeichnen könnte. Ich hatte einmal einem jungen Autor versprechen, ein Referat über sein kleines Opus zu schreiben, schob es aber wegen innerer, mir nicht unbekannter Widerstände auf, bis ich mich eines Tages durch sein Drängen bewegen ließ zu versprechen, daB es noch am selben Abend geschehen werde. Ich hatte auch die ernste Absicht so zu tun, aber ich hatte vergessen, daß die Abiassung eines unaufschiebbaren Gutachtens für den nämlichen Abend angesetzt war. Nachdem ich so meinen Vorsatz als falsch erkannt hatte, gab ich den Kampf gegen meine Widerstände auf und sagte dem Autor ab.

§ 491

VIII. Das Vergreifen.

§ 492

Der oben erwähnten Arbeit von Merin ger und Mayer entnehme ich noch die Stelle (S. 98):

§ 493

„Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten des Menschen sich oft einstellen und ziemlich töricht „Vergeßlichkeiten“ genannt werden.“

§ 494

Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht hinter den kleinen F unktionsstörungen des täglichen Lebens Gesunder vermutet 1).

§ 495

‘) Eine zweite Publikation Meringers hat mir später gezeigt. wie sehr ich diesem Autor Unrecht tat, als ich ihm solches Verständnis zumutete.

§ 496

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Das Vergreifen. 89

§ 498

einige Jahre später Grund zur Annahme bekamen, daß der Autor mit dieser Eigenmächtigkeit unzufrieden war.

§ 499

Es gibt ein Sprichwort, welches die populäre Kenntnis verrät, daß das Vergessen von Vorsätzen nichts Zutälliges ist. „Was man einmal zu tun vergessen hat, das vergißt man dann noch öfter.“

§ 500

ja, man kann sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, daß alles, was man über das Vergessen und die Fehlhandlungen überhaupt sagen kann, den Menschen ohnedies wie etwas Selbstverständliches bekannt ist. Wunderbar genug, daß es doch notwendig ist, ihnen dies so Wohlbekannte vors Bewußtsein zu rücken! Wie oft habe ich sagen gehört: Gib mir diesen Auftrag nicht, ich werde gewiß an ihn vergessen. Das Eintreffen dieser Vorhersagung hatte dann sicherlich nichts Mystisches an sich. Der so sprach, verspürte in sich den Vorsatz, den Auftrag nicht auszuführen, und weigerte sich nur, sich zu ihm zu bekennen.

§ 501

Das Vergessen von Vorsätzen erfährt übrigens eine gute Beleuchtung durch etwas, was man als das „Fassen von falschen Vor» Sätzen“ bezeichnen könnte. Ich hatte einmal einem jungen Autor versprechen, ein Referat über sein kleines Opus zu schreiben, schob es aber wegen innerer, mir nicht unbekannter Widerstände auf, bis ich mich eines Tages durch sein Drängen bewegen ließ zu versprechen, daB es noch am selben Abend geschehen werde. Ich hatte auch die ernste Absicht so zu tun, aber ich hatte vergessen, daß die Abiassung eines unaufschiebbaren Gutachtens für den nämlichen Abend angesetzt war. Nachdem ich so meinen Vorsatz als falsch erkannt hatte, gab ich den Kampf gegen meine Widerstände auf und sagte dem Autor ab.

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VIII. Das Vergreifen.

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Der oben erwähnten Arbeit von Merin ger und Mayer entnehme ich noch die Stelle (S. 98):

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„Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten des Menschen sich oft einstellen und ziemlich töricht „Vergeßlichkeiten“ genannt werden.“

§ 505

Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht hinter den kleinen F unktionsstörungen des täglichen Lebens Gesunder vermutet 1).

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‘) Eine zweite Publikation Meringers hat mir später gezeigt. wie sehr ich diesem Autor Unrecht tat, als ich ihm solches Verständnis zumutete.

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90 Das Vergreifen.

§ 509

Wenn die Fehler beim Sprechen, das ja eine motorische Leistung ist, eine solche Auffassung zugelassen haben, so liegt es nahe, auf die Fehler unserer sonstigen motorischen Vertichtungen die nämliche Erwartung zu übertragen. Ich habe hier zwei Gruppen von Fällen gebildet; alle die Fälle, in denen der Fehleffekt das Wesentliche scheint, also die Abirmng von der Intention, bezeichne ich als „V e r — g r e i f e n“, die anderen, in denen eher die ganze Handlung unzweck— mäßig erscheint, benenne ich „Syrnptom- und Zufallsh a n d l u n g e n“. Die Scheidung ist aber wiederum nicht reinlich durchzuführen; wir kommen ja wohl zur Einsicht, daß alle in dieser Abhandlung gebrauchten Einteilungen nur deskriptiv bedeutsame sind und der inneren Einheit des Erscheinungsgebietes widersprechen.

§ 510

Das psychologische Verstände des „Vergreiiens“ erfährt offenbar keine besondere Förderung, wenn wir es der Ataxie und speziell der „kortikalen Ataxie“ subsumieren. Versuchen wir lieber, die einzelnen Beispiele auf ihre jeweiligen Bedingungen zurückzuführen. Ich werde wiederum Selbstbeobachtungen hierzu verwenden, zu denen sich die Anlässe bei mir nicht besonders häufig finden.

§ 511

a) In früheren Jahren, als ich Hausbesuche bei Patienten noch häufiger machte als gegenwärtig, geschah es mir oft, daß ich, vor der Türe, an die ich anklopfen oder läuten sollte, angekommen, die Schlüssel meiner eigenen Wohnung aus der Tasche zog, um — sie dann fast beschämt wieder einzustecken. Wenn ich mir zusammenstelle, bei welchen Patienten dies der Fall war, so muß ich annehmen, die Fehlhandlung— Schlüssel herausziehen anstatt zu läuten —bedeutete eine Huldigung für das Haus, wo ich in diesen Mißgriff verfiel. Sie war äquivalent dem Gedanken: „Hier bin ich wie zu Hause“, denn sie trug sich nur zu, wo ich den Kranken lieb gewonnen hatte. (An meiner eigenen Wohnungstür läute ich natürlich niemals 1). Die Fehlhandlung war also eine symbolische Darstellung einen doch eigentlich nicht für ernsthafte, bewußte Annahme bestimmten Gedankens, denn in der Realität weiß der Nervenarzt genau, daB der Kranke ihm nur so lange anhänglich bleibt, als er noch Vorteil von ihm erwartet, und daß ‘ 1) Ganz übereinstimmend die Angabe von A. Maeder (Contrib. A la psycho— pathologie de la vie quotidienne, Arch. de Psychol. VI, 1906): 11 en nuivé & cha— cnn de sortir son tronnuau. en arrivant ä la parte d'un ami particulit‘xeinent eher. de se snrprendre pour ainsi dire, en train d'onvrir avec u clé comme che: mi. C’est Im «und, pnisqu‘il fnut sonne: mal.gre' tout, mais c'est une preuve qn’on se sent —— on qn’on voudrait se until —— comme chu sei, nuprés de cet amt

§ 512

§ 513

Das Vergreifem 9 I

§ 514

er selbst nur zum Zweck der psychischen Hilfeleistung ein übermäßig warmes Interesse für seine Patienten bei sich gewähren läßt.

§ 515

b) In einem bestimmten Hause, wo ich seit sechs Jahren zweimal täglich zu festgesetzten Zeiten vor einer Türe im zweiten Stock auf Ei.nlaß warte, ist es mir während dieses langen Zeitraums zweimal (mit einem kurzen Intervall) geschehen, daß ich um einen Stock höher gegangen bin, also mich „v e r s t i e g e n" habe. Das eine Mal befand ich mich in einem ehrgeizigen Tagtraum, der mich „höher und immer höher steigen“ ließ. Ich überhörte damals sogar, daß sich die fragliche Tür geöffnet hatte, als ich den Fuß auf die ersten Stufen des dritten Stockwerks setzte. Das andere Mal ging ich wiederum „in Gedanken versunken“ zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich beherrschende Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, daß ich mich über eine (phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in Welcher mir der Vorwurf gemacht wurde, daß ich immer „zu weit ginge", und in die ich nun den wenig respektvollen Ausdruck „v e r s t i e g e n” einzusetzen hatte.

§ 516

c) Auf meinem Schreibtische liegen seit vielen Jahren neben einander ein Reflexhamnier und eine Stimmgabel. Eines Tages eile ich nach Schluß der Sprechstunde fort, weil ich einen bestimmten Stadtbahnzug erreichen will, stecke bei vollem Tageslicht anstatt des Hammers die Stimmgabel in die Rocktasche und werde durch die Schwere des die Tasche herabziehenden Gegenstandes auf meinen Mißgriif aufmerksam gemacht. Wer sich über so kleine Vorkommnisse Gedanken zu machen nicht gewöhnt ist, wird ohne Zweifel den Fehlgrift durch die Eile des Momentes erklären und entschuldigen. Ich habe es trotzdem vorgezogeu, mir die Frage zu stellen, warum ich eigentlich die Stimmgabel anstatt des Hammers genommen. Die Eilfertigkeit hätte ebensowohl ein Motiv sein können, den Griff richtig auszuführen, um nicht Zeit mit der Korrektur zu versäumen.

§ 517

Wer hat zuletzt nach der Stimmgabel gegriffen? lautet die Frage, die sich mir da aufd.rä.ugt, Das war vor wenigen Tagen ein idio t is c h e 5 Kind, bei dem ich die Aufmerksamkeit auf Sinneseindrücke prüfte, und das durch die Stimmgabel so gefesselt wurde, daß ich sie ihm nur schwer entreißen konnte. Soll das also heißen, ich sei ein Idiot ? Allerdings scheint es so, denn der nächste Einfall, der sich an Hammer assoziiert, lautet „C h a m e r” (hebräisch: Esel).

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Was soll aber dieses Geschimpfe? Man muß hier die Situation befragen. Ich eile zu einer Konsultation in einem Ort an der West

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92 Dal Verg'reifen.

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bahnstrecke, zu einer Kranken, die nach der bn'eflich mitgeteilten Anamnese vor Monaten vom Balkon herabgestümt ist und seither nicht gehen kann. Der Arzt, der mich einlädt, schreibt, er wisse trotzdem nicht, ob es sich um Rückenmarksverletzung oder um traumatische Neurose — Hysterie — handle. Das soll ich nun entscheiden. Da wäre also eine Mahnung am Platze, in der heiklen Differentialdiagnose besonders vorsichtig zu sein. Die Kollegen meinen ohnedies, man diagnostiziere viel zu leichtsinnig Hysterie, wo es sich um ernstere Dinge handle. Aber die Beschimpiung ist noch nicht gerechtfertigt! Ja, es kommt hinzu, daß die kleine Bahnstation der nämliche Ort ist, an dem ich vor Jahren einen jungen Mann gesehen, der seit einer Ge— mütsbewegung nicht ordentlich gehen konnte. Ich diagnostizierte damals Hysterie und nahm den Kranken später in psychische Behandlung, und dann stellte es sich heraus, daß ich freilich nicht unrichtig diagnostiziert hatte, aber auch nicht richtig. Eine ganze Anzahl der Symptome des Kranken war hysterisch gewesen, und diese schwanden auch prompt im Laufe der Behandlung. Aber hinter diesen wurde nun ein für die Therapie nnantastbarer Rest sichtbar, der sich nur auf eine multiple Sklerose beziehen ließ. Die den Kranken nach mir sahen, hatten es leicht, die organische Affektion zu erkennen; ich hätte kaum anders vorgehen und anders urteilen können, aber der Eindruck war doch der eines schweren Irrtums; das Versprechen der Heilung, des ich ihm gegeben hatte, war natürlich nicht zu halten. Der Mißgriff nach. der Stimmgabel anstatt nach dem Hammer ließ sich also so in Worte übersetzen: Du Trottel, du Esel. nimm dich diesmal zusammen, daß du nicht wieder eine Hysterie diagnostizierst, wo eine unheilbare Krankheit vorliegt, wie bei dem armen Mann an demselben Ort vor Jahren! Und zum Glück für diese kleine Analyse, wenn auch zum Unglück für meine Stimmung, war dieser selbe Mann mit schwerer spastischer Lähmung wenige Tage vorher und einen Tag nach dem idiotischen Kind in meiner Sprechstunde gewesen.

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Man merkt, es ist diesmal die Stimme der Selbstkritik, die sich durch das Fehlgreiien vernehmlich macht. Zu solcher Verwendung als Sdbstvorwnrf ist der Fehlgrift ganz besonders geeignet. Der Mißgrift' hier will den Mißgriff, den man anderswo begangen hat, darstellen.

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c) Selbstverständlich kann das Fehlgreiien auch einer ganzen Reihe anderer dunkler Absichten dienen. Hier ein erstes Beispiel: Es kommt sehr selten vor, daß ich etwas zerschlage. Ich bin nicht besonders geschickt, aher infolge der anatomischen Integrität meiner Nervmuskelapparate sind Gründe für so ungeschickte Bewegungen

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mit unerwünschtem Erfolg bei mir offenbar nicht gegeben. Ich weiß also kein Objekt in meinem Haus zu erinnern, dessengleichen ich je zerschlagen hätte. Ich war durch die Enge in meinem Studierzimmer oft genötigt, in den unbequemsten Stellungen mit einer Anzahl von antiken Ton- und Steinsachen, von denen ich eine kleine Sammlung habe, zu hanüeren, so daß Zuschauer die Besorgnis ausdrückten, ich würde etwas herunterschleudern und Zerschlagen. Es ist aber niemals geschehen. Warum habe ich also einmal den mannornen Deckel meines einfachen Tintengefäßes zu Boden geworfen, so daß er zerbrach?

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Mein Tintenzeug besteht aus einer Platte von Untersberger Marmor, die fiir die Aufnahme des gläsernen Tintenfäßchens ausgehöhlt ist; das Tintenfaß trägt einen Deckel mit Knopf aus demselben Stein. Ein Kranz von Bronzestatuetten und Terrakotta-Figürchen ist hinter diesem Tintenzeug aufgestellt. Ich setze mich an den Tisch, um zu schreiben, mache mit der Hand, welche den Federstiel hält, eine merkwürdig nngeschickte, ausfahrende Bewegung und werte so den Deckel des Tintenfasses, der bereits auf dem Tische lag, zu Boden. Die Erklärung ist nicht schwer zu finden. Einige Stunden vorher war meine Schwester im Zimmer gewesen, um sich einige neue Erwerhungen anzusehen. Sie fand sie sehr schön und äußerte dann: „Jetzt sieht dein Schreibtisch wirklich hübsch aus, nur das Tintcnzcug paßt nicht dazu. Du mußt ein schöneres haben.“ Ich begleitete die Schwester hinaus und kam erst nach Stunden zurück. Dann aber habe ich, wie es scheint, an dem verurteilten Tintenzeug die Exekution vollzogen. Schloß ich etwa aus den Worten der Schwester, daß sie sich vorgenommen habe, mich zur nächsten festlichen Gelegenheit mit einem schöneren Tintenzeug zu beschenken, und zerschlug das unschöne alte, um sie zur Verwirklichung ihrer angedeuteten Absicht zu nötigen? Wenn dem so ist, so war meine schleudernde Bewegung nur scheinbar ungeschickt; in]Wirklichkeit war sie höchst geschickt und zielbewußt und verstand es, allen wertvolleren in der Nähe befindlichen Objekten schonend auszuweichen.

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Ich glaube wirklich, daß man diese Beurteilung für eine ganze Reihe von anscheinend zufällig ungeschickten Bewegungen annehmen muß. Es ist richtig, daß diese etwas Gewaltsames, Schleuderndes, wie Spastisch—ataktisches zur Schau tragen, aber sie erweisen sich als von einer Intention beherrscht und treffen ihr Ziel mit einer Sicherheit, die man den bewußt willkürlichen Bewegungen nicht allgemein nachrühmen kann. Beide Charaktere, die Gewaltsarnkeit wie die Treffsicherheit, haben sie übrigens mit den motorischen Äußerungen der

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hysterischen Neurose und zum Teil auch mit den motorischen leistungen des Somnambulismus gemeinsam, was wohl hier wie dort auf die nämliche unbekannte Modifikation des Innervationsvorganges hinweist.

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Es ist mir in den letzten Jahren, seitdem ich solche Beobachtungen sammle, noch einige Male geschehen, daß ich Gegenstände von gewissem Werte zerschlagen oder zerbrochen habe, aber die Untersuchung dieser Fälle hat mich überzeugt, daß es niemals ein Erfolg des Zufalls oder meiner absichtslosen Ungeschicklichkeit war. So habe ich eines Morgens, als ich im Badekostürn, die Füße mit Strohpantoffeln bekleidet, durch ein Zimmer ging, einem plötzlichen Impuls folgend, einen der Pantoffel vom Fuß weg gegen die Wand geschleudert, so daß er eine hübsche kleine Venus von Marmor von ihrer Konsole herunterholte. Während sie in Stücke ging, zitierte ich ganz ungerü.hrt die Verse von B u s c h:

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Ach! Die Venus ist perdii — Klickeradoms! —— von Medici!

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Dieses tolle Treiben und meine Ruhe bei dem Schaden finden ihre Aufklärung in der damaligen Situation. Wir hatten eine schwer Kranke in der Familie, an deren Genesung ich im Stillen bereits verzweifelt hatte. An jenem Morgen hatte ich von einer großen Besserung erfahren; ich weiß, daß ich mir gesagt hatte: also bleibt sie doch am Leben. Dann diente mein Anfall von Zerstörungswut zum Ausdrucke einer denkbaren Stimmung gegen das Schicksal und gestattete mir, eine „Opferhandlung“ zu vollziehen, gleichsam als hätte ich gelobt, wenn sie gesund wird, bringe ich dies oder jenes zum Opfer! Daß ich für dieses Opfer die Venus von Medici ausgesucht, sollte gewiß nichts anderes als eine galente Huldigung für die Genesende sein; unhegreiilich bleibt mir aber auch diesmal, daß ich, so rasch entschlossen, so geschickt gezielt und kein anderes der in so großer Nähe befindlichen Objekte getroffen habe.

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Ein anderes Zerbrechen, für das ich mich wiederum des der Hand entfahrenden Federstiels bedient habe, hatte gleichfalls die Bedeutung eines Opfers, aber diesmal eines B i t t 0 pi ers zur Abwehdung. Ich hatte mir einmal darin gefallen, einem treuen und verdienten Freunde einen Vorwurf zu machen, der sich auf die Deutung gewisser Zeichen aus seinem Unbewußten, auf nichts anderes, stützte. Er nahm es übel auf und schrieb mir einen Brief, in dem er mich hat, meine Freunde nicht psychoanalytisch zu behandeln. Ich mußte ihm recht geben und beschwich‘n‘gte ihn durch meine Antwort. Während ich diesen Brief schrieb, hatte ich meine neueste Erwerbung, ein prächtig glasiertes

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Das Vergreifen. 95

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ägyptisches Figürchen, vor mir stehen. Ich zerschlug es auf die be— schriebene Weise und wußte dann sofort, daß ich dies Unheil an— gerichtet, um ein größeres abzuwenden. Zum Glück ließ sich beides — die Freundschaft wie die Figur — so leimen, daß man den Sprung nicht merken würde.

§ 539

Ein drittes Zerbrechen stand in weniger ernsthaftem Zusammen— hang; es war nur eine maskierte „Exekution“, um den Ausdruck von Th. Vischer („Auch Einer“) zu gebrauchen, an einem Objekt, das sich meines Gefallens nicht mehr erfreute. Ich hatte eine Zeitlang einen Stock mit Silbergriff getragen; als die dünne Silberplatte einmal ohne mein Verschulden beschädigt worden war, wurde sie schlecht repariert. Bald nachdem der Stock zurückgekommen war, benützte ich den Griff, um im Übermut nach dem Bein eines meiner Kleinen zu angeln. Dabei brach er natürlich entzwei, und ich war von ihm befreit.

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Der Gleichmut, mit dem man in all diesen Fällen den entstandenen Schaden aufnimmt, darf wohl als Beweis für das Bestehen einer unbewußten Absicht bei der Ausführung in Anspruch genommen werden.

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(1) Das Fallenlassen von Objekten, Umwerfen, Zerschlagen derselben scheint sehr häufig zum Ausdruck unbewußter Gedankengänge verwendet zu werden, wie man gelegentlich durch Analyse beweisen kann, häufiger aber aus den abergläubisch oder scherzhaft daran geknüpften Deutungen im Volksmunde erraten möchte. Es ist bekannt, welche Deutungen sich an das Ausschütten von Salz, Umwerfen eines Weinglases, Steckenbleiben eines zu Boden gefallenen Messers u. dgl. knüpfen. Welches Anrecht auf Beachtung solche abergläubische Deutungen haben, werde ich erst an späterer Stelle erörtern; hierher gehört nur die Bemerkung, daß die einzelne ungeschickte Venichtung keineswegs einen konstanten Sinn hat, sondern je nach Umständen sich dieser oder jener Absicht als Darstellungsmittel bietet.

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Vor kurzem gab es in meinem Hause eine Zeit, in der ungewöhnlich viel Glas und Porzellangeschirr zerbrochen wurde; ich selbst trug mehreres zum Schaden bei. Allein die kleine psychische Endemie war leicht aufzuklären; es waren die Tage vor der Vermählung meiner ältesten Tochter. Bei solchen Feiern pflegte man sonst mit Absicht ein Gerät zu zerbrechen und ein glückbringendes Wort dazu zu sagen, Diese Sitte mag die Bedeutung eines Opfers und noch anderen sym— bolischen Sinn haben.

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Wenn dienende Personen zerbrechliche Gegenstände durch Fallenlassen vernichten, so wird man an eine psychologische Erklärung hierfür

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gewiß nicht in erster Linie denken, doch ist auch dabei ein Beitrag dunkler Motive nicht unwahrscheinlich. Nichts liegt dem Ungebildeten ferner als die Schätzung der Kunst und der Kunstwerke. Eine dumpie Feindseligkeit gegen deren Erzeugnisse beherrscht unser dienendes Volk, zumal wenn die Gegenstände, deren Wert sie nicht einsehen, eine Quelle von Arbeitsmiorderung für sie werden. Leute von derselben Bildungsstuie und Herkunft zeichnen sich dagegen in wissenschaftlichen Instituten oft durch große Geschicklichkeit und Verläßlichkeit in der Handhabung heikler Objekte aus, wenn sie erst begonnen haben, sich mit ihrem Herrn zu identifizieren und sich zum wesentlichen Personal des Instituts zu rechnen.

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Sich selbst fallen lassen, einen Fehltritt machen, ausgleiten, braucht gleichfalls nicht immer als rein zufälliges Fehlschlagen motorischer Aktion gedeutet zu werden. Der sprachliche Doppelsinn dieser Ausdrücke weist bereits auf die Art von verhaltenen Phantasien hin, die sich durch solches Autgeben des Körpergleichgewichts darstellen können. Ich erinnere mich an eine Anzahl von leichteren nervösen Erkrankungen bei Frauen und Mädchen, die nach einem Fall ohne Verletzung aufgetreten waren und als traumatische Hysterie zufolge des Schrecks beim Falle aufgetaßt wurden. Ich bekam schon damals den Eindruck, als ob die Dinge anders zusammenhingen, als wäre das Fallen bereits eine Veranstaltung der Neurose und ein Ausdruck derselben unbewußten Phantasien sexuellen Inhalts gewesen, die man als die bewegenden Kräfte hinter den Symptomen vermuten darf. Sollte dasselbe nicht auch ein Sprichwort sagen wollen, welches lautet: „Wenn eine Jungfrau fällt, fällt sie auf den Rücken?“

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Zum Vergreifen kann man auch den Fall rechnen, daß jemand einem Bettler anstatt einer Kupfer- oder kleinen Silbermünze ein Goldstück gibt. Die Auflösung solcher Fehlgriffe ist leicht, es sind Opferhandlungen, bestimmt, das Schicksal zu erweichen, Unheil abzu— wehren u. dgl. Hat man die zärtliche Mutter oder Tante unmittelbar vor dem Spaziergang, auf dem sie sich so widerwillig großmütig erzeigt, eine Besorgnis über die Gesundheit eines Kindes äußern gehört, so kann man an dem Sinn das angeblich unliebsamen Zufalls nicht mehr zweifeln. Auf solche Art ermöglichen unsere Fehlleistungen die Ausübung aller jener frommen und abergläubischen Gebräuche, die wegen des Sträubens unserer ungläubig gewordenen Vernunft das Licht des Bewußtseins scheuen miissen.

