Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901-002/1907)

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  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
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  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901-002/1907). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1901-002__1907.xml
§ 1

PROF. S. FREUD 92 52 m 92 PSYCHOPATI‘IOLOGIE DES ALLTÄGSLEBENS

§ 2

Verlag von 5. Karger in Berlin

§ 3

§ 4

§ 5

Zur

§ 6

Psychopathologie des Alltagslebensl

§ 7

(Über Vergessen, Versprechen,

§ 8

Vergreifen, Aberglaube und Irrtum)

§ 9

Von

§ 10

Prof. Dr. Sigm. Freud

§ 11

in Wien

§ 12

Zweite, vermehrte Auflage

§ 13

Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, Daß niemand weiß. win: er ihn meiden nalL Faust, IL Teil, V. Akt.

§ 14

BERLIN xgo7

§ 15

VERLAG VON S. KARGER KARLSTRASSE 15

§ 16

§ 17

‘DURCHGE3EHENER‘ UND w: schm: FÜR Ps’Ycr-rm'mm *”

§ 18

§ 19

m

§ 20

I. Vergasmvonläigmisnen . . .3 II. Vagmvmkwwwk; . . . . g III. Vergessenvaamea‘nndWm'tfxflgen . . . . . 15 IV Übeerdhexts- und Déclnamneuin3en . . . . . 544 V. DasVersprechen . . . . . . . . . . . ,39 VI. Veran und Verschnäbux. .— . . ' . . . . . . sd VII Vergessmvainä'uck€n ®d.Y°ifilm ,'. ... I . 57 VIII. Dest-greiien ,_ ., ‘ . . . . 76, D(.Sympfßm undZuflshflde go )L1müm. . . . . gg. XI.KmbüxiextgFelflbustunga ‘..‘. .. . .xq5

§ 21

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§ 22

XII. Detminimus. —- Zufillg- mid bérg2anbem— Gesichts— punkte. . . ,_. .

§ 23

§ 24

I. Vergessen von Eigennamen.

§ 25

Im Jahrgange 1898 der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie habe ich unter dem Titel „Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit“ einen kleinen Aufsatz veröffentlicht, dessen Inhalt ich hier wiederholen und zum Ausgang für weitere Erörterungen nehmen werde. Ich habe dort den häufigen Fall des zeitweiligen Vergessens von Eigennamen an einem prägnanten Beispiel aus meiner Selbstbeobachtung der psychologischen Analyse unterzogen und bin zum Ergebnis gelangt, daß dieser gewöhnliche und praktisch nicht sehr bedeutsame Einzelvorfall von Versagen einer psychischen Funktion — des Erinnerns — eine Aufklärung zuläßt, welche weit über die gebräuchliche Verwertung des Phänomens hinausführt.

§ 26

Wenn ich nicht sehr irre, würde ein Psycholog, von dem man die Erklärung forderte, wie es zugehe, daß einem so oft ein Name nicht einfällt, den man doch zu kennen glaubt, sich begnügen, zu antworten, daß Eigennamen dem Vergessen leichter unterliegen als andersartiger Gedächtnisinhalt. Er würde die plausiblen Gründe für solche Bevorzugung der Eigennamen anführen, eine anderweitige Bedingtheit des Vorganges aber nicht vermuten.

§ 27

Für mich wurde zum Anlaß einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Phänomen des zeitweiligen Namenvergessens die Beobachtung gewisser Einzelheiten, die sich zwar nicht in allen Fällen, aber in einzelnen deutlich genug erkennen lassen. In solchen Fällen wird nämlich nicht nur vergessen, sondern auch falsch erinnert. Dem sich um den entfallenen Namen Bemühenden kommen andere — Ersatznamen — zum Bewußtsein, die zwar sofort als unrichtig erkannt werden, sich aber doch mit großer Zähigkeit immer wieder aufdrängen. Der Vorgang, der zur Reproduktion des gesuchten Namens führen soll, hat sich gleichsam verschoben und so zu einem unrichtigen Ersatz geführt. Meine Voraussetzung ist nun, daß diese Verschiebung nicht psychischer Willkür überlassen ist, sondern gesetzmäßige und berechenbare Bahnen einhält. Mit anderen Worten, ichvermute, daß der oder die Ersatznamen in einem aufspürbaren Zusammenhang mit dem gesuchten Namen stehen, und hoffe, wenn es mir gelingt, diesen Zusammenhang nachzuweisen, dann auch Licht über den Hergang des Namenvergessens zu verbreiten.

§ 28

In dem 1898 von mir zur Analyse gewählten Beispiele war es der Name des Meisters, welcher im Dom von Orvieto die großartigen Fresken von den „letzten Dingen“ geschaffen, den zu erinnern ich mich vergebens bemühte. Anstatt des gesuchten Namens — Signorelli — drängten sich mir zwei andere Namen von Malern aufBotticelli und Boltraffio —, die mein Urteil sofort und entschieden als unrichtig abwies. Als mir der richtige Name von fremder Seite mitgeteilt wurde, erkannte ich ihn sogleich und ohne Schwanken. Die Untersuchung, durch welche Einflüsse und auf welchen Assoziationswegen sich die Reproduktion in solcher Weise — von Signorelli auf Botticelli und Boltraffio — verschoben hatte, führte zu folgenden Ergebnissen:

§ 29

a) Der Grund für das Entfallen des Namens Signorelli ist weder in einer Besonderheit dieses Namens selbst noch in einem psychologischen Charakter des Zusammenhanges zu suchen, in welchen derselbe eingefügt war. Der vergessene Name war mir ebenso vertraut wie der eine der Ersatznamen — Botticelli — und ungleich vertrauter als der andere der Ersatznamen — Boltraffio —, von dessen Träger ich kaum etwas anderes anzugeben wüßte als seine Zugehörigkeit zur mailändischen Schule. Der Zusammenhang aber, in dem sich das Namenvergessen ereignete, erscheint mir harmlos und führt zu keiner weiteren Aufklärung: Ich machte mit einem Fremden eine Wagenfahrt von Ragusa in Dalmatien nach einer Station der Herzegowina; wir kamen auf das Reisen in Italien zu sprechen, und ich fragte meinen Reisegefährten, ob er schon in Orvieto gewesen und dort die berühmten Fresken des *** besichtigt habe.

§ 30

b) Das Namenvergessen erklärt sich erst, wenn ich mich an das in jener Unterhaltung unmittelbar vorhergehende Thema erinnere, und gibt sich als eine Störung des neu auftauchenden Themas durch das vorhergehende zu erkennen. Kurz ehe ich an meinen Reisegefährten die Frage stellte, ob er schon in Orvieto gewesen, hatten wir uns über die Sitten der in Bosnien und in der Herzegowina lebenden Türken unterhalten. Ich hatte erzählt, was ich von einem unter diesen Leuten praktizierenden Kollegen gehört hatte, daß sie sich voll Vertrauen in den Arzt und voll Ergebung in das Schicksal zu zeigen pflegen. Wenn man ihnen ankündigen muß, daß es für den Kranken keine Hilfe gibt, so antworten sie: „Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, hättest du ihn gerettet.“ — Erst in diesen Sätzen finden sich die Worte und Namen: Bosnien, Herzegowina, Herr vor, welche sich in eine Assoziationsreihe zwischen SignorelliBotticelli und Boltraffio einschalten lassen.

§ 31

c) Ich nehme an, daß der Gedankenreihe von den Sitten der Türken in Bosnien usw. die Fähigkeit, einen nächsten Gedanken zu stören, darum zukam, weil ich ihr meine Aufmerksamkeit entzogen hatte, ehe sie noch zu Ende gebracht war. Ich erinnere nämlich, daß ich eine zweite Anekdote erzählen wollte, die nahe bei der ersten in meinem Gedächtnis ruhte. Diese Türken schätzen den Sexualgenuß über alles und verfallen bei sexuellen Störungen in eine Verzweiflung, welche seltsam gegen ihre Resignation bei Todesgefahr absticht. Einer der Patienten meines Kollegen hatte ihm einmal gesagt: „Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert.“ Ich unterdrückte die Mitteilung dieses charakteristischen Zuges, weil ich das heikle Thema nicht im Gespräch mit einem Fremden berühren wollte. Ich tat aber noch mehr; ich lenkte meine Aufmerksamkeit auch von der Fortsetzung der Gedanken ab, die sich bei mir an das Thema „Tod und Sexualität“ hätten knüpfen können. Ich stand damals unter der Nachwirkung einer Nachricht, die ich wenige Wochen vorher während eines kurzen Aufenthaltes in Trafoi erhalten hatte. Ein Patient, mit dem ich mir viele Mühe gegeben, hatte wegen einer unheilbaren sexuellen Störung seinem Leben ein Ende gemacht. Ich weiß bestimmt, daß mir auf jener Reise in die Herzegowina dieses traurige Ereignis und alles, was damit zusammenhängt, nicht zur bewußten Erinnerung kam. Aber die Übereinstimmung Trafoi Boltraffio nötigt mich anzunehmen, daß damals diese Reminiszenz trotz der absichtlichen Ablenkung meiner Aufmerksamkeit in mir zur Wirksamkeit gebracht worden ist.

§ 32

d) Ich kann das Vergessen des Namens Signorelli nicht mehr als ein zufälliges Ereignis auffassen. Ich muß den Einfluß eines Motivs bei diesem Vorgang anerkennen. Es waren Motive, die mich veranlaßten, mich in der Mitteilung meiner Gedanken (über die Sitten der Türken usw.) zu unterbrechen, und die mich ferner beeinflußten, die daran sich knüpfenden Gedanken, die bis zur Nachricht in Trafoi geführt hätten, in mir vom Bewußtwerden auszuschließen. Ich wollte also etwas vergessen, ich hatte etwas verdrängt. Ich wollte allerdings etwas anderes vergessen als den Namen des Meisters vonOrvieto; aber dieses andere brachte es zustande, sich mit diesem Namen in assoziative Verbindung zu setzen, so daß mein Willensakt das Ziel verfehlte, und ich das eine wider Willen vergaß, während ich das andere mit Absicht vergessen wollte. Die Abneigung, zu erinnern, richtete sich gegen den einen Inhalt; die Unfähigkeit, zu erinnern, trat an einem anderen hervor. Es wäre offenbar ein einfacherer Fall, wenn Abneigung und Unfähigkeit, zu erinnern, denselben Inhalt beträfen. — Die Ersatznamen erscheinen mir auch nicht mehr so völlig unberechtigt wie vor der Aufklärung; sie mahnen mich (nach Art eines Kompromisses) eben so sehr an das, was ich vergessen, wie an das, was ich erinnern wollte, und zeigen mir, daß meine Absicht, etwas zu vergessen, weder ganz gelungen noch ganz mißglückt ist.

§ 33

e) Sehr auffällig ist die Art der Verknüpfung, die sich zwischen dem gesuchten Namen und dem verdrängten Thema (von Tod und Sexualität usw., in dem die Namen Bosnien, Herzegowina, Trafoi vorkommen) hergestellt hat. Das hier eingeschaltete, aus der Abhandlung des Jahres 1898 wiederholte Schema sucht diese Verknüpfung anschaulich darzustellen.

§ 34

Der Name Signorelli ist dabei in zwei Stücke zerlegt worden. Das eine Silbenpaar ist in einem der Ersatznamen unverändert wiedergekehrt (elli), das andere hat durch die Übersetzung Signor Herr mehrfache und verschiedenartige Beziehungen zu den im verdrängten Thema enthaltenen Namen gewonnen, ist aber dadurch für dieReproduktion verloren gegangen. Sein Ersatz hat so stattgefunden, als ob eine Verschiebung längs der Namenverbindung „Herzegowina und Bosnien“ vorgenommen worden wäre, ohne Rücksicht auf den Sinn und auf die akustische Abgrenzung der Silben zu nehmen. Die Namen sind also bei diesem Vorgang ähnlich behandelt worden wie die Schriftbilder eines Satzes, der in ein Bilderrätsel (Rebus) umgewandelt werden soll. Von dem ganzen Hergang, der anstatt des Namens Signorelli auf solchen Wegen die Ersatznamen geschaffen hat, ist dem Bewußtsein keine Kunde gegeben worden. Eine Beziehung zwischen dem Thema, in dem der Name Signorelli vorkam, und dem zeitlich ihm vorangehenden verdrängten Thema, welche über diese Wiederkehr gleicher Silben (oder vielmehr Buchstabenfolgen) hinausginge, scheint zunächst nicht auffindbar zu sein.

§ 35

Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu bemerken, daß die von den Psychologen angenommenen Bedingungen der Reproduktion und des Vergessens, die in gewissen Relationen und Dispositionen gesucht werden, durch die vorstehende Aufklärung einen Widerspruch nicht erfahren. Wir haben nur für gewisse Fälle zu all den längst anerkannten Momenten, die das Vergessen eines Namens bewirken können, noch ein Motiv hinzugefügt und überdies den Mechanismus des Fehlerinnerns klar gelegt. Jene Dispositionen sind auch für unseren Fall unentbehrlich, um die Möglichkeit zu schaffen, daß das verdrängte Element sich assoziativ des gesuchten Namens bemächtige und es mit sich in die Verdrängung nehme. Bei einem anderen Namen mit günstigeren Reproduktionsbedingungen wäre dies vielleicht nicht geschehen. Es ist ja wahrscheinlich, daß ein unterdrücktes Element allemal bestrebt ist, sich irgendwo anders zur Geltung zu bringen, diesen Erfolg aber nur dort erreicht, wo ihm geeignete Bedingungen entgegenkommen. Andere Male gelingt die Unterdrückung ohne Funktionsstörung, oder, wie wir mit Recht sagen können, ohne Symptome.

§ 36

Die Zusammenfassung der Bedingungen für das Vergessen eines Namens mit Fehlerinnern ergibt also: 1. eine gewisse Disposition zum Vergessen desselben, 2. einen kurz vorher abgelaufenen Unterdrückungsvorgang, 3. die Möglichkeit, eine äußerliche Assoziation zwischen dem betreffenden Namen und dem vorher unterdrückten Element herzustellen. Letztere Bedingung wird man wahrscheinlich nicht sehr hoch veranschlagen müssen, da bei den geringen Ansprüchen an die Assoziation eine solche in den allermeisten Fällen durchzusetzen sein dürfte. Eine andere und tiefer reichende Frage ist es, ob eine solche äußerliche Assoziation wirklich die genügende Bedingung dafür seinkann, daß das verdrängte Element die Reproduktion des gesuchten Namens störe, ob nicht doch notwendig ein intimerer Zusammenhang der beiden Themata erforderlich wird. Bei oberflächlicher Betrachtung würde man letztere Forderung abweisen wollen und das zeitliche Aneinanderstoßen bei völlig disparatem Inhalt für genügend halten. Bei eingehender Untersuchung findet man aber immer häufiger, daß die beiden durch eine äußerliche Assoziation verknüpften Elemente (das verdrängte und das neue) außerdem einen inhaltlichen Zusammenhang besitzen, und auch in dem Beispiel Signorelli läßt sich ein solcher erweisen.

§ 37

Der Wert der Einsicht, die wir bei der Analyse des Beispiels Signorelli gewonnen haben, hängt natürlich davon ab, ob wir diesen Fall für ein typisches oder für ein vereinzeltes Vorkommnis erklären müssen. Ich muß nun behaupten, daß das Namenvergessen mit Fehlerinnern ungemein häufig so zugeht, wie wir es im Falle Signorelli aufgelöst haben. Fast allemal, da ich dies Phänomen bei mir selbst beobachten konnte, war ich auch imstande, es mir in der vorerwähnten Weise als durch Verdrängung motiviert zu erklären. Ich muß auch noch einen anderen Gesichtspunkt zu Gunsten der typischen Natur unserer Analyse geltend machen. Ich glaube, daß man nicht berechtigt ist, die Fälle von Namenvergessen mit Fehlerinnern prinzipiell von solchen zu trennen, in denen sich unrichtige Ersatznamen nicht eingestellt haben. Diese Ersatznamen kommen in einer Anzahl von Fällen spontan; in anderen Fällen, wo sie nicht spontan aufgetaucht sind, kann man sie durch Anstrengung der Aufmerksamkeit zum Auftauchen zwingen, und sie zeigen dann die nämlichen Beziehungen zum verdrängten Element und zum gesuchten Namen, wie wenn sie spontan gekommen wären. Für das Bewußtwerden der Ersatznamen scheinen zwei Momente maßgebend zu sein, erstens die Bemühung der Aufmerksamkeit, zweitens eine innere Bedingung, die am psychischen Material haftet. Ich könnte letztere in der größeren oder geringeren Leichtigkeit suchen, mit welcher sich die benötigte äußerliche Assoziation zwischen den beiden Elementen herstellt. Ein guter Teil der Fälle von Namenvergessen ohne Fehlerinnern schließt sich so den Fällen mit Ersatznamenbildung an, für welche der Mechanismus des Beispieles Signorelli gilt. Ich werde aber mich gewiß nicht der Behauptung erkühnen, daß alle Fälle von Namenvergessen in die nämliche Gruppe einzureihen seien. Es gibt ohne Zweifel Fälle von Namenvergessen, die weit einfacher zugehen. Wir werden den Sachverhalt wohl vorsichtig genug dargestellt haben, wenn wir aussprechen: Neben demeinfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein Vergessen vor, welches durch Verdrängung motiviert ist.