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e) Daß zufällige Aktionen eigentlich absichtliche sind, wird auf keinem anderen Gebiete eher Glauben finden als auf dem der sexuellen

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Das Veigreifen. 97

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Betätigung, wo die Grenze zwischen beiderlei Arten sich wirklich zu verwischen scheint. Daß eine scheinbar ungeschickte Bewegung höchst raffiniert zu sexuellen Zwecken ausgenutzt werden kann, davon habe ich vor einigen Jahren an mir selbst ein schönes Beispiel erlebt. Ich traf in einem befreundeten Hause ein als Gast angelangtes junges Mädchen, welches ein längst fiir erloschen gehaltenes Wohlgefallen bei mir erregte und mich darum heiter, gesprächig und zuvorkommend stimmte. Ich habe damals auch nachgeforscht, auf welchen Bahnen dies zuging; ein Jahr vorher hatte dasselbe Mädchen mich kühl gelassen. Als nun der Onkel des Mädchens, ein sehr alter Herr, ins Zimmer trat, sprangen wir beide auf, um ihm einen in der Ecke stehenden Stuhl zu bringen. Sie war behender als ich, wohl auch dem Objekt näher; so hatte sie sich zuerst des Sessels bemächtigt und trug ihn mit der Lehne nach rückwärts, beide Hände auf die Sesselrä.nder gelegt, vor sich hin. Indem ich später hinzutrat und den Anspruch, den Sessel zu tragen, doch nicht aufgab, stand ich plötzlich dicht hinter ihr, hatte beide Arme von rückwärts um sie geschlungen, und die Hände trafen sich einen Moment lang -vor ihrem Schoß. Ich löste natürlich die Situation ebenso rasch, als sie entstanden war. Es schien auch keinem aufzufallen, wie geschickt ich diese ungeschickte Bewegung ausgebeutet hatte.

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Gelegentlich habe ich mir auch sagen müssen, daß das ärgerliche, ungoschickte Ausweichen auf der Straße, wobei man durch einige Sekunden hin und her, aber doch stets nach der nämlichen Seite wie der oder die Andere, Schritte macht, bis endlich beide voreinander stehen bleiben, daß auch dieses „den Weg Vertreten“ ein una-tig provozierendes Benehmen früherer Jahre wiederholt und sexuelle Absichten unter der Maske der Ungeschicklichkeit verfolgt. Aus meinen Psychoanalysen Neurotischer weiß ich, daß die sogenannte Naivität junger Leute und Kinder häufig nur solch eine Maske ist, um das Unenständige unbeirrt durch Genieren aussprechen oder tun zu können.

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Ganz ähnliche Beobachtungen hat W. S t e k el von seiner eigenen Person mitgeteilt: „Ich trete in ein Haus ein und reiche derDame des Hauses meine Rechte. Merkmirdigerweise löse ich dabei die Schleife, die ihr loses Morgenkleid zusarnmenhält. Ich bin mir keiner unehrba.ren Absicht bewußt und doch habe ich diese ungeschickte Bewegung mit der Geschicklichkeit eines Eskamoteurs vollbra.cht.“

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f) Die Effekte, die durch das Fehlgreiien normaler Menschen zustande kommen, sind in der Regel von harmlosester Art. Gerade darum wird sich ein besonderes Interesse an die Frage knüpfen, ob

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Freud. Psychopathologie des Allragslchens. 7

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Fehlgriffe von erheblicher Tragweite, die von bedeutsamen Folgen begleitet sein können, wie z. B. die des Arztes oder Apothekers, nach irgend einer Richtung unter unsere Gesichtspunkte fallen.

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Da ich sehr selten in die Lage komme, ärztliche Eingriffe vorzunehmen, habe ich nur über ein Beispiel von ärztlichem Vergreifen aus eigener Erfahrung zu berichten. Bei einer sehr alten Dame, die ich seit Jahren zweimal täglich besuche, beschränkt sich meine ärztliche Tätigkeit beim Morgenbesuch auf zwei Akte: ich träufle ihr ein paar Tropfen Augenwasser ins Auge und gebe ihr eine Morphiuminjektion. Zwei Fläschchen, ein blaues für das Kollyrium und ein weißes mit der Morphinlösung, sind regelmäßig vorbereitet. Während der beiden Verzichtungen beschäftigen sich meine Gedanken wohl meist mit etwas anderem; das hat sich eben schon so oft wiederholt, daß die Aufmerksamkeit sich wie frei benimmt. Eines Morgens bemerkte ich, daß der Automat falsch gearbeitet hatte, das Tropiröhrchen hatte ins weiße anstatt ins blaue Fläschchen eingetaucht und nicht Kollyrlum, sondern Morphin ins Auge geträufelt. Ich erschrak heftig und beruhigte mich dann durch die Überlegung, daß einige Tropfen einer zweiprozentigen Morphinlösung auch im Bindehautsack kein Unheil anzuricbten vermögen. Die Schreckempfindung war offenbar anderswoher abzuleiten.

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Bei dem Versuch, den kleinen Fehlgriff zu analysieren, fiel mir zunächst die Phrase ein: „sich an der Alten vergreifen“, die den kurzen Weg zur Lösung weisen konnte. Ich stand unter dem Eindrücke eines Traumes, den mir am Abend vorher ein junger Mann erzählt hatte, dessen Inhalt sich nur auf sexuellen Verkehr mit der eigenen Mutter deuten ließl). Die Sonderberkeit, daß die Sage keinen Anstoß an dem Alter der Königin ]okaste nimmt, schien mir gut zu dem Ergebnis zu stimmen, daß es sich bei der Verliebtheit in die eigene Mutter niemals um deren gegenwärtige Person handelt, sondern um ihr jugendliches Erinnerungsbild aus den Kinderjahren. Solche Inkongruenzen stellen sich immer heraus, wo eine zwischen zwei Zeiten schwankende Phan— tasie bewußt gemacht und dadurch an eine bestimmte Zeit gebunden wird. In Gedanken solcher Art versunken kam ich zu meiner über neunzigjährigen Patientin, und ich muß wohl auf dem Wege gewesen

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1) Das 0edipus—Traumes, wie ich ihn zu nennen pflege. Weil er den Schlüssel zum Verständnis der Sage von König Oedipus enthält. Im Text des Soplmkles ist die Beziehung auf einen solchen Traum der ]okaste in den Mund gelegt. (Vgl. „Traumdeutung“. p. 182, II. Aufl. p. 187.)

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sein, den allgemein menschlichen Charakter der Oedipusfabel als das Korrelat des Verhäng'nisses, das sich in den Orakeln äußert, zu erfassen, denn ich vergriff mich dann „hei oder an der Alten“. Inden dies Vergreiien war wiederum harmlos; ich hatte von den beiden möglichen Irrtümern, die Morphinlösung fürs Auge zu verwenden, oder das Augenwasser zur Injektion zu nehmen, den bei weitem harmloseren gewählt. Es bleibt immer noch die Frage, ob man bei Fehlgrifien, die schweren Schaden stiften können, in ähnlicher Weise wie bei den hier behandelten eine unbewußte Absicht in Erwägung ziehen darf.

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Hier läßt mich denn, wie zu erwarten steht, das Material im Stiche, und ich bleibe auf Vermutungen und Annäherungen angewiesen. Es ist bekannt, daß bei den schwereren Fällen von Psychoneurosta Selbstbeschädigungen gelegentlich als Krankheitssymptone auftreten, und daß der Ausgang des psychischen Konflikten in Selbstmord bei ihnen niemals auszuschließen ist. Ich habe nun erfahren, und werde es eines Tages durch gut aufgeklärte Beispiele belegen, daß viele scheinbar zufällige Schädigungen, die solche Kranke treffen, eigentlich Selbstbeschädigungen sind, indem eine beständig lauernde Tendenz zur Selbstbestraiung, die sich sonst als Selbstvorwurf äußert, oder ihren Beitrag zur Symptombildung stellt, eine zufällig gebotene äußere Situation geschickt ausnützt, oder ihr etwa noch bis zur Erreichung des gewünschten schädigenden Effektes nachhilft. Solche Vorkommnisse sind auch bei mittelschweren Fällen keineswegs selten, und sie verraten den Anteil der unbewußten Absicht durch eine Reihe von besonderen Zügen, z. B. durch die auffällige Fassung, welche die Kranken bei dem angeblichen Unglücksfalle bewahren“.

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Aus der ärztlichen Erfahrung will ich anstatt vieler nur ein einziges Beispiel ausführlich berichten: Eine junge Frau bricht sich bei einem Wagenuniall die Knochen des einen Unterschenkels, so daß sie für Wochen bettlägerig wird, fällt dabei durch den Mangel an Schmerzensäußerungen und durch die Ruhe auf, mit der sie ihr Ungemach erträgt. Dieser Unfall leitet eine lange und schwere neurotische Erkranng ein, von der sie endlich durch Psychotherapie hergestellt wird. In der

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1) Die Seibetbeschädigung, die nicht auf volle Selbstvernichtung hinzielt, hat in unserem gegenwärtigen Kulturzustand überhaupt keine andere Wahl. als sich hinter der Zufälligkeit zu verbergen, oder sich durch Simulätion einer spontanen Erkrankung durchzusetzen. Früher einmal war sie ein gebräuchlichen Zeichen der Trauer; zu anderen Zeiten konnte sie Ideen der Frömmigkeit und Weltentsagung Ausdruck geben.

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Behandlung erfahre ich die Nebenumstände des Unfalles sowie gewisse Eindrücke, die ihm vorausgegangen sind. Die junge Frau befand sich mit ihrem sehr eifersüchtigen Manne auf dem Gut einer verheirateten Schwester in Gesellschaft ihrer zahlreichen übrigen Geschwister und deren Männer und Frauen. Eines Abends gab sie in diesem intimen Kreise eine Vorstellung in einer ihrer Künste, sie tanzte kunstgerecht Cancan unter großem Beifall der Verwandten, aber zur geringen Be— friedigung ihres Mannes, der ihr nachher zuzischelte: Du hast dich wieder benommen wie eine Birne. Da Wort traf; wir wollen es dahingestellt sein lassen. ob gerade wegen der Tanzproduktion. Sie schlief die Nacht unruhig, am nächsten Vormittag begehrte sie eine Ausfahrt zu machen. Aber sie wählte die Pferde selbst, refüsierte das eine Paar und verlangte ein anderes. Die jüngste Schwester wollte ihren Säugling mit seiner Amme im Wagen mitfahren lassen; dem widersetzte sie sich energisch. Auf der Fahrt zeigte sie sich nervös, mahnte den Kutscher, daß die Pferde schen würden, und als die unruhigen Tiere wirklich einen Augenblick Schwierigkeiten machten, sprang sie im Schrecken aus dem Wagen und brach sich den Fuß, während die im Wagen Verbliebenen heil davonkamen. Kann man nach der Aufdeckung dieser Einzelheiten kaum mehr bezweifeln, daß dieser Unfall eigentlich eine Veranstaltung war, so wollen wir doch nicht versäumen die Geschicklichkeit zu bewundern, welche den Zufall nöfigte, die Strafe so passend für die Schuld auszuteilen. Denn nun war ihr das Cancantanzen für längere Zeit unmöglich gemacht.

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Von eigenen Selbstbeschädigungen weiß ich in ruhigen Zeiten wenig“ zu berichten., aber ich finde mich solcher unter außerordentlichen Bedingungen nicht unfähig. Wenn eines der Mitglieder meiner Familie sich beklagt, jetzt habe es sich auf die Zunge gebissen, die Finger gequetscht usw., so erfolgt anstatt der erhofften Teilnahme von meiner Seite die Frage: Wozu hast du das getan ? Aber ich habe mir selbst aufs schmerzhaftßte den Daumen eingeklemmt, nachdem ein jugendlicher Patient in der Behandlungsstunde die (natürlich nicht ernsthaft zu nehmende) Absicht bekannt hatte, meine älteste Tochter zu heiraten, während ich wußte, daß sie sich gerade im Sanatorium in äußerster Lebensgefahr befand

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Einer meiner Knaben, dessen lebhaftes Temperament der Kranken— pflege Schwierigkeiten zu bereiten pflegte, hatte eines Morgens einen Zornanfall gehabt, weil man ihm zugemutet hatte, den Vormittag im Bette zuzubringen, und gedroht, sich umzubringen, wie es ihm aus der Zeitung bekannt geworden war. Abends zeigte er mir eine Benle,

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Du Vergreifeu. „) ,;

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die er sich durch Anstoßen an die Türklinke an der Seite das Brust— korbs zugezogen hatte. Auf meine ironische Frage, wozu er das getan und was er damit gewollt habe, antwortete das. II jährige Kind wie erlenchtet: Das war mein Selbstmordversuch, mit dem ich in der Früh’ gedreht habe. Ich glaube übrigens nicht, daß meine Anschauungen über die Selbstbeschädigung meinen Kindern damals zugänglich waren.

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Wer an das Vorkommen von halb absichtlicher Selbstbeschädigung — wenn der ungeschickte Ausdruck gestattet ist —— glaubt, der wird dadurch vorbereitet anzunehmen, daß es außer dem bewußt absichtlichen Selbstmord auch halb absichtliche Selbstveruichtung —— mit unbewußter Absicht — gibt, die eine Lebensbedrohung geschickt auszuniitzen und sie als zufällige Verungliickung zu maskieren weiß. Eine solche braucht keineswegs selten zu sein. Denn die Tendenz zur Selbst— vernichtung ist bei sehr viel mehr Menschen in einer gewissen Stärke vorhanden, als bei denen sie sich durchsetzt; die Selbstbeechädigungeu sind in der Regel ein Kompromiß zwischen diesem Trieb und den ihm noch entgegenwirkenden Kräften, und auch wo es wirklich zum Selbstmord kommt, da ist die Neigung dazu eine lange Zeit vorher in geringerer Stärke oder als unbewußte und unterdrückte Tendenz vorhanden gewesen.

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Auch die bewußte Selbstmordabsicht wählt ihre Zeit, Mittel und Gelegenheit, es ist ganz im Einklang damit, wenn die unbewußte einen Anlaß abwartet, der einen Teil der Verursachung auf sich nehmen und sie durch Inanspruchnahme der Abwehrkräfte der Person von ihrer Bedrückung frei machen kann‘). Es sind keineswegs müßige

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1) Der Fall ist dann schließlich kein anderer als der des sexuellen Attentats nut eine Frau, bei dem der Angriff des Mannes nicht durch die volle Muskelkraft des Weibes abgewehrt werden kann. weil ihm ein Teil der unbewußten Regungen der Angegrifienen förderud entgegen kommt, Man sagt ja wohl, eine solche Situation 15 h m e die Kräfte der Frau; man braucht dann nur noch die Gründe fiir diese Lähmung hinzuzufügen. Insofern ist der geistreiche Richterspruch des S a n e ho P 8 na 3. . den er als Gouverneur auf seiner Insel fällt, psychologisch uugerecht. (Don Quijote [L T. Kap. XLV.) Eine Frau zem einen Mann vor den Richter. der sie angeblich gewaltsam ihrer Ehre beraubt hat. S a n 0 ha entschädigt sie durch die volle Geldbörse, die er dem Angeklagten abnimmt. und gibt diesem nach dem Abgange der Frau die Erlaubnis, ihr nachzueilen und ihr die Börse wieder zu entreissen, Sie kommen beide ringend wieder, und die Frau rühmt sich, daß der Bösewioht nicht imstande gewesen sei, sich der Börse zu bemächfigen. Darauf S a n c h o: Hättest du deine Ehre halb so ernsthaft verteidigt wie diese Börse, so hätte sie dir der Mann nicht rauhen können.

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Erwägungen, die. ich da vorbringe; mir ist mehr als ein Fall von an— scheinend zufälligem Verunglücken (zu Pferde oder aus dem Wagen) bekannt geworden, dessen nähere Umstände den Verdacht auf un— bewußt zugelassenen Selbstmord rechtfertigen. Da. stürzt z. B. während eines Offizierswettrennens ein Offizier vom Pferde und verletzt sich so schwer, daß er mehrere Tage nachher erliegt. Sein Benehmen, nachdem er zu sich gekommen, ist in manchen Stücken auffällig. Noch bemerkenswerter ist sein Benehmen vorher gewesen, Er ist tief ver« stimmt durch den Tod seiner geliebten Mutter, wird von Weinkrämpfen in der Gesellschaft seiner Kameraden befallen, er äußert Lebensüberdruß gegen seine vertrauten Freunde, will den Dienst quittieren, um an einem Kriege in Afrika Anteil zu nehmen, der ihn sonst nicht berührtl); früher ein schneidiger Reiter, weicht er jetzt dem Reiten aus, wo es nur möglich ist. Vor dem Wettrennen endlich, dem er sich nicht entziehen kann, äußert er eine trübe Ahnung; wir werden uns bei unserer Auffassung nicht mehr verwundern, daß diese Ahnung Recht behielt. Man wird mir cntgegenhalten, es sei ja ohne weiteres verständlich, daß ein Mensch in solcher nervöser Depression das Tier nicht zu meistern versteht wie in gesunden Tagen. Ich bin ganz einverstanden; nur möchte ich den Mechanismus dieser motorischen Hemmung durch die „Nervosität“ in der hier betonten Selbstvernichtungsabsicht suchen.

§ 584

Herr Dr. Ferenczi in Budapest hat mir die Analyse eines Falles von angeblich zufälliger Schußverletzung, den er für einen unbewußten Selbstmordversuch erklärt, zur Veröffentlichung überlassen. Ich kann mich mit seiner Auffassung nur einverstanden erklären:

§ 585

„]. Ad., 22 jähriger Tischlergeselle, suchte mich am 18. Januar 1908 auf. Er wollte von mir erfahren, ob die Kugel, die ihm am 20. März 1907 in die linke Schläfe eindrang, operativ entfernt werden könne oder müsse. Von zeitweise auftretenden, nicht allzu heftigen Kopf— schmerzen abgesehen, fühlt er sich ganz gesund, auch die objektive Untersuchung ergibt außer der charakteristischen, pulvergeschwärzten Schußna.rbe an der linken Schläfe gar nichts, so daß ich die Operation widerrate. Uber die Umstände des Falles befragt, erklärt er, sich zufällig verletzt zu haben. Er spielte mit dem Revolver des Bruders,

§ 586

1) Daß die Situation des Schlachtfeldes eine solche ist, wie sie der bewußten Selbstmordabsicht entgegenkommt, die doch den direkten Weg scheut. ist einleuchtend, Vgl. im „W a. ll e n s t e in" die Worte des schwedischen Hauptmanns über den Tod des Max Piccolcmini: „Man sagt. er wollte sterben.“

§ 587

§ 588

Du Vergrcifen. 103

§ 589

glaubte, daß er nicht geladen ist, drückte ilm mit der linken Hand an die linke Schläie (er ist nicht Linkshänder), legte den Finger auf den Hahn und der Schuß ging los. Drei Patronen waren in der sechsläufigen Schußwaife. Ich frage ihn: wie er auf die Idee kam, den Revolver zu sich zu nehmen. Er erwidert, daß es zur Zeit seiner Asseutierung war; den Abend zuvor nahm er die Waffe ins Wirtshaus mit, weil er Schlägereien beiürchtete. Bei der Musterung wurde er wegen Krarupfadem für untauglich erklärt, worüber er sich sehr schämte. Er ging nach Hause, spielte mit dem Revolver, hatte aber nicht die Absicht, sich wehe zu tun; da kam es zum Unfall. Auf die weitere Frage, wie er sonst mit seinem Schicksal zufrieden gewesen sei, antwortete er mit einem Seufzer und erzählte seine Liebesgesbhichte mit einem Mädchen, das ihn auch liebte, und ihn trotzdem verließ; sie wanderte rein aus Geldgier nach Amerika aus. Er wollte ihr nach, doch die Eltern hinderten ihn daran. Seine Geliebte reiste am 20. Januar 1907, also zwei Monate vor dem Unglücksfalle, ab. Trotz all dieser Verdachtsmomente beherrte der Patient dabei, daß der Schuß ein „Unfall" war. Ich aber bin fest überzeugt, daß die Nachlässigkeit, sich von der Ladung der Waffe vor dem Spielen nicht überzeugt zu haben, wie auch die Selbstbeschädigimg psychisch bestimmt waren. Er war noch‘ ganz unter dem deprimierenden Eindruck der unglücklichen Liebschaft und wollte offenbar beim Militär „vergessen“. Als ihm auch diese Hoffnung genommen wurde, kam es zum Spiel mit der Schußwaiie, d. h. zum unbewußten Selbstmordversuch. Daß er den Revolver nicht in der rechten, sondern in der linken Hand hielt, spricht entschieden dafür, daß er wirklich nur „spielte", d. h. bewußt keinen Selbstmord begehen wollte.“

§ 590

Wenn so ein Wüten gegen die eigene Integrität und das eigene Leben hinter anscheinend zufälliger Ungeschicklichkeit und motoriscber Unzulänglichkeit verborgen sein kann, so braucht man keinen großen Schritt mehr zu tun, um die Übertragung der nämlichen Auffassung auf Fehlgriffe möglich zu finden, welche Leben und Gesundheit anderer ernstlich in Gefahr bringen. Was ich an Belegen für die Triftigkeit dieser Auffassung verbringen kann, ist der Erfahrung an Neurotikem entnommen, deckt sich also nicht völlig mit dem Erfordernis. Ich werde über einen Fall berichten, in dem mich nicht eigentlich ein Fehl— griff, sondern, was man eher eine Symptom- oder Zufallshandlung nennen kann, auf die Spur brachte, welche dann die Lösung des Konflikts bei dem Patienten ermöglichte. Ich übernahm es einmal, die Ehe eines sehr intelligenten Mannes zu bessern, dessen Mißhelligkeiten

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1 04 Das Vergreifen.

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mit seiner ihn zärtlich liebenden jungen Frau sich gewiß auf reale Begründungen berufen konnten, aber wie er selbst zugab, durch diese nicht voll erklärt wurden. Er beschäftigte sich unablässig mit dem Gedanken der Scheidung, den er dann wieder verwari, weil er seine beiden kleinen Kinder zärtlich liebte. Trotzdem kam er immer wieder auf den Vorsatz zurück und versuchte dabei kein Mittel, um sich die Situation erträglich zu gestalten. Solches Nichtiertigwerden mit einem Konflikt gilt mir als Beweis dafür, daß sich unbewußte und verdrängtc Motive zur Verstärkung der miteinander streitenden bewußten bereit gefunden haben, und ich untemehme es in solchen Fällen, den Konflikt durch psychische Analyse zu beenden. Der Mann erzählte mir eines Tages von einem kleinen Vorfall, der ihn aufs äußerste erschreckt hatte. Er „hetzte“ mit seinem älteren Kind, dem weitaus geliebteren, hob es hoch und ließ es nieder und einmal an solcher Stelle und so hoch, daß das Kind mit dem Scheitel fast an den schwer herabhängenden Gasluster angestoßen wäre. F a s t , aber doch eigentlich nicht oder gerade eben noch! Dem Kind war nichts geschehen, aber es wurde vor Schreck sehwindlig. Der Vater blieb entsetzt mit dem Kinde im Arme stehen, die Mutter bekam einen hysterischen Anfall. Die besondere Geschicklichkeit dioser unvorsichtigen Bewegung, die Heftigkeit der Reaktion bei den Eltern legten es mir nahe, in dieser Zufälligkeit eine Symptomhandlung zu suchen, welche eine böse Absicht gegen das geliebte Kind zum Ausdka bringen sollte. Den Widerspruch gegen die aktuelle Zärtlichkeit dieses Vaters zu seinem Kinde konnte ich aufheben, wenn ich den Impuls zur Schädigung in die Zeit zuriickverlegte, da dieses Kind das einzige und so klein gewesen war, daß sich der Vater noch nicht 7ärtlich fiir dasselbe zu interessieren brauchte. Dann hatte ich es leicht, anzunehmen, daß der von seiner Frau wenig beiriedigte Nan damals den Gedanken gehabt oder den Vorsatz geiaßt: Wenn dieses kleine Wesen, an dem mir gar nichts liegt, stirbt, dann bin ich frei und kann mich von der Frau scheiden lassen. Ein Wunsch nach dem Tode dieses jetzt so geliebten Wesens mußte also unbewußt weiterbestehen. Von hier ab war der Weg zur unbewußten Fixierung dieses Wunsches leicht zu finden, Eine mächtige Determinierung ergab sich wirklich aus der Kindheitserinnerung des Patienten, daß der Tod eines kleinen Bruders, den die Mutter der Nachlässigkeit des Vaters zur Last legte, zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern mit Scheidungsandrohung geführt hatte. Der weitere Verlauf der Ehe meines Patienten bestätigte meine Kombination auch durch den therapeutischen Erfolg.

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Symptom- und Zufallshandlungen. {05

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IX.

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Symptom- und Zufallshandlungen.

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Die bisher beschriebenen Handlungen, in denen wir die Ausfi'rhrung einer unbewußten Absicht erkannten, traten als Störungen anderer unbeabsichtigter Handlungen auf und deckten sich mit dem Vorwand der Ungeschicklichkeit. Die Zufallshandlungen, von denen jetzt die Rede sein soll, unterscheiden sich von denen des Vergreifens nur dadurch, daß sie die Anlehnung an eine bewußte Intention verschmähen und also des Vorwandes nicht bedürfen. Sie treten für sich auf und werden zugelassen, weil man Zweck und Absicht bei ihnen nicht vermutet. Man führt sie aus, „ohne sich etwas bei ihnen zu denken“, nur „rein zufällig", „wie um die Hände zu beschäftigen“, und man rechnet darauf, daß solche Auskunft der Nachforschung nach der Bedeutung der Handlung ein Ende bereiten wird. Um sich dieser Ausnahmsstellung erfreuen zu können, müssen diese Handlungen, die nicht mehr die Entschuldigung der Ungeschickiichkeit in Anspruch nehmen, bestimmte Bedingungen erfüllen; sie müssen un - ' auffällig und ihre Effekte müssen geringfügig sein.

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Ich habe eine große Anzahl solcher Zufallshandlungen bei mir und anderen gesammelt, und meine nach gründlicher Untersuchung der einzelnen Beispiele, daß sie eher den Namen von Sympt o mh a n di 11 n g e n verdienen. Sie bringen etwas zum Ausdruck, was der Täter selbst nicht in ihnen vermutet, und was er in der Regel nicht mitzuteilen, sondern für sich zu behalten beabsichtigt. Sie spielen also ganz so wie alle anderen bisher betrachteten Phänomene die Rolle von Symptomen.

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Die reichste Ausbeute an solchen Zufalls— oder Symptomliandlungen erhält man allerdings bei der psychoanalytischen Behandlung der Neurotiker. Ich kann es mir nicht versagen, an zwei Beispielen dieser Herkunft zu zeigen, wie weit und wie fein die Determinienmg dieser unscheinbaren Vorkommnisse durch unbewußte Gedanken getrieben ist. Die Grenze der Symptomhandlungen gegen das Vergreifen ist so wenig scharf, daß ich diese Beispiele auch im vorigen Abschnitt hätte unterbringen können.

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a) Eine junge Frau erzählte als Einfall während der Sitzung, daß sie sich gestern beim Nägelschneiden „ins Fleisch geschnitten, während sie das (eine Häutchen im Nagelbett abzutragen bemüht war“. Das ist so wenig interessant, daß man sich verwundert tragt, wozu es über

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106 Symptom- und anallshandlungen.

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haupt erinnert und erwähnt wird, und auf die Vermutung gerät, man habe es mit einer Symptomhandlung zu tun. Es war auch wirklich der Ringfinger, an dem das kleine Ungeschick verfiel, der Finger, an dem man den Ehering trägt. Es war überdies ihr Hochzeitstag, was der Verletzung des feinen Häutchens einen ganz bestimmten, leicht zu erratenden Sinn verleiht. Sie erzählt auch gleichzeitig einen Traum, der auf die Ungeschicklichkeit ihres Mannes und auf ihre Anästhesie als Frau anspielt. Warum war es aber der Ringfinger der linken Hand, an dem sie sich verletzte, da man doch den Ehering an der rechten Hand trägt? Ihr Mann ist Jurist, „Doktor der Rechte“, und ihre geheime Neigung hatte als Mädchen einem Arzt (scherzhaft: „Doktor der Linke“) gehört. Eine Ehe zur linken Hand hat auch ihre bestimmte Bedeutung.

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b) Eine unverheiratete junge Dame erzählt: „Ich habe gestern ganz unabsichtlich eine Hundertguldennote in zwei Stücke gerissen und die Hälfte davon einer mich besuchenden Dame gegeben. Soll das auch eine Symptomhandlung sein ?" Die genauere Erforschung deckt folgende Ei.nzélheiten auf. Die Hundertguldennote: Sie widmet einen Teil ihrer Zeit und ihres Vermögens wohltätigen Werken. Gemeinsam mit einer anderen Dame sorgt sie für die Erziehung eines verwaisten Kindes. Die 100 Gulden sind der ihr zugeschickte Beitrag jener Dame, den sie in ein Kuvert einschloß und vorläufig auf ihren Schreibtisch niederlegte.

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Die Besucherin war eine angesehene Dame, der sie bei einer anderen Wohltätigkeitsaktion beisteht. Diese Dame wollte eine Reihe von Namen von Personen notieren, an die man sich um Unterstützung wenden könnte. Es fehlte an Papier, da griff meine Patientin nach dem Kuvert auf ihrem Schreibtisch und riß es, ohne sich an seinen Inhalt zu besinnen, in zwei Stücke, von denen sie eines selbst behielt, um ein Duplikat der Namensliste zu haben, das andere ihrer Besucherin übergab. Man bemerke die Harmlosigkeit dieses unzweckmäßigen Vorgehens. Eine Hundertg'uldennote erleidet bekanntlich keine Ein— buße an ihrem Werte, wenn sie zerrissen wird, falls sie sich aus den Rißstücken vollständig zusammensetzen läßt, Daß die Dame das Stück Papier nicht wegwerten würde, war durch die Wichtigkeit der darauf stehenden Namen verbürgt, und ebensowenig litt es einen Zweifel, daß sie den wertvollen Inhalt zurückstellen würde, sobald sie ihn bemerkt hätte.

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Welchem unbemßten Gedanken sollte aber diese Zufallshand— lung, die sich durch ein Vergessen ermöglichte, Ausdruck geben? Die

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Symptom- und Zufallshandlnngen. 107

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besuchende Dame hatte eine ganz bestimmte Beziehung zu unserer Kur. Es war dieselbe, die mich seinerzeit dem leidenden Mädchen als Arzt empfohlen, und wenn ich nicht irre, hält sich meine Patientin zum Dank für diesen Rat verpflichtet. Soll die halbierte Hundertguldennote etwa ein Honorar für diese Vermittlung darstellen? Das bliebe noch recht befrerndlich.

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Es kommt aber anderes Material hinzu. Einige Tage vorher hatte eine Vermittlerin ganz anderer Art bei einer Verwandten angefragt, ob das gnädige Fräulein wohl die Bekanntschaft eines gewissen Herrn machen wolle, und am Morgen, einige Stunden vor dem Besuche der Dame, war der Werbebrief des Freiers eingetroffen, der viel Anlaß zur Heiterkeit gegeben hatte. Als nun die Dame das Gespräch mit einer Erkundigung nach dem Befinden meiner Patientin eröffnete, konnte diese wohl gedacht haben: „Den richtigen Arzt hast du mir zwar empfohlen, wenn du mir aber zum richtigen Mann (und dahinter: zu einem Kind) verhelfen könntest, wäre ich dir doch dankbarer.“ Von diesem verdrängt gehaltenen Gedanken aus flossen ihr die beiden Vermittlerinnen in eins zusammen, und sie überreichte der Besucherin das Honorar, das ihre Phantasie der anderen zu geben bereit war. Völlig verbindlich wird diese Lösung, wenn ich hinzufüge, daß ich ihr erst am Abend vorher’ von solchen Zufalls- oder Symptomhandlungen erzählt hatte. Sie bediente sich dann der nächsten Gelegenheit, um etwas Analoga zu produzieren.

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Eine Gruppierung der so überaus häufigen Zufalls— und Symptomhandlungen könnte man vornehmen, je nuhdem sie gewolmheitsmäßig, regelmäßig unter gewissen Umständen, oder vereinzelt erfolgen. Die ersteren (wie das. Spielen mit der Uhrkette, das Zwirbeln am Bart usw.), die fßt zur Charakteristik der betreffenden Personen dienen können, streifen an die mannigfaltigen Tikbewegungen und verdienen wohl im Zimammenhange mit letzteren behandelt zu werden. Zur zweiten Gruppe rechne ich das Spielen, wenn man einen Stock, das Kritzeln, wenn man einen Bleistift in der Hand hält, das Klimpern mit Münzen in der Tasche, das Kneten von Teig und anderen plastischen Stoffen, allerlei Hantierungen an seiner Gewandung u. dgl. mehr. Unter diesen spielenden Beschäftigungen verbergen sich während der psychischen Behandlung regelmäßig Sinn uud Bedeutung, denen ein anderer Aus. druck versagt ist. Gewöhnlich weiß die betreffende Person nichts davon, daß sie dergleichen tut, oder daß sie gewisse Modifikationen an ihrem gewöhnlichen Tändeln vorgenommen hat, und sie übersieht und überhört auch die Effekte dieser Handlungen. Sie hört z. B. das Geräusch

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nicht, das sie beim Klimpern mit Geldstücken hervorbringt, und benimmt sich wie erstaunt und ungläubig, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Ebenso ist alles, was man, oft ohne es zu merken, mit seinen Kleidem vomimmt, bedeutungsvoll und der Beachtung des Arztes wert. Jede Veränderung des gewohnten Aufzuges, jede kleine Nachlässigkeit, wie etwa ein nicht schließender Knopf, jede Spur von Enthlößung will etwas besagen, was der Eigentümer der Kleidung nicht direkt sagen will, meist gar nicht zu sagen weiß. Die Deutungen dieser kleinen Zufallshandlungen, sowie die Beweise für diese Deutungen ergeben sich jedesmal mit zureichender Sicherheit aus den Begleiturnständen während der Sitzung, aus dem eben behandelten Thema und aus den Einf'ällen, die sich einstellen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die anscheinende Zufälligkeit lenkt. Wegen dieses Zusammenhanges unterlasse ich es, meine Behauptungen durch Mitteilung von Beispielen mit Analyse zu unterstützen; ich erwähne diese Dinge aber, weil ich glaube, daß sie bei normalen Menschen dieselbe Bedeutung haben wie bei meinen Patienten.

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Ich kann etwa aus meiner psychotherapeutischeu Erfahrung einen Fall erzählen, in dem die mit einem Klumpen Brotkrume spielende Hand eine beredte Aussage ablegte. Mein Patient war ein noch nicht dreizehnjähriger, seit fast zwei]ahren schwer hysterischer Knabe, den ich endlich in psychoanalytjsche Behandlung nahm, nachdem ein längerer Aufenthalt in einer Wasserheilanstalt sich erfolglos erwiesen hatte. Er mußte nach meiner Voraussetzung sexuelle Erfahrungen gemacht haben und seiner Altersstufe entsprechend von sexuellen Fragen gequält sein; ich hütete mich aber, ihm mit Aufklärungen zur Hilfe zu kommen, weil ich wieder einmal eine Probe auf meine Voraussetzungen anstellen wollte. Ich durfte also neugierig sein, auf welchem Wege sich das Gesuchte bei ihm andeuten würde. Da fiel es mir auf, daß er eines Tages irgend etwas zwischen den Fingern der rechten Hand rollte, damit in die Tasche fuhr, dort weiter spielte, es wieder hervorzog usw. Ich fragte nicht. Was er in der Hand habe ; er zeigte es mir aber, indem er plötzlich die Hand öffnete. Es war Brotkrume, die zu einem Klumpen ztßammengeknetet war. In der nächsten Sitzung brachte er wieder einen solchen Klumpen mit, iormte aber aus ihm, während wir das Gespräch führten, mit unglaublicher Raschheit und bei geschlossenen Augen Figuren, die mein Interesse erregten. Es waren unzweifelhaft Männchen mit Kopf, zwei Armen, zwei Beinen, wie die rohesten prä— historischen Idole, und einem Fortsatz zwischen beiden Beinen, den er in eine lange Spitze auszog. Kaum daß dieser gefertigt war, knetete

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er das Männchen wieder zusammen; später ließ er es bestehen, zog aber einen ebensalchen Fortsatz an der Rückeniläche und an anderen Stellen aus, um die Bedeutung des ersten zu verhüllen. Ich wollte ihm zeigen, daß ich ihn verstanden habe, ihm aber dabei die Ausflucht benehmen, daß er sich bei dieser Menschen tormenden Tätigkeit nichts gedacht habe. In dieser Absicht fragte ich ihn plötzlich, ob er sich an die Geschichte jenes römischen Königs erinnere, der dem Abgesandten seines Sohnes eine pantomimische Antwort im Garten gegeben. Der Knabe wollte sich nicht an das erinnern, was er doch vor so viel kürzerer Zeit als ich gelernt haben mußte. Er fragte, ob das die Geschichte von dem Sklaven sei, auf dessen glattrasierten Schädel man die Antwort geschrieben habe. Nein, das gehört in die griechische Geschichte, sagte ich und erzählte: Der König Tarquinius Superhus hatte seinen Sohn Sextus veranlaßt, sich in eine feindliche latinische Stadt einzuschleichen. Der Sohn, der sich unterdes Anhang in dieser Stadt verschafft hatte. schickte einen Boten an den König mit der Frage, was nun weiter geschehen solle. Der König gab keine Antwort, sondern ging in seinen Garten, ließ sich dort die Frage wiederholen und schlug schweigend die größten und schönsten Mohnköpfe ab. Dem Boten blieb nichts übrig als dieses dem Sextus zu berichten, der den Vater verstand und es sich angelegen sein ließ, die angesehensten Bürger der Stadt durch Mord zu beseitigen.

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Während ich redete, hielt der Knabe in seinem Kneten inne, und als ich mich anschickte zu erzählen, was der König in seinem Garten tat, schon bei den Worten „schlug schweigend“, hatte er mit einer blitzschnellen Bewegung seinem Männchen den Kopf abgerissen. Er hatte mich also verstanden und gemerkt, daß er von mir verstanden worden war. Ich konnte ihn nun direkt befragen, gab ihm die Auskünfte, um die es ihm zu tun war, und wir hatten binnen kurzem der Neurose ein Ende gemacht.

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Die Syrnptomhandlungen, die man in fast unerschöpflicher Reichhaltigkeit bei Gesunden wie Kranken beobachten kann, verdienen unser Interesse aus mehr als einem Grunde. Dem Arzte dienen sie oft als wertvolle Winke zur Orientierung in neuen oder ihm wenig bekannten Verhältnissen, dem Menschenbeobachter verraten sie oft alles, und mitunter selbst mehr, als er zu wissen wünscht. Wer mit ihrer Würdi— gung vertraut ist, darf sich gelegentlich wie der König Salomo vorkommen, der nach der orientalischen Sage die Sprachen der Tiere verstand. Eines Tages sollte ich einen mit fremden jungen Mann im Hause seiner Mutter ärztlich untersuchen. Als er mir entgegentrat,

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fiel mir ein großer Eiweißfleck, kenntlich an seinen eigentümlich starren Rändern, auf seiner Hose auf. Der junge Mann entschuldigte sich nach kurzerVerlegenheit, er habe sich heiser gefühlt und dem ein rohes Ei getrunken, von dem wahrscheinlich etwas schlüpfriges Eiweiß auf seine Kleidung herabgeronnen sei, und konnte zur Bestätigung auf die Eierschale hinweisen, die noch auf einem Tellerchen imZimmer zu sehen war. Somit war der suspekte Fleck in harmloser Weise aufgeklärt; ab aber die Mutter uns allein gelassen hatte, dankte ich ihm, daß er mir die Diagnose so sehr erleichtert habe, und nahm ohne weiteres sein Ge— ständnis, daß er unter den Beschwerden der Masturbation leide, zur Grundlage unserer Unterhaltung. Ein anderes Mal machte ich einen Besuch bei einer ebenso reichen als geizigen und närrischen Dame, die dem Arzte die Aufgabe zu stellen pflegte, sich durch ein Heer von Klagen durchzuarbeiten, ehe man zur simpeln Begründung ihrer Zustände gelangte. Als ich eintrat, saß sie bei einem Tischchen damit beschäftigt, Silbergulden in Häufchen zu schichten, und während sie sich. erhob, war! sie einige der Geldstücke zu Boden. Ich half ihr beim Aufklauben derselben, unterbrach sie bald in der Schilderung ihres Elends und tragte : Hat Sie also der vomehme Schwiegersohn wiederum um soviel Geld gebracht? Sie antwortete mit erbitterter Ver-meinung, um die kürzeste Zeit nachher die klägliche Geschichte von der Aufregung über die Ver-. schwendung des Schwiegersohnes zu erzählen, hat mid] aber allerdings seither nicht wieder gerufen. Ich kann nicht behaupten, daß man sich immer Freunde unter denen wirbt, denen man die Bedeutung ihrer Symptomhandlungen mitteilt.

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Die Zufalls- oder Symptomhandlungen, die sich in Ehesachen ereignen, haben oft die ernstecte Bedeutung und könnten den, der sich um die Psychologie des Unhewußten nicht bekümmem will, zum Glauben an Vorzeichen nötigen. Es ist kein guter Anfang, wenn eine junge Frau auf der Hochzeitsreise ihren Ehering verliert, doch war er meist nur verlegt und wird bald wiedergefunden. —- Ich kenne eine jetzt von ihrem Marine geschiedene Dame, die bei der Verwaltung ihres Vermögens Dokumente häufig mit ihrem Mädchennamen unterzeichnet hat, viele]ahre vorher, ehe sie diesenwirklich wieder annahm.— Einst war ich Gast bei einem jung verheirateten Paare und hörte die junge Frau lachend ihr letztes Erlebnis erzählen, wie sie am Tage nach der Rückkehr von der Reise wieder ihre ledige Schwester aufgesucht hätte, um mit ihr wie in früheren Zeiten Einkäufe zu machen, während der Ehemann seinen Geschäften nachging. Plötzlich sei ihr ein Herr auf der anderen Seite der Straße aufgefallen, und sie habe ihre Schwester

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Symptom- und Zufallshundlungsn. ! ‘ ‘

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anstoßend gerufen: Schau, dort geht ja der Herr L. Sie hatte vergessen, daß dieser Herr seit einigen Wochen ihr Ehegemahl war. Mich überliei es kalt bei dieser Erzählung, aber ich getraute mich der Folgerung nicht ; die kleine Geschichte fiel mir erst Jahre später wieder ein, nachdem diese Ehe den unglücklichsten Ausgang genommen hatte.

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Den beziehtenswerten, in französischer Sprache veröffentlichten Arbeiten von A. M a e d e r 1) in Zürich entnehme ich folgende Beobachtung, die ebensowohl einen Platz beim „Vergessen“ verdient hätte:

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„Une dame nous racentait récemment qu’elle avait oublié d’essayer sa. rohe de noce et s'en souvint la veille du mariage a huit heures du soir, la couturiére désespérait de voir sa diente. Ce détail suffit Ä montrer que la iiancée ne se sentait pas trés heureuse de porter une rohe d'épouse, elle cherchait ä ouhlier cette représentation pénible. Elle est aujourd’hui ...... divorcée.“

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Von der großen Schauspielerin E l e o n o r a D u 5 e erzählte mir ein Freund, der auf Zeichen achten gelernt hat, sie bringe in einer ihrer Rollen eine Symptomhandlung an, die so recht zeige, aus welcher Tiefe sie ihr Spiel herauflmle. Es ist ein Ehebruchsdratna; sie hat eben eine Auseinandersetzung mit ihrem Marine gehabt und steht nun in Gedanken abseits, ehe sich ihr der Versucher nähert. In diesem kurzen Intervall spielt sie mit dem Ehering an ihrem Finger, zieht ihn ab, um ihn wieder anzustecken, und zieht ihn wieder ab. Sie ist nun reif für den Anderen.

§ 632

Ich weiß auch von einem älteren Herrn, der ein sehr junges Mädchen zur Frau nahm und die Hochzeitsnacht anstatt abzureisen in einem Hotel der Großstadt zuzubringen gedachte. Kaum im Hotel angelangt, merkte er mit Schrecken, daß er seine Brieftasche, in der sich die ganze für die Hochzeitsreise bestimmte Geldsumrne befand, vermisse, also verlegt oder verloren habe. Es gelang noch, den Diener telephonisch zu erreichen, der das Vermißte in dem abgelegten Rock des Hochzeiters auffa.nd und dem Harrenden, der so ohne Vermögen in die Ehe ge— gangen war, ins Hotel brachte. Er konnte also am nächsten Morgen die Reise mit seiner jungen Frau antreten; in der Nacht selbst war er, wie seine Befürchtung vorausgesehen hatte, „unvermögend" geblieben.

§ 633

Es ist tröstlich zu denken, daß das „Verlieren“ der Menschen in ungeahnter Ausdehnung Symptomhandlung und somit wenigstens einer

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1) Alpin. Maeder, Contribuh'ons si. la. psychopathologie de la vie quoti— diennc. Archives de Psychologie T. VI, 1905.

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112 Symptnm- und Zui'nlllhundluugen.

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geheimen Absicht des Verlustträgers willkommen ist. Es ist oft nur ein Ausdruck der geringen Schätzung des verlorenen Gegenstandes oder einer geheimen Abneigung gegen denselben oder gegen die Person, von der er herstammt, oder die Verlustneigung hat sich auf diesen Gegenstand durch symbolische Gedankenverbindung von anderen und bedentsameren Objekten her übertragen. Das. Verlieren wertvollerer Dinge dient mannigiachen Regungen zum Ausdruck, es soll entweder einen verdrängten Gedanken symbolisch darstellen, also eine Mahnung wiederholen, die man gerne überhönm möchte, oder es soll — und (lim vor allem anderen — den dunkeln Schicksalsmächten —— Opfer bringen, deren Dienst auch unter uns noch nicht erloschen ist‘).