§ 38

Il. Vergessen von fremdsprachigen Worten.

§ 39

Der gebräuchliche Sprachschatz unserer eigenen Sprache scheint innerhalb der Breite normaler Funktion gegen das Vergessen geschützt. Anders steht es bekanntlich mit den Vokabeln einer fremden Sprache. Die Disposition zum Vergessen derselben ist für alle Redeteile vorhanden, und ein erster Grad von Funktionsstörung zeigt sich in der Ungleichmäßigkeit unserer Verfügung über den fremden Sprachschatz, je nach unserem Allgemeinbefinden und dem Grade unserer Ermüdung. Dieses Vergessen geht in einer Reihe von Fällen nach demselben Mechanismus vor sich, den uns das Beispiel Signorelli enthüllt hat. Ich werde zum Beweise hiefür eine einzige, aber durch wertvolle Eigentümlichkeiten ausgezeichnete Analyse mitteilen, die den Fall des Vergessens eines nicht substantivischen Wortes aus einem lateinischen Zitat betrifft. Man gestatte mir, den kleinen Vorfall breit und anschaulich vorzutragen.

§ 40

Im letzten Sommer erneuerte ich, — wiederum auf der Ferienreise — die Bekanntschaft eines jungen Mannes von akademischer Bildung, der, wie ich bald merkte, mit einigen meiner psychologischen Publikationen vertraut war. Wir waren im Gespräch — ich weiß nicht mehr wie — auf die soziale Lage des Volksstammes gekommen, dem wir beide angehören, und er, der Ehrgeizige, erging sich in Bedauern darüber, daß seine Generation, wie er sich äußerte, zur Verkümmerung bestimmt sei, ihre Talente nicht entwickeln und ihre Bedürfnisse nicht befriedigen könne. Er schloß seine leidenschaftlich bewegte Rede mit dem bekannten Vergilschen Vers, in dem die unglückliche Dido ihre Rache an Aeneas der Nachwelt überträgt: Exoriare ....., vielmehr er wollte so schließen, denn er brachte das Zitat nicht zustande und suchte eine offenkundige Lücke der Erinnerung durch Umstellung von Worten zu verdecken: Exoriar(e) ex nostris ossibus ultor! Endlich sagte er geärgert: „Bitte machen Sie nicht ein so spöttisches Gesicht, als ob Sie sich an meiner Verlegenheiteinfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein Vergessen vor, welches durch Verdrängung motiviert ist.

§ 41

Il. Vergessen von fremdsprachigen Worten.

§ 42

Der gebräuchliche Sprachschatz unserer eigenen Sprache scheint innerhalb der Breite normaler Funktion gegen das Vergessen geschützt. Anders steht es bekanntlich mit den Vokabeln einer fremden Sprache. Die Disposition zum Vergessen derselben ist für alle Redeteile vorhanden, und ein erster Grad von Funktionsstörung zeigt sich in der Ungleichmäßigkeit unserer Verfügung über den fremden Sprachschatz, je nach unserem Allgemeinbefinden und dem Grade unserer Ermüdung. Dieses Vergessen geht in einer Reihe von Fällen nach demselben Mechanismus vor sich, den uns das Beispiel Signorelli enthüllt hat. Ich werde zum Beweise hiefür eine einzige, aber durch wertvolle Eigentümlichkeiten ausgezeichnete Analyse mitteilen, die den Fall des Vergessens eines nicht substantivischen Wortes aus einem lateinischen Zitat betrifft. Man gestatte mir, den kleinen Vorfall breit und anschaulich vorzutragen.

§ 43

Im letzten Sommer erneuerte ich, — wiederum auf der Ferienreise — die Bekanntschaft eines jungen Mannes von akademischer Bildung, der, wie ich bald merkte, mit einigen meiner psychologischen Publikationen vertraut war. Wir waren im Gespräch — ich weiß nicht mehr wie — auf die soziale Lage des Volksstammes gekommen, dem wir beide angehören, und er, der Ehrgeizige, erging sich in Bedauern darüber, daß seine Generation, wie er sich äußerte, zur Verkümmerung bestimmt sei, ihre Talente nicht entwickeln und ihre Bedürfnisse nicht befriedigen könne. Er schloß seine leidenschaftlich bewegte Rede mit dem bekannten Vergilschen Vers, in dem die unglückliche Dido ihre Rache an Aeneas der Nachwelt überträgt: Exoriare ....., vielmehr er wollte so schließen, denn er brachte das Zitat nicht zustande und suchte eine offenkundige Lücke der Erinnerung durch Umstellung von Worten zu verdecken: Exoriar(e) ex nostris ossibus ultor! Endlich sagte er geärgert: „Bitte machen Sie nicht so ein spöttisches Gesicht, als ob Sie sich an meiner Verlegenheitweiden würden, und helfen Sie mir lieber. An dem Vers fehlt etwas. Wie heißt er eigentlich vollständig?“Gerne, erwiderte ich und zitierte, wie es richtig lautet:

" " § 44

„Zu dumm, ein solches Wort zu vergessen. Übrigens von Ihnen hört man ja, daß man nichts ohne Grund vergißt. Ich wäre doch zu neugierig, zu erfahren, wie ich zum Vergessen dieses unbestimmten Pronomen aliquis komme.“

§ 45

Ich nahm diese Herausforderung bereitwilligst an, da ich einen Beitrag zu meiner Sammlung erhoffte. Ich sagte also: Das können wir gleich haben. Ich muß Sie nur bitten, mir aufrichtig und kritiklos alles mitzuteilen, was Ihnen einfällt, wenn Sie ohne bestimmte Absicht Ihre Aufmerksamkeit auf das vergessene Wort richten.1)1)

§ 46

„Gut, also da komme ich auf den lächerlichen Einfall, mir das Wort in folgender Art zu zerteilen: a und liquis.“

§ 47

Was soll das? — „Weiß ich nicht.“ — Was fällt Ihnen weiter dazu ein? — „Das setzt sich so fort: ReliquienLiquidationFlüssigkeitFluid. Wissen sie jetzt schon etwas?“

§ 48

Nein, noch lange nicht. Aber fahren sie fort.

§ 49

„Ich denke,“ fuhr er höhnisch lachend fort, „an Simon von Trient, dessen Reliquien ich vor zwei Jahren in einer Kirche in Trient gesehen habe. Ich denke an die Blutbeschuldigung, die gerade jetzt wieder gegen die Juden erhoben wird, und an die Schrift von Kleinpaul, der in all diesen angeblichen Opfern Inkarnationen, sozusagen Neuauflagen, des Heilands sieht.“

§ 50

Der Einfall ist nicht ganz ohne Zusammenhang mit dem Thema, über das wir uns unterhielten, ehe Ihnen das lateinische Wort entfiel.

§ 51

„Richtig. Ich denke ferner an einen Zeitungsartikel in einem italienischen Journal, den ich kürzlich gelesen. Ich glaube, er war überschrieben: Was der h. Augustinus über die Frauen sagt. Was machen Sie damit?“

§ 52

Ich warte.

§ 53

„Also jetzt kommt etwas, was ganz gewiß außer Zusammenhang mit unserem Thema steht.“

§ 54

Enthalten Sie sich gefälligst jeder Kritik und —

1) Dies ist der allgemeine Weg, um Vorstellungselemente, die sich verbergen, dem Bewußtsein zuzuführen. Vgl. meine „Traumdeutung“, p. 69. § 55

„Ich weiß schon. Ich erinnere mich eines prächtigen alten Herrn, den ich vorige Woche auf der Reise getroffen. Ein wahres Original. Er sieht aus wie ein großer Raubvogel. Er heißt, wenn Sie es wissen wollen, Benedikt.“

§ 56

Doch wenigstens eine Aneinanderreihung von Heiligen und Kirchenvätern: Der heilige Simon, St. Augustinus, St. Benediktus. Ein Kirchenvater hieß, glaube ich, Origines. Drei dieser Namen sind übrigens auch Vornamen, wie Paul im Namen Kleinpaul.

§ 57

„Jetzt fällt mir der heilige Januarius ein und sein Blutwunder — ich finde, das geht mechanisch so weiter.“

§ 58

Lassen Sie das; der heilige Januarius und der heilige Augustinus haben beide mit dem Kalender zu tun. Wollen Sie mich nicht an das Blutwunder erinnern?

§ 59

„Das werden Sie doch kennen? In einer Kirche zu Neapel wird in einer Phiole das Blut des heiligen Januarius aufbewahrt, welches durch ein Wunder an einem bestimmten Festtage wieder flüssig wird. Das Volk hält viel auf dieses Wunder und wird sehr aufgeregt, wenn es sich verzögert, wie es einmal zur Zeit einer französischen Okkupation geschah. Da nahm der kommandierende General — oder irre ich mich? war es Garibaldi? — den geistlichen Herrn bei Seite und bedeutete ihm mit einer sehr verständlichen Geberde auf die draußen aufgestellten Soldaten, er hoffe, das Wunder werde sich sehr bald vollziehen. Und es vollzog sich wirklich . . .“

§ 60

Nun und weiter? Warum stocken Sie?

§ 61

„Jetzt ist mir allerdings etwas eingefallen . . . das ist aber zu intim für die Mitteilung . . Ich sehe übrigens keinen Zusammenhang und keine Nötigung, es zu erzählen.“

§ 62

Für den Zusammenhang würde ich sorgen. Ich kann Sie ja nicht zwingen, zu erzählen, was Ihnen unangenehm ist; dann verlangen Sie aber auch nicht von mir zu wissen, auf welchem Wege Sie jenes Wort „aliquis“ vergessen haben.

§ 63

„Wirklich? Glauben Sie? Also ich habe plötzlich an eine Dame gedacht, von der ich leicht eine Nachricht bekommen könnte, die uns beiden recht unangenehm wäre.“

§ 64

Daß ihr die Periode ausgeblieben ist?

§ 65

„Wie können Sie das erraten?“

§ 66

Das ist nicht mehr schwierig. Sie haben mich genügend darauf vorbereitet. Denken Sie an die Kalenderheiligen, an das Flüssigwerden des Blutes zu einem bestimmten Tage, den Aufruhr, wenn das Ereignis nicht ein-

§ 67

tritt, die deutliche Drohung, daß das Wunder vor sich gehen muß, sonst. . Sie haben ja das Wunder des heiligen Januarius zu einer prächtigen Anspielung auf die Periode der Frau verarbeitet.

§ 68

„Ohne daß ich es gewußt hätte. Und Sie meinen wirklich, wegen dieser ängstlichen Erwartung hätte ich das Wörtchen „aliquis nicht reproduzieren können?“

§ 69

Das scheint mir unzweifelhaft. Erinnern Sie sich doch an Ihre Zerlegung in a—liquis und an die Assoziationen: Reliquien, Liquidation, Flüssigkeit. Soll ich noch den als Kind hingeopferten heiligen Simon, auf den Sie von den Reliquien her kamen, in den Zusammenhang einflechten?

§ 70

„Tun Sie das lieber nicht. Ich hoffe, Sie nehmen diese Gedanken, wenn ich sie wirklich gehabt habe, nicht für Ernst. Ich will Ihnen dafür gestehen, daß die Dame eine Italienerin ist, in deren Gesellschaft ich auch Neapel besucht habe. Kann das aber nicht alles Zufall sein?“

§ 71

Ich muß es Ihrer eigenen Beurteilung überlassen, ob Sie sich alle diese Zusammenhänge durch die Annahme eines Zufalls aufklären können. Ich sage Ihnen aber, jeder ähnliche Fall, den Sie analysieren wollen, wird Sie auf ebenso merkwürdige „Zufälle“ führen.

§ 72

Ich habe mehrere Gründe, diese kleine Analyse, für deren Überlassung ich meinem damaligen Reisegenossen Dank schulde, zu schätzen. Erstens, weil mir in diesem Falle gestattet war, aus einer Quelle zu schöpfen, die mir sonst versagt ist. Ich bin zumeist genötigt, die Beispiele von psychischer Funktionsstörung im täglichen Leben, die ich hier zusammenstelle, meiner Selbstbeobachtung zu entnehmen. Das weit reichere Material, das mir meine neurotischen Patienten liefern, suche ich zu vermeiden, weil ich den Einwand fürchten muß, die betreffenden Phänomene seien eben Erfolge und Äußerungen der Neurose. Es hat also besonderen Wert für meine Zwecke, wenn sich eine nervengesunde fremde Person zum Objekt einer solchen Untersuchung erbietet. In anderer Hinsicht wird mir diese Analyse bedeutungsvoll, indem sie einen Fall von Wortvergessen ohne Ersatzerinnern beleuchtet und meinen vorhin aufgestellten Satz bestätigt, daß das Auftauchen oder Ausbleiben von unrichtigen Ersatzerinnerungen eine wesentliche Unterscheidung nicht begründen kann.1)1)Der Hauptwert des Beispieles: aliquis ist aber in einem anderen seiner Unterschiede von dem Falle: Signorelli gelegen. Im letzteren Beispiel wird die Reproduktion des Namens gestört durch die Nachwirkung eines Gedankenganges, der kurz vorher begonnen und abgebrochen wurde, dessen Inhalt aber in keinem deutlichen Zusammenhang mit dem neuen Thema stand, in dem der Name Signorelli enthalten war. Zwischen dem verdrängten und dem Thema des vergessenen Namens bestand bloß die Beziehung der zeitlichen Kontiguität; dieselbe reichte hin, damit sich die beiden durch eine äußerliche Assoziation in Verbindung setzen konnten.1)1) Im Beispiele: aliquis hingegen ist von einem solchen unabhängigen verdrängten Thema,

1) Feinere Beobachtung schränkt den Gegensatz zwischen der Analyse: Signorelli und der: aliquis betreffs der Ersatzerinnerungen um Einiges ein. Auch hier scheint nämlich das Vergessen von einer Ersatzbildung begleitetzu sein. Als ich an meinen Partner nachträglich die Frage stellte, ob ihm bei seinen Bemühungen, das fehlende Wort zu erinnern, nicht irgend etwas zum Ersatz eingefallen sei, berichtete er, daß er zunächst die Versuchung verspürt habe, ein ab in den Vers zu bringen: nostris ab ossibus (vielleicht das unverknüpfte Stück von a-liquis) und dann, daß sich ihm das Exoriare besonders deutlich und hartnäckig aufgedrängt habe. Als Skeptiker setzte er hinzu, offenbar weil es das erste Wort des Verses war. Als ich ihn bat, doch auf die Assoziationen von Exoriare aus zu achten, gab er mir Exorzismus an. Ich kann mir also sehr wohl denken, daß die Verstärkung von Exoriare in der Reproduktion eigentlich den Wert einer solchen Ersatzbildung hatte. Dieselbe wäre über die Assoziation: Exorzismus von den Namen der Heiligen her erfolgt. Indes sind dies Feinheiten, auf die man keinen Wert zu legen braucht. — Er erscheint nun aber wohl möglich, daß das Auftreten irgend einer Art von Ersatzerinnerung ein konstantes, vielleicht auch nur ein charakteristisches und verräterisches Zeichen des tendenziösen, durch Verdrängung motivierten Vergessens ist. Diese Ersatzbildung bestände auch dort, wo das Auftauchen unrichtiger Ersatznamen ausbleibt, in der Verstärkung eines Elementes, welches dem vergessenen benachbart ist. Im Beispiele: Signorelli war z. B., solange mir der Name des Malers unzugänglich blieb, die visuelle Erinnerung an den Zyklus von Fresken und an sein in der Ecke eines Bildes angebrachtes Selbstporträt überdeutlich, jedenfalls weit intensiver als visuelle Erinnerungsspuren sonst bei mir auftreten. In einem anderen Falle, der gleichfalls in der Abhandlung von 1898 mitgeteilt ist, hatte ich von der Adresse eines mir unbequemen Besuches in einer fremden Stadt den Straßennamen hoffnungslos vergessen, die Hausnummer aber wie zum Spott — überdeutlich gemerkt, während sonst das Erinnern von Zahlen mir die größte Schwierigkeit bereitet. 1) Ich möchte für das Fehlen eines inneren Zusammenhanges zwischen den beiden Gedankenkreisen im Falle Signorelli nicht mit voller Überzeugung einstehen. Bei sorgfältiger Verfolgung der verdrängten Gedanken über das Thema von Tod und Sexualleben stößt man doch auf eine Idee, die sich mit dem Thema der Fresken von Orvieto nahe berührt. § 73

III. Vergessen von Namen und Wortfolgen.

§ 74

Erfahrungen, wie die eben erwähnte, über den Hergang des Vergessens eines Stückes aus einer fremdsprachigen Wortfolge können die Wißbegierde rege machen, ob denn das Vergessen von Wortfolgen in der Muttersprache eine wesentlich andere Aufklärung erfordere. Man pflegt zwar nicht verwundert zu sein, wenn man eine auswendig gelernte Formel oder ein Gedicht nach einiger Zeit nur ungetreu, mit Abänderungen und Lücken reproduzieren kann. Da aber dieses Vergessen das im Zusammenhang Erlernte nicht gleichmäßig betrifft, sondern wiederum einzelne Stücke daraus loszubröckeln scheint, könnte es sich der Mühe verlohnen, einzelne Beispiele von solcher fehlerhaft gewordenen Reproduktion analytisch zu untersuchen.