§ 638

X) Hier noch eine kleine Sammlung mannigtaltiger Symptomhandlungen bei Gesunden und Neurotikern: Ein älterer Kollege, der nicht gerne im Kartenspiel verlia-t. hat eines abends eine größere Verlustsnmme klaglos aber in eigentrlm— lich verhaltener Stimmung ausgezahlt. Nach seinem Weggehen wird entdeckt. daß er so ziemlich alles, was er bei sich trägt, auf seinem Platz zurückgehssen hat: Brille, Zigarrentasche und Sacktuch. Das fordert wohl die Übersetzung: IhrRänber, ihr habt mich da schön susgeplündert.—Ein Mann. der an gelegentlich auftretender sexueller Impotenz leidet, welche in der Innigkeit seiner Kinder— beziehungen zur Mutter begründet ist, berichtet, daß er gewohnt ist, Schriften und Aufzeichnungen mit einem S., dern Anfangsbuchstabe]; des Namens seiner Mutter zu verzieren. Er verträgt & nicht. daß Briefe von Hause auf seinem Schreibtisch in Berührung mit anderen, unheiligen Briefwhatten geraten, und ist darum genötigt, erstere gesondert aufznbewahren. — Eine junge Dame reißt plötzlich die Türe des Behandlungszirnmers an}, in dem sich noch ihre Vorgängerin befindet. Sie entschuldigt sich mit .,Gedankenlosigkeit"; es ergibt sich bald, daB sie die Neugierde demonstriert hat. welche sie seinerzeit ins Schlafzimmer der Eltern dringen ließ. -— Mädchen, die auf ihre schönen Haare stolz sind, wissen so geschickt mit Kamm und Hasmndeln umzugehen, daß sich ihnen mitten im Gespräch die Haare lösen. —— Manche Männer zerstreuen während der Behandlung (in liegender Stellung) Kleingeld aus der Hosentasche und honorieren so die Arbeit der Behandlungsstunde je nach ihrer Schätzung. — Wer beim Arzt einen mit

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'gebrachten Gegenstand wie Zwicker, Handschuhe, Täschchen vergißt, deutet damit gewöhnlich an, daß er sich nicht losreiilen kann und gerne bald wiederkommen möchte. — Die kleinsten gewohnheitsmiißigen und mit minimaler Aufmerksamkeit anlgetü'hrtcn Verrichtnngen wie das Anfziehen der Uhr vor dem Schlufengelien. du Auslöschen des Lichtes vor dem Verlassen des Zimmers u. 1. sind gelegentlich Störungen unterworfen, welche den Einfluß der nnbewnßten Komplexe auf die an. geblich stärksten „Gewohnheiten“ uuverkenubnr demonstrieren Maui er erzählt in der Zeitxchritt „Coenobinm" von einem Spitnlmte, der sich eines Abends einer wichtigen Angelegenheit wegen entschloß in die Stadt zu gehen, obwohl er Dienst hatte und das Spitnl nicht hätte verlassen sollen. All er zurückkam, bemerkte er

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Sy1nptom- und Zufallshandlungen. I 13

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Von den vereinzelten Zuiallshandlungen will ich ein Beispiel mitteilen, welches auch ohne Analyse eine tiefere Deutung zuließ, das die Bedingungen trefflich erläutert, unter denen solche Symptome vollkommen unauffällig produziert werden können, und an das sich eine praktisch bedeutsame Bemerkung anknüpfen läßt. Auf einer Sommerreise traf es sich, daß ich einige Tage an einem gewissen Orte auf die Ankunft meines Reisegefährten zu warten hatte. Ich machte unterdec die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der sich gleichfalls einsam zu fühlen schien und sich bereitwillig mir anschloß. Da wir in demselben Hötel wohnten, fügte es sich leicht, daß wir alle Mahlzeiten gemeinsam einnehmen und Spaziergänge miteinander machten. Am Nachmittag des dritten Tages teilte er mir plötzlich mit, daß er heute abend seine mit dem Eilzuge anlangende Frau erwarte. Mein psychologisches Interesse wurde nun rege, denn es war mir an meinem Gesellschafter bereits am Vormittag aufgefallen, daß er meinen Vorschlag zu einer größeren Partie zurückgewiesen und auf unserem kleinen Spaziergang einen gewissen Weg als zu steil und gefährlich nicht hatte begehen wollen. Auf dem Nachmittagsspaziergang behauptete er plötzlich, ich müßte doch hungrig sein, ich sollte doch ja nicht seinetwegen die Abendmahlzeit aufsehieben, er werde erst nach der Ankunft seiner Frau mit ihr zu Abend essen. Ich verstand den Wink und setzte mich an den Tisch, während er auf den Bahnhof ging. Am näßhsten Morgen trafen wir uns in der Vorhalle des Hötels. Er stellte mich seiner Frau vor und fügte hinzu: Sie werden doch mit uns das Frühstück nehmen? Ich hatte noch eine kleine Besorg'ung in der nächsten

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zu seinem Erstaunen Licht in seinem Zimmer. Er hatte, was ihm früher nie geschehen war, vergessen, bei seinem Weggehen dunkel zu machen. Erbesann sich aber bald auf das Motiv dieses Vergessene. ”Der im Hause wohnende Spitaldlrektor mußte ja aus dem Licht im Zimmer seines Interne den Schluß ziehen, daß dieser im Hause sei. — Ein mit Sorgen überbürdeter und gelegentlich Verstirnmungen unterworfener Manu versicherte mir, daß er regelmäßig am Morgen seine Uhr abgelaufen finde, wenn ihm am Abend vorher das Leben gar zu hart und unfieundlich erschienen sei. Er drückt also durch die Unterlasung, die Uhr aufzuziehen, symbolisch nur, daß ihm nichts daran gelegen wei, den nächsten Tag zu erleben. -- Wer sich wie Jung (Uber die Psychologie der Dementia praecox, 1907. p. 62) oder Mneder (Une voie nouvelle en psychologie — F rend et son école, .,Coenobium". Lugano, 1909) die Mühe nehmen will. auf die Melodien zu achten, welche man. ohne es zu beabsichtigen, oft ohne es zu merken, vor sich hin trällert, wird die Beziehung des Textes zu einem die Person beschäftigendm Thema wohl regelmäßig entdecken können. Freud. Ptynhapntlmlogr'e e= Alltagsleben, ‘ 8

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1 14 Symptom- und Zufallshnndlnngen.

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Straße vor und versicherte, ich würde bald nachkommen. Als ich dann in den Frühstücksle trat, sah ich, daß das Paar an einem kleinen Fenstertisch Platz genommen hatte, auf dessen einer Seite sie beide saßen. Auf der Gegenseite befand sich nur ein Sessel, aber über dmsen Lehne hing der große und schwere Lodenmantel des Mannes herab, den Platz verdeckend. Ich verstand sehr wohl den Sinn dieser gewiß nicht absichtlichen, aber darum um so ausdrucksvolleren Lagerung. Es hieß: Für dich ist hier kein Platz, du bist jetzt überflüssig. Der Mann bemerkte es nicht, daß ich vor dem Tische stehen blieb, ohne mich zu setzen, wohl aber die Dame, die ihren Mann sofort anstieß und ihm zufliisterte: Du hast ja dem Herrn den Platz verlegt.

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Bei diesem wie bei anderen ähnlichen Erlebnissen habe ich mir gesagt, daß die unabsichtlich ausgeführten Handlungen unvermeidlich zur Quelle von Mißverständnissen im menschlichen Verkehr werden müssen. Der Täter, der von einer mit ihnen verknüpften Absicht nichts weiß, rechnet sich dieselben nicht an und hält sich nicht verantwortlich für sie. Der andere hingegen erkennt, indem er regelmäßig auch solche Handlungen seines Partners zu Schlüssen über dessen Absichten und Gesinnungen verwertet, mehr von den psychischen Vorgängen des Fremden, als dieser selbst zuzugeben bereit ist und mitgeteilt zu haben glaubt. Letzterer aber entrüstet sich, wenn ihm diese aus seinen Symptomhandlungen gezogenen Schlüsse vorgehalten werden, erklärt sie für grundlos, da ihm das Bewußtsein für die Ab— sicht bei der Ausführung fehlt, und klagt über Mißverständnis von seiten des anderen. Genau besehen beruht ein solches Mißverständnis auf einem Zufein— und Zuvielverstehen. ]e „nervöser“ zwei Menschen sind, desto eher werden sie einander Anlaß zu Entzweiungen bieten, deren Begründung jeder für seine eigene Person ebenso bestimmt leugnet, wie er sie für die Person des anderen als gesichert annimmt. Und dies ist wohl die Strafe für die innere Unaufrichtigkeit, daß die Menschen unter den Vorwänden des Vergessens, Vergreifens und der Unabsichtlichkeit Regungen den Ausdruck gestatten, die sie besser sich und anderen eingestehen würden, wenn sie sie schon nicht beherrschen können. Man kann in der Tat ganz allgemein behaupten, daß jedermann fortwährend psychische Analyse an seinen Nebenmenschen betreibt und diese infolgedessen besser kennen lernt als jeder einzelne sich selbst. Der Weg zur Befolgung der Mahnung maß: ucmöv führt durch das Studium seiner eigenen scheinbar zufälligen Handlungen und Unterlassungen.

§ 648

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Irrtümer. ! ; 5

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X.

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Irrtümer.

§ 652

Die Irrtümer dt$ Gedächtnises sind vom Vergessen mit Fehlerinnern nur durch den einen Zug unterschieden, daß der Irrtum (das Fehlerinnem) nicht als solcher erkannt wird, sondern Glauben findet. Der Gebrauch des Ausdruckes „Irrtum“ scheint aber noch an einer anderen Bedingung zu hängen. Wir sprechen von „Irren“ anstatt von „falsch Erinnern“, wo in dem zu reproduzierenden psychischen Material der Charakter der objektiven Realität hervorgehoben werden soll, wo also etwas anderes erinnert werden soll als eine Tatsache meines eigenen psychischen Lebens, vielmehr etwas, was der Bestätigung oder Widerlegung durch die Erinnerung anderer zugänglich ist. Den Gegensatz zum Gedächtnisin'tum in diesem Sinn bildet die Un— wissenheit.

§ 653

In meinem Buche „Die Traumdeutung (Igoo)“') habe ich mich einer Reihe von Verfälschungen an geschichtlichem und überhaupt tatsächlichem Material schuldig gemacht, auf die ich nach dem Ep scheinen des Buches mit Verwunderung aufmerksam geworden bin. Ich habe bei näherer Prüfung derselben gefunden, daß sie nicht meiner Unwissenheit entspnmgen sind, sondern sich auf Irrtümer des Gedächtnisses zurückleiten, welche sich durch Analyse aufklären lassen.

§ 654

a) Auf S. 266 bezeichne ich als den Geburtsort Schillers die Stadt M a r b ur g , deren Name in der Steiermark wiederkehrt. Der Irrtum findet sich in der Analyse eines Trauma während einer Nachtreise, aus dem ich durch den vom Kondu.kteur ausgerufenen Stationsnamen M a r b u r g geweckt wurde. Im Trauminhalt wird nach einem Buch von Schiller gefragt. Nun ist Schiller nicht in der Universitätsstadt M a r b u r g , sondern in dem schwäbischen M a. r b a c h geboren. Ich behaupte auch, daß ich dies immer gewußt habe.

§ 655

b) Auf S. 135 wird Hannibals Vater Hasdrubal genannt. Dieser Irrtum war mir besonders ärgerlich, hat mich aber in der Auffassung solcher Irrtümer am meisten bestärkt. In der Geschichte der B a r ki d e n dürften wenige der Leser des Buches besser Bescheid wissen als der Verfasser, der diesen Fehler niederschrieb und ihn bei drei Korrekturen übersah. Der Vater H a nnib als hieß Hamilkar Barkas, Hasdrubal war der Name von H a n n i b als Bruder, übrigens auch der seines Schwangere und Vorgängers im Kommando. fin. „909.

§ 656

8!

§ 657

§ 658

I 1 6 Irrtümer.

§ 659

0) Auf 5. 177 und S. 370 behaupte ich, daß Z e us seinen Vater Kronos entmaunt und ihn vom Throne stürzt. Diesen Greuel habe ich aber irrtümlich um eine Generation vorgeschoben; die griechische Mythologie läßt ihn von K r o n o 5 an seinem Vater U r a n o 5 verüben.

§ 660

Wie ist es nun zu erklären, daß mein Gedächtnis in diesen Punkten Ungetreues lieferte. während es mir sonst, wie sich Leser des Buches überzeugen können, das entlegenste und ungebräuchlichste Material zur Verfügung stellte ? Und ferner, daß ich bei drei sorgfältig durchgeführten Korrekturen wie mit Blindheit geschlagen an diesen Irrtümern vorbeiging?

§ 661

Goethe hat von Lichtenberg gesagt: Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen. Ähnlich kann man über die hier angeführten Stellen meines Buches behaupten: wo ein Irrtum vorliegt, da. steckt eine Verdrängung dahinter. Richtiger gesagt: eine Unaufrichtigkeit, eine Entstehung, die schließlich auf Verdrängtem iußt. Ich bin bei der Analyse der dort mitgeteilten Träume durch die bloße Natur der Themata, auf welche sich die Traumgedanken beziehen, genötigt gewesen, einerseits die Analyse irgendwo vor ihrer Abrundung abzubrechen, andererseits einer indiskreten Einzelheit durch leise Entstellu.ng die Schärfe zu benehmen. Ich konnte nicht anders und hatte auch keine andere Wahl, wenn ich überhaupt Bei— spiele und Belege verbringen wollte; meine Zwangslage leitete sich mit Notwendigkeit aus der Eigenschaft der Träume ab, Verdrängtem, d. h. Bewußtseinsunfähigem, Ausdruck zu geben. Es dürfte trotzdem genug übrig geblieben sein, woran empfindlichere Seelen Anstoß genommen haben. Die Entstellung oder Verschweigung der mir selbst noch bekannten fortsetzenden Gedanken hat sich nun nicht spurlos durchführen lassen. Was ich unterdrücken wollte, hat sich oftmals wider meinen Willen den Zugang in das von mir Aufgenommene erkämpft und ist darin als von mir unbemerkter Irrtum zum Vorschein gekommen. In allen drei hervorgehobenen Beispielen liegt übrigens das nämliche Thema zu Grunde; die Irrtümer sind Abkömmlinge verdrängter Ge— danken, die sich mit meinem verstorbenen Vater beschäftigen.

§ 662

ad a) Wer den auf S. 266 analysierten Traum durchliest, wird teils unverhüllt erfahren, teils aus Andeutungen erraten können, daß ich bei Gedanken abgebrochen habe, die eine un.treundliche Kritik am Vater enthalten hätten. In der Fortsetzung dieses Zuges von Gedanken und Erinnerungen liegt nun eine ärgerliche Geschichte, in welcher Bücher eine Rolle spielen und ein Geschättsfreund des Vaters,

§ 663

§ 664

Irrtümer. I 17

§ 665

der den Namen M a r b u r g führt, denselben Namen, durch dessen Anruf in der gleichnamigen Südbahnstation ich aus dem Schlaf geweckt wurde. Diesen Herrn M a r b u r g wollte ich bei der Analyse mir und den Lesern unterschlagen; er rächte sich dadurch, daß er sich dort einmengte, wo er nicht hingehört, und den Namen des Geburt-sortes Schillers aus Marbachin Marburg veränderte. —

§ 666

ad b) Der Irrtum Hasdrubal anstatt Hamilkar, der Name des Bruders an Stelle des Namens des Vaters, ereignete sich gerade in einem Zusa.mmenhange, der von den Hannibalphantasien meiner Gymnasiastenjahre und von meiner Unzufriedenheit mit dem Benehmen des Vaters gegen die „Feinde unseres Volkes“ handelt. Ich hätte fortsetzen und erzählen können, wie mein Verhältnis zum Vater durch einen Besuch in England verändert wurde, der mich die Bekanntschaft meines dort lebenden Halbbruders aus früherer Ehe des Vaters machen ließ. Mein Bruder hat einen ältesten Sohn, der mir gleichalterig ist; die Phantasien, wie anders es geworden wäre, wenn ich nicht als Sohn des Vaters, sondern des Bruders zur Welt gekommen wäre, fanden also kein Hindernis an den Altersrelationen Diese unterdrückten Phantasien iälschten nun an der Stelle, wo ich in der Analyse abbrach, den Text meines Buches, indem sie mich nötigten, den Namen des Bruders für den des Vaters zu setzen.

§ 667

nd c) Dem Einfluß der Erinnerung an diesen selben Bruder schreibe ich es zu, daß ich die mythologischen Greuel der griechischen Götterwelt um eine Generation vorgeschoben habe. Von den Mahnungen des Bruders ist mir lange Zeit eine im Gedächtnis geblieben: „Vergiß nicht in Bezug auf Lebensführung eines“, hatte er mir gesagt, „daß du nicht der zweiten, sondern eigentlich der dritten Generation vom Vater aus angehörst." Unser Vater hatte sich in späteren Jahren wieder verheiratet und war um so vieles älter als seine Kinder zweiter Ehe. Ich begehe den besprochenen Irrtum im Buche gerade, wo ich von der Pietät zwischen Eltern und Kindern handle.

§ 668

Es ist auch einige Male vorgekomrnen, daß Freunde und Patienten, deren Träume ich berichtete, oder auf die ich in den Traumanalysen anspielte, mich aufmerksam machten, die Umstände der gemeinsam erlebten Begebenheit seien von mir ungenau erzählt werden. Das wären nun wiederum historische Irrtümer. Ich habe die einzelnen Fälle nach der Richtigstellung nachgeprüft und mich gleichfalls überzeugt, daß meine Erinnerung des Sachlichen nur dort ungetreu war, wo ich in der Analyse etwas mit Absicht entsteht oder verhehlt hatte. Auch hier wieder ein unbemerkter Irrtum als Ersatz für

§ 669

§ 670

l 18 Irrtümer. eine absichtliche Verschweigung oder Ver— d r ä n g u n g.

§ 671

Von diesen Irrtümern, die der Verdrängung entspringen, heben sich scharf andere ab, die auf wirklicher Unwissenheit beruhen. So war es z. B. Unwissenheit, wenn ich auf einem Ausflug in die W a c h a u den Aufenthalt des Revolutionärs F is chh oi berührt zu haben glaubte. Die beiden Orte haben nur den Namen gemein; das Ein mersdorf Fischhofs liegt in Kärnthen. Ich wußte es aber nicht anders.

§ 672

Noch ein beschämender und lehrreicher Irrtum, ein Beispiel von temporärer Ignoranz, wenn man so sagen darf. Ein Patient mahnte mich eines Tages, ihm die zwei versprochenen Bücher über Venedig mitzugeben, aus denen er sich für seine Osterreise vorbereiten wolle. Ich habe sie bereit gelegt, erwiderte ich, und ging in das Bibliothekszimmer, um sie zu holen. In Wahrheit hatte ich aber vergessen, sie herauszusuchen, denn ich war mit der Reise m'eines Patienten, in der ich eine unnötige Störung der Behandlung und eine materielle Schädigung des Arztes erblickte, nicht recht einverstanden. Ich halte also in der Bibliothek rasche Umschau nach den beiden Büchern, die ich ins Auge gefaßt hatte. „Venedig als Kunststätte“ ist das eine; außerdem aber muß ich noch ein historisches Werk in einer ähnlichen Sammlung besitzen. Richtig, da ist es: „Die Mediceer“, ich nehme es und bringe es dem Wartenden, um dann beschämt den Irrtum einzugestehen. Ich weiß doch wirklich, daß die Medici nichts mit Venedig zu tun haben, aber es erschien mir für eine kurze Weile gar nicht unrichtig. Nun muß ich Gerechtigkeit üben; da ich dem Patienten so häufig seine eigenen Symptomhandlungen vorgehalten habe, kann ich meine Autorität vor ihm nur retten, wenn ich ehrlich werde und ihm die geheim gehaltenen Motive meiner Abneigung gegen seine Reise kundgebe.

§ 673

Man darf ganz allgemein erstaunt sein, daß der Wahrheitsdrang der Menschen soviel stärker ist, als man ihn für gewöhnlich einschätzt. Vielleicht ist es übrigens eine Folge meiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse, daß ich kaum mehr lügen kann. So oft ich eine Entstehung versuche, unterliege ich einer Irmng oder anderen Fehlleistung, durch die sich meine Unaufrichtigkeit wie in diesen und den vorstehenden Beispielen verrät.

§ 674

Der Mechanismus des Irrtums scheint der lockerste unter allen Fehlleistungen, d. h. das Vorkommen des Irrtums zeigt ganz allgemein an, daß die betreffende seelische Tätigkeit mit irgend einem störenden Einfluß zu kämpfen hatte, ohne daß die Art des Irrtums durch die

§ 675

§ 676

Irrtümer. _ 1 19 Qualität der im dunkeln gebliebenen störenden Idee determiniert wäre. Wir tragen indes an dieser Stelle nach, daß bei vielen einfachen Fällen von Versprechen und Verschreiben derselbe Tatbestand anzunehmen ist. ]edesmal, wenn wir uns versprechen oder verschreiben, dürfen wir eine Störung durch seelische Vorgänge außerhalb der Intention erschließen, aber es ist zuzugeben, daß das Versprechen und Verschreiben oftmals den Gesetzen der Ähnlichkeit, der Bequemlichkeit oder der Neigung zur Beschleunigung folgt, ohne daß es dem Störenden gelungen wäre, ein Stück seines eigenen Charakters in dem beim Versprechen oder Verschreiben resultierenden Fehler durchzusetzen. Das Entgegenkornmen die sprachlichen Materiales ermöglicht erst die Determinierung des Fehlers und setzt derselben auch die Grenze.

§ 677

Um nicht ausschließlich eigene Irrtümer anzuführen, Will ich noch zwei Beispiele mitteilen, die allerdings ebensowohl beim Ver— sprechen und Ver-greifen hätten eingereiht werden können, was aber bei der Gleichwertigkeit all dieser Weisen von Fehlleistung bedeutungslos zu nennen ist.

§ 678

a) Ich habe einem Patienten untersagt, die Geliebte, mit der er selbst brechen möchte, telephonisch anzurufen, da jedes Gespräch den Abgewöhnungskampf von neuem entfacht. Er soll ihr seine letzte Meinung schreiben, wiewohl es Schwierigkeiten hat, ihr Briefe zuzustellen. Er besucht mich nun um 1 Uhr, um mir zu sagen, daß er einen Weg gefunden hat, der diese Schwierigkeiten umgebt, tragt auch unter anderem, ob er sich auf meine ärztliche Autorität berufen darf. Um 2 Uhr ist er mit der Abiassung des Absagebrietes beschäftigt, unterbricht sich plötzlich, sagt der dabei anwesenden Mutter: Jetzt habe ich vergessen, den Professor zu tragen, ob ich in dem Brief seinen Namen nennen darf, eilt zum Telephon, läßt sich verbinden und ruft die Frage ins Rohr: Bitte, ist der Herr Professor schon nach dem Speisen zu sprechen? Als Antwort tönt ihm ein erstauntes „Adolf, bist du verrückt geworden ?“ entgegen, und zwar von der nä.mlichen Stimme, die er nach meinem Gebote nicht mehr hätte hören sollen. Er hatte sich bloß „geirrt“ und anstatt der Nummer des Arztes die der Geliebten angegeben.