§ 75

Ein jüngerer Kollege, der im Gespräch mit mir die Vermutung äußerte, das Vergessen von Gedichten in der Muttersprache könnte wohl ähnlich motiviert sein wie das Vergessen einzelner Elemente in einer fremdsprachigen Wortfolge, erbot sich zugleich zum Untersuchungsobjekt. Ich fragte ihn, an welchem Gedicht er die Probe machen wolle, und er wählte „Die Braut von Korinth“, welches Gedicht er sehr liebe und wenigstens strophenweise auswendig zu können glaube. Zu Beginn der Reproduktion traf sich ihm eine eigentliche auffällige Unsicherheit. „Heißt es: „Von Korinthos nach Athen gezogen“, fragte er, oder „Nach Korinthos von Athen gezogen“. Auch ich war einen Moment lange schwankend, bis ich lachend bemerkte, daß der Titel des Gedichts „Die Braut von Korinth“ ja keinen Zweifel darüber lasse, welchen Weg der Jüngling ziehe. Die Reproduktion der ersten Strophe ging dann glatt oder wenigstens ohne auffällige Verfälschung vor sich. Nach der ersten Zeile der zweiten Strophe schien der Kollege eine Weile zu suchen; er setzte bald fort und rezitierte also:

"§ 76

Aber wird er auch willkommen scheinen, Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt? Denn er ist noch Heide mit den Seinen Und sie sind Christen und — getauft.

"
§ 77

Ich hatte schon vorher wie befremdet aufgehorcht; nach dem Schluß der letzten Zeile waren wir beide einig, daß hier eine Entstellung stattgefunden habe. Da es uns aber nicht gelang, dieselbe zu korrigieren, eilten wir zur Bibliothek, um Goethes Gedichte zur Hand zu nehmen, und fanden zu unserer Überraschung, daß die zweite Zeile dieser Stropheeinen völlig anderen Wortlaut habe, der vom Gedächtnis des Kollegen gleichsam herausgeworfen und durch etwas anscheinend fremdes ersetzt werden war. Es hieß richtig:

"§ 78

„Aber wird er auch willkommen scheinen, Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft.“

"
§ 79

Auf „verkauft“ reimte „getauft“, und es schien mir sonderbar, daß die Konstellation: Heide, Christen und getauft, ihn bei der Wiederherstellung des Textes so wenig gefördert hatte.

§ 80

„Können Sie sich erklären, fragte ich den Kollegen, daß Sie in dem Ihnen angeblich so wohl vertrauten Gedicht die Zeile so vollständig gestrichen haben, und haben Sie eine Ahnung, aus welchem Zusammenhang Sie den Ersatz holen konnten?“

§ 81

Er war imstande, Aufklärung zu geben, obwohl er es offenbar nicht sehr gerne tat. „Die Zeile: Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt, kommt mir bekannt vor; ich muß sie vor kurzem mit bezug auf meine Praxis gebraucht haben, mit deren Aufschwung ich, wie Sie wissen, gegenwärtig sehr zufrieden bin. Wie dieser Satz aber dahinein gehört? Ich wüßte einen Zusammenhang. Die Zeile „wenn er teuer nicht die Gunst erkauft“ war mir offenbar nicht angenehm. Es hängt das mit einer Bewerbung zusammen, die ein erstes Mal abgeschlagen worden ist, und die ich jetzt mit Rücksicht auf meine sehr gebesserte materielle Lage zu wiederholen gedenke. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, aber es kann mir doch gewiß nicht lieb sein, wenn ich jetzt angenommen werde, mich daran zu erinnern, daß eine Art von Berechnung damals wie nun den Ausschlag gegeben hat.“

§ 82

Das erschien mir einleuchtend, auch ohne daß ich die näheren Umstände zu wissen brauchte. Aber ich fragte weiter: Wie kommen Sie überhaupt dazu, sich und Ihre privaten Verhältnisse in den Text der „Braut von Korinth“ zu mengen? Bestehen vielleicht in Ihrem Falle solche Unterschiede des Religionsbekenntnisses, wie sie im Gedichte zur Bedeutung kommen?“

"§ 83

(„Keimt ein Glaube neu, wird oft Lieb’ und Treu wie ein böses Unkraut ausgerauft.“)

"
§ 84

Ich hatte nicht richtig geraten, aber es war merkwürdig zu erfahren, wie die eine wohlgezielte Frage den Mann plötzlich hellsehend machte, so daß er mir als Antwort bringen konnte, was ihm sicherlich bis dahin selbst unbekannt geblieben war. Er sah mich mit einem gequälten undauch unwilligen Blick an, murmelte eine spätere Stelle des Gedichtes vor sich hin:

"§ 85

„Sieh’ sie an genau!1)1) Morgen ist sie grau.“

"
§ 86

und fügte kurz hinzu: Sie ist etwas älter als ich. Um ihm nicht noch mehr Pein zu bereiten, brach ich die Erkundigung ab. Die Aufklärung erschien mir zureichend. Aber es war gewiß überraschend, daß die Bemühung, eine harmlose Fehlleistung des Gedächtnisses auf ihren Grund zurückzuführen, an so ferne liegende, intime und mit peinlichem Affekt besetzte Angelegenheiten des Untersuchten rühren mußte.

§ 87

Ein anderes Beispiel vom Vergessen in der Wortfolge eines bekannten Gedichtes will ich nach C. G. Jung2)2) und mit den Worten des Autors anführen.

§ 88

„Ein Herr will das bekannte Gedicht rezitieren: „Ein Fichtenbaum steht einsam usw.“ In der Zeile: „Ihn schläfert“ bleibt er rettungslos stecken, er hat „mit weißer Decke“ total vergessen. Dieses Vergessen in einem so bekannten Vers schien mir auffallend, und ich ließ ihn nun reproduzieren, was ihm zu „mit weißer Decke“ einfiel, Es entstand folgende Reihe: „Man denkt bei weißer Decke an ein Totentuch — ein Leintuch, mit dem man einen Toten zudeckt — (Pause) — jetzt fällt mir ein naher Freund ein — sein Bruder ist jüngst ganz plötzlich gestorben — er soll an einem Herzschlag gestorben sein — er war eben auch sehr korpulent — mein Freund ist auch korpulent und ich habe schon gedacht, es könnte ihm auch so gehen — er gibt sich wahrscheinlich zu wenig Bewegung — als ich von dem Todesfall hörte, ist mir plötzlich Angst geworden, es könnte mir auch so gehen, da wir in unserer Familie sowieso Neigung zur Fettsucht haben, und auch mein Großvater an einem Herzschlag gestorben ist; ich finde mich auch zu korpulent und habe deshalb in diesen Tagen mit einer Entfettungskur begonnen.“

1) Der Kollege hat übrigens die schöne Stelle des Gedichts sowohl in ihrem Wortlaut wie nach ihrer Anwendung etwas abgeändert: Das gespenstische Mädchen sagt seinem Bräutigam "§ 89

„Meine Locke hab’ ich Dir gegeben. Deine Locke nehm’ ich mit mir fort. Sieh sie an genau! Morgen bist Du grau, Und nur braun erscheinst Du wieder dort“.

"
2) C. G. Jung, Über die Psychologie der Dementia praecox. 1907. Seite 64. § 90

„Der Herr hat sich also unbewußt sofort mit dem Fichtenbaum identifiziert“, bemerkt Jung, „der vom weißen Leichentuch umhüllt ist“.

§ 91

Ich habe seither zahlreiche andere Analysen in Fällen von Vergessen oder fehlerhafter Reproduktion einer Wortfolge angestellt und bin durch das übereinstimmende Ergebnis dieser Untersuchungen der Annahme geneigt worden, daß der in den Beispielen „aliquis“ und „Braut von Korinth“ nachgewiesene Mechanismus des Vergessens fast allgemeine Giltigkeit hat. Es ist meist nicht sehr bequem, solche Analysen mitzuteilen, da sie wie die vorstehend erwähnten stets zu intimen und für den Analysierten peinlichen Dingen hinleiten; ich werde die Zahl solcher Beispiele darum auch nicht weiter vermehren. Gemeinsam bleibt all diesen Fällen ohne Unterschied des Materials, daß das Vergessene oder Entstellte auf irgend einem assoziativen Wege mit einem unbewußten Gedankeninhalt in Verbindung gebracht wird, von welchem die als Vergessen sichtbar gewordene Wirkung ausgeht. —

§ 92

Ich wende mich nun wiederum zu dem Vergessen von Namen, wovon wir bisher weder die Kasuistik noch die Motive erschöpfend betrachtet haben. Da ich gerade diese Art von Fehlleistung bei mir zu Zeiten reichlich beobachten kann, bin ich um Beispiele hierfür nicht verlegen. Die leisen Migränen, an denen ich noch immer leide, pflegen sich Stunden vorher durch Namenvergessen anzukündigen, und auf der Höhe des Zustandes, während dessen ich die Arbeit aufzugeben nicht genötigt bin, bleiben mir häufig alle eigenen Namen aus. Nun könnten gerade Fälle wie der meinige zu einer prinzipiellen Einwendung gegen unsere analytischen Bemühungen Anlaß geben. Soll man aus solchen Beobachtungen nicht folgern müssen, daß die Verursachung der Vergeßlichkeit und speziell des Namensvergessens in Zirkulations- und allgemeinen Funktionsstörungen des Großhirns gelegen ist, und sich darum psychologische Erklärungsversuche für diese Phänomene ersparen? Ich meine, keineswegs; das hieße den in allen Fällen gleichartigen Mechanismus eines Vorgangs mit dessen variabeln und nicht notwendig erforderlichen Begünstigungen verwechseln. An Stelle einer Auseinandersetzung will ich aber ein Gleichnis zur Erledigung des Einwandes bringen.

§ 93

Nehmen wir an, ich sei so unvorsichtig gewesen, zur Nachtzeit in einer menschenleeren Gegend der Großstadt spazieren zu gehen, werde überfallen und meiner Uhr und Börse beraubt. An der nächsten Polizeiwachstelle erstatte ich dann die Meldung mit den Worten: Ich bin indieser und jener Straße gewesen, dort haben Einsamkeit und Dunkelheit mir Uhr und Börse weggenommen. Obwohl ich in diesen Worten nichts gesagt hätte, was nicht richtig wäre, liefe ich doch Gefahr, nach dem Wortlaut meiner Meldung für nicht ganz richtig im Kopfe gehalten zu werden. Der Sachverhalt kann in korrekter Weise nur so beschrieben werden, daß von der Einsamkeit des Ortes begünstigt, unter dem Schutze der Dunkelheit unbekannte Täter mich meiner Kostbarkeiten beraubt haben. Nun denn, der Sachverhalt beim Namenvergessen braucht kein anderer zu sein; durch Ermüdung, Zirkulationsstörung und Intoxikation begünstigt raubt mir eine unbekannte psychische Macht die Verfügung über die meinem Gedächtnis zustehenden Eigennamen, dieselbe Macht, welche in anderen Fällen dasselbe Versagen des Gedächtnisses bei voller Gesundheit und Leistungsfähigkeit zustande bringen kann.

§ 94

Wenn ich die an mir selbst beobachteten Fälle von Namenvergessen analysiere, so finde ich fast regelmäßig, daß der vorenthaltene Name eine Beziehung zu einem Thema hat, welches meine Person nahe angeht, und starke, oft peinliche Affekte in mir hervorzurufen vermag. Nach der bequemen und empfehlenswerten Übung der Züricher Schule (Bleuler, Jung, Riklin) kann ich dasselbe auch in der Form ausdrücken: Der entzogene Name habe einen „persönlichen Komplex“ in mir gestreift. Die Beziehung des Namens zu meiner Person ist eine unerwartete, meist durch oberflächliche Assoziation (Wortzweideutigkeit, Gleichklang) vermittelte; sie kann allgemein als eine Seitenbeziehung gekennzeichnet werden. Einige einfache Beispiele werden die Natur derselben am Besten erläutern:

§ 95

a) Ein Patient bittet mich, ihm einen Kurort an der Riviera zu empfehlen. Ich weiß einen solchen Ort ganz nahe bei Genua, erinnere auch den Namen des deutschen Kollegen, der dort praktiziert, aber den Ort selbst kann ich nicht nennen, so gut ich ihn auch zu kennen glaube. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Patienten warten zu heißen und mich rasch an die Frauen meiner Familie zu wenden. „Wie heißt doch der Ort bei Genua, wo Dr. N. seine kleine Anstalt hat, in der die und jene Frau so lange in Behandlung war?“ „Natürlich, gerade Du mußtest diesen Namen vergessen. Nervi heißt er.“ Mit Nerven habe ich allerdings genug zu tun.

§ 96

b) Ein anderer spricht von einer nahen Sommerfrische und behauptet, es gebe dort außer den zwei bekannten ein drittes Wirtshaus, an welches sich für ihn eine gewisse Erinnerung knüpft; den Namen werde er mir

§ 97

zo Vergessen von Namen und Wortfolgen.

§ 98

sogleich sagen. Ich bestreite die Existenz diese; dritten Wirtshauses und berufe mich darauf, daß ich sieben Sommer hindurch in jenem Ort gewohnt habe, ihn also besser kennen muß als er. Durch den Widerspruch gereizt, hat er sich aber schon des Namens bernächtigt. Das Gasthaus heißt: der H 0 c h w a r t n e r. Da muß ich freilich nachgehen, ja ich muß bekennen, daß ich sieben Sommer lang in der nächsten Nähe dieses von mir verleugneten Wirtshauses gewohnt habe. Warum sollte ich hier Namen und Sache vergessen haben ? Ich meine, weil der Name gar zu deutlich an den eines Wiener Fachkollegen anklingt, widerum den „professionellen“ Komplex in mir anrührt.

§ 99

c) Ein andermal, im Begriffe auf dem Bahnhof von R ei 0 h e n h all eine Fahrkarte zu lösen, will mir der sonst so sehr vertraute Name der nächsten großen Bahnstation, die ich schon so oft passiert habe, nicht einfallen. Ich muß ihn allen Ernstes auf dem Fahrplan suchen. Er lautet: R o s e n h e i 111. Dann weiß ich aber sofort, durch welche Assoziation er mir abhanden gekommen ist. Eine Stunde vorher hatte ich meine Schwester in ihrem Wohnorte ganz nahe bei Reichenhall besucht; meine Schwester heißt Rosa, also auch ein R o s e n h e i rn. Diesen Namen hat mir der „Familienkomplex“ weggenommen.