§ 679

b) In einer Sommerirische hat der Schullehrer, ein ganz armer, aber stattlicher junger Mann, der Tochter eines Villenbesitzers aus der Großstadt so lange den Hof gemacht, bis das Mädchen sich leidenschaftlich in ihn verliebt und auch ihre Familie bewegen hat, die Heirat trotz der bestehenden Standes und Rassenunterschiede gutzuheißen. Da schreibt der Lehrer eines Tages seinem Bruder einen

§ 680

§ 681

120 Irrtümer. ‘ Brief, in dem es heißt: Schön ist das Dirndl ja gar nicht, aber recht lieb und soweit wärs gut. Ob ich mich aber werd’ entschließen können, eine Jüdin zu heiraten, das kann ich dir noch nicht sagen. Dieser Brief gerät in die Hände der Braut und macht dem Verlöbnis ein Ende, Während der Bruder sich gleichzeitig über die an ihn gerichteten Liebesbeteuerungen zu verwundern hat. Mein Gewährsmann versicherte mit, daß hier Irrtum und nicht eine schlaue Veranstaltung vorlag. Mir ist auch ein anderer Fall bekannt geworden, in dem eine Dame. die mit ihrem alten Arzt unzufrieden, ihm doch nicht offen absagen wollte, diesen Zweck mittelst einer Briefverwechslung erreichte, und wenigstens hier kann ich dafiir einstehen, daß der Irrtum und nicht die bewußte List sich des bekannten Lustspielmotivs bedient hat.

§ 682

Wie man einen ungern unterdrückten Wunsch ver-mittels eines „Irrtums“ befriedigen kann, davon erzählt M a e d e r (Nouvelles ooritributious etc., Arch. de Psych. VI, 1908) ein hübsches Beispiel. Ein Kollege möchte einen dienstireien Tag so recht ungestört genießen; er s 011 aber einen Besuch in Luzern machen, auf den er sich nicht freuen kann, und beschließt nach längerer Überlegung doch hinzufahren. Um sich zu zerstreuen, liest er auf der Fahrt Zürich-Arth-Goldau die Tageszeitungen, wechselt in letzterer Station den Zug und setzt seine Lektüre fort. In der Fortsetzung der Fahrt entdeckt ihm dann der kontrollierende Schaffner, daß er in einen falschen Zug eingestiegen ist, nämlich in den, der von Goldau nach Zürich zurückiälu-t, während er ein Billet nach Luzern genommen hatte.

§ 683

Ein sehr ähnliches Kunststück ist mir selbst erst kürzlich gelungen. Ich hatte meinem gestrengen ältesten Bruder zugesagt, ihn in diesem Sommer den längst fälligen Besuch in einem englischen Seebad ahzustatten und dabei die Verpflichtung übernommen, da die Zeit drängte, auf dem kürzesten Wege ohne Aufenthalt zu reisen. Ich bat um einen Tag Autschub für Holland, aber er meinte, das könnte ich für die Rückreise aufsparen. Ich fuhr also von München über Köln nach Rotterdam—Heck of Holland, von wo das Schiff um Mitternacht nach Harwich übersetzt. In Köln hatte ich Wagenwechsel; ich verließ meinen Zug, um in den Eilzug nach Rotterdam umzusteigen, aber der warynicht zu entdecken. Ich fragte verschiedene Bahnbcdienstete, wurde von einem Bahnsteig auf den anderen geschickt, geriet in eine übertriebene Verzweiflung und konnte mir bald berechnen, daß ich während dieses erfolglosen Suchens den Anschluß versäumt haben dürfte. Nachdem mir dieses bestätigt werden war, überlegte ich, ob ich in Köln übernachten sollte, wofür unter anderem auch die

§ 684

§ 685

Kombinierte Fehlleistungen. 1 2 I

§ 686

Pietät sprach, da nach einer alten Familientraclition meine Ahnen einst bei einer ]udenverfolgung aus dieser Stadt geflüchtet waren. Ich entschloß mich aber anders, fuhr mit einem späteren Zug nach Rotterdam, wo ich in tiefer Naehtzeit ankam und war nun genötigt, einen Tag in Holland zuzubringen. Dieser Tag brachte mir die Erfüllung eines längst gehegten Wunsches; ich konnte die herrlichen Rembrandtbilder im Haag und im Reichsrnuseum zu Amsterdam sehen. Erst am nächsten Vormittage, als ich während der Eisenbahnfahrt in England meine Eindrücke sammeln konnte, tauchte mir die unzweiielhatte Erinnerung auf, daß ich auf dem Bahnlinie in Köln wenige Schritte von der Stelle, wo ich ausgestiegen war, auf dem nämlichen Bahnsteig eine große Tafel Rotterdam—Hoek of Holland gesehen hatte. Dort wartete der Zug, in dem ich die Reise hätte fortsetzen sollen. Man müßte es als unbegreiiliche „Verblendung“ bezeichnen, daß ich trotz dieser guten Anleitung weggeeilt und den Zug anderswo gesucht habe, wenn man nicht annehmen wollte, daß es eben mein Vorsatz war, gegen die Vorschrift meines Bruders die Rembrandtbilder schon auf der Hinre'ße zu bewundern. Alles übrige, meine gut gespielte Ratlosigkeit, das Auftauchen der pietätvollen Absicht in Köln zu übernachten, war nur Veranstaltung, um mir meinen Vorsatz zu ver. bergen, bis er sich vollkommen durchgesetzt hatte.

§ 687

Man wird vielleicht nicht geneigt sein, die Klasse von Irrtümern, fiir die ich hier die Aufklärung gebe, für sehr zahlreich oder besonders bedeutungsvoll zu halten. Ich gebe aber zu bedenken, ob man nicht Grund hat, die gleichen Gesichtspunkte auch auf die Beurteilung der ungleich wichtigeren U r t e il s ir r t ü m e r der Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen. Nur den auserlesensten und ausgeglichensten Geistern scheint es möglich zu sein, das Bild der wahrgenommenen äußeren Realität vor der Verzerrung zu bewahren; die es sonst beim Durchgang durch die psychische Individualität des Wahmehmenden erfährt.

§ 688

XI.

§ 689

Kombinierte Fehlleistungen.

§ 690

Zwei der letzterwähnten Beispiele, mein Irrtum, der die Mediceer nach Venedig bringt, und der des jungen Mannes, der ein telephonisches Gespräch mit seiner Geliebten dem Verbote abzutrotzen weiß, haben eigentlich eine ungenaue Beschreibung gefunden und stellen sich bei

§ 691

§ 692

Kombinierte Fehlleistungen. 1 2 I

§ 693

Pietät sprach, da nach einer alten Familientraclition meine Ahnen einst bei einer ]udenverfolgung aus dieser Stadt geflüchtet waren. Ich entschloß mich aber anders, fuhr mit einem späteren Zug nach Rotterdam, wo ich in tiefer Naehtzeit ankam und war nun genötigt, einen Tag in Holland zuzubringen. Dieser Tag brachte mir die Erfüllung eines längst gehegten Wunsches; ich konnte die herrlichen Rembrandtbilder im Haag und im Reichsrnuseum zu Amsterdam sehen. Erst am nächsten Vormittage, als ich während der Eisenbahnfahrt in England meine Eindrücke sammeln konnte, tauchte mir die unzweiielhatte Erinnerung auf, daß ich auf dem Bahnlinie in Köln wenige Schritte von der Stelle, wo ich ausgestiegen war, auf dem nämlichen Bahnsteig eine große Tafel Rotterdam—Hoek of Holland gesehen hatte. Dort wartete der Zug, in dem ich die Reise hätte fortsetzen sollen. Man müßte es als unbegreiiliche „Verblendung“ bezeichnen, daß ich trotz dieser guten Anleitung weggeeilt und den Zug anderswo gesucht habe, wenn man nicht annehmen wollte, daß es eben mein Vorsatz war, gegen die Vorschrift meines Bruders die Rembrandtbilder schon auf der Hinre'ße zu bewundern. Alles übrige, meine gut gespielte Ratlosigkeit, das Auftauchen der pietätvollen Absicht in Köln zu übernachten, war nur Veranstaltung, um mir meinen Vorsatz zu ver. bergen, bis er sich vollkommen durchgesetzt hatte.

§ 694

Man wird vielleicht nicht geneigt sein, die Klasse von Irrtümern, fiir die ich hier die Aufklärung gebe, für sehr zahlreich oder besonders bedeutungsvoll zu halten. Ich gebe aber zu bedenken, ob man nicht Grund hat, die gleichen Gesichtspunkte auch auf die Beurteilung der ungleich wichtigeren U r t e il s ir r t ü m e r der Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen. Nur den auserlesensten und ausgeglichensten Geistern scheint es möglich zu sein, das Bild der wahrgenommenen äußeren Realität vor der Verzerrung zu bewahren; die es sonst beim Durchgang durch die psychische Individualität des Wahmehmenden erfährt.

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XI.

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Kombinierte Fehlleistungen.

§ 697

Zwei der letzterwähnten Beispiele, mein Irrtum, der die Mediceer nach Venedig bringt, und der des jungen Mannes, der ein telephonisches Gespräch mit seiner Geliebten dem Verbote abzutrotzen weiß, haben eigentlich eine ungenaue Beschreibung gefunden und stellen sich bei

§ 698

§ 699

1 22 Kombinierte Fehlleistungen.

§ 700

sorgtältigerer Betrachtung als Vereinigung eines Vergessens mit einem Irrtum dar. Dieselbe Vereinigung kann ich noch deutlicher an einigen anderen Beispielen aufzeigen.

§ 701

a) Ein Freund teilt mir folgendes Erlebnis mit: „Ich habe vor einigen Jahren die Wahl in den Ausschuß einer bestimmten literarischen Vereinigung angenommen, weil ich vermutete, die Gesellschaft könnte mir einmal behilflich sein, eine Aufführung meines Dramas durch— zusetzen, und nahm regelmäßig, wenn auch ohne viel Interesse, an den jeden Freitag stattfindenden Sitzungen teil. Vor einigen Monaten erhielt ich nun die Zusicheng einer Aufführung am Theater in F., und seither passierte es mir regelmäßig, daß ich an die Sitzungen jenes Vereins v e r g aß. Als ich Ihre Schrift über diese Dinge las, schä.mte ich mich meines Vergessens, machte mir Vorwürfe, es sei doch eine Gemeinheit, daß ich jetzt ausbleibe, nachdem ich die Leute nicht mehr brauche, und. beschloß, nächsten Freitag gewiß nicht zu vergessen. Ich erinnerte mich an diesen Vorsatz immer wieder, bis ich ihn ausführte und vor der Tür des Sitzungssaales stand, Zu meinem Erstaunen war sie geschlossen, die Sitzung war schon vorüber; ich hatte mich nämlich im Tage geirrt; es war schon Samstag!“

§ 702

b) Das nächste Beispiel ist eine Kombination einer Symptomhandlung mit einem Verlegen; es ist auf entfernteren Umwegen, aber aus, guter Quelle zu mir gelangt.

§ 703

Eine Dame reist mit ihrem Schwager, einem berühmten Künstler, nach Rom. Der Besucher wird von den in Rom lebenden Deutschen sehr gefeiert und erhält unter anderem eine goldene Medaille antiker Herkunft zum Geschenk. Die Dame krä.nkt sich darüber, daß ihr Schwager das schöne Stück nicht genug zu schätzen weiß. Nachdem sie, von ihrer Schwester abgelöst, wieder zu Hause angelangt ist, entdeckt sie beim Auspacken, daß sie die Medaille — sie weiß nicht wie —— mitgenommen hat. Sie teilt es sofort dem Schwager brieflich mit und kündigt ihm an, daß sie das Entführte am nächsten Tage nach Rom zurückschicken wird. Am nächsten Tage aber ist die Medaille so geschickt verlegt, daß sie unauft'indbar und unabsendbar ist, und dann dämmert der Dame, was ihre „Zerstreutheit“ bedeute, nämlich, daß sie das Stück für sich selbst behalten wolle.

§ 704

Ich will nicht behaupten, daß solche Fälle von kombinierten Fehl« leistungen etwas‘neues lehren können, was nicht schon aus den Einzelfällen zu ersehen wäre, aber dieser Formenwechsel der Fehlleistung bei Erhaltung desselben Erfolgs gibt doch den plastischen Eindruck eines Willens, der nach einem bestimmten Ziele strebt, und wider«

§ 705

§ 706

Detminismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Geliehtspunkte. 123

§ 707

spricht in ungleich energischerer Weise der Auffassung, daß die F ehlleistung etwas zufälliges und der Deutung nicht bedürftiges sei. Es darf uns auch auffallen, daß es in diesen Beispielen einem bewußten Vorsatz so gründlich mißlingt, den Erfolg der Fehlleistung hintanzuhalten. Mein Freund setzt es doch nicht durch, die Vereinssitzung zu besuchen, und die Dame findet sich außerstande, sich von der Medaille zu trennen. ]enes Unbekannte, das sich gegen diese Vorsätze sträubt, findet einen anderen Ausweg, nachdem ihm der erste Weg versperrt wird. Zur Überwindung des unbekannten Motive ist nämlich noch etwas anderes als der bewußte Gegenvorsatz erforder— lich; $ brauchte eine psychische Arbeit, welche das Unbekannte dem Bewußtsein bekannt macht.

§ 708

XII.

§ 709

Determinismus. —— Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

§ 710

Als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Einzelerörterungen kann man folgende Einsicht hinstellen: G e w is 3 e U n z u 1 ä n g lichkeiten unserer psychischen Leistungen —— deren gemeinsamer Charakter sogleich näher bestimmt werden soll _ und gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen erweisen sich, wenn man das Verfahren der psychoanalytischen Untersuchung auf sie anwendet, als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert.

§ 711

Um in die Klasse der so zu erklärenden Phänomene eingereiht zu werden, muß eine psychische Fehlleistung folgenden Bedingungen genügen.

§ 712

a) Sie darf nicht über ein gewisses Maß hinausgehen, welches von unserer Schätzung festgesetzt ist und durch den Ausdruck „innerhalb der Breite des Normalen“ bezeichnet wird.

§ 713

b) Sie muß den Charakter der momentanen und zeitweiligen Störung an sich tragen. Wir müssen die nämliche Leistung vorher korrekter ausgeführt haben oder uns jederzeit zutrauen, sie korrekter auszuführen. Wenn wir von anderer Seite korrigiert werden, müssen

§ 714

§ 715

Detminismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Geliehtspunkte. 123

§ 716

spricht in ungleich energischerer Weise der Auffassung, daß die F ehlleistung etwas zufälliges und der Deutung nicht bedürftiges sei. Es darf uns auch auffallen, daß es in diesen Beispielen einem bewußten Vorsatz so gründlich mißlingt, den Erfolg der Fehlleistung hintanzuhalten. Mein Freund setzt es doch nicht durch, die Vereinssitzung zu besuchen, und die Dame findet sich außerstande, sich von der Medaille zu trennen. ]enes Unbekannte, das sich gegen diese Vorsätze sträubt, findet einen anderen Ausweg, nachdem ihm der erste Weg versperrt wird. Zur Überwindung des unbekannten Motive ist nämlich noch etwas anderes als der bewußte Gegenvorsatz erforder— lich; $ brauchte eine psychische Arbeit, welche das Unbekannte dem Bewußtsein bekannt macht.

§ 717

XII.

§ 718

Determinismus. —— Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

§ 719

Als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Einzelerörterungen kann man folgende Einsicht hinstellen: G e w is 3 e U n z u 1 ä n g lichkeiten unserer psychischen Leistungen —— deren gemeinsamer Charakter sogleich näher bestimmt werden soll _ und gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen erweisen sich, wenn man das Verfahren der psychoanalytischen Untersuchung auf sie anwendet, als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert.

§ 720

Um in die Klasse der so zu erklärenden Phänomene eingereiht zu werden, muß eine psychische Fehlleistung folgenden Bedingungen genügen.

§ 721

a) Sie darf nicht über ein gewisses Maß hinausgehen, welches von unserer Schätzung festgesetzt ist und durch den Ausdruck „innerhalb der Breite des Normalen“ bezeichnet wird.

§ 722

b) Sie muß den Charakter der momentanen und zeitweiligen Störung an sich tragen. Wir müssen die nämliche Leistung vorher korrekter ausgeführt haben oder uns jederzeit zutrauen, sie korrekter auszuführen. Wenn wir von anderer Seite korrigiert werden, müssen

§ 723

§ 724

124 _ Deterininismns. — an'allu— und Aberglanben. — Gesichtspunkte. wir die Richtigkeit der Korrektur und die Unrichtigkeit unseres eigenen psychischen Vorganges soiurt erkennen.

§ 725

c) Wenn wir die Fehlleistung überhaupt wahrnehmen, dürfen wir von einer Motivierung derselben nichts in uns verspüren, sondern müssen versucht sein, sie durch „Unauimerksamkeit" zu erklären oder als „Zufiilligkeit“ hinzustellen.

§ 726

Es verbleiben somit in dieser Gruppe die Fälle von Vergessen und die Irrtümer bei besserem Wissen, das Versprechen, Vorlesen, Verschreiben, Vergreifen und die sog. Zufallshandlungen. Die gleiche Zusammensetzung mit der Vorsilbe v e r deutet für die meisten dieser Phänomene die innere Gleichartigkeit sprachlich an. An die Auf. klä.rung dieser so bestimmten psychischen Vorgänge knüpft aber eine Reihe von Bemerkungen an, die zum Teil ein weitergehendes Interesse erwecken dürfen.

§ 727

I. Indem wir einen Teil unserer psychischen Leistungen als unanfklärbar durch Zielvorstellungen preisgeben, verkennen wir den Umfang der Determinierung im Seelenleben. Dieselbe reicht hier und noch auf anderen Gebieten weiter, als wir es vermuten. Ich habe im Jahre 1900 in einem Aufsatz des Literarhistorikers R. M. M e y e r in der „Zeit“ ausgeführt und an Beispielen erläutert gefunden, daß es unmöglich ist, absichtlich und willkürlich einen Unsinn zu komponieren. Seit längerer Zeit weiß ich, daß man es nicht zustande bringt, sich eine Zahl nach freiem Belieben einfallen zu lassen, ebensowenig wie etwa einen Namen. Untersucht man die scheinbar willkürlich gebildete, etwa mehrstellige, wie im Scherz oder Ubermut ausgesprochene Zahl, so erweist sich deren strenge Determinierung, die man wirklich nicht für möglich gehalten hätte. Ich Will nun zunächst ein Beispiel eines willkürlich gewählten Vornamens kurz erörtern und dann ein analoges Beispiel einer „gedankenlos hingeworfenen“ Zahl ausführlicher analysieren.

§ 728

a.) Im Begriffe, die Krankengeschichte einer meiner Patientinnen für die Publikation herzurichten, erwäge ich, welchen Vornamen ich ihr in der Arbeit geben soll. Die Auswahl scheint sehr groß; gewiß schließen sich einige Namen von vorne herein aus, in erster Linie der echte Name, sodann die Namen meiner eigenen Familienangehörigen, an denen ich Anstoß nehmen würde, etwa noch andere Frauennamen von besonders seltsamem Klang; im übrigen aber brauchte ich um einen solchen Namen nicht verlegen zu sein. Man sollte erwarten und ich erwarte selbst, daß sich mir eine ganze Schar weiblicher Namen zur Verfügung stellen wird. Anstatt dessen taucht ein einzelner auf,

§ 729

§ 730

Determinismns. —- Zufalls- und Aherglnuben. — Gesichtspunkte. 125

§ 731

kein zweiter neben ihm, der Name Dora. Ich frage nach seiner Determinierung. Wer heißt denn nur sonst Dora? Ungläubig möchte ich den nächsten Einfall zurückweisen, der lautet, daß das Kindermädchen meiner Schwester so heißt. Aber ich besitze soviel Selbstzucht oder Übung im Analysieren, daß ich den Einfall festhalte und weiterspinne. Da fällt mir auch sofort eine kleine Begehenheit des vorigen Abends ein, welche die gesuchte Determinierung bringt. Ich sah auf dem Tisch im Speisezimmer meiner Schwester einen Brief liegen mit der Aufschrift: „An Fräulein Rosa W." Erstaunt fragte ich, war so heißt, und wurde belehrt, daß die vermeintliche Dora eigentlich Rosa heißt, und diesen ihren Namen beim Eintritt ins Haus ablegen mußte, weil meine Schwmter den Ruf „Rosa“ auch auf ihre eigene Person beziehen kann. Ich sagte bedauernd: Die armen Leute, nicht einmal ihren Namen können sie beibehalten! Wie ich mich jetzt bosinne, wurde ich dann für einen Moment still und begann an allerlei ernsthafte Dinge zu denken, die ins Unklare verliefen, die ich mit jetzt aber leicht bewußt machen könnte. Als ich dann am nächsten Tag nach einem Namen für eine Person suchte, d i e ih r e n e i g en e 11 nicht beibehalten durfte, fiel mir kein anderer als „Dora“ ein. Die Ausschließlichkeit beruht hier auf fester inhaltlicher Verknüpfung, denn in der Geschichte meiner Patientin rührte ein auch für den Verlauf der Kur entscheidender Einfluß von der im fremden Haus dienenden Person, von einer Gouvernante, her.

§ 732

Diese kleine Begebenheit fand Jahre später eine unerwartete Fortsetzung. Als ich einmal die längst veröffentlichte Krankengeschichte des nun Dora genannten Mädchens in meiner Vorlesung be. sprach, fiel mir ein, daß ja eine meiner beiden Hörerinnen den gleichen Namen Dora, den ich in den verschiedensten Verknüpfungen so oft auszusprechen hatte, trage, und ich wandte mich an die junge Kollegin, die mir auch persönlich bekannt war, mit der Entschuldigung, ich hätte wirklich nicht daran gedacht, daß sie auch so heiße, sei aber gern bereit, den Namen in der Vorlesung durch einen anderen zu ersetzen. Ich hatte nun dieAufgabe, rasch einen anderen zu wählen, und überlegte dabei, jetzt dürfe ich nur nicht auf den Vornamen der anderen Hörerin kommen und so den psychoanalytisch bereits geschulten Kollegen ein schlechtes Beispiel geben. Ich war also sehr zufrieden, als mir zum Ersatz für D o r a der Name E r n a einfiel, dessen ich mich nun im Vortrage bediente. Nach der Vorlesung fragte ich mich, woher wohl der Name Erna stammen möge, und mußte lachen, als ich merkte. daß die gefürchtete Möglichkeit sich bei der Wahl des Ersatznamens

§ 733

§ 734

126 Determinismul. —- Zufalls- und Aherglanben. -— Gesichtspunkte.

§ 735

dennoch, wenigstens teilweise, durchgesetzt hatte. Die andere Dame hieß mit ihrem Familiennamen Lucerna, wovon Erna ein Stück ist.

§ 736

5) In einem Briefe an einen Freund kündige ich ihm an, daß ich jetzt die Korrekturen der Traumdeutung abgeschlossen habe und nichts mehr an dem Werk ändern will, „möge es auch 2467 Fehler enthalten." Ich versuche sofort, mir diese Zahl aufzuklären und füge die kleine Analyse noch als Nachschrift dem Briefe an. Am besten zitiere ich jetzt, wie ich damals geschrieben, als ich mich auf frischer Tat ertappte:

§ 737

„Noch rasch einen Beitrag zur Psychopathologie des Alltagslebens. Du findest im Brief die Zahl 2467 als übennütige Willkür» Schätzung der Fehler, die sich im Traumbuch finden werden. Es soll heißen: irgend eine große Zahl, und da stellt sich diese ein. Nun gibt es aber nichts Willkürliches, Undeterminiertes im Psychischen. Du wirst also auch mit Recht erwarten, daß das Unbewußte sich beeilt hat, die Zahl zu determinieren, die von dem Bewußten freigelzßsen wurde. Nun hatte ich gerade vorher in der Zeitung gelesen, daß ein General E. M. als Feldzeugmeister in den Ruhestand getreten ist. Du mußt wissen, der Mann interessiert mich. Während ich als militärärztlicher Eleve diente, kam er einmal, damals Oberst, in den Krankenstand und sagte zum Arzt: „Sie müssen mich aber in 8 Tagen gesund machen, denn ich habe etwas zu arbeiten, worauf der Kaiser warte .“ Damals nahm ich mir vor, die Laufbahn des Mannes zu verfolgen, und siehe da, heute (1899) ist er am Ende derselben, Feldzeugmeister und schon im Ruhestande. Ich wollte ausrechnen, in welcher Zeit er diesen Weg zurückgelegt, und nahm an, daß ich ihn 1882 im Spital gesehen. Das wären also 17 Jahre. Ich erzähle meiner Frau davon und sie bemerkt: „Da müßtest du also auch schon im Ruhestand sein ?" Und ich protestiert): Davor bewahre mich Gott. Nach diesem Gespräch setze ich mich an den Tisch, um dir zu schreiben. Der frühere Gedmkengang setzt sich aber fort und mit gutem Recht. Es war falsch gerechnet; ich habe einen festen Punkt dafür in meiner Erinnerung. Meine Großjährigkeit, meinen 24. Geburtstag also, habe ich im Militärarrest gefeiert (weil ich mich eigenmächtig absentiert hatte). Das war also 1880: es sind 19 Jahre her. Da hast du nun die Zahl 24 in 2467! Nimm nun meine Alterszahl 43, und gib 24 jahre hinzu, so bekommst du die 67! D. h. auf die Frage, _ob ich auch in den Ruhestand treten will, habe ich mir im Wunsch noch 24 Jahre Arbeit zuv gelegt. Offenbar bin ich gekränkt darüber, daß ich es in dem Intervall, durch das ich den Oberst M. verfolgt, selbst nicht weit gebracht habe, und doch wie. in eineth von Triumph darüber, daß er jetzt schon fertig

§ 738

§ 739

Determinismus. — analls- und Aberglanben. — Gesichtspunkte. 127

§ 740

ist, während ich noch alles vor mir habe. Da darf man doch mit Recht sagen, daß nicht einmal die absichtslos hingeworfene Zahl 2467 ihrer Determinierung aus dem Unbewußten entbehrt."

§ 741

Seit diesem ersten Beispiel von Aufklärung einer scheinbar will— kürlich gewählten Zahl habe ich den gleichen Versuch vielmals mit dem nämlichen Erfolg wiederholt; aber die meisten Fälle sind so sehr intimen Inhalts, daß sie sich der Mitteilung entziehen.

§ 742

Gerade darum aber will ich es nicht versäumen, eine sehr interessante Analyse eines „Zahleneinfalls“ hier anzufügen, welche mein Kollege Dr. A l i r e d A d 1 e r von einem ihm bekannten „durchaus gesunden“ Gewährsmann erhieltl) : A. schreibt mir: „Gestern Abend habe ich mich über die „Psychopathologie des Alltags“ hergemacht und ich hätte das Buch gleich ausgelesen, wenn mich nicht ein merkwürdiger Zwischenfall gehindert hätte. Als ich nämlich las, daß jede Zahl, die wir scheinbar ganz willkürlich ins Bewußtsein rufen, einen bestimmten Sinn hat, beschloß ich, einen Versuch zu machen. Es fiel mir die Zahl 1734 ein. Nun überstiirzten sich folgende Einiälle: 1734 : 17 = ma; 102: 17 = 6. Dann zerteiße ich die Zahl in 17 und 34. Ich bin 34 Jahre alt. Ich betrachte, wie ich Ihnen, glaube ich, einmal gesagt habe, das 34. Jahr als das letzte Jugendjahr, und ich habe mich darum an meinem letzten Geburtstag sehr miserabel gefühlt. Am Ende meines 17. Jahres begann für mich eine sehr schöne und interessante Periode meiner Entwicklung. Ich teile mein Leben in Abschnitte von 17 Jahren. Was haben nun die Divisionen zu bedeuten? Es fällt mir zu der Zahl 102 ein, “daß die Nummer roz der Reclamschen Universitätsbibliothek das Kotzebuesche Stück „Menschenhaß und Reue“ enthält.“

§ 743

„Mein gegenwärtige-r psychischer Zustand ist Menschenhaß und Reue. Nr. 6 der U.-B. (ich weiß eine ganze Menge Nummern auswendig) ist M üllners „Schuld“. Mich quält in einem fort der Gedanke, daß ich durch meine Schuld nicht geworden bin, was ich nach meinen Fähigkeiten hätte werden können. Weiter fällt mir ein, daß Nr. 34 der U.-B. eine Erzählung desselben Müllner, betitelt „Der Kaliber“, enthält. Ich zerreiße das Wort in „Ka—fiber“; weiter fällt mir ein, daß es die Worte „Ali“ und „Kali“ enthält. Das erinnert mich daran, daß ich einmal mit meinem (sechsjährigen) Sohn Ali Reime machte. Ich forderte ihn auf, einen Reim auf Ali zu suchen. Es fiel ihm keiner ein und ich

§ 744

1) Alf. A dl e r , Drei Psycho»Analysen von Zahleneiniällen und obsedierenden Zahlen. P5ych.-Neur. Wochenschrift. Nr. 28, 1905.

§ 745

§ 746

128 Determinismus. — Zufall? und Aberglauben. -— Gesichtspunkte.

§ 747

sagte ihm, als er einen von mir wollte: „Ali reinigt den Mund mit hypermangansaurem Kali.“ Wir lachten viel und Ali war sehr lieb. In den letzten Tagen mußte ich mit Verdruß konstatieren, daß er „ka (kein) lieber Ali sei.“

§ 748

„Ich fragte mich nun: Was ist Nr. 17 der U.-B.?, konnte es aber nicht hcrausbringen. Ich habe es aber früher ganz bestimmt gewußt, nehme also an, daß ich diese Zahl vergessen wollte. Alles Nachsinnen blieb umsonst. Ich wollte weiter lesen, las aber nur mechanisch, ohne ein Wort zu verstehen, da mich die 17 quälte. Ich löschte das Licht aus und suchte weiter. Schließlich fiel mir ein, daß Nr. 17 ein Stück von Shakespeare sein muß. Welches aber? Es fällt mir ein: Hero und Leander. Offenbar ein blödsirmiger Versuch meines Willens, mich abzulenken. Ich stehe endlich auf und suche den Katalog der U,—B. Nr. 17 ist „Macbeth“. Zu meiner Verblüfiung muß ich konstatieren, daß ich von dem Stück fast gar nichts weiß, trotzdem es mich nicht weniger beseh'a'ftigt hat als andere Dramen Shakespeares. Es fällt mir nur ein: Mörder, Lady Macbeth, Hexen, „Schön ist häßlich“, und daß ich seinerzeit Schillers Macbethbearbeitung sehr schön gefunden habe. Zweifellos habe ich also auch das Stück vergesen wollen. Noch fällt mit ein, daß 17 und 34 durch 17 dividiert 1 und 2 ergibt. Nr. 1 und 2 der U.-B. ist Goethes „Faust“. Ich habe früher sehr viel Fausti— sches in mir gelunden.“

§ 749

Wir müssen bedauern, daß die Diskretion des Arztes uns keinen Einblick in die Bedeutung dieser Reihe von Einlällen gegönnt hat. A dler bemerkt, daß dem Marine die Synthese seiner Auseinandersetzungen nicht gelungen ist. Dieselben würden uns auch kaum mit. teilenswert erschienen sein, wenn in deren Fortsetzung nicht etwas aufträte, was uns den Schlüssel zum Verständnis der Zahl 1734 und der ganzen’Einfallsreihe in die Hand spielte.

§ 750

„Heute früh hatte ich freilich ein Erlebnis, das sehr für die Richtigkeit der F r e u d'schen Auffassung spricht. Meine Frau, die ich beim Aufstehen des Nachts aufgeweckt hatte, fragte mich, was ich denn mit dem Katalog der U.-B. gewollt hätte. Ich erzählte ihr die Geschichte. Sie fand, daß alles Rabulistik sei„nur — sehr interessant — den Macbeth, gegen den ich mich so sehr gewehrt hatte, ließ sie gelten. Sie sagte, ihr falle gar nichts ein, wenn sie sich eine Zahl denke. Ich antwortete: „Machen wir eine Probe.“ Sie nennt die Zahl II7. Ich erwidere darauf sofort: „17 ist eine Beziehung auf das, was ich dir ererzählt habe, ferner habe ich dir gestern gesagt: wenn eine Frau im 82. Jahre steht und ein Mann im 35., so ist das ein arges Mißverhältnis.

§ 751

§ 752

Determinilmus. —- Zufüh« und Abergl-uhen. —- Gelichtspuukte. 129

§ 753

Ich irozzle seit ein paar Tagen meine Frau mit der Behauptung, daß sie ein altes Mütterchen von 82 Jahren sei. 82 + 35 =n7.“

§ 754

Der Mann, der seine eigene Zahl nicht zu determinieren wußte, fand also sofort die Auflösung, als seine Frau ihm eine angeblich willkürlich gewählte Zahl nannte. In Wirklichkeit hatte die Frau sehr wohl aufgefaßt, aus welchem Komplex die Zahl ihres Mannes stammte, und wählte die eigenelahl aus dem nämlichenKomplex, der gewiß beiden Personen gemeinsam war, da es sich in ihm um das Alterswrhiiltnis der beiden handelte. Wir haben es nun leicht, den Zahleneinfall des Mannes zu übersetzen. Er spricht, wie Dr. A die r andeutet. einen unterdrückten Wunsch des Mannes aus, der voll entwickelt lauten wiirde: „Zu einem Marine von 34 Jahren, wie ich einer bin, paßt nur eine Frau von 17 Jahren.”

§ 755

Damit man nicht allzu geringschätzig von solchen „Spielereien“ denken möge, will ich hinzufügen, was ich kürzlich von Dr. Adler erfahren habe, daß ein Jahr nach Veröffentlichung dieser Analyse der Mann von seiner Frau geschieden war‘).

§ 756

Ähnliche Aufklärungen gibt Adler für die Entstehung absedierender Zahlen. Auch die Wahl sogenannter „Lieblingszahlen“ ist nicht ohne Beziehung auf das Leben der betreffenden Person und entbehrt nicht eines gewissen psychologischen Interesses. Ein Herr, der sich zu einer besonderen Vorliebe für die Zahlen 17 und 19 bekannte, wußte nach kurzem Besinnen anzugeben, daß er mit 17 Jahren in die laugeisehnte akademische Freiheit, auf die Universität gekommen, und daß er mit 19 Jahren seine erste große Reise und bald darauf seinen ersten wissenschaftlichen Fund gemacht. Die Fixierung dieser Vorliebe erfolgte aber zwei Lustren später, als die gleichen Zahlen zur Bedeutung für sein Liebesleben gelangten. —— Ja selbst Zahlen, die man anscheinend willkürlich in gewissem Zusammenhange besonders häufig gebraucht, lassen sich durch die Analyse auf unerwarteten Sinn zurückführen. So fiel es einem meiner Patienten eines Tages auf, daß er im Unmut besonders gerne zu sagen pflege: Das habe ich dir schon 17 bis 36 mal gesagt, und er fragte sich, ob es auch dafür eine Motivieru'ng gebe. Es fiel ihm alsbald ein, daß er an einem 27. Monatstag geboren

§ 757

1) Zur Aufklärung des „Macbeth" Nr, 17 der U-B. teilt mir A d l e r mit, daß der betreffende in seinem 17. Lebensjahr einer auarchistischen Gesellschaft beigetreten war, die sich den Königsmord zum Ziel gesetzt hatte. Darum verfiel wohl der Inhalt des Macbeth dem Vergessen. Zu jener Zeit erfand die nämliche Person eine Geheimschritt, in der die Buchstaben durch Zahlen ersetzt waren.

§ 758

Freud, Psyrbupalhologie des Alltagslebens. 9

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§ 760

130 Determinismus. —Zufalle- und Abetglauben. — Gesichtepunkte.

§ 761

sei, sein jüngerer Bruder aber an einem 26., und daß er Grund habe, darüber zu klagen, daß das Schicksal ihm soviel von den Gütern des Lebens geraubt, um sie diesem jüngeren Bruder zuzuwenden. Diese Parteilichkeit des Schicksals stellte er also dar, indem er von seinem Geburtsdatum m abzog und diese zum Datum des Bruders hinzufügte. „Ich bin der Ältere und dennoch so verkürzt werden.“

§ 762

Ein hübsches Beispiel von Herleitung eines obsedierenden, d. h. verfolgenden Wortes findet sich bei Jung (Diagnost. AssoziationsStudien IV, S. 215). „Eine Dame erzählte mir, daß ihr seit einigen Tagen beständig das Wort „Taganrog“ im Munde liege, ohne daß sie eine Idee habe, woher das komme. Ich fragte die Dame nach den atfektbetonten Ereignissen und verdrängten Wünschen der ]üngstvergangenheit. Nach einigem Zögern erzählte sie mir, daß sie sehr gerne einen „M orgenrock" hätte, ihr Mann aber nicht das gewünschte Interesse dafür habe. „Morgen-rock: Tagan—rock“, man sieht die partielle Sinn— und Klangverwandtschaft. Die Determ.ination der russischen Form kommt daher, daß ungefähr zu gleicher Zeit die Dame eine Persönlichkeit aus Taganrog kennen gelernt hatte.“

§ 763

In eigenen Analysen dieser Art ist mir zweierlei besonders auffällig: Erstens die geradezu somnarnbule Sicherheit, mit der ich auf das mir unbekannte Ziel losgehe, mich in einen rechnenden Gedankengang versenke, der dann plötzlich bei der gesuchten Zahl angelangt ist, und die Raschheit, mit der sich die ganze Nacharbeit vollzieht; zweitens aber der Umstand, daß die Zahlen meinem unhewußten Denken so bereitwillig zur Verfügung stehen, während ich ein schlechter Rechner bin und die größten Schwierigkeiten habe, mir Jahreszahlen, Hausnummern und dergleichen bewußt zu merken. Ich finde übrigens in diesen unbewußten Gedankenoperationen mit Zahlen eine Neigung zum Aberglauben, deren Herkunft mir lange Zeit fremd geblieben ist.

§ 764

II. Diese Einsicht in die Determinierung scheinbar willkürlich gewählter Namen und Zahlen kann vielleicht zur Klärung eines anderen Problems beitragen. Gegen die Annahme eines durchgehenden psychischen Detem1inismus berufen sich bekanntlich viele Personen auf ein besonderes Überzeugungsgetühl für die Existenz eines freien Willens. Dieses Überzeugungsgefühl besteht und weicht auch dem Glauben an den Determinismus nicht. Es muß wie alle normalen Gefühle durch irgend etwas berechtigt sein. Es äußert sich aber, soviel ich beobachten kann, nicht bei den großen und wichtigen Willensentscheidungen ; bei diesen Gelegenheiten hat man vielmehr die Empfindung

§ 765

§ 766

Determinismus. —— Zufalls- und Aherglauben. —Gesichtspunkte. 131

§ 767

des psychischen Zwanges und beruft sich gerne auf sie („Hier stehe ich, ich kann nicht anders”). Hingegen möchte man gerade bei den belanglosen, indifferenten Entschließungen versichern, daß man ebensowohl anders hätte handeln können, daß man aus freiem, nicht motiviertem Willen gehandelt hat. Nach umeren Analysen braucht man nun das Recht des Überzeugungsgefiihles vom freien Willen nicht zu bestreiten. Führt man die Unterscheidung der Motivierung aus dem Bewußten von der Motivierung aus dem Unbewußten ein, so berichtet uns das Überzeugungsgefühl, daß die bewußte Motivierung sich nicht auf alle unsere motorischen Entscheidungen erstreckt. Minima. non cura.t praetor. Was aber so von der einen Seite frei ge— lassen wird, das empiängt seine Motivierung von anderer Seite, aus dem Unbewußten, und so ist die Determinienmg im Psychischen doch lückenlos durchgefiihrfl).

§ 768

III. Wenngleich dem bewußten Denken die Kenntnis von der Motivierung der besprochenen Fehlleistungen nach der ganzen Sachlage abgeben muß, so wäre es doch erwünscht, einen psychologischen Beweis für deren Existenz aufzuiinden; ja es ist aus Gründen, die si& bei näherer Kenntnis des Unbewußten ergeben, wahrscheinlich, daß solche Beweise irgendwo aufiindbar sind. Es lassen sich wirklich auf zwei Gebieten Phänomene nachweisen, welche einer unbewußten und darum verschobenen Kenntnis von dieser Motivierung zu entsprechen scheinen.

§ 769

a) Es ist ein auffälliger und allgemein bemerkter Zug im Ver. halten der Paranoiker, daß sie den kleinen, sonst von uns vernachlässigten Details im Benehmen der anderen die größte Bedeutung beilegen, dieselben ausdeuten und zur Grundlage weitgehender

§ 770

1) Diese Anschauungen über die strenge Determinierung anscheinend willkürlicher psychischer Aktionen haben bereits reiche Früchte für die Psychologie —— vielleicht auch für die Rechtspflege — getragen. Blenler und Jung haben in diesem Sinne die Reaktionen beim sogenannten Assoziatiomexperiment verständlich gemacht, bei dem die untersuchte Person auf ein ihr zugerufenes Wort mit einem ihr dazu einia,llenden antwortet (Reizwort-Reaktion) und die dabei verlaufende Zeit gemessen wird (Reaktionszeit). ] n n g hat in seinen „Diagnostischen Assoziationstndien 1906" gezeigt, welch feines Reagens fiir psychische Zustände wir in dem so gedeuteten Assoziationsexperiment besitzen. Zwei Schüler des Strafrechtslehrers H. Groß in Prag, Wertheimer und Klein haben aus diesen Experimenten eine Technik zur „Tatbestands—Diagnostik" in strafrechtlichen Fällen entwickelt, deren Prüiung gegenwärtig Psychologen und Juristen beschäftigt.

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gt

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132 Detenninisrnus. ——Zufnlls- und Aberglauben. -— Gesichtspunkte.

§ 774

Schlüsse machen. Der letzte Paranoiker z. B., den ich gesehen habe, schloß auf ein allgemeines Einverständnis in seiner Umgebung, weil die Leute bei seiner Abreise auf dem Bahnhof eine gewisse Bewegung mit der einen Hand gemacht hatten. Ein anderer hat die Art notiert, wie die Leute auf der Straße gehen, mit den Spazierstöcken fuchteln und dgl.l).

§ 775

Die Kategorie des Zufälligen, der Motivierung nicht Bedürftigen, welche der Normale für einen Teil seiner eigenen psychischen Lei— stungen und Fehlleistungen gelten läßt, verwirft der Paranoiker also in der Anwendung auf die psychischen Äußerungen der anderen. Alles, was er an den anderen bemerkt, ist bedeutungsvoll, alles ist deutbar. Wie kommt er nur dazu? Er projiziert wahrscheinlich in das Seelenleben der anderen, was im eigenen unbewußt vorhanden ist, hier wie in so vielen ähnlichen Fällen. In der Paranoia drängt sich eben so vielerlei zum Bewußtsein durch, was wir bei Normalen und Neurotikern erst durch die Psychoanalyse als im Unbewußten vorhanden nach« weisen2). Der Paranoiker hat also hierin in gewissem Sinne Recht, er erkennt etwas, was dem Normalen entgeht, er sieht schärfer als das, normale Denkvermögen, aber die Verschiebung des so erkannten Sachverhaltes auf andere macht seine Erkenntnis wertlos. Die Rechtfertigung der einzelnen paranoischen Deutungen wird man dann hoffentlich von mir nicht erwarten. Das Stück Berechtigung aber, welches wir der Paranoia bei dieser Auffassung der Zufallshandlungen zugßtehen, wird uns das psychologische Verständnis der Überzeugung erleichtern, welche sich beim Paranoiker an alle diese Deutungen geknüpft hat. Es ist eben etwas Wahres daran; auch unsere nicht als krankhaft zu bezeichnenden Urteilsirrtümer erwerben das ihnen zugehörige Überzeugungsgefühl auf keine andere Art. Dies Gefühl ist für ein gewisses Stück das irrtümlichen Gedankenganges oder für die Quelle, aus der er stammt, berechtigt und wird dann von uns auf den übrigen Zusammenhang ausgedehnt.

§ 776

1) Von anderen Gmichtnpunkten ausgehend, hat man diese Beurteilung nnwesentlicher und Zufälliger Äußerungen bei anderen zum .,Bezlehungswahu“ gerechnet.

§ 777

2) Die durch Analyse bewußt zu machenden Phantasien der Hysteriker von sexuellen und grausamen Mißhandlungen decken sich z. B. gelegentlich bis ins Einzelne mit den Klagen verfolgler Paranoiker. Es ist bemerkenswert, aber nicht unverständlich, wenn der identische Inhalt uns auch als Realität in den Veranstaltungen Perverser zur Befriedigung ihrer Gelüste eutgegentritt.

§ 778

§ 779

Detaminismus. —Zufa.lls- und Aherghuben. —- Gesichtspunkte. 133

§ 780

b) Ein anderer Hinweis auf die unbewußte und verschobene Kenntnis der Motivierung bei Zufalls— und Fehlleistungen findet sich in den Phänomenen des Aherglaubens. Ich will meine Meinung durch die Diskussion des kleinen Erlebnisses klar legen, welches für mich der Ausgangspunkt dieser Überlegungen war.

§ 781

Von den Ferien zurückgekehrt, richten sich meine Gedanken alsbald auf die Kranken, die mich in dem neu beginnenden Arbeits— jahre beschäftigen sollen. Mein erster Weg gilt einer sehr alten Dame, bei der ich (siehe oben) seit Jahren die nämlichen ärztlichen Manipulationen zweimal täglich vornehme. Wegen dieser Gleichförrnigkeit haben sich unbewußte Gedanken sehr häufig auf dem Wege zu der Kranken und während der Beschäftigung mit ihr Ausdruck ver— schafft. Sie ist über 90 Jahre alt; es liegt also nahe, sich bei Beginn eines jeden Jahres zu fragen, wie lange sie wohl noch zu leben hat. An dem Tage, von dem ich erzähle, habe ich Eile, nehme also einen Wagen, der mich vor ihr Haus führen soll. jeder der Kutscher auf dem Wagenstandplatz vor meinem Hause kennt die Adresse der alten Frau, denn jeder hat mich schon oftmals dahin geführt. Heute ereignet es sich nun, daß der Kutscher nicht vor ihrem Hause, sondern vor dem gleichbezifferten in einer nahegelegenen und wirklich ähnlich aussehenden Parallelstraße Halt macht. Ich merke den Irrtum und werte ihn dem Kutscher vor, der sich entschuldigt. Hat das nun etwas zu bedeuten, daß ich vor ein Haus geführt werde, in dem ich die alte Dame nicht vorfinde? Für mich gewiß nicht, aber wenn ich abergläubisch wäre, würde ich in dieser Begebenheit ein Vorzeichen erblicken, einen Fingerzeig des Schicksals, daß dies Jahr das letzte für die alte Frau sein wird. Recht viele Vorzeichen, welche die Geschichte aufbewahrt hat, sind in keiner bmseren Symbolik begründet gewesen. 1 ch erkläre allerdings den Vorfall für eine Zufälligkeit ohne weiteren Sinn.

§ 782

Ganz anders läge der Fall, wenn ich den Weg zu Fuß gemacht und dann in „Gedanken“, in der „Zerstreutheit“ vor das Haus der Parallelstraße anstatt vors richtige gekommen wäre. Das würde ich für keinen Zufall erklären, sondern für eine der Deutung bedürftige Handlung mit unbewußter Absicht. Diesem „V e r g e h e n“ müßte ich wahrscheinlich die Deutung geben, daß ich die alte Dame bald nicht mehr anzutreffen erwarte.