§ 100

(1) Das geradezu räuberische Wirken des „Familienkomplexes“ kann ich dann in einer ganzen Anzahl von Beispielen verfolgen.

§ 101

Eines Tages kam ein junger Mann in meine Ordination, jüngerer Bruder einer Patientin, den ich nngezählte Male gesehen hatte, und dessen Person ich mit dem Vornamen zu bezeichnen gewohnt war. Als ich dann von seinem Besuch erzählen wollte, hatte ich seinen, wie ich wußte, keineswegs ungewöhnlichen Vornamen vergessen und konnte ihn durch keine Hilfe zurückruien. Ich ging dann auf die Straße, um Firmenschilder zu lesen, und erkannte den Namen, sowie er mir das erste Mal entgegentrat. Die Analyse belehrte mich darüber, daß ich zwischen dem Besucher und meinem eigenen Bruder eine Parallele gezogen hatte, die in der verdrängten Frage gipfeln wollte: Hätte sich mein Bruder im gleichen Falle ähnlich oder vielmehr entgegengesetzt benommen? Die äußerliche Verbindung zwischen den Gedanken über die fremde und über die eigene Familie war durch den Zufall ermöglicht werden, daß die Mütter hier und dort den gleichen Vornamen: Amalia tragen. Ich verstand dann auch nachträglich die Ersatznamen: Daniel und Franz, die sich mir aufgedrängt hatten, ohne mich aufzuklären. Es sind dies, wie auch Amelie, Namen aus den Räubern von S (: hille r , an

§ 102

§ 103

Vergessen von Namen und Wortfolgen. “

§ 104

welche sich ein Scherz des Wiener Spaziergängers D a. n i el S p i t z e r knüpft.

§ 105

e) Ein anderes Mal kann ich den Namen eines Patienten nicht finden, der zu meinen ]ugendbeziehnngen gehört. Die Analyse fiihrt über einen langen Umweg, ehe sie mir den gesuchten Namen liefert. Der Patient hatte die Angst geäußert, das Augenlicht zu verlieren; dies rief die Erinnerung an einen jungen Mann wach, der durch einen Schuß blind geworden war; daran knüpfte sich wieder das Bild einen anderen ]iinglings, der sich angeschossen hatte, und dieser letztere trug denselben Namen wie der erste Patient, obwohl er nicht mit ihm verwandt war. Den Namen fand ich aber erst, nachdem mir die Übertragung einer ängstlichen Erwartung von diesen beiden juvenilen Fällen auf eine Person meiner eigenen Familie bewußt geworden war.

§ 106

Ein beständiger Strom von „Eigenbeziehung“ geht so durch mein Denken, von dem ich für gewöhnlich keine Kunde erhalte, der sich mir aber durch solches Namenvergessen verrät. Es ist, als wäre ich genötigt, alles, was ich über fremde Personen höre, mit der eigenen Person zu vergleichen, als ob meine persönlichen Komplexe bei jeder Kenntnisnahme von anderen rege würden. Dies kann unmöglich eine individuelle Eigenheit meiner Person sein; es muß vielmehr einen Hinweis auf die Art, wie wir überhaupt „Anderes“ verstehen, enthalten. Ich habe Gründe anzunehmen, daß es bei anderen Individuen ganz ähnlich zugeht wie bei mir.

§ 107

Das Schönste dieser Art hat mir als eigenes Erlebnis ein Herr Lederer berichtet. Er traf auf seiner Hochzeitsreise in Venedig mit einem ihm oberflächlich bekannten Herrn zusammen, den er seiner jungen Frau vorstellen mußte. Da er aber den Namen des Fremden vergessen hatte, half er sich das erste Mal mit einem unverständlichen Gemurmel. Als er dann dem Herrn, wie in Venedig unausweichlich, ein zweites Mal begegnete, nahm er ihn beiseite und hat ihn, ihm doch aus der Verlegenheit zu helfen, indem er ihm seinen Namen sage, den er leider vergessen habe. Die Antwort des Fremden zeugte von überlegener Menschenkenntnis: Ich glaube es gerne, daß Sie sich meinen Namen nicht gemerkt haben. Ich heiße wie Sie: L e d e r e r! — Man kann sich einer leicht unangenehmen Empfindung nicht erwehren, wenn man seinen eigenen Namen bei einem Fremden wiederfindet. Ich verspiirte sie unlängst recht deutlich, als sich mir in der ärztlichen Sprechstunde ein Herr S. Freud vorstellte. Übrigens nehme ich Notiz von der Versicherung eines meiner Kritiker, daß er sich. in diesem Punkte entgegengesetzt wie ich verhalte.

§ 108

§ 109

22 Vergessen von Namen und Wortfolgen.

§ 110

f) Die Wirksamkeit der Eigenbeziehung erkennt man auch in folgendem, von ] u n g 1) mitgeteilten Beispiel:

§ 111

„Ein Herr Y. verliebte sich erfolglos in eine Dame, welche bald darauf einen Herrn X. heiratete. Trotzdem nun Herr Y. den Herrn X. schon seit geraumer Zeit kennt und sogar in geschäftlichen Ver— bindungen mit ihm steht, vergißt er immer und immer wieder dessen Namen, so daß er sich mehrere Male bei anderen Leuten danach erkundigen mußte, wenn er mit Henn X. korrespondieren wollte.“

§ 112

Indes ist die Motivierung des Vergessens in diesem Falle durchsichtiger als in den vorigen, welche unter der Konstellation der Eigenbeziehung stehen. Das Vergessen scheint hier direkte Folge der Abneigung des Herrn Y. gegen seinen glücklicheren Rivalen; er will nichts von ihm wissen; „nicht gedacht soll seiner werden.“

§ 113

g) Anders und feiner motiviert ist ein Beispiel von Namenvergessen, welches sich der Betretfende selbst aufgeklärt hat:

§ 114

„Als ich Prüfung aus Philosophie als Nebengegenstand machte, wurde ich vom Examjnator nach der Lehre E p i ku rs gefragt, und dann weiter, ob ich wisse, wer dessen Lehre in späteren Jahrhunderten wieder aufgenommen habe. Ich antwortete mit dem Namen Pi e r r e G a s s e n d i , den ich gerade zwei Tage vorher im Café als Schüler E p i k urs hatte nennen hören. Auf die erstaunte Frage, woher ich das wisse, gab ich kühn die Antwort, daß ich mich seit Langem für Gassendi interessiert habe. Daraus ergab sich ein magna cum laude fürs Zeugnis, aber leider auch für später eine hartnäckige Neigung, den Namen Gass en di zu vergessen. Ich glaube, mein schlechtes Gewissen ist schuld daran, wenn ich diesen Namen allen Bemühungen zum Trotz jetzt nicht behalten kann. Ich hätte ihn ja auch damals nicht wissen sollen.“

§ 115

Will man die Intensität der Abneigung gegen die Erinnerung an diese Priifungsepisode bei unserem Gewährsmann richtig würdigen, so muß man erfahren haben, wie hoch er seinen Doktortitel anschlägt, und für wieviel anderes ihm dieser Ersatz bieten muß. _

§ 116

Ich könnte die Beispiele vom Namenvergessen vermehren und die Diskussion derselben sehr viel weiter führen, wenn ich nicht vermeiden wollte, fast alle Gesichtspunkte, die für spätere Themata in Betracht kommen, schon hier beim ersten zu erörtern. Doch darf ich mir gestatten, die Ergebnisse der hier mitgeteilten Analysen in einigen Sätzen zusammenzufassen:

§ 117

l) Dementia praewx. p. 52.

§ 118

§ 119

Vergessen von Namen und Wortiolgan. 23

§ 120

Der Mechanismus des Namenvergessens (richtiger: des Entfallens, zeitweiligen Vergessens) besteht in der Störung der intendierten Reproduktion des Namens durch eine fremde und derzeit nicht bewußte Gedankenfolge. Zwischen dem gestörten Namen und dem störenden Komplex besteht entweder ein Zusammenhang von vorne herein, oder ein solcher hat sich, oft auf gekünstelt erscheinenden Wegen, durch oberflächliche (äußerliche) Assoziationen hergestellt.

§ 121

Unter den störenden Komplexen erweisen sich die der Eigenbeziehung (die persönlichen, familiären, beruflichen) als die wirksamsten.

§ 122

Ein Name, der infolge von Mehrdeutigkeit mehreren Gedankenkreisen (Komplexen) angehört, wird häufig im Zusammenhange der einen Gedankeniolge durch seine Zugehörigkeit zum anderen, stärkeren Komplex gestört.

§ 123

Unter den Motiven dieser Störungen leuchtet die Absicht hervor, die Erweckung von Unlust durch Erinnern zu vermeiden.

§ 124

Man kann im allgemeinen zwei Hauptfälle des Namenvergessens unterscheiden, wenn der Name selbst an Unangenehmes rührt, oder wenn er mit anderem in Verbindung gebracht ist, dem solche Wirkung zukäme, so daß Namen um ihrer selbst willen oder wegen ihrer näheren oder entfernteren Assoziations‘beziehungen in der Reproduktion gestört werden können.

§ 125

Ein Überblick dieser allgemeinen Sätze läßt uns verstehen, daß das zeitweilige Namenvergessen als die häufigste unserer F ehlleistungen zur Beobachtung kommt.

§ 126

Wir sind indes weit davon entfernt, alle Eigentümlichkeiten dieses Phänomens verzeichnet zu haben. Ich will noch darauf hinweisen, daß das Namenvergessen in hohem Grade ansteckend ist. In einem Gespräch zweier Personen reicht es oft hin, daß die eine äußere, sie haben diesen oder jenen Namen vergessen, um ihn auch bei der zweiten Person entfallen zu lassen. Doch stellt sich dort, wo das Vergessen induziert ist, der vergessene Name leicht wieder ein.

§ 127

Es kommt auch ein fortgesetztos Namenvergessen vor, in dem ganze Ketten von Namen dem Gedächtnis entzogen werden. Hascht man, um einen entfallenen Namen wiederzufinden, nach anderen, mit denen jener in fester Bindung steht, so entfliehen nicht selten auch diese neuen als Anhalt aufgesuchten Namen. Das Vergessen springt so von einem Namen zum andern über, wie um die Existenz eines nicht leicht zu beseitigenden Hindernisses zu beweisen.

§ 128

§ 129

IV.

§ 130

Über Kindheits- und Deckerinnerungen.

§ 131

In einer zweiten Abhandlung (1899 in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie veröffentlicht) habe ich die tendenziöse Natur unseres Erinnerns an unvermuteter Stelle nachweisen können. Ich bin von der auffälligen Tatsache ausgegangen, daß die frühesten Kindheitserinnerungen einer Person häufig bewahrt zu haben scheinen, was gleichgiltig und nebensächlich ist, während von wichtigen, eindrucksvollen und affektreichen Eindrücken dieser Zeit (häufig, gewiß nicht allgemein!) sich im Gedächtnis der Erwachsenen keine Spur vorfindet. Da es bekannt ist, daß das Gedächtnis unter den ihm dargebotenen Eindrücken eine Auswahl trifft, stände man hier vor der Annahme, daß diese Auswahl im Kindesalter nach ganz anderen Prinzipien vor sich geht, als zur Zeit der intellektuellen Reife. Eingehende Untersuchung weist aber nach, daß diese Annahme überflüssig ist. Die indifferenten Kindheitserinnerungen verdanken ihre Existenz einem Verschiebungsvorgang; sie sind der Ersatz in der Reproduktion für andere wirklich bedeutsame Eindrücke, deren Erinnerung sich durch psychische Analyse aus ihnen entwickeln läßt, deren direkte Reproduktion aber durch einen Widerstand gehindert ist. Da sie ihre Erhaltung nicht dem eigenen Inhalt, sondern einer assoziativen Beziehung ihres Inhaltes zu einem anderen, verdrängten, verdanken, haben sie auf den Namen „Deckerinnerungen“, mit welchem ich sie ausgezeichnet habe, begründeten Anspruch.

§ 132

Die Mannigfaltigkeiten in den Beziehungen und Bedeutungen der Deckerinnerungen habe ich in dem erwähnten Aufsatze nur gestreift, keineswegs erschöpft. An dem dort ausführlich analysierten Beispiel habe ich eine Besonderheit der zeitlichen Relation zwischen der Deckerinnerung und dem durch sie gedeckten Inhalt besonders hervorgehoben. Der Inhalt der Deckerinnerung gehörte dort nämlich einem der ersten Kinderjahre an, während die durch sie im Gedächtnis vertretenen Gedankenerlebnisse, die fast unbewußt geblieben waren, in späte Jahre des Betreffenden fielen. Ich nannte diese Art der Verschiebung eine rückgreifende oder rückläufige. Vielleicht noch häufiger begegnet man dem entgegengesetzten Verhältnis, daß ein indifferenter Eindruck der jüngsten Zeit sich als Deckerinnerung im Gedächtnis festsetzt, der diese Auszeichnung nur der Verknüpfung mit einem früheren Erlebnis verdankt, gegen dessen direkte Reproduktionsich Widerstände erheben. Dies wären vorgreifende oder vorgeschobene Deckerinnerungen. Das Wesentliche, was das Gedächtnis bekümmert, liegt hier der Zeit nach hinter der Deckerinnerung. Endlich wird der dritte noch mögliche Fall nicht vermißt, daß die Deckerinnerung nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch Kontiguität in der Zeit mit dem von ihr gedeckten Eindruck verknüpft ist, also die gleichzeitige oder anstoßende Deckerinnerung.

§ 133

Ein wie großer Teil unseres Gedächtnisschatzes in die Kategorie der Deckerinnerungen gehört, und welche Rolle bei verschiedenen neurotischen Denkvorgängen diesen zufällt, das sind Probleme, in deren Würdigung ich weder dort eingegangen bin, noch hier eintreten werde. Es kommt mir nur darauf an, die Gleichartigkeit zwischen dem Vergessen von Eigennamen mit Fehlerinnern und der Bildung der Deckerinnerungen hervorzuheben.

§ 134

Auf den ersten Anblick sind die Verschiedenheiten der beiden Phänomene weit auffälliger als ihre etwaigen Analogien. Dort handelt es sich um Eigennamen, hier um komplette Eindrücke, um entweder in der Realität oder in Gedanken Erlebtes; dort um ein manifestes Versagen der Erinnerungsfunktion, hier um eine Erinnerungsleistung, die uns befremdend erscheint; dort um eine momentane Störung — denn der eben vergessene Name kann vorher hundert Male richtig reproduziert worden sein und es von morgen an wieder werden —, hier um dauernden Besitz ohne Ausfall, denn die indifferenten Kindheitserinnerungen scheinen uns durch ein langes Stück unseres Lebens begleiten zu können. Das Rätsel scheint in diesen beiden Fällen ganz anders orientiert zu sein. Dort ist es das Vergessen, hier das Merken, was unsere wissenschaftliche Neugierde rege macht. Nach einiger Vertiefung merkt man, daß trotz der Verschiedenheit im psychischen Material und in der Zeitdauer der beiden Phänomene die Übereinstimmungen weit überwiegen. Es handelt sich hier wie dort um das Fehlgehen des Erinnerns; es wird nicht das vom Gedächtnis reproduziert, was korrekterweise reproduziert werden sollte, sondern etwas anderes zum Ersatz. Dem Falle des Namenvergessens fehlt nicht die Gedächtnisleistung in der Form der Ersatznamen. Der Fall der Deckerinnerungsbildung beruht auf dem Vergessen von anderen, wesentlichen Eindrücken. In beiden Fällen gibt uns eine intellektuelle Empfindung Kunde von der Einmengung einer Störung, nur jedesmal in anderer Form. Beim Namenvergessen wissen wir, daß die Ersatznamen falsch sind; bei den Deckerinnerungen verwundern wir uns, daß wir sie überhaupt besitzen. Wenn dann die psychologische Analyse nachweist, daß die

§ 135

26 Über Kindheits— und Deckerinnerungen.

§ 136

Ersatzbildung in beiden Fällen auf die nämliche Weise durch Verschiebung längs einer oberflächlichen Assoziation zustande gekommen ist, so tragen gerade die Verschiedenheiten im Material, in der Zeitdauer und in der Zentrierung der beiden Phänomene dazu bei, unsere Erwartung zu steigern, daß wir etwas Wichtiges und Allgemeingültiges aufgefunden haben. Diese Allgemeine würde lauten, daß das Versagen und Irregehen der reproduzierenden Funktion weit häufiger, als wir vermuten, auf die Einmengung eines parteiischen Faktors, einer T e n d e n z hinweist, welche die eine Erinnerung begünstigt, während sie einer anderen entgegenzuarbeiten bemüht ist.

§ 137

Das Thema der Kindheitserinnerungen erscheint mir so bedeutsam und interessant, daß ich ihm noch einige Bemerkungen widmen möchte, die über die bisherigen Gesichtspunkte hinausgehen.

§ 138

Wie weit zurück in die Kindheit reichen die Erinnerungen? Es sind mir einige Untersuchungen über diese Frage bekannt, so von V. et C. H e n ri 1) und P o t wi n 2); dieselben ergeben, daß große individuelle Verschiedenheiten bei den Untersuchten bestehen, indem einzelne ihre erste Erinnerung in den 6. Lebensmonat verlegen, andere von ihrem Leben bis zum vollendeten sechsten, ja achten Lebensjahr nichts wissen. Aber womit hängen diese Verschiedenheiten im Verhalten der Kindheitserinnerungen zusammen, und welche Bedeutung kommt ihnen zu? Es ist offenbar nicht ausreichend, das Material für diese Fragen durch Sammelerkundigung herbeizuschaffen; es bedarf dann noch einer Bearbeitung desselben, an der die auskum'tgebende Person beteiligt sein muß.

§ 139

Ich meine, wir nehmen die Tatsache der infantjlen Amnesie, des Ausfalls der Erinnerungen für die ersten Jahre unseres Lebens viel zu gleichmütig hin, und versäumen es, ein seltsames Rätsel in ihr zu finden. Wir vergessen, welch hoher intellektueller Leistungen und wie komplizierter Geiühlserregungen ein Kind von etwa vier Jahren fähig ist, und sollten uns geradezu verwundern, daß das Gedächtnis späterer Jahre von diesen seelischen Vorgängen in der Regel so wenig bewahrt hat, zumal da wir allen Grund zur Annahme haben, daß diese selben vergessenen Kindheitsleistungen nicht etwa spurlos an der Entwicklung der Person abgeglitten sind, sondern einen für alle späteren Zeiten bestimmenden Einfluß ausgeübt haben. Und trotz dieser unvergleich

§ 140

1) Enqnéte sur les premiers souveniers de 1'enfance. L‘aunée psychologiquo,

§ 141

III, 1897. ") Study of early memories. Psycholog. Review, 1901. .:

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§ 143

Über Kindheits« und. Deckerinnerungen. 27

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lichen Wirksamkeit sind sie vergessen werden! Es weist dies auf ganz speziell geartete Bedingungen des Erinnerns (im Sinne der bewußten Reproduktion) hin, die sich unserer Erkenntnis bisher entzogen haben. Es ist sehr wohl möglich, daß das Kindheitsvergessen uns den Schlüssel zum Verständnis jener Amnesien liefern kann, die nach unseren neueren Erkenntnissen der Bildung aller neurotischen Symptome zu Grunde liegen.

§ 145

Von den erhaltenen Kindheitserinnerungen erscheinen uns einige gut begreiilich, andere befremdend oder unverständlich. Es ist nicht schwer, einige Irrtümer in Betreff beider Arten zu berichtigen. Unterzieht man die erhaltenen Erinnerungen eines Menschen einer analytischen Prüfung, so kann man leicht feststellen, daß eine Gewähr für die Richtigkeit derselben nicht besteht. Einige der Erinnerungsbilder sind sicherlich gefälscht, unvollständig, oder zeitlich und räumlich verschoben. Die Anv gaben der untersuchten Personen wie, ihre erste Erinnerung rühre etwa. aus dem zweiten Lebensjahr her, sind offenbar unverläßlich. Es ge. lingt bald auch Motive zu finden, welche die Entstehung und Verschiebung des Erlehten verständlich machen, aber auch beweisen, daß nicht einfache Gedächtnisuntreue die Ursache dieser Erinnerungsfehler sein kann. Starke Mächte aus der späteren Lebenszeit haben die Erinnerungsfähigkeit der Kindheitserlebnisse gemodelt, dieselben Mächte wahrscheinlich, an denen es liegt, daß wir uns allgemein dem Verständnis unserer Kindheitsjahre so weit entfremdet haben.

§ 146

Das Erinnern der Erwachsenen geht bekanntlich an verschiedenem psychischen Material vor sich. Die einen erinnern in Gesichtsbildern, ihre Erinnerungen haben visuellen Charakter; andere Individuen können kaum die diirftigsten Umrisse des Erlebten in der Erinnerung reproduzieren; man nennt solche Personen „Auditifs“ und „Moteurs“ im Gegensatz zu den „Visuels“ nach Charcots Vorschlag. Im Träumen verschwinden diese Unterschiede, wir träumen alle in vorwiegenden Gesichtsbildern. Aber ebenso bildet sich diese Entwicklung für die Kindlieitserinnerungen zurück; diese sind plastisch visuell auch bei jenen Personen, deren späteres Erinnern des visuellen Elementes entbehren muß. Das visuelle Erinnern bewahrt somit den Typus des iniantilen Erinnerns. Bei mir sind die frühesten Kindheitserinnerungen die einzigen von visuellem Charakter; es sind geradezu plastisch heraus— gearbeitete Szenen, nur den Darstellungen auf der Bühne vergleichbar. In diesen Szenen aus der Kindheit, ob sie sich nun als wahr oder als verfälscht erweisen, sieht man regelmäßig auch die eigene kindliche Person in ihren Umrissen und mit ihrer Kleidung. Dieser Umstand

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28 Über Kindheits- und Deckerinnerungen.

§ 149

muß Befremden erregen; erwachsene Visuelle sehen nicht mehr ihre Person in ihren Erinnerungen an spätere Erlebnisseß) Es widerspricht auch allen unseren Erfahrungen anzunehmen, daß die Aufmerksamkeit des Kindes bei seinen Erlebnissen auf sich selbst anstatt ausschließlich auf die äußeren Eindrücke gerichtet wäre. Man wird so von verschiedenen Seiten her zur Vermutung gedrängt, daß wir in den sog. frühesten Kindheitserinnerungen nicht die wirkliche Erinnerungespur, sondern eine spätere Bearbeitung derselben besitzen, eine Bearbeitung, welche die Einflüsse manuigfacher späterer psychischer Mächte erfahren haben mag. Die „Kindheitserinnerungen“ der Individuen rücken so ganz allgemein zur Bedeutung von „Deckerinnerungen“ vor und gewinnen dabei eine bemerkenswerte Analogie mit den in Sagen und Mythen niedergelegten Kindheitserinnerungen der Völker.

§ 150

Wer eine Anzahl von Personen mit der Methode der Psychoanalyse seelisch untersucht hat, hat bei dieser Arbeit reichlich Beispiele von Deckerinnerungen jeder Art gesammelt. Die Mitteilung dieser Beispiele wird aber gerade durch die vorhin erörterte Natur der Beziehungen der Kindheitserinnerungen zum späteren Leben außerordentlich erschwert; um eine Kindheitserinnerung als Deckerinnerung würdigen zu lassen, müßte man oft die ganze Lebensgeschichte der betreffenden Person zur Darstellung bringen. Es ist nur selten, wie im nachstehenden hübschen Beispiel möglich, eine einzelne Kindheitserinnerung aus ihrem Zusammenhange für die Mitteilung herauszuheben.

§ 151

Ein 24 jähriger Mann hat folgendes Bild aus seinem 5. Lebensjahr bewahrt. Er sitzt im Garten eines Sommerhauses auf einem Stühlchen neben der Tante, die bemüht ist, ihm die Kenntnis der Buchstaben beizubringen. Die Unterscheidung von rn und n bereitet ihm Schwierigkeiten, und er bittet diejTante, ihm doch zu sagen, woran man erkennt, was das eine und was das andere ist. Die Tante macht ihn aufmerksam, daß das in doch um ein ganzes Stück, um den dritten Strich, mehr habe als das n. — Es fand sich kein Anlaß, die Zuverlässigkeit dieser Kindheitserinnerung zu bestreiten; ihre Bedeutung hatte sie aber erst später erworben, als sie sich geeignet zeigte, die symbolische Vertretung für eine andere Wißbegierde des Knaben zu übernehmen. Denn, sowie er damals den Unterschied zwischen m und n Wissen wollte, so bemühte er sich später, den Unterschied zwischen Knaben und Mädchen zu erfahren, und wäre gewiß einverstanden gewesen. daß gerade diese Tante seine Lehrmeisterin werde. Er fand dann auch

§ 152

1) Ich behaupte die! nach einigen von mir eingehalten Erkundigungen.

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Über Kindheits» und Deckerinnerungen. 29

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heraus, daß der Unterschied ein ähnlicher sei, daß der Bub wiederum ein ganzes Stück mehr habe als das Mädchen, und zur Zeit dieser Er— kenntnis weckte er die Erinnerung an die entsprechende kindliche Wißbegierde.

§ 156

An einem einzigen Beispiel möchte ich noch zeigen, welchen Sinn eine Kindheitserinnerung durch analytische Bearbeitung gewinnen kann, die vorher keinen Sinn zu enthalten schien. Als ich in meinem 43. Jahr begann, mein Interesse den Resten der Erinnerung an die eigene Kindheit zuzuwenden, fiel mir eine Szene auf, die mir seit Langem, —Wie ich meinte, seit jeher»—von Zeit zu Zeit zumBewußtsein gekommen war, und die nach guten Merkzeichen vor das vollendete dritte Lebens— jahr verlegt werden durfte. Ich sah mich fordernd und heulend vor einem Kasten stehen, dessen Türe mein um 20 Jahre älterer Halbbruder geöffnet hielt, und dann trat plötzlich meine Mutter, schön und schlank, wie von der Straße zurückkehrend ins Zimmer. In diese Worte hatte ich die plastisch gesehene Szene gefaßt, mit der ich sonst nichts anzufangen wußte. Ob mein Bruder den Kasten — in der ersten Übersetzung des Bildes hieß es „Schrank" — öffnen oder schließen wollte, warum ich dabei weinte, und was die Ankunft der Mutter damit zu tun habe, das alles war mir dunkel; ich war versucht, mir die Erklärung zu geben, daß es sich um die Erinnerung an eine Hänselei des älteren Bruders handle, die durch die Mutter unterbrochen wurde. Solche Mißverständnisse einer im Gedächtnis bewahrten Kindheitsszene sind nichts seltenes; man erinnert sich einer Situation, aber dieselbe ist nicht zentriert ; man weiß nicht, auf welches Element derselben der psychische Akzent zu setzen ist. Analytische Bemühung führte mich zu einer ganz unerwarteten Auffassung des Bildes. Ich hatte die Mutter vermißt, war auf den Verdacht gekommen, daß sie in diesem Schrank oder Kasten eingesperrt sei, und forderte darum den Bruder auf, den Kasten aufzusperren. Als er mir williahrte, und ich mich überzeugte, die Mutter sei nicht im Kasten, fing ich zu schreien an; dies ist der von der Erinnerung testgehaltene Moment, auf den alsbald das meine Sorge oder Sehnsucht beschwichtigende Erscheinen der Mutter folgte. Wie kam aber das Kind zu der Idee, die abwesende Mutter im Kasten zu suchen ? Gleichzeitige Träume wiesen dunkel auf eine Kinderhau hin, von welcher noch andere Reminiszenzen erhalten waren, wie z. 13. daß sie mich gewissenhaft anzuhalten pflegte, ihr die kleinen Münzen abzuliefern, die ich als Geschenke erhalten hatte, ein Detail, das selbst wieder and den Wert einer Deckerinnerung für Späteres Anspruch machen kann. So beschloß ich denn, mir diesmal die Deutungsautgabe zu erleichtern,

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§ 158

30 Das Versprechen.

§ 159

und meine jetzt alte Mutter nach jener Kinderfrau zu befragen. Ich erfuhr allerlei, darunter, daß die kluge aber unredliche Person während des Wochenbettes der Mutter große Hausdiebstähle verübt hatte und auf Betreiben meines Halbbruders dem Gericht übergeben werden sei. Diese Auskunft gab mir das Verständnis der Kinderszene wie durch eine Art von Erleuchtung. Das plötzliche Verschwinden der Kinderfrau war mir'_{nicht gleichgütig gewesen; ich hatte mich gerade an diesen Bruder mit der Frage gewendet, wo sie sei, wahrscheinlich weil ich gemerkt hatte, daß ihm eine Rolle bei ihrem Verschwinden zukomme, und3er;hatte ausweichend und wortspielerisch, wie seine Art noch heute3ist, geantwortet: sie ist „eingekastelt“. Diese Antwort verstand ichfnun]!nach ländlicher Weise, ließ aber zu fragen ab, weil nichts mehr zu erfahren war. Als mir nun kurze Zeit darauf die Mutter abging, argwöhnte ich, der schlimme Bruder habe mit ihr dasselbe angestth wiejmit der Kinderfrau, und nötjgte ihn, mir den Kasten zu öffnen. Ich verstehe nun auch, warum in der Übersetzung der visuellen Kinderszeneldie Schlankheit der Mutter betont ist, die mir als neu wiederhergestellt aufgefallen sein muß. Ich bin 2 1/2 Jahre älter als die damalsi'geborene Schwester, und als ich 3 Jahre alt wurde, fand das Zusammenleben mit dem Halbbruder ein Ende.

§ 160

V.

§ 161

Das Versprechen.

§ 162

Wenn das gebräuchliche Material unserer Rede in der Muttersprache gegen das Vergessen geschützt erscheint, so unterliegt dessen Anwendung um so häufiger einer anderen Störung, die als „Versprechen“ bekannt ist. Das beim normalen Menschen beobachtete Versprechen macht den Eindruck der Vorstufe für die unter pathologischen Be— dingungen auftretenden sogen. „Paraphasien“.

§ 163

Ich befinde mich hier in der ausnahmsweisen Lage, eine Vorarbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben M e rin g e r und C. M a y e r eine Studie über „Versprechen und Verlesen“ publiziert, an deren Gesichtspunkte die meinigen nicht heranreichen. Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist nämlich Sprachforscher und ist von lin— guistischen Interessen zur Untersuchung veranlaßt werden, den Regeln nachzugehen, nach denen man sich verspricht. Er hoffte, aus diesen

§ 164

und meine jetzt alte Mutter nach jener Kinderfrau zu befragen. Ich erfuhr allerlei, darunter, daß die kluge aber unredliche Person während des Wochenbettes der Mutter große Hausdiebstähle verübt hatte und auf Betreiben meines Halbbruders dem Gericht übergeben worden sei. Diese Auskunft gab mir das Verständnis der Kinderszene wie durch eine Art von Erleuchtung. Das plötzliche Verschwinden der Kinderfrau war mir nicht gleichgültig gewesen; ich hatte mich gerade an diesen Bruder mit der Frage gewendet, wo sie sei, wahrscheinlich, weil ich gemerkt hatte, daß ihm eine Rolle bei ihrem Verschwinden zukomme, und er hatte ausweichend und wortspielerisch, wie seine Art noch heute ist, geantwortet: sie ist „eingekastelt“. Diese Antwort verstand ich nun nach kindlicher Weise, ließ aber zu fragen ab, weil nichts mehr zu erfahren war. Als mir nun kurze Zeit darauf die Mutter abging, argwöhnte ich, der schlimme Bruder habe mit ihr dasselbe angestellt wie mit der Kinderfrau und nötigte ihn, mir den Kasten zu öffnen. Ich verstehe nun auch, warum in der Übersetzung der visuellen Kinderszene die Schlankheit der Mutter betont ist, die mir als neu wiederhergestellt aufgefallen sein muß. Ich bin 2½ Jahre älter als die damals geborene Schwester, und als ich 3 Jahre alt wurde, fand das Zusammenleben mit dem Halbbruder ein Ende.