§ 783

Ich unterscheide mich also von einem Abergläubischen in folgendem:

§ 784

Ich glaube nicht, daß ein Ereignis, an dessen Zustandekommen mein Seelenleben unbeteiligt ist, mir etwas Verborgenes über die zu

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§ 786

134 Determiuismus. —Zufalls- und Aber-glauben. — Gesichtspunkte.

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künftige Gestaltung der Realität lehren kann; ich glaube aber, daß eine unbeabsichtigte Äußerung meiner eigenen Seelentätigkeit mir allerdings etwas Verborgenes enthüllt, was Wiederum nur meinem Seelenleben angehört; ich glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit. Der Abergläubische umgekehrt: er weiß nichts von der Motivierung seiner zufälligen Handlungen und Fehlleistungen, er glaubt, daß es psychische Zufälligkeiten gibt; dafür ist er geneigt, dem äußeren Zufall eine Bedeutung zuzuschreiben, die sich im realen Geschehen äußern wird, im Zufall ein Ausdrucksmittel für etwas draußen ihm Verborgenes zu sehen. Die Unterschiede zwischen mir und dem Abergläubischen sind zwei: erstens projiziert er eine Motivierung nach außen, die ich innen suche; zweitens deutet er den Zufall durch ein Geschehen, den ich auf einen Gedanken zurückführe. Aber das Verborgene bei ihm entspricht dem Unbewußten bei mir, und der Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen, sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam.

§ 788

Ich nehme nun an, daß diese bewußte Unkenntnis und unbewußte Kenntnis von der Motivierung der psychischen Zufälligkeiten eine der psyi:hischen Wurzeln des Aberglaubens ist. W e il der Abergläubische von der Motivierung der eigenen zufälligen Handlungen nichts weiß, und weil die Tatsache dieser Motivierung nach einem Platz in seiner Anerkennung drängt, ist er genötigt, sie durch Verschiebung in der Außenwelt unterzubringen. Besteht ein solcher Zusammenhang, so wird er kaum auf diesen einzelnen Fall beschränkt sein. Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist als in dieAußenwelt projizierte P s y c h 010 g i e. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen: endopsychische Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhältnisse 1) des UnbeWußten spiegelt sich — es ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der Paranoia muß hier zur Hilfe genommen werden — in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewußten zurückverwandelt werden soll. Man könnte sich genauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit u. dgl. in solcher Weise aufzulösen, die M e t a physik in Metapsychologie umzusetzen. Die Kluft zwischen der Verschiebung des Paranoikers und der des Abergläubischen

§ 789

1) Die natürlich nichts vom Charakter einer Erkenntnis hat.

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§ 791

Determinismns. —analls- nnd Aberglanben. —— Gesichtspunkte. 135

§ 792

ist minder groß, als sie auf den ersten Blick erscheint. Als die Menschen zu denken begannen, waren sie bekanntlich genötigt, die Außenwelt anthropomorphisch in eine Vielheit von Persönlichkeiten nach ihrem Gleichnis aufzulösen; die Zufälligkeiten, die sie abergläubiscl'i denteten, waren also Handlungen, Äußerungen von Personen, und sie haben sich demnach genau so benommen wie die Paranoiker, welche aus den unscheinbaren Anzeichen, die ihnen die anderen geben, Schlüsse ziehen, und wie die Gesunden alle, welche mit Recht die zufälligen und unbeabsichtigten Handlungen ihrer Nebenmenschen zur Grundlage der Schätzung ihres Charakters machen. Der Aberglaube erscheint nur so sehr deplaziert in unserer modernen, naturwissenschaftlichen, aber noch keineswegs abgerundeten Weltanschauung; in der Weltanschauung vorwissenschaitlicher Zeiten und Völker war er berechtigt und konsequent.

§ 793

Der Römer, der eine wichtige Unternehmung aufgab, wenn ihm ein widriger Vogelflug begegnete, war also relativ im Recht; er handelte konsequent nach seinen Voraussetzungen. Wenn er aber von der Unternehmung abstand, weil er an der Schwelle seiner Tür gestolpert war („Un Romain retoumerai “), so war er uns Ungläubigen auch absolut überlegen, ein besserer Seelenkundiger, als wir uns zu sein bemühen. Denn dies Stolpern konnte ihm die Existenz eins Zweifels, einer Gegenströmung in seinem Innern beweisen, deren Kraft sich im Momente der Ausführung von der Kraft seiner Intention abziehen konnte. Das vollen Erfolges ist man nämlich nur dann sicher, wenn alle Seelenkräite einig dem gewünschten Ziel entgegenstreben. Wie antwortet S c hi] le r s T e 1 1 , der so lange gezaudert, den Apfel vom Haupt seines Knaben zu schießen, auf die Frage des Vogts, wozu er den zweiten Pfeil eingesteckt?

§ 794

„Mit diesem zweiten Pfeil durchbohrt’ ich — Euch, Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und Eu er — wahrlich — hätt' ich nich t gefehlt.“

§ 795

IV. Wer die Gelegenheit gehabt hat, die verborgenen Seelenregungen der Menschen mit dem Mittel der Psychoanalyse zu studieren, der kann auch über die Qualität der unbewußten Motive, die sich im Aberglauben ausdrücken, einiges Neue sagen. Am deutlichsten erkennt man bei den oft sehr intelligenten, mit Zwangsdenken und Zwangszuständen behafteten Nervösen, daß der Aberglaube aus unterdrückten feindseh'gen und grausamen Regungen hervorgeht. Aberglaube ist zum. großen Teile Unheilserwartnng, und wer anderen häufig Böses

§ 796

§ 797

136 Detekminismns. — Zufall»- und Aberglnnben. — Gesichtlpunkte.

§ 798

gewünscht, aber infolge der Erziehung zur Güte solche Wünsche ins Unbewußte verdrängt hat, dem wird es besonders nahe liegen, die Strafe für solches unbewußte Böse als ein ihm druhendes Unheil von außen zu erwarten.

§ 799

Wenn wir zugeben, daß wir die Psychologie des Aberglaubens mit diesen Bemerkungen keineswegs erschöpft haben, so werden wir auf der anderen Seite die Frage wenigstens streifen müssen, ob denn reale Wurzeln des Aberglaubens durchaus zu bestreiten seien, ob es gewiß keine Ahnungen, prophetische Träume, telepathische Erfahrungen, Äußerungen übersinnlicher Kräfte u. dgl. gebe. Ich bin nun weit davon entfernt, diese Phänomene überall so kurzer Hand aburteilen zu wollen, über welche so viele eingehende Beobachtungen selbst intellektuell hervorragender Männer vorliegen, und die am besten die Objekte weiterer Untersuchungen bilden sollen. Es ist dann sogar zu hoffen, daß ein. Teil dieser Beobachtungen durch unsere beginnende Erkenntnis der unbewußten seelischen Vorgänge zur Aufklärung gelangen wird, ohne uns zu grundstürzenden Abänderungen unserer heutigen Anschauungen zu nötigen. Wenn noch andere, wie z. B. die von den Spiritisten behaupteten Phänomene, erweisbar werden sollten, so werden wir eben die von der neuen Erfahrung geforderten Modifikationen unserer „Gesetze“ vornehmen, ohne an dem Zusammenhang der Dinge in der Welt irre zu werden.

§ 800

Im Rahmen dieser Adseinandersetzungen kann ich die nun aufgeworfenen Fragen nicht anders als subjektiv, d. i. nach meiner persönlichen Erfahrung beantworten. Ich muß leider bekennen, daß ich zu jenen unwürdigen Individuen gehöre, vor denen die Geister ihre Tätigkeit einstellen und das Übersinnliche entweicht, so daß ich niemals in die Lage gekommen bin, selbst etwas zum Wunderglauben anregendes zu erleben. Ich habe wie alle Menschen Ahnungen gehabt und Unheil erfahren, aber die beiden wichen einander aus, so daß auf die Ahnungen nichts folgte, und das Unheil unangekündigt über mich kam. Zur Zeit, als ich, ein junger Mann, allein in einer fremden Stadt lebte, habe ich oft genug meinen Namen plötzlich von einer nnverkennbaren, teuem Stimme rufen hören, und mir dann den Zeit— momeut der Halluzination notiert, um mich besorgt bei den Daheim— gebliebenen zu erkundigen, was um jene Zeit vorgefallen. Es war nichts. Zum Ersatz dafür habe ich später ungerührt und ahnungslos mit meinen Kranken gearbeitet, während mein Kind einer Verblutung zu erliegen drohte. Es hat auch keine der Ahnungen, von

§ 801

§ 802

Determim'smus. — Zu£alls- und Aberglanben. — Gesichtspunkte. 137

§ 803

denen mir Patienten berichtet haben, meine Anerkennung als reales Phänomen erwerben können.

§ 804

Der Glaube an prophetische Träume zählt viele Anhänger, weil er sich darauf stützen kann, daß manches sich wirklich in der Zukunft so gestaltet, wie es der Wunsch im Traume vorher konstruiert hat. Allein daran ist wenig zu verwundern, und zwischen dem Traum und der Erfüllung lassen sich in der Regel noch weitgehende Abweichungen nachweisen, welche die Gläubigkeit der Träumer zu vernachlässigen liebt. Ein schönes Beispiel eines mit Recht prophetisch zu nennenden Traun-res bot mir einmal eine intelligente und wahrheitsliebende Patientin zur genauen Analyse. Sie erzählte, daß sie einmal geträumt, sie treffe ihren früheren Freund und Hausarzt vor einem bestimmten Laden einer gewissen Straße, und als sie am nächsten Morgen in die innere Stadt ging, traf sie ihn wirklich an der im Traum genannten Stelle. Ich bemerke, daß dieses wunderbare Zusammentreffen seine Bedeutung durch kein nachfolgendes Ereignis erwies, also nicht aus dem Zukünftigen zu rechtfertigen war.

§ 805

Das sorgfältige Examen stellte fest, daß kein Beweis dafür vorliege, die Dame habe den Traum bereits am Morgen nach der Traum— nacht, also vor dem Spaziergang und der Begegnung erinnert. Sie konnte nichts gegen eine Darstellung des Sachverhaltes einwenden, die der Begebenheit alles Wunderbare nimmt und nur ein interessantes psychologisches Problem übrig läßt. Sie ist einen Vormittags durch die gewisse Straße gegangen, hat vor dem einen Laden ihrem alten Hausarzt begegnet und nun bei seinem Anblick die Überzeugung bekommen, daß sie die letzte Nacht von diesem Zusammentreffen an der nämlichen Stelle geträumt habe. Die Analyse konnte dann mit großer Wahrscheinlichkeit andeuten, wie sie zu dieser Überzeugung gekommen war, welcher man ja nach allgemeinen Regeln ein gewisses Anrecht auf Glaubwürdigkeit nicht versagen darf. Ein Zusammentreffen am bestimmten Orte nach vorheriger Erwartung, das ist ja der Tatbesth eines Rendezvous. Der alte Hausarzt rief die Erinnerung an alte Zeiten in ihr wach, in denen Zusammenkünfte mit einer dritten, auch dem Arzt befreundeten Person für sie bedeutungsvoll gewesen waren. Mit diesem Herrn war sie seitdem in Verkehr geblieben und hatte am Tage vor dem angeblichen Traum vergeblich auf ihn gewartet. Könnte ich die hier vorliegenden Beziehungen ausführlicher mitteilen, so wäre es mir leicht zu zeigen, daß die Illusion des prophetischen Traumes beim Anblick des Freundes aus früherer Zeit äquivalent ist etwa folgender Rede: „Ach, Herr Doktor, Sie er

§ 806

§ 807

138 Detenninismus. _ Zufall» und Aberglaubeu. — Gesichtspunkte.

§ 808

innern mich jetzt an vergangene Zeiten, in denen ich niemals vergeblich auf N. zu warten brauchte, wenn wir eine Zusammenkunft bestellt ' hatten.“

§ 809

Von jenem bekannten „merkwürdigen Zusammentreffen“, daß man einer Person begegnet, mit welcher man sich gerade in Gedanken beschäftigt hat, habe ich bei mir selbst ein einfaches und leicht zu deutendes Beispiel beobachtet, welches wahrscheinlich ein gutes Vor— bild für ähnliche Vorfälle ist. Wenige Tage, nachdem mir der Titel eines Professors verliehen werden war, der in monarchisch eingerichteten Staaten selbst viel Autorität verleiht, lenkten während eines Spazier— gangß durch die Innere Stadt meine Gedanken plötzlich in eine kindische Rachephantasie ein, die sich gegen ein gewisses Elternpaar richtete. Diese hatten mich einige Monate vorher zu ihrem Töchterchen gerufen, bei dem sich eine interessante Zwangserscheinung im Anschluß an einen Traum eingestellt hatte. Ich brachte dem Falle, dessen Genese ich zu durchschauen glaubte, ein großes Interesse entgegen; meine Behandlung wurde aber von den Eltern abgelehnt und mir zu verstehen gegeben, daß man sich an eine ausländische Autorität, {die mittels Hypnotismus heile, zu wenden gedenke. Ich phantasierte nun, daß die Eltern nach dem völligen Mißglücken dieses Versuches mich hätten, mit meiner Behandlung einzusetzen, sie hätten jetzt volles Vertrauen zu mir usw. Ich aber antwortete: Ja, jetzt, nachdem ich auch Professor geworden bin, haben Sie Vertrauen. Der Titel hat an meinen Fähigkeiten weiter nichts geändert; wenn Sie mich als Dozenten nicht brauchen konnten, können Sie mich auch als Professor entbehren. — An dieser Stelle wurde meine Phantasie durch den lauten Gruß „Habe die Ehre, Herr Professor" unterbrochen, und als ich aufschaute, ging das nämliche Elternpaar an mir vorüber, an dem ich soeben durch die Abweisung ihres Anerbietens Rache genommen hatte. Die nächste Überlegung zerstörte den Anschein des Wunderbaren. Ich ging auf einer geraden und breiten, fast menschenlecren Straße jenem Paar entgegen, hatte bei einem flüchtigen Aufschauen, vielleicht zwanzig Schritte von ihnen entfernt, ihre stattlichen Persönlichkeiten erblickt und erkannt, diese Wahrnehmung aber — nach dem Muster einer negativen Halluzination — aus jenen Gefühlsmotiven beseitigt, die sich dann in der anscheinend spontan auftauchenden Phantasie zur Geltung brachten.

§ 810

In die Kategorie des Wunderbaren und Unheimlichen gehört noch jene eigentürnliche Empfindung, die man in manchen Momenten und Situationen verspürt, als ob man genau das nämliche schon eiru'nal

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Determinismns. — Zufalls- und Aberglau'ben. — Gesichtspunkte. 139

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erlebt hätte, sich in derselben Lage schon einmal befunden hätte, ohne daß es je dem Bemühen gelingt, das frühere, das sich so anzeigt, deutlich zu erinnern. Ich weiß, daß ich bloß dem lockeren Sprachgebrauch folge, wenn ich das, was sich in solchen Momenten in einem regt, eine Empfindung heiße; es handelt sich wohl um ein Urteil, und 'zwar ein Erkennungsurteil, aber diese Fälle haben doch einen ganz eigentiimlichen Charakter, und daß man sich niemals an das Gesuchte erinnert, darf nicht beiseite gelassen werden. Ich weiß nicht, ob dies _ Phänomen des „Déj ä vu" im Ernst zum Erweis einer friiheren psychischen Existenz des Einzelwesens herangezogen worden ist; wohl aber haben die Psychologen ihm ihr Interesse,zugewendet und die Lösung des Rätsels auf den mannigfaltigsten spekulativen Wegen angestrebt. Keiner der beigehi'achten Erklämngsversuche scheint mir richtig zu sein, weil in keinem etwas anderes als die Begleiterscheinungen und begünstigenden Bedingungen des Phänomens in Betracht gezogen wird. Jene psychischen Vorgänge, welche nach meinen Beobachtungen allein für die Erklärung des „Déjä vu“ verantwortlich sind, die unbewußten Phantasien nämlich, werden ja heute noch von den Psychologen allgemein vernachlässigt.

§ 814

Ich meine, man tut Unrecht, die Empfindung das schon einmal Erlebthabens als eine Illusion zu bezeichnen. Es wird vielmehr in solchen Momenten wirklich an etwas gerührt, was man bereits einmal erlebt hat, nur kann dies letztere nicht bewußt erinnert werden, weil es niemals bewußt war. Die Empfindung des „Déjä vu“ entspricht, kurz gesagt, der Erinnerung an eine unbewußte Phantasie. Es gibt unbewußte Phantasien (oder Tagträume), wie es bewußte solche Schöpfungen gibt, die ein jeder aus seiner eigenen Erfahrung kennt.

§ 815

Ich weiß, daß der Gegenstand der eingehendsten Behandlung würdig wäre, will aber hier nur die Analyse eines einzigen Falles von „Déjä vu“ anfüh.ren, in dem sich die Empfindung durch besondere Intensität und Ausdauer auszeichnete. Eine jetzt 37jährige Dame behauptet, daß sie sich aufs schärfste erinnere, im Alter von 12% Jahren habe sie einen ersten Besuch bei Schulfreundinnen auf dem Lande gemacht, und als sie in den Garten eintrat, sofort die Empfindung gehabt, hier sei sie schon einmal gewesen; diese Empfindung habe sich, als sie die Wohnräume betrat, wiederholt, so daß sie vorher zu wissen glaubte, welcher Raum der nächste sein würde, welche Aussicht man von ihm aus haben werde usw. Es ist aber ganz ausgeschlossen und durch ihre Erkundigung bei den Eltern widerlegt, daß dieses Bekanntheitsgefühl in einem früheren Besuch des Hauses

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140 De'erminismux. —— Zufalls- und Aberglauben. —— Gesichtspunkte.

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und Gartens, etwa in ihrer ersten Kindheit, seine Quelle haben könne. Die Dame, die das berichtete, suchte nach keiner psychologischen Erklärung, sondern sah in dem Auftreten dieser Empfindung einen prophetischen Hinweis auf die Bedeutung, welche eben diese Freundinnen später für ihr Geiühlsleben gewannen. Die Erwägung der Umstände, unter denen das Phänomen bei ihr auftrat, zeigt uns aber den Weg zu einer anderen Auffassung. Als sie den Besuch unternahm, wußte sie, daß diese Mädchen einen einzigen schwerkranken Bruder hatten. Sie bekam ihn bei dem Besuch auch zu Gesichte, fand ihn sehr schlecht aussehend und dachte sich, daß er bald sterben werde. Nun war ihr eigener einziger Bruder einige Monate vorher an Diphtherie gefährlich erkrankt gewesen; während seiner Krankheit hatte sie vom Elternhause entfernt wochenlang bei einer Verwandten gewohnt. Sie glaubt, daß der Bruder diesen Landbesuch mitmachte, meint sogar, es sei sein erster größerer Ausflug nach der Krankheit gewesen; doch ist ihre Erinnerung in diesen Punkten merkwürdig unbestimmt, während alle anderen Details, und besonders das Kleid, das sie an jenem Tage trug, ihr überdeutlich vor Augen stehen. Dem Kundigen wird es nicht schwer fallen, aus diesen Anzeichen zu schließen, daß die Erwartung, ihr Bruder werde sterben, bei dem Mädchen damals eine große Rolle gäpielt hatte und entweder nie bewußt geworden oder nach dem glücklichen Ausgang der Krankheit energischer Verdrängung verfallen war. Im anderen Falle hätte sie ein anderes Kleid, nämlich Trauerkleidung, tragen müssen. Bei den Freundinnen fand sie nun die analoge Situation vor, den einzigen Bruder in Gefahr, bald zu sterben, wie es auch kurz darauf wirklich eintraf. Sie hätte bewußt erinnern sollen, daß sie diese Situation vor wenigen Meinten selbst durchlebt hatte; anstatt dies zu erinnern, was durch die Verdrängung verhindert war, übertrug sie des Erinnerungsgefühl auf die Lokalitäten, Garten und Haus und verfiel der „fausse reconnaissance“, daß sie das alles genau ebenso schon einmal gesehen habe. Aus der Tatsache der Verdrängung dürfen wir schließen, daß die seinerzeitige Erwartung, ihr Bruder werde sterben, nicht weit entiemt vom Charakter einer Wunschpl1antasie gewesen war. Sie Wäre dann das einzige Kind geblieben. In ihrer späteren Neurose litt sie in intensivster Weise unter der Angst, ihre Eltern zu verlieren, hinter welcher die Analyse wie gewöhnlich den unbewußten Wunsch des gleichen Inhalts aufdecken konnte. Meine eigenen flüchtigen Erlebnisse von „déjä vu“ habe ich mir in ähnlicher Weise aus der Gefühlskonstellation des Moments ableiten können. „Das wäre wieder ein Anlaß, jene (unbewußte und unbekannte)

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Determinisrnns. —- Znßlls- und Aberglnuben. —— Gesichtspunkte. 141

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Phantasie zu wecken, die sich damals und damals als Wunsch zur Verbesserung der Situation in mir gebildet hat“).

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V. Als ich unlängst Gelegenheit hatte, einem philosoph'ßch gebildeten Kollegen einige Beispiele von Namenvergessen mit Analyse vorzutragen, beeilte er sich zu erwidern: Das ist sehr schön, aber bei mir geht das Nameuvergessen anders zu. So leicht darf man es sich offenbar nicht machen; ich glaube nicht, daß mein Kollege je vorher an eine Analyse bei Namenvergessen gedacht hatte; er konnte auch nicht sagen, wie es bei ihm anders zugehe. Aber seine Bemerkung berührt doch ein Problem, welches viele in den Vordergrund zu stellen geneigt sein werden. Trifft die hier gegebene Auflösung der Fehl- und Zutallshandlungen allgemein zu oder nur vereinzelt, und wenn letzteres, welches sind die Bedingungen, unter denen sie zur Erklärung der auch anderswie ermöglichten Phänomene herangezogen werden darf? Bei der Beantwortung dieser Frage lassen mich meine Erfahrungen im Stiche. Ich kann nur davon abmahnen, den aufgezeigten Zusammenhang für selten zu halten, denn so oft ich bei mir selbst und bei meinen Patienten die Probe angestellt, hat er sich wie in den mitgeteilten Beispielen sicher nachweisen lassen, oder haben sich wenigstens gute Gründe, ihn zu vermuten, ergeben. Es ist nicht zu verwundern, wenn es nicht alle Male gelingt, den verborgenen Sinn der Symptomhandlung zu finden, da die Größe der inneren Widerstände, die sich der Lösung widersetzen, als entscheidender Faktor in Betracht kommt. Man ist auch nicht imstande, bei sich selbst oder bei den Patienten jeden einzelnen Traum zu deuten; es genügt, um die Allgemeingültigkeit der Theorie zu bestätigen, wenn man nur ein Stück weit in den verdeckten Zusammenhang einzudringen vermag. Der Traum, der sich beim Versuche, ihn am Tage nachher zu lösen, refraktä.r zeigt, läßt sich oft eine Woche oder einen Monat später sein Geheimnis entreißen, wenn eine unterdes

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1) Diese Erklärung des „Déja vu" ist bisher nur von einem einzigen Beobachter gewürdigt werden. Dr. Ferenczi, dem die dritte Auflage dieses Buches soviel wertvolle Beiträge verdankt, schreibt mir hierüber: „Ich habe mich sowohl bei mir als auch bei anderen dnvon überzeugt, daß das unerklärliche Bekanntheits— geiTihl au! unbewußte Phantasien zurückzuführen ist. an die man in einer aktuellen Situation nnhewnßt erinnert wird. Bei einem meiner Patienten ging es anscheinend anders, in Wirklichkeit aber ganz analog zu. Dies Gefith kehrte bei ihm sehr oft wieder, erwies sich aber regelmäßig als von einem vergessenen (verdringten) Tranmstück der vergangenen Nacht herrührend. Es scheint also, daß du „Déjh

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vu“ nicht nur von Taguäumen, sondern auch von nächtlichen Träumen abstamrneu kann."