§ 165

V.

§ 166

Das Versprechen.

§ 167

Wenn das gebräuchliche Material unserer Rede in der Muttersprache gegen das Vergessen geschützt erscheint, so unterliegt dessen Anwendung um so häufiger einer anderen Störung, die als „Versprechen“ bekannt ist. Das beim normalen Menschen beobachtete Versprechen macht den Eindruck der Vorstufe für die unter pathologischen Bedingungen auftretenden sogen. „Paraphasien.“

§ 168

Ich befinde mich hier in der ausnahmsweisen Lage, eine Vorarbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben Meringer und C. Mayer eine Studie über „Versprechen und Verlesen“ publiziert, an deren Gesichtspunkte die meinigen nicht heranreichen. Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist nämlich Sprachforscher und ist von linguistischen Interessen zur Untersuchung veranlaßt worden, den Regeln nachzugehen, nach denen man sich verspricht. Er hoffte, aus diesen

§ 169

Das Versprechen. 31

§ 170

Regeln auf das Vorhandensein „eines gewissen geistigen Mechanismus“ schließen zu können, „in welchem die Laute eines Wortes, eines Satzes, und auch die Worte untereinander in ganz eigentümlicher Weise verbunden und verknüpft sind“ (5. ro).

§ 171

Die Autoren gruppieren die von ihnen gesammelten Beispiele des „Versprechens“ zunächst nach rein deskn'ptiven Gesichtspunkten als V e r t a u s c h u n g e n (z. B. die Milo von Venus anstatt Venus von Milo),VorklängeoderAntizipationen(z. B. es warmirauf der Schwest. . . auf der Brust so schwer), Nachklänge , Post-positionen (z. B. „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs a u { zustoßen“ für anzustoßen), K o n t a min a t i o n e n (z. B. „Er setzt sich auf den Hinterkopf“ aus: „Er setzt sich einen Kopf auf" und: „Er stellt sich auf die Hinterbeine"), S u b s t i t u t io n e n (z. B. „Ich gehe die Präparate in denBriefkasten” statt Brütkasten), zu welchen Hauptkategorien noch einige minder wichtige (oder für unsere Zwecke minder bedeutsame) hinzugefügt werden. Es macht bei dieser Gruppierung keinen Unterschied, ob die Umstellung, Entstehung, Verschmelzung usw. einzelne Laute des Wortes, Silben oder ganze Worte des intendierten Satzes betrifft.

§ 172

Zur Erklärung der beobachteten Arten des Versprechens stellt M e rin g e r eine verschiedene psychische Wertigkeit der Sprachlaute auf. Wenn wir den ersten Laut eines Wortes, das erste Wort eines Satzes innervieren, wendet sich bereits der Erregungsvorgang den späteren Lauten, den folgenden Worten zu, und soweit diese Innervationen miteinander gleichzeitig sind, können sie einander abändernd beeinflussen. Die Erregung des psychisch intensivercn Lautes klingt vor oder heilt nach und stört so den minderwertigen Innervationsvorgang. Es handelt sich nun darum, zu bestimmen, welche die höchstwertigen Laute eines Wortes sind. Meringer meint: „Wenn man wissen will, welchem Laute eines Wortes die höchste Intensität zukommt, so beobachte man sich beim Suchen nach einem vergessenen Wort, z. B. einem Namen. Was zuerst wieder ins Bewußtsein kommt, hatte jedem falls die größte Intensität vor dem Vergessen (S. 160). Die hochwertigen Leute sind also der Anlaut der Wurzelsilbe und der Wortanlaut und der oder die betonten Vokale“ (S. 162).

§ 173

Ich kann nicht umhin, hier einen Widerspruch zu erheben. Ob der Anlaut des Namens zu den höchstwertigen Elementen des Wortes gehöre oder nicht, es ist gewiß nicht richtig, daß er im Falle des Wort,Vergessens zuerst wieder ins Bewußtsein tritt; die obige Regel ist also unbrauchbar. Wenn man sich bei der Suche nach einem vergessenen

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§ 175

32 Das Versprechen.

§ 176

Namen beobachtet, so wird man verhältnismäßig häufig die Überzeugung äußern müssen, er fange mit einem bestimmten Buchstaben an. Diese Überzeugung erweist sich nun ebenso oft als unbegründet wie als begründet. Ja, ich möchte behaupten, man proklamiert in der Mehrzahl der Fälle einen falschen Anlaut. Auch in unserem Beispiel: S i g n o r e l l i ist bei dem Ersatznamen der Anlaut und sind die wesentlichen Silben verloren gegangen; gerade das rninderwertige Silbenpaar elli ist im Ersatznamen B o t t i :: el 1 i dem Bewußtsein wiedergekehrt Wie wenig die Ersatznamen den Anlaut des entfallenen Namens respektieren, mag 1. B. folgender Fall lehren. Eines Tages ist es mir unmöglich, den Namen des kleinen Landes zu erinnern, dessen Hauptort Monte Carlo ist. Die Ersatznarnen für ihn lauten;

§ 177

Piemont, Albanien, Montevideo, Colico.

§ 178

Fiir Albanien tritt bald M o n t e n egr 0 ein, und dann fällt mir auf, daß die Silbe M on t (Mo n ausgesprochen) doch allen Ersatznamen bis auf den letzten zukommt. Es wird mir so erleichtert, vom Namen des Fürsten Albert aus das vergessene M o n a c 0 aufzufinden. C 0 li c o ahmt die Silbenfclge und Rhythmik des vergessenen Namens ungefähr nach.

§ 179

Wenn man der Vermutung Raum gibt, daß ein ähnlicher Mechanismus wie der fürs Namenvergessen nachgewiesene auch an den Erscheinungen des Versprechens Anteil haben könne, so wird man zu einer tiefer begründeten Beurteilung der Fälle von Versprechen geführt. Die Störung in der Rede, welche sich als Versprechen kundgibt, kann erstens verursacht sein durch den Einfluß eines anderen Bestandteils derselben Rede, also durch das Vorklingen oder Nachhallen, oder durch eine zweite Fassung innerhalb des Satzes oder des Zusammenhanges, den auszusprechen man intendiert — hierher gehören alle oben M e h r i n g e r und M & ye r entlehnten Beispiele —; zweitens aber könnte die Störung analog dem Vorgang im Falle: Sign 0 r elli zustande kommen durch Einflüsse a. u B e r h a l b dieses Wortes, Satzes oder Zusammenhanges, von Elementen her, die auszusprechen man nicht intendiert, und von deren Erregung man erst durch eben die Störung Kenntnis erhält. In der Gleichzeitigkeit der Erregung läge das Gemeinsame, in der Stellung innerhalb oder außerhalb desselben Satzes oder Zusammenhanges das Unterscheidende für die beiden Entstehungsarten des Versprechens. Der Unterschiedlerscheint zunächst nicht so groß, als er für gewisse Folgerungen aus der Symptomatologie das Versprechens in Betracht kommt. Es ist aber klar, daß man nur im ersteren Falle Aussicht hat, aus den Erscheinungen des Versprechens

§ 180

§ 181

Das Versprechen. 3 3

§ 182

Schlüsse auf einen Mechanismus zu ziehen, der Laute und Worte zur gegenseitigen Beeinflussung ihrer Artikulation miteinander verknüpft, also Schlüsse, wie sie der Sprachforscher aus dem Studium des Ver-' sprechens zu gewinnen hoffte. Im Falle der Störung durch Einflüsse außerhalb des nämlichen Satzes oder Redezusammenhanges würde es sich vor allein darum handeln, die störenden Elemente kennen zu lernen, und dann entstände die Frage, ob auch der Mechanismus dieser Störung die zu vermutenden Gesetze der Sprachbildung verraten kann.

§ 183

Man darf nicht behaupten, daß M e rin g e r und M a y e r die Möglichkeit der Sprechstörung durch „kompliziertere psychische Ein— flüsse‘ ‘, durch Elemente außerhalb desselbenWortes, Satzes oder derselben Rede£olge übersehen haben. Sie mußten ja bemerken, daß die Theorie der psychischen Ungleichwertigkeit der Laute strenge genommen nur für die Aufklärung der Lautstörungen, sowie der Vor— und Nachklänge ausreicht. Wo sich die Wortstörungen nicht auf Lautstörungen redu. zieren lassen, z. B. bei den Substitutionen und Kontaminationen von Worten, haben auch sie unbedenklich die Ursache des Versprechens a. u B e r h a l b des intendierten Zusammenhanges gesucht und diesen Sachverhalt durch schöne Beispiele erwiesen. Ich zitiere folgende Stellen:

§ 184

(5. 62.) „Rn. erzählt von Vorgängen, die er in seinem Innern fiir „Schweinereien“ erklärt. Er sucht aber nach einer milden Form und beginnt: „Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein gekommen . . .“ M a y e r und ich waren anwesend und Rn. bestätigte, daß er „Schweinereien“ gedacht hatte. Daß sich dieses gedachte Wort bei „Vorschein“ verriet und plötzlich wirksam wurde, findet in der Ähnlichkeit der Wörter seine genügende Erklärung.“ ——

§ 185

(S. 73.) „Auch bei den Substitutionen spielen wie bei den Kon— taminationen und in wahrscheinlich viel höherem Grade die „schwebenden oder „vagierenden“ Sprachbilder eine große Rolle. Sie sind, wenn auch unter der Schwelle des Bewußtseins, so doch noch in wirksamer Nähe, können leicht durch eine Ähnlichkeit des zu sprechenden Komplexes herangezogen werden und führen dann eine Entgleisung herbei oder kreuzen den Zug der Wörter. Die „schwehenden“ oder „vagierenden“ Sprachbilder sind, wie gesagt, oft die Nachzügler von kürzlich abgelaufenen Sprachprozessen (Nachklänge).“

§ 186

(S. 97.) „Eine Entgleisung ist auch durch Ähnlichkeit möglich, wenn ein anderes ähnliches Wort nahe unter der Bewußtseinsschwelle liegt, ohne daß es gesprochen zu werden bestimmt

§ 187

w ä r e. Das ist der Fall bei den Substitutionen. — So hoffe ich, daß man Freud, Pnyclmpathnlogie als Allmgslebeus. 3

§ 188

§ 189

34 Das Versprechen.

§ 190

beim Nachprüfen meine Regeln wird bestätigen müssen. Aber dazu ist notwendig, daß man (wenn ein anderer spricht) sich Klarheit darüber verschafft, an was Alles der Sprecher ged a c h t h a 123) Hier ein lehrreicher Fall. Klassendirektor Li. sagte in unserer Gesellschaft: „Die Frau würde mir Furcht einlagen.“ Ich wurde stutzig, denn das ] schien mir unerklärlich. Ich erlaubte mir, den Sprecher auf seinen Fehler „einlagen“ für „einjagen" aufmerksam zu machen, worauf er sofort antwortete: „Ja, das kommt daher, weil ich dachte: ich wäre nicht in der Lage 11. s. f.“

§ 191

„Ein anderer Fall. Ich frage R. v. Schid., wie es seinem kranken Pferde gehe. Er antwortete: „Ja, das d r a u t . . . dauert vielleicht noch einen Monat. „Das „draut“ mit seinem r war mir unverständlich, denn das r von dauert konnte unmöglich so gewirkt haben. Ich machte also R, v. S. aufmerksam, worauf er erklärte, er habe gedacht, „das ist eine traurige Geschichte.“ Der Sprecher hatte also zwei Antworten im Sinne und diese vermengten sich.“

§ 192

Es ist wohl unverkennbar, wie nahe die Rücksichtnahme auf die „vagierenden“ Sprachbilder, die unter der Schwelle des Bewußtseins stehen und nicht zum Gesprochenwerden bestimmt sind, und die Forderung, sich zu erkundigen, an was der Sprecher alles gedacht habe, an die Verhältnisse bei unseren „Analysen“ herankomrnen. Auch wir suchen unbewußtes Material, und zwar auf dem nämlichen Wege, nur daß wir von den Einfällen des Befragten bis zur Auffindung des störenden Elemente: einen längeren Weg durch eine komplexe Assoziationsreihe zurückzulegen haben.

§ 193

Ich verweile noch bei einem anderen interessanten Verhalten, für das die Beispiele M e rin g e r s Zeugnis ablegen. Nach der Einsicht des Autors selbst ist es irgend eine Ähnlichkeit eines Wortes im intendierten Satz mit Einem anderen nicht intendierten, welche dem letzteren gestattet, sich durch die Verursachung einer Entstehung, Mischbildung, Kompromißbildung (Kontamination) im Bewußtsein zur Geltung zu bringen.

§ 194

lagen, dauert, Vorschein. jagen, traurig, schwein.

§ 195

Nun habe ich in meiner Schrift über die „Traumdeutung” 2) dargetan, welchen Anteil die V e r d i c h t u n g s arbeit an der Entstehung

§ 196

1) Von mir hervorgehoben. 2) 'Die Traumdeutung. Leipzig und Wien, 1900.

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Das Versprechen. 3 5

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des sog. manifesten Trauminhaltes aus den latenten Traumgedanken hat. Irgend eine Ähnlichkeit der Dinge oder der Wortvorstellungen zwischen zwei Elementen des unbewußten Materials wird da zum An— laß genommen, um ein Drittes, eine Misch— oder Kompromißvorstellung zu schaffen, welche im Trauminhalt ihre beiden Komponenten vertritt, und die infolge dieses Ursprungs so häufig mit widersprechenden Einzel— bestimmungen ausgestattet ist. Die Bildung von Substitutionen und Kontaminationen beim Versprechen ist somit ein Beginn jener Ver« dichtungsarbeit, die wir in eifrigster Tätigkeit am Aufbau des Traumes beteiligt finden.

§ 200

In einem kleinen für weitere Kreise bestimmten Aufsatz (Neue freie Presse vom 23. Aug. 1900: „Wie man sich versprechen kann“) hat M e r i n g e r eine besondere praktische Bedeutung für gewisse Fälle von Wortvertauschungen in Anspruch genommen, für solche nämlich, in denen man ein Wort durch sein,Gegenteil dem Sinne nach ersetzt. „Man erinnert sich wohl noch der Art, wie vor einiger Zeit der Präsident des österreichischen Abgeordnetenhauses die Sitzung e r ö { i n e t e: „H0hß Haus! Ich konstatiere die Anwesenheit von so und soviel Herren und erkläre somit die Sitzung für „g es c hl o s s e n!“ Die allgemeine Heiterkeit machte ihn erst aufmerksam, und er verbesserte den Fehler. Im vorliegenden Falle wird die Erklärung wohl diese sein, daß der Präsident sich w ii ns c h t e , er wäre schon in der Lage, die Sitzung, von der wenig Gutes zu erwarten stand, zu schließen, aber — eine häufige Erscheinung — der Nebengedanke setzte sich wenigstens teilweise durch, und das Resultat war „geschlossen“ für „eröffnet”, also das Gegenteil dessen, was zu sprechen beabsichtigt war. Aber vielfältige Beobachtung hat mich belehrt, daß man gegensätzliche Worte überhaupt sehr häufig mit einander vertauscht; sie sind eben schon in unserem Sprachbewußtsein assoziiert, liegen hart nebeneinander und werden leicht irrtümlich aufgerufen.“

§ 201

Nicht in allen Fällen von Gegensatzvertauschung wird es so leicht, wie hier im Beispiel des Präsidenten, wahrscheinlich zu machen, daß das Versprechen infolge eines Widerspruchs geschieht, der sich im Innern des Redners gegen den geäußerten Satz erhebt. Wir haben den analogen Mechanismus in der Analyse des Beispiels: aliquis gefunden; dort äußerte sich der innere Widerspruch im Vergessen eines Wortes anstatt in seiner Ersetzung durch das Gegenteil. Wir wollen aber zur Ausgleichu.ng des Unterschiedes bemerken, daß das Wörtchen aliquis eines ähnlichen Gegensatzes, wie ihn „schließen“ zu „eröifnen“ ergibt, eigentlich nicht fähig ist, und das_„eröflnen“ als gebräuchlicher

§ 202

3.

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3 6 Das Versprechen.

§ 205

Bestandteil des Redeschatzes dem Vergessen nicht unterworfen sein kann.

§ 206

Zeigen uns die letzten Beispiele von M e rin g e r und M a y e r , daß die Sprechstörung ebensowohl durch den Einfluß vor- und nachklingender Laute und Worte desselben Satzes entstehen kann, die zum Ausgesprochenwerden bestimmt sind, wie durch die Einwirkung von Worten außerhalb des intendierten Satzes, d e r e n E r r e g u n g s i c h sonst nicht verraten hätte,sowerdenwir zunächst erfahren wollen, ob man die beiden Klassen von Versprechen scharf sondern, und wie man ein Beispiel der einen von einem Fall der anderen Klasse unterscheiden kann. An dieser Stelle der Erörterung muß man aber der Äußerungen Wund ts gedenken, der in seiner eben erscheinenden um— fassenden Bearbeitung der Entwicklungsgesetze der Sprache (Völker— psychologie, I. Band, I. Teil 5. 371 u. ff., 1900) auch die Erscheinungen des Versprechens behandelt. Was bei diesen Erscheinungen und anderen, ihnen verwandten, niemals fehlt, das sind nach \Vundt gewisse psychische Einflüsse. „Dahin gehört zunächst als positive Bedingung der ungehemmte Fluß der von den gesprochenen Leuten angeregten Laut- und Wortassoziationen. Ihm tritt der \Vegiall oder der Nachlaß der diesen Lauf hemmenden Wirkungen des Willens und der auch hier als Willensiunktion sich betätigenden Auf— merksamkeit als negatives Moment zur Seite. Ob jenes Spiel der Assoziation darin sich äußert, das ein kommender Laut antizipiert oder die vorausgegangenen reproduziert, oder ein gewohnheitsmäßig eingeübter zwischen andere eingeschaltet wird, oder endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken — alles dies bezeichnet nur Unterschiede in der Richtung und allenfalls in dem Spielraum der stattfindenden Assoziationen, nicht in der allgemeinen Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen zweifelhaft sein, welcher Form man eine bestimmte Störung zuzurechnen, oder ob man sie nicht mit größerem Rechte nach dem Prinzip der Komplikation der U r s a c h e n 1) auf ein Zusammentreffen mehrerer Motive zurückzuführen habe“ (S. 380 und 38r).

§ 207

Ich halte diese Bemerkungen Wundts für vollberechtigt und sehr instruktiv. Vielleicht könnte man mit größerer Entschiedenheit als W u n d t betonen, daß das positiv begünstigende Moment der Sprechfehler — der ungehemmte Fluß der Assoziationen —— und das

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1] Von mir hervorgehoben.

§ 209

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Das Versprechen. 37

§ 211

negative — der Nachlaß der hemmenden Aufmerksamkeit — regelmäßig miteinander zur Wirkung gelangen, so daß beide Momente nur zu verschiedenen Bestimmungen des nämlichen Vorganges werden. Mit dem Nachlaß der hemmenden Aufmerksamkeit tritt eben der ungehemmte Fluß der Assoziationen in Tätigkeit; noch unzweitelhaiter ausgedrückt: d u r c h diesen Nachlaß.

§ 212

Unter den Beispielen von Versprechen, die sich selbst gesammelt, finde ich kaum eines, bei dem ich die Sprechstörung einzig und allein auf das, was Wundt „Kontaktwirkung der Laute“ nennt, zurückfiihren müßte. Fast regelmäßig entdecke ich überdies einen störenden Einfluß von etwas a u B e r h a l b der intendierten Rede, und das Störende ist entweder ein einzelner, unbewußt gebliebener Gedanke, der sich durch das Versprechen kundgibt und oft erst durch eingehende Analyse zum Bewußtsein gefördert werden kann, oder es ist ein allgemeineres psychisches Motiv, welches sich gegen die ganze Rede richtet.

§ 213

Beispiel a): Ich will gegen meine Tochter, die beim Einbeißen in einen Apfel ein garstiges Gesicht geschnitten hat, zitieren:

§ 214

Der Affe gar possierlich ist,

§ 215

Zumal wenn er vom Apfel frißt. Ich beginne aber: Der Apfe . . . Dies scheint eine Kontamination von „Aiie“ und „Apfel“ (Kompromißbildung) oder kann auch als Antizipation des vorbereiteten „Apfel“ aufgefaßt werden. Der genauere Sachverhalt ist aber der: Ich hatte das Zitat schon einmal begonnen und mich das erste Mal dabei nicht versprochen. Ich versprach mich erst bei der Wiederholung, die sich als notwendig ergab, weil die An— gesprochene, von anderer Seite mit Beschlag belegt, nicht zuhörte. Diese Wiederholung, die mit ihr verbundene Ungeduld, des Satzes ledig zu werden, muß ich in die Motivierung des Sprechiehlers, der sich als eine Verdichtungsleistung darstellt, mit einrechnen.

§ 216

b) Meine Tochter sagt: ich schreibe der Frau S c h r e singer , . . Die Frau heißt 5 ehlesinger. Dieser Sprechfehler hängt wohl mit einer Tendenz zur Erleichterung der Artikulation zusammen, denn das 1 ist nach wiederholtem r schwer auszusprechen. Ich muß aber hinzu— fügen, daß sich dieses Versprechen bei meiner Tochter ereignete, nachdem ich ihr wenige Minuten zuvor „Apfe“ anstatt „Afie” vorgesagt hatte. Nun ist das Versprechen in hohem Maße ansteckend, ähnlich wie das Namenvergessen, bei dem M e r i n g e r und M a y e \“ diese Eigentümlichkeit bemerkt haben. Einen Grund für diese psychische Kontagiosität weiß ich nicht anzugeben.

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§ 219

c) „Ich klappe zusammen wie ein Tassenmescher—Taschenm e s s e r“, sagt eine Patientin zu Beginn der Behandlungsstunde, die Laute vertauschend, wobei ihr wieder die Artikulationsschwierigkeit („Wiener Weiber Wäscheiinnen waschen weiße Wäsche“ — „F ischflosse“ und ähnliche Prüfworte) zur Entschuldigung dienen kann. Auf den Sprechfehler aufmerksam gemacht, erwidert sie prompt: „Ja, das ist nur, weil Sie heute „Ernseht“ gesagt haben.“ Ich hatte sie wirklich mit der Rede empfangen: „Heute wird es also Ernst“ (weil es die letzte Stunde vor dem Urlaub werden sollte) und hatte des „Ernst“ scherz‘ hatt zu „Ernscht“ verbreitert. Im Laufe der Stunde verspricht sie sich immer wieder von neuem, und ich merke endlich, daß sie mich nicht blos imitiert, sondern daß sie einen besonderen Grund hat, im Unbewußten bei dem Worte Ernst als Namen zu verweilen.‘)

§ 220

(1) „Ich bin so verschnupft, ich kann nicht durch die A5 e n a t m e n — N a s e a t m e n“ passiert derselben Patientin ein anderes Mal. Sie weiß sofort, wie sie zu diesem Sprechfehler kommt. „Ich steige jeden Tag in der H as en au e rg a s s e in die Tramway, und heute früh ist mir während des Wartens auf den Wagen eingefallen, wenn ich eine Französin wäre, würde ich As enaue r aussprechen, denn die Franzosen lassen des H im Anlaut immer weg.“ Sie bringt dann eine Reihe von Reminiszenzen an Franzosen, die sie kennen gelernt hat, und langt nach weitläufigen Umwegen bei der Erinnerung an, daß sie als 14 jähriges Mädchen in dem kleinen Stück „Kurmärker und Picarde“ die Picarde gespielt und damals gebrochen Deutsch gesprochen hat. Die Zufälligkeit, daß in ihrem I,ogierhaus ein Gast aus Paris angekommen ist, hat die ganze Reihe von Erinnerungen wachgerufen. Die Lautvertauschung ist also Folge der Störung durch einen unbewußten Gedanken aus einem ganz fremden Zusammenhang.

§ 221

e) Ähnlich ist der Mechanismus des Versprechens bei einer anderen Patientin, die mitten in der Reproduktion einer längst verschollenen Kindererinnerung von ihrem Gedächtnis verlassen wird. An welche Körperstelle die vorwitzige und lüsterne Hand des Anderen gegriffen

§ 222

1) Sie stand nämlich, wie sich zeigte, unter dem Einfluß von unbewußten Gedanken über Schwangerschaft und Kinderverhütung. Mit den Worten: „zusammengeklappt wie ein Taschenmesser“, welche sie bewußt als Klage verbrachte, wollte sie die Haltung des Kindes im Mutterleibe beschreiben. Das Wort .,Ernst“ in meiner Anrede hatte sie an den Namen (5. Ernst) der bekannten Wiener Firma in der Kärthnerstraße gemahnt, welche sich als Verknuisstätte von Schutzmitteln gegen die Konzeption zu amoncieren pflegt.

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Das Versprechen. 39

§ 225

hat, will ihr das Gedächtnis nicht mitteilen. Sie macht unmittelbar darauf einen Besuch bei einer Freundin und unterhält sich mit ihr über Sommerwohnungen. Gefragt, wo denn ihr Häuschen in M, gelegen sei, antwortet sie: an der Berglende anstatt Berglehne.

§ 226

f) Eine andere Patientin, die ich nach Abbruch der Stunde frage, wie es ihrem Onkel geht, antwortet: „Ich weiß nicht, ich sehe ihn jetzt nur in ila g r a n t i“. Am nächsten Tage beginnt sie: „Ich habe mich recht geschämt, Ihnen eine so dumme Antwort gegeben zu haben. Sie müssen mich natürlich für eine ganz ungebildete Person halten, die beständig Fremdwörter verwechselt. Ich wollte sagen: en p as s a n t.“ Wir wußten damals noch nicht, woher sie die unrichtig augewendeten Fremdworte genommen hatte. In derselben Sitzung aber brachte sie als Fortsetzung des vortägigen Themas eine Reminiszenz. in welcher das Ertapptwerden i n fl a g r a n ti die Hauptrolle spielte. Der Sprechfehler am Tage vorher hatte also die damals noch nicht bewußt gewordene Erinnerung antizipiert.

§ 227

g) Gegen eine Andere muß ich an einer gewissen Stelle der Analyse die Vermutung aussprechen, daß sie sich zu der Zeit, von welcher wir eben handeln, ihrer Familie geschämt und ihrem Vater einen uns noch unbekannten Vorwurf gemacht habe. Sie erinnert sich nicht daran, erklärt es übrigens für unwahrscheinlich. Sie setzt aber das Gespräch mit Bemerkungen über ihre Familie iort: „Man muß ihnen das eine lassen: Es sind doch besondere Menschen, sie haben alle G e i z — ich wollte sagen Geis t“. Das war denn auch wirklich der Vorwurf, den sie aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatte. Daß sich in dem Ver-* sprechen gerade jene Idee durchdrängt, die man zurückhalten will, ist ein häufiges Vorkommnis (vgl. den Fall von M e rin g e r: zum Vorschwein gekommen). Der Unterschied liegt nur darin, daß die Person bei M e r in g e r etwas zurückhalten will, was ihr bewußt ist, während meine Patientin das Zurückgehaltene nicht weiß, oder wie man auch sagen kann, nicht weiß, daß sie etwas und was sie zurückhält.

§ 228

h) „Wenn Sie Teppiche kauien wollen, so gehen sie nur zu Kaufmann in der Mathäusgasse. Ich glaube, ich kann Sie dort auch empfehlen“, sagt mir eine Dame. Ich wiederhole: „Also bei M a t hä us . . . bei K a u f m a n 11} will ”ich sagen". Es sieht aus wie Folge von Zerstreutheit, wenn ich den einen Namen an Stelle des anderen wiederhole. Die Rede der Dame hat mich auch wirklich zerstreut gemacht, denn sie hat meine Aufmerksamkeit auf anderes gelenkt, was mir weit wichtiger ist als Teppiche. In der Mathäusgasse steht nämlich das Haus, in dem meine Frau als Braut gewohnt hatte. Der Eingang des

§ 229

§ 230

40 „ Das Versprechen.

§ 231

Hauses war in einer anderen Gasse, und nun merke ich, daß ich deren Namen vergessen habe und ihn mir erst auf einem Umweg bewußt machen muß. Der Name Mathäus, bei dem ich verweile, ist mir also ein Ersatzname für den vergessenen Namen der Straße. Er eignet sich besser dazu als der Name Kaufmann, denn Mathäus ist ausschließlich ein Personenname, was Kaufmann nicht ist, und die vergessene Straße heißt auch nach einem Personennamen: R a d e t z k y.

§ 232

i) Folgenden Fall könnte ich ebenso gut bei den später zu be— sprechenden „Irrtümern“ unterbringen, führe ihn aber hier an, weil die Lautbeziehungen, auf Grund deren die Wortersetzung erfolgt, ganz besonders deutlich sind. Eine Patientin erzählt mir ihren Traum: Ein Kind hat beschlossen, sich durch einen Schlangenbiß zu töten. Es führt den Entschluß aus. Sie sieht zu, wie es sich in Krämpien würdet usw. Sie soll nun die Tagesanknüpfung für diesen Traum finden. Sie erinnert sofort, daß sie gestern abends eine populäre Vorlesung über erste Hilfe bei Schlangenbissen mit angehört hat. Wenn ein Erwachsener und ein Kind gleichzeitig gebissen werden sind, so soll man zuerst die Wunde des Kindes behandeln. Sie erinnert auch, welche Vorschriften für die Behandlung der Vortragende gegeben hat. Es käme sehr viel darauf an, hatte er auch geäußert, von welcher Art man gebissen worden ist. Hier unterbreche ich sie und frage: Hat er denn nicht gesagt, daß wir nur sehr wenige giftige Arten in unserer Gegend haben, und welche die gefürchteten sind ? „ja, er hat die K la p p e r schlange hervorgehoben." Mein Lachen macht sie dann aufmerksam, 'daß sie etwas Unrichtigß gesagt hat, Sie korrigiert jetzt aber nicht etwa den Namen, sondern sie nimmt ihre Aussage zurück. „Ja so, die kommt ja bei uns nicht vor; er hat von der Viper gesprochen. Wie gerate ich nur auf die Klapperschlange ?“ Ich vermutete, durch die Einmengung der Gedanken, die sich hinter ihrem Traum verborgen hatten. Der Selbstmord durch Schlangenbiß kann kaum etwas anderes sein als eine Anspielung auf die schöne Kleopatra. Die weitgehende Lautähnlichkeit der beiden Worte, die Übereinstimmung in den Buchstaben K] 4 . p . . r in der nämlichen Reihenfolge und in dem betonten a sind nicht zu verkennen. Die gute Beziehung zwischen den Namen Klappe r schlange und K l e o p a t r a erzeugt bei ihr eine momentane Einschränkung des Urteils, derzuiolge sie an der Behauptung, der Vortragende habe sein Publikum in Wien in der Behandlung von Klapperschlangenbissen unterwiesen, keinen Anstoß nimmt. Sie weiß sonst so gut wie ich, daß diese Schlange nicht zur Fauna unserer Heimat gehört. Wir wollen es ihr nicht verübeln, daß sie an die Versetzung der Klapperschlange

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Das Versprechen. 4 1

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nach Egypten ebensowenig Bedenken knüpfte, denn wir sind gewöhnt, alles Außereuropäis'che, Exotische zusammenzuwerfen, und ich selbst mußte mich einen Moment besinnen, ehe ich die Behauptung aufstellte, daß die Klapperschlange nur der neuen Welt angehört.

§ 236

Weitere Bestätigungen ergeben sich bei Fortsetzung der Analyse. Die Träumerin hat gestern zum erstenmal die in der Nähe ihrer Wohnung aufgestellte A n t 0 n i u s gruppe von S t r a B e r besichtigt. Dies war also der zweite Traumanlaß (der erste der Vortrag über Schlangenbisse). In der Fortsetzung ihres Traumes wiegte sie ein Kind in ihren Armen, zu welcher Szene ihr das Gretchen einfällt. Weitere Einfälle bringen Reminiszenzen an „A r r i a und M e s s al in a“. Das Auttauchen so vieler Namen von Theaterstücken in den Traumgedanken läßt bereits vermuten, daß bei der Träumerin in früheren Jahren eine geheim gehaltene Schwärmerei für den Beruf der Schauspielerin bestand. Der Anfang des Traumes: „Ein Kind hat beschlossen, sein Leben durch einen Schlangenbiß zu enden“, bedeutet wirklich nichts anderes als: Sie hat sich als Kind vorgenommen, einst eine berühmte Schauspielerin zu werden. Von dem Namen M e s s a 1 i n a zweigt endlich der Gedankenweg ab, der zu dem wesentlichen Inhalt dieses Traumes fiihrt. Gewisse Vorfälle der letzten Zeit haben in ihr die Besorgnis erweckt, daß ihr einziger Bruder eine nicht standesgemäße Ehe mit einer Nicht»A r i e rin , eine M é s a 1 li a n c e eingehen könnte.