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erfolgte reale Veränderung die miteinander streitenden psychischen Wertigkeiten herabgesetzt hat. Das nämliche gilt für die Lösung der Fehl- und Symptomhandlungen; das Beispiel von Verlesen „Im Faß durch Europa“ auf Seite 61 hat mir die Gelegenheit gegeben zu zeigen, ‘ wie ein anfänglich unlösbarcs Symptom der Analyse zugänglich wird, wenn das reale Interesse an den verdrängten Gedanken nach— gelassen hat. Solange die Möglichkeit bestand, daß mein Bruder den beneideten Titel vor mir erhalte, Widerstand das genannte Verlesen allen wiederholten Bemühungen der Analyse; nachdem es sich herausgestellt hatte, daß diese Bevorzugung unwahrscheinlich sei, klärte sich mir plötzlich der Weg, der zur Auflösung desselben führte, Es , wäre also unrichtig, von all den Fällen, welche der Analyse widerstehen, zu behaupten, sie seien durch einen anderen als den hier aufgedeckten psychischen Mechanismus entstanden; es brauchte für diese Annahme noch andere als negative Beweise. Auch die bei Gesunden wahrscheinlich allgemein vorhandene Bereitwilligkeit, an eine andere Erklärung der Fehl— und Symptomhandlungen zu glauben, ist jeder Beweiskraft bar; sie ist, wie selbstverständlich, eine Äußerung derselben seelischen Kräfte, die das Geheimnis hergestth haben, und die sich darum auch für dessen Bewahrung einsetzen, gegen dessen Aufheng aber sträuben. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht übersehen, daß die verdrängten Gedanken und Regungen sich den Ausdruck in Symptomund Fehlhandlungen ja nicht selbständig schaffen. Die technischeMöglichkeit für solches Ausgleichen der Innervationen muß unabhängig von ihnen gegeben sein; diese wird dann von der Absicht des Verdrängten, zur bewußten Geltung zu kommen, gerne ausgenützt. Welche Struktur- und Funktionsrelationen es sind, die sich solcher Absicht zur Verfügung stellen, das haben für den Fall der sprachlichen Fehlleistung (vgl. Seite 37) eingehende Untersuchungen der Philosophen und Philologen festzustellen sich bemüht. Unterscheiden wir so an den Bedingungen der Fehl- und Symptomhandlung das unbewußte Motiv von den ihm entgegenkomrnenden physiologischen und psychophysischen Relationen, so bleibt die Frage offen, ob es innerhalb der Breite der Gesundheit noch andere Momente gibt, welche, wie das unbewußte Motiv und an Stelle desselben, auf dem Wege dieser Relationen die Fehl- und Symptomhandlungen zu erzeugen vermögen. Es ist nicht meine Aufgabe, diese Frage zu beantworten. VI. Seit den Erörtemngen über das Versprechen haben wir uns begnügt zu beweisen, daß die Fehlleistungen eine verborgene Motivierung haben, und uns mit dem Hilfsmittel der Psychoanalyse

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den Weg zur Kenntnis dieser Motivierung gebahnt. Die allgemeine Natur und die Besonderheiten der in den Fehlleistungen zum Ausdruck gebrachten psychischen Faktoren haben wir bisher fast ohne Beriicksichtigung gelassen, jedenfalls noch nicht versucht, dieselben näher zu bestimmen und auf ihre Gesetzmäßigkeit zu prüfen. Wir werden auch jetzt keine gründliche Erledigung des Gegenstandes versuchen, denn die ersten Schritte werden uns bald belehrt haben, daß man in dies Gebiet besser von anderer Seite einzudringen vermag. Man kann sich hier mehrere Fragen vorlegen, die ich wenigstens an— iühren und in ihrem Umfang umschreiben will. I. Welches Inhalts und welcher Herkunft sind die Gedanken und Regungen, die sich durch die Fehl- und Zufallshandlungen andeuten? 2. Welches sind ,die Bedingungen dafür, daß ein Gedanke oder eine Regung genötigt und in den Stand gesetzt werde, sich dieser Vorfälle als Ausdrucks— mittel zu bedienen? 3. Lassen sich konstante und eindeutige Beziehungen zwischen der Art der Fehlhandlung’ und den Qualitäten des durch sie zum Ausdruck Gebrachten nachweisen?

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Ich beginne damit, einiges Material zur Beantwortung der letzten Frage zusammenzutragen. Bei der Erörtenmg der Beispiele von Versprechen haben wir es für nötig gefunden, über den Inhalt der intendierten Rede hinauszugehen, und haben die Ursache der Redestörung außerhalb der Intention suchen müssen. Dieselbe lag dann in einer Reihe von Fällen nahe und war dem Bewußtsein des Sprechenden bekannt. In den scheinbar einfachsten und durchsichtigsten Beispielen war es eine gleichberechtigt klingende, andere Fassung desselben Gedankens, die dessen Ausdruck störte, ohne daß man hätte angeben können, warum die eine unterlegen, die andere durchgedrungen war (Kontaminationen von M e r in g e r und M a y e r). In einer zweiten Gruppe von Fällen war das Unterhegen der einen Fassung motiviert durch eine Rücksicht, die sich aber nicht stark genug zur völligen Zurückhaltung erwies („zum Vorschwein gekommen“). Auch die zurückgehaltene Fassung war klar bewußt. Von der dritten Gruppe erst kann man ohne Einschränkung behaupten, daß hier der störende Gedanke von dem intendierten verschieden war, und kann hier eine, wie es scheint, wesentliche Unterscheidung aufstehen. Der störende Gedanke ist entweder mit dem gestörten durch Gedankenassoziation verbunden (Störung durch inneren Widerspruch), oder er ist ihm wesens— fremd, und durch eine befremdende ä u B e r 1 ic h e Assoziation ist gerade das gestörte Wort mit dem störenden Gedanken, der o i t unbewußt ist, verknüpft. In den Beispielen, die ich aus meinen Psycho—

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analysen gebracht habe, steht die ganze Rede unter dem Einfluß gleichzeitig aktiv gewordener, aber völlig unbewußter Gedanken, die sich entweder durch die Störung selbst verraten (K l a p p e r schlange — K 1 e o p at r a) oder einen indirekten Einfluß äußern, indem sie er— möglichen, daß die einzelnen Teile der bewußt intendierten Rede einander stören (As e n a t m e in wo H as e n a u erstraße, Reminiszenzen an eine Französin dahinter stehen). Die zurückgehaltenen oder unbewußten Gedanken, von denen die Sprechstörung ausgeht, sind von der mannigfaltigsten Herkunft. Eine Allgemeinheit enthüllt uns diese Überschau also nach keiner Richtung.

§ 835

Die vergleichende Prüfung der Beispiele von Verlesen und Verschreiben führt zu den nämlichen Ergebnissen. Einzelne Fälle scheinen wie beim Versprechen einer weiter nicht motivierten Verdichtungs— arbeit ihr Entstehen zu danken (z. B.: der A p i e). Man möchte aber gern erfahren, ob nicht doch besondere Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine solche Verdichtung, die in der Traumarbeit regelrecht, in unserem wachen Denken fehlerhaft ist, Platz greife, und bekommt hierüber aus den Beispielen selbst keinen Aufschluß. Ich würde es aber ablehnen, hieraus den Schluß zu ziehen, 45 gebe keine solchen Bedin— gungen als etwa den Nachlaß der bewußten Aufmerksamkeit, da ich von anderswoher weiß, daß sich gerade automatische Verrichtungen durch Korrektheit und Verläßlichkeit auszeichnen. Ich möchte eher betonen, daß hier, wie so häufig in der Biologie, die normalen oder dem Normalcn angenäherten Verhältnisse ungünstigere Objekte der Forschung sind als die pathologischen; Was bei der Erklärung dieser leichtesten Störungen dunkel bleibt, wird nach meiner Erwartung durch die Auf— klänmg schwererer Störungen Licht empfangen.

§ 836

Auch beim Verlesen und Verschreiben fehlt es nicht an Beispielen, welche eine entferntere und kompliziertere Motivierung erkennen lassen. „Im Fa.ß durch Europa" ist eine Lesestörung, die sich durch den Einfluß eines entlegenen, wesensfremden Gedankens aufklärt, welcher einer verdrängten Regung von Eifersucht und Ehrgeiz entspringt, und den „Wechsel“ des Wortes „Beiörderung“ zur Verknüpfung mit dem gleichgültigen und harmlosen Thema, das gelesen wurde, benützt. Im Falle B u r c k h a r d ist der Name selbst ein solcher „Wechsel“.

§ 837

Es ist unverkennbar, daß die Störungen der Sprechfunktionen ‘ ?eichter zustande kommen und weniger Anforderungen an die störenden Kräfte stellen als die anderer psychischer Leistungen.

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Detmninismus. — Zufall» und Aberglanben. — Gesichßpuukte. 145

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Auf anderem Boden steht man bei der Priifung des Vergessens im eigentlichen Sinne, d. h. des Vergessens von vergangenen Erlebnissen (das Vergessen von Eigennamen und Fremdworten, wie in den Abschnitten. I und II könnte man als „Entfallen“, das von Vorsätzen als „Unterlassen“ von diesem Vergessen sensu strictiori absondern). Die Grundheding-ungen des normalen Vorgangs beim Vergessen sind unbekannt 1). Man wird auch daran gemahnt, daß nicht alles vergessen ist, was man dafür hält. Unsere Erklärung hat es hier nur mit jenen Fällen zu tun, in denen das Vergessen bei uns ein Befremden erweckt, insofern es die Regel verletzt, daß Unwichtiges vergessen, Wichtiges aber vom Gedächtnis bewahrt wird. Die Analyse der Beispiele von Vergessen, die uns nach einer besonderen Aufklärung zu verlangen scheinen, ergibt als Motiv des Vergessens jedesmal eine Urdust, etwas zu erinnern, was peinliche Empfindungen erwecken kann. Wir gelangen zur Vermutung, daB diese; Motiv im psychischen Leben sich ganz allgemein zu äußern strebt, aber durch andere gegenwirkende Kräfte verhindert wird, sich irgendwie regelmäßig durchzusetzen. Umfang und

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1) Uber den Mechanismus dee eigentlichen Vergessens kann ich etwa folgende Andeutungen geben. Das Erinnerungsmaterial unterliegt im allgemeinen zwei Einflüssen. der Verdichtung und der Entstellung. Die Entstehung ist das Werk der im Seelenlehen herrschenden Tendenzen und wendet sich vor allem gegen die aifektw-irksam gebliebenen Edunerungsspuren, die sich gegen die Verdichtung resistenter verhalten. Die indifierent gewordenen Spuren verfallen dem Verdichtungsvorgang ohne Gegenwehr. doch kann man beobachten, daß überdies Entstellungstendenzen sich an dem indiiierenten Material sättigen, welche dort, wo sie sich äußern wollten. unbefriedigt geblieben sind. Da diese Prozesse der Verdichtung und Entstellung sich über lange Zeiten hinziehen. während welcher alle frischen Erlebnisse auf die Umgestaltung des Gedächtnisinhaltee einwirken. meinen wir, es sei die Zeit. welche die Erinnerungen unsicher und undentlich macht. Sehr wahrscheinlich ist beim Vergessen von einer direkten Funktion der Zeit überhaupt nicht die Rede. — An den verdrängten Erinnerungsepnren kann man konstatjeren, daß sie durch die längste Zeitdauer keine Veränderung eria.hren haben. Das Unbewußte ist überhaupt. zeitlos. Der wichtigste und auch betraudendste Charakter der psychischen Fixierung ist der, daß alle Eindrücke einer— seits in der nämlichen Art erhalten sind. wie sie aufgenommen wurden, und überdies noch in all den Formen, die sie. bei den weiteren Entwicklungen angenommen haben. ein Verhältnis. welches sich durch keinen Vergleich aus einer anderen Sphäre erläutern läßt. Der Theorie zufolge ließe sich also jeder frühere Zustand des Gedächtnisinhaltes wieder für die Erinnerung herstellen, auch wenn dessen Eleniente alle ursprünglichen Beziehungen längst gegen neuere eingetauscht haben.

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Freud, Psychoparhologie des Alltagslebens. lU

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146 Determinismus. — Zufalla- und Aberglnuben. — Gesichtspunkte.

§ 845

Bedeutung dieser Erinnerungsunlust gegen peinliche Eindrücke scheinen der sorgfältigsten psychologischen Prüfung wert zu sein; auch die Frage, welche besonderen Bedingungen das allgemein angestrebte Vergessen in einzelnen Fä]len ermöglichen, ist aus diesem weiteren Zusammenhange nicht zu lösen.

§ 846

Beim Vergessen von Vorsä.tzen tritt ein anderes Moment in den Vordergrund; der beim Verdrängen des peinlich zu Erinnernden nur vermutete Konflikt wird hier greifbar, und man erkennt bei der Analyse der Beispiele regelmäßig einen Gegenwillen, der sich dem Vorsatze widersetzt, ohne ihn aufzuheben. Wie bei früher besprochenen Fehl1eistungen erkennt man auch hier zwei Typen des psychischen Vorgangs: der Gegeane kehrt sich entweder direkt gegen den Vorsatz (bei Ab— sichten von einigem Belang), oder er ist dem Vorsatz selbst wesensfremd und stellt seine Verbindung mit ihm durch eine ä u B e rl i c h e Assoziation her (bei fast indifjerenten Vorsätzen).

§ 847

Derselbe Konflikt beherrscht die Phänomene des Vergreifens. Der Impuls, der sich in der Störung der Handlung äußert, ist häufig ein Gegenimpuls, doch noch öfter ein überhaupt fremder, der nur die Gelegenheit benützt, sich bei der Ausführung der Handlung durch eine Störung derselben zum Ausdruck zu bringen. Die Fälle, in denen die Störung durch einen inneren Widerspruch erfolgt, sind die bedeutsameren und betreffen auch die wichtigeren Verrichtungen.

§ 848

Der innere Konflikt tritt dann bei den Zufalls- oder Symptomhandlnngen immer mehr zurück. Diese vom Bewußtsein gering geschätzten oder ganz übersehenen motorischen Äußerungen dienen so mannigfachen unbewußten oder zurückgehaltenen Regungen zum Ausdruck; sie stellen meist Phantasien oder WünSche symbolisch der. —

§ 849

Zur ersten Frage, welcher Herkunft die Gedanken und Regungen seien, die sich in den Fehlleistungen zum Ausdruck bringen, läßt sich sagen, daß in einer Reihe von Fällen die Herkunft der störenden Gedanken von unterdrückten Regungen des Seelenlebens leicht nachzuweisen ist. Egoistische, eifersüchtige, feindselige Ge ühle und Im— pulse, auf denen der Druck der moralischen Erziehung lastet, bedienen sich bei Gesunden nicht selten des Weges der Fehlleistungen, um ihre unleugbar vorhandene, aber von höheren seelischen Instanzen nicht anerkannte Macht irgendwie zu äußern. Das Gewährenlassen dieser F ehl- und Zufallshandlungen entspricht zum guten Teil einer bequemen Duldung des Unmoralischen. Unter diesen unterdrückten Regungen spielen die mannigfa.chen sexuellen Strömungen keine geringfügige

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Deteminismus. —— Zufalls— und Aberglauhen. — Gesichtspunkte. 147

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Rolle. Es ist ein Zufall des Materials, wenn gerade sie so selten unter den durch die Analyse aufgedeckten Gedanken in meinen Beispielen erscheinen. Da ich vorwiegend Beispiele aus meinem eigenen Seelenleben der Analyse unterzogen habe, so war die Auswahl von vornherein parteiisch und auf den Ausschluß des Sexuellen gerichtet. Andere Male scheinen es höchst harmlose Einwendungen und Rücksichten zu sein, aus denen die störenden Gedanken entspringen.

§ 853

Wir stehen nun vor der Beantwong der zweiten Frage, welche psychologischen Bedingungen dafür gelten, daß ein Gedanke seinen Ausdruck nicht in voller Form, sondern in gleichsam parasitärer, als Modifikation und Störung eines anderen suchen müsse. Es liegt nach den auffälligsten Beispielen von Fehlhandlung nahe, diese Bedingung in einer Beziehung zur Bewußtseinsiälügkeit zu suchen, in dem mehr oder minder entschieden ausgeprägten Charakter des „Verdrängten“. Aber die Verfolgung durch die Reihe der Beispiele löst diesen Charakter in immer mehr verschwommene Andeutungen auL Die Neigung, über etwas als zeitraubend hinwegzukommen, — die Erwägung, daß der betreffende Gedanke nicht eigentlich zur intendierten Sache gehört, —— scheinen als Motive für die Zurückdrängung eines Gedankens, der dann auf den Ausdruck durch Störung eines anderen angewiesen ist, dieselbe Rolle zu spielen wie die moralische Verurteilung einer unbotmäßigen Geiühlsregung oder die Abkunit von völlig unbewußten Gedankenziigen. Eine Einsicht in die allgemeine Natur der Bedingtheit von Fehl- und Zufallsleistnngen läßt sich auf diese Weise nicht gewinnen. Einer einzigen bedeutsamen Tatsache wird man bei diesen Untersuchungen habha.ft; je hamnloser die Motivierung der Fehlleistung ist, je weniger anstößig und darum weniger bewußtseinsunfähig der Gedanke ist, der sich in ihr zum Ausdruck bringt, desto leichter wird auch die Auflösung des Phänomens, wenn man ihm seine Aufmerlßamkeit zugewendet hat; die leichtesten Fälle des Versprechens werden sofort bemerkt und spontan korrigiert, Wo es sich um Motivierung durch wirklich verdrängte Regungen handelt, da bedarf es zur Lösung einer sorgfältigen Analyse, die selbst zeitweise auf Schwierigkeiten stoßen oder mißlingen kann.

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Es ist also wohl berechtigt, das Ergebnis dieser letzten Untersuchung als einen Hinweis darauf zu nehmen, daß die befriedigende Aufklärung für die psychologischen Bedingungen der Fehl— und Zufallshandlungen auf einem anderen Wege und von anderer Seite her zu gewinnen ist. Der nachsichtige Leser möge daher in diesen Auseinandersetzungen den Nachweis der Bruchflächen sehen, an denen

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ro*

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148 Determinismus, —— Zufalls- und Aherglnuhen. — Gesichtspunkte.

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dieses Thema ziemlich künstlich aus einem größeren Zusammenhange herausgelöst wurde.

§ 859

VII. Einige Worte sollen'zumjmindesten die Richtung nach diesem weiteren Zusammenhange andeuten. Der Mechanismus der Fehl— und Zufallshandlungen, wie wir ihn durch die Anwendung der Analyse kennen gelernt haben, zeigt in den wesentlichsten Punkten eine Übereinstimmung mit dem Mechanismus der Traumbildung, den ich in dem Abschnitt „Traumarbeit“ meines Buches über die Traumdeutung ausei.nandergasetzt habe. Die Verdichtungen und Korn. promißbildungen (Kontaminationen) findet man hier wie dort; die Situation ist die nämliche, daß unbewußte Gedanken sich auf un— gewöhnlichen Wegen, über äußere Assoziationen, als Modifikation von anderen Gedanken zum Ausdruck bringen. Die Ungereimtheiten, Absurditäten und Irrtümer des Trauminhaltes, denen zufolge der Traum kaum als Produkt psychischer Leistung anerkannt wird, ent— stehen a.ui dieselbe Weise, freilich mit freierer Benützung der vorhandenen Mittel, wie die gemeinen Fehler unseres Alltagslebens; hier wie dort löst sich der Anschein inkorrekter Funktion durch die eigentümliche Interferenz zweier oder mehrerer korrekter Leistungen. Aus diesem Zusammentreffen ist ein wichtiger Schluß zu ziehen: Die eigentümliche Arbeitsweise, deren auffälligste Leistung wir im Trauminhalt erkennen, darf nicht auf den Schla.tzustand des Seelenlebens zurückgeführt werden, wenn wir in den Fehlhandlungen so reichliche Zeugnisse fiir die Wirksamkeit während des wachen Lebens besitzen. Derselbe Zusammenhang verbietet uns auch, tiefgreifenden Zerfall der Seelentätigkeit, krankheite Zustände der Funktion als die Bedingung dieser uns abnorm und fremdartig erscheinenden psychischen Vorgänge anzusehen.“

§ 860

Die richtige Beurteilung der sonderbaren psychischen Arbeit, welche die Fehlhandlungen wie die Traumbilder entstehen läßt'), wird

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1) Vgl. hierzu „Traumdeutung“ p. 362.

§ 862

’) Die psychologischen Beziehungen der Fehlhandlungen zum Traume würden , einer Untersuchung reiche Ausbeute versprechen Ich räumte einmal in einem längeren Zusammenhange, daß ich mein Portemonnnie verloren. Am Morgen vermißte ich es wirklich beim Ankleiden; ich hatte vergessen es beim Auskleiden vor der Trnumnacht aus der Hosentasche zu nehmen und an seinen gewohnten Platz zu legen. Dieses Vergessen war mir also nicht unbekannt, es |ollte wahrscheinlich einem unbewußten Gedanken Ausdruck geben. der fiir das Auftreten im Trium— Inhalt vorbereitet war.

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§ 864

Determinismus. — analls— und Aberglaubeu. — Gesichtspunkte. 149 uns erst ermöglicht, wenn wir erfahren haben, daß die psychoneu— rotischen Symptome, speziell die psychischen Bildungen der Hysterie und der Zwangsneurose, in ihrem Mechanismus alle wesentlichen Züge dieser Arbeitsweise wiederholen. An dieser Stelle schlüsse sich also die Fortsetzung unserer Untersuchungen an. Für uns hat es aber noch ein besonderes Interesse, die Fehl-, Zufalls— und Symptomhandlungen in dem Lichte dieser letzten Analogie zu betrachten. Wenn wir sie den Leistungen der Psychoneurosen, den neurotischen Synp ptomen, gleichstellen, gewinnen zwei oft wiederkehrende Behauptungen, daß die Grenze zwischen nervöser Norm und Abnormität eine fließende, und daß wir alle ein wenig nervös seien, Sinn und Unterlage. Man kann sich vor aller ärztlicher Erfahrung verschiedene Typen von solcher bloß angedeuteten Nervosität — von formes frustes der Neurosen — konstruieren: Fälle, in denen nur wenige Symptome, oder diese selten oder nicht heftig auftreten, die Abschwächung also in die Zahl, in die Intensität, in die zeitliche Ausbreitung der krankhaften Erscheinungen verlegen; vielleicht würde man aber gerade den Typus nicht erraten, welcher als der häufigste den Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit zu vermitteln scheint. Der uns vorliegende Typus, dessen Krankheitsäußerungen die Fehl- und Symptomhandlungen sind, zeichnet sich nämlich dadurch aus, daß die Symptome in die mindost wichtigen psychischen Leistungen verlegt sind, während alles, was höheren psychischen Wert beanspruchen kann, frei von Störung vor “sich geht. Die gegenteilige Unterbringung der Symptome, ihr Hervortreten an den wichtigsten individuellen und sozialen Leistungen, so daß sie Nahrungsaufnahme und Sexualverkehr, Berufsarbeit und Geselligkeit zu stören vermögen, kommt den schweren Fällen von Neurose zu und charakterisiert diese besser als etwa die Mannigfaltigkeit oder die Lebhaftigkeit der Krankheitsäußerungen.

§ 865

Der gemeinsame Charakter aber der leichtesten wie der schwersten Fälle, an dem auch die Fehl- und Zufallshandlungen Anteil haben, liegt in der Rückführbarkeit der Phänomene auf unvollkommen unterdrücktes psychisches Material, das, vom Bewußtsein abgedrängt, doch nicht jeder Fähigkeit, sich zu äußern, beraubt w o r d e 11 is t.

§ 866