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k) Ein völlig harmloses, oder vielleicht uns nicht genügend in seinen Motiven aufgeklärtes Beispiel will ich hier wiedergeben, weil es einen durchsichtigen Mechanismus erkennen läßt:

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Ein in Italien reisender Deutscher bedarf eines" Riemens, um seinen schadhai't gewordenen Koffer zu umschnüren. Das Wörterbuch liefert ihm für Riemen das italienische Wort c 0 r r e g g i a. Dieses Wort werde ich mir leicht merken, meint er, indem ich an den Maler (C o r r e gg i o) denke. Er geht dann in einen Laden und verlangt: una r ibe ra.

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Es war ihm anscheinend nicht gelungen, das deutsche Wort in seinem Gedächtnis durch das italienische zu ersetzen, aber seine Bemühung war doch nicht gänzlich ohne Erfolg geblieben. Er wußte, daß er sich an den Namen eines Malers halten müsse, und so geriet er nicht auf jenen Malernarnen, der an das italienische Wort anklingt, sondern an einen andern, der sich dem deutschen Worte Rieme n annähert. Ich hätte dieses Beispiel natürlich ebensowohl beim Namenvergessen wie . hier beim Versprechen unterbringen können.

§ 240

Als ich Erfahrungen von Versprechen für die erste Auflage dieser Schrift sammelte, ging ich so vor, daß ich alle Fälle, die ich beobachten

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konnte, darunter also auch die minder eindrucksvollen, der Analyse unterzog. Seither haben manche Andere sich der amüsanten Mühe, Versprechen zu sammeln und zu analysieren, unterzogen und mich so in den Stand gesetzt, Auswahl aus einem reicheren Material zu schöpfen.

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]) Ein junger Mann sagt zu seiner Schwester: Mit den D. bin ich jetzt ganz zerfallen, ich grüße sie nicht mehr. Sie antwortet: Überhaupt eine saubere Li p p s c h a t t. Sie wollte sagen: S i p pschaft, aber sie drängte noch zweierlei in dem Sprechirrturn zusammen, daß ihr Bruder einst selbst mit der Tochter dieser Familie einen Flirt begonnen hatte, und daß es von dieser hieß, sie habe sich in letzter Zeit in eine ernsthafte unerlaubte Liebschaft eingelassen.

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m) Eine Anzahl von Beispielen entnehme ich einem Aufsatze meines Kollegen Dr. W. S tekel aus dem Berliner Tageblatt vom 4. Januar 1904, betitelt „Unbewußte Geständnisse“.

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„Ein nnangenehrnes Stück meiner unbewußten Gedanken enthüllt das folgende Beispiel. Ich schicke voraus, daß ich in meiner Eigenschaft als Arzt niemals auf meinen Erwerb bedacht bin und immer nur das Interesse des Kranken im Auge habe, was ja eine selbstverständliche Sache ist. Ich befinde mich bei einer Kranken, der ich nach schwerer Krankheit in einem Rekonvaleszentenstadium meinen ärztlichen Beistand leiste, Wir haben schwere Tage und Nächte mitgemacht. Ich bin glücklich, sie besser zu finden, male ihr die Wonnen eines Aufenthaltes in Abbazia aus und gebrauche dabei den Nachsatz: „Wenn Sie, was ich hoffe, das Bett bald n i c h t verlassen werden —”. Offenbar entsprang das einem egoistischen Motive des Unbewußten, diese wohlhabende Kranke noch länger behandeln zu dürfen, einem Wunsche, der meinem wachen Bewußtsein vollkommen fremd ist, und den ich mit Entrüstung zurückweisen würde.“

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11) Ein anderes Beispiel (Dr. W. S t e k el). „Meine Frau nimmt eine Französin für die Nachmittage auf und will, nachdem man sich über die Bedingungen geeinigt hatte, ihre Zeugnisse zurückbehalten. Die Französin bittet, sie behalten zu dürfen, mit der Motivierung: Je cherche encore pour les aprés-midis, pardon, pour les avant-midis. Offenbar hatte sie die Absicht, sich noch anderweitig nmzusehen und vielleicht bessere Bedingungen zu erhalten, —— eine Absicht, die sie auch ausgeführt hat."

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0) „Ich soll einer Frau die Leviten lesen, und ihr Mann, auf dessen Bitte das geschieht, steht lauschend hinter der Türe. Am Ende meiner Predigt, die einen sichtlichen Eindruck gemacht hatte, sagte ich:

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„Küß’ die Hand, gnädiger Herr!“ Dem Kundigen hatte ich damit verraten, daß die Worte an die Adresse des Herrn gerichtet waren, daß ich sie um seinetwillen gesprochen hatte.“

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p) Dr. S t e k el berichtet von sich selbst, daß er zu einer Zeit zwei Patienten aus Triest in Behandlung gehabt habe, die er immer verkehrt zu begrüßen pflegte. „Guten Morgen, Herr Peloni'.” sagte ich zu Askoli —— „Guten Morgen, Herr Askoli'.“ zu Peloni. Er war anfangs geneigt, dieser Verwechslung keine tiefere Motivierung zuzuschreiben, sondern sie durch die mehrfachen Gemeinsamkeiten der beiden Personen zu erklären.. Er ließ sich aber leicht überzeugen, daß die Namenvertauschung hier einer Art von Prahlerei entsprach, indem er durch sie jeden seiner italienischen Patienten wissen lassen konnte, er sei nicht der einzige Triestiner, der nach Wien gekommen sei, um seinen ärztlichen Rat zu suchen.

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q) Dr. S t e k el selbst in einer stürmischen Generalversammlung: Wir ,5 t r e i t e n (schreiten) nun zu Punkt24 der Tagesordnung.

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r) Ein Professor bei seiner Antrittsvorlesung: „Ich bin nicht g e n e i g t (geeignet), die Verdienste meines sehr geschätzten Vorgängers zu schildern.“

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5) Dr. S t e k e 1 zu einer Dame, bei welcher er Basedow’sche Krank

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heit vermutet: „Sie sind um einen Kr 0 pi (Kopf) größer als Ihre Schwester.“

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Bei dem psychotherapeutischen Verfahren, dessen ich mich zur Auflösung und Beseitigung neurotischer Symptome bediene, ist sehr häufig die Aufgabe gestellt, aus den wie zufällig vorgebrachten Reden und Einfällen des Patienten einen Gedankeuinhalt aufzuspiircn, der zwar sich zu verbergen bemüht ist, aber doch nicht umhin kann, sich in mannigialtigster Weise unabsichtlich zu verraten. Dabei leistet oft. das Versprechen die wertvollsten Dienste, wie ich an den überzeugend— sten und anderseits sonderbarsten Beispielen dartun könnte. Die Patienten sprechen z. B. von ihrer Tante und nennen sie konsequent, ohne das Versprechen zu merken, „meine Mutter“, oder bezeichnen ihren Mann als ihren „Bruder“. Sie machen mich auf diese Weise aufrnerksam, daß sie diese Personen miteinander „identifiziert", in eine Reihe gebracht haben, welche für ihr Geiühlsleben die Wiederkehr desselben Typus bedeutet. Oder: ein junger Mann von 20 Jahren stellt sich mir in der Sprechstunde mit den Worten vor: Ich bin der V a t e r des N. N., den Sie behandelt haben. — Pardon, ich will sagen, der Bruder; er ist ja um vier Jahre älter als ich. Ich verstehe, daß

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er durch dieses Versprechen ausdrücken will, daß er wie der Bruder durch die Schuld des Vaters erkrankt sei, wie der Bruder Heilung verlange, daß aber der Vater derjenige ist, dem die Behandlung am dring— h'chsten wäre. Andere Male reicht eine ungewöhnlich klingende Wortfügung, eine gezwungen erscheinende Ausdrucksweise hin, um den Anteil eines verdrängten Gedankens an der anders motivierten Rede des Patienten auizudecken.

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In groben wie in solchen feiner-en Redestörungen, die sich eben noch dem „Versprechen“ subsumieren lassen, finde ich also nicht den Einfluß von Kontakthungen der Laute, sondern den von Gedanken außerhalb der Redeintention maßgebend für die Entstehung des Ver— sprechens und hinreichend zur Aufhellung des zustande gekommenen Sprechfehlers. Die Gesetze, nach denen die Laute verändernd auf einander einwirken, möchte ich nicht anzweifeln; sie scheinen mir aber nicht wirksam genug, um für sich allein die korrekte Ausführung der Rede zu stören. In den Fällen, die ich genauer studiert und durchschant habe, stellen sie bloß den vorgebildeten Mechanismus dar, dessen sich ein ferner gelegenes psychisches Motiv bequemerweise bedient, ohne sich aber an den Machtbereich dieser Beziehungen zu binden. In einer großen Reihe von Substitutionen wird beim Versprechen von solchen Lautgesetzen völlig abgesehen. Ich befinde mich hierbei in voller Übereinstimmung mit Wun dt , der gleichfalls die Bedingungen des Versprechens als zusammengesetzte und weit über die Kontaktwirkungen der Laute hinausgehende vermutet.

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Wenn ich diese „entfernteren psychischen Einflüsse“ nach W u n d ts Ausdruck für gesichert halte, so weiß ich anderseits von keiner Abhaltung, um auch zuzugeben, daß bei beschleunigter Rede und einigermaßen abgelenkter Aufmerksamkeit die Beding'lmgen fürs Versprechen sich leicht auf das von M e rin g e r und M a y e r bestimmte Maß einschränken können. Bei einem Teil der von diesen Autoren gesammelten Beispiele ist wohl eine kompliziertere Auflösung wahrscheinlicher. Ich greife etwa den vorhin angeführten Fall heraus:

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Es war mir auf der Schwest... B r u s t so schwer.

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Geht es hier wohl so einfach zu, daß das s c h w e das gleichwertige B r u als Vorklang verdrängt? Es ist kaum abzuweisen, daß die Laute s chwe außerdem durch eine besondere Relation zu dieser Vordringlichkeit befähigt werden. Diese könnte dann keine andere sein als die Assoziation: Schwester —— Bruder, etwa noch: Brust der S c h w e s t e r , die zu anderen Gedankenkreisen hinüberleitet. Dieser

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hinter der Szene unsichtbare Helfer verleiht dem sonst harmlosen s chwe die Macht, deren Erfolg sich als Sprechfehler äußert.

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Für anderes Versprechen läßt sich annehmen, daß der Anklang an obszöne Worte und Bedeutungen das eigentlich Störende ist. Die absichtliche Entstehung und Verzerrung der Worte und Redensarten, die bei unartigen Menschen so beliebt ist, bezweckt nichts anderes, als beim harmlosen Anlaß an das Verpönte zu mahnen, und diese Spielerei ist so häufig, daB es nicht wunderbar wäre, wenn sie sich auch un— absichtlich und wider Willen durchsetzen sollte. Beispiele wie; Eischeißweibchen für Eiweißscheibchen, Apopos Fritzfür Apropos,LokuskapitälfürLotuskapitälusw. vielleicht noch die Alabiisterbachse (Alabasterbüchse) der hl. Magdalena gehören wohl in diese Kategorieß) — „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs auf zustoßen“, ist kaum etwas anderes als eine unbeabsichtigte Parodie als Nachklang einer beabsichtigten. Wenn ich der Chef wäre, zu dessen Feierlichkeit der Festredner diesenl.apsus beigetragen hätte, Würde ich wohl daran denken, wie klug die Römer gehandelt haben, als sie den Soldaten des triumphierenden Imperators gestatteten, den inneren Einspruch gegen den Geieierten in Spottliedern laut zu äußern. — M e rin g e r erzählt von sich selbst, daß er zu einer Person, die als die älteste der Gesellschaft mit dem vertraulichen Ehrennamen „Senexl“ oder „altes Senexl“ angesprochen wurde, einmal gesagt habe: „Prost Senex altesl!“ Er erschra.k selbst über diesen Fehler (5. so). Wir können uns vielleicht seinen Affekt deuten, wenn wir daran mahnen, wie nahe „Altesl“ an den Schimpf „alter Esel“ kommt. Auf die Verletzung der Ehrfurcht vor dem Alter (d. i., auf die Kindheit reduziert, vor dem Vater) sind große innere Strafen gesetzt.

§ 269

Ich hoffe, die Leser werden den Wertunterschied dieser Deutungen, die sich durch nichts beweisen lassen, und der Beispiele, die ich selbst gesammelt und durch Analysen erläutert habe, nicht vernachlässigen. Wenn ich aber im stillen immer noch an der Erwartung festhalte, auch die scheinbar einfachen Fälle von Versprechen würden sich auf Störung durch eine halb unterdrückte Idee 3. u B e r h a 1 b des intendierten Zusammenhanges zurückfiihren lassen, so verlockt mich dazu eine sehr beachtenswerte Bemerkung von M e rin g e r. Dieser Autor sagt, es it merkwürdig, daß niemand sich versprochen haben will.

§ 270

1) Bei einer meiner Patientinnen setzte sich das Versprechen als Symptom so lange fort, bis es auf den Kinderstreich, das Wort 1- u in i e r e 11 durch 11 rini eren zu ersetzen, zurückgeführt war.

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§ 273

Es gibt sehr gescheute und ehrliche Menschen, welche beleidigt sind, wenn man ihnen sagt, sie hätten sich versprochen. Ich getraue mich nicht, diese Behauptung so allgemein zu nehmen, wie sie durch das „niemand“ von M e rin g e r hingestellt wird. Die Spur Affekt aber, die am Nachweis des Versprechens hängt und offenbar von der Natur des Schämens ist, hat ihre Bedeutung. Sie ist gleichzusetzen dern Ärger, wenn wir einen vergessenen Namen nicht erinnern, und der Verwunderung über die Haltbarkeit einer scheinbar belanglosen Erinnerung, und weist allemale auf die Beteiligung eines Motivs am Zustandekommen der Störung hin.

§ 274

Das Verdrehen von Namen entspricht einer Schmähung, wenn es absichtlich g%chieht, und dürfte in einer ganzen Reihe von Fällen, wo es als unabsichtliches Versprechen auftritt, dieselbe Bedeutung haben. Jene Person, die nach M a y e r s Bericht einmal „F r e u d e r” sagte anstatt F r e u d , weil sie kurz darauf den Namen „B r e u e r“ vorbraéhte (S. 38), ein andermal von einer F r e u e r - B r e u (1 schen Methode (5.28) sprach, war wohl ein F achgenosse und von dieser Methode nicht sonderlich entzückt. Einen gewiß nicht anders aufzuklärenden Fall von Namensentstellung werde ich weiter unten beim Verschreiben mitteilenß) In diesen Fällen mengt sich als störendes Moment eine Kritik ein, welche bei Seite gelassen werden soll, weil sie gerade in dem Zeitpunkte der Intention des Redners nicht entspricht. In anderen und weit bedeutsameren Fällen ist es Selbstkritik, innerer Widerspruch gegen die eigene Äußerung, was zum Versprechen, ja zum Ersatz des Intendierten durch seinen Gegensatz nötigt. Man merkt dann mit Erstaunen, wie der Wortlaut einer Beteuerung die Absicht derselben aufhebt, und wie der Sprechfehler die innere Unaufrichtigkeit bloßgelegt hat?) Das Versprechen wird hier zu einem mimischen Ausdrucksmittel. freilich oftmals für den Ausdruck dessen, was man nicht sagen wollte, zu einem Mittel des Selbstverrats. 50 z. B. wenn ein Mann, der in seinen Beziehungen zum Weihe den sog. normalen Verkehr nicht bevorzugt, in ein Gespräch über ein für kokett erklärtes Mädchen mit den Worten einfällt: Im Umgang mit mir würde sie sich das

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1) Man kann auch bemerken, daß gerade Aristokraten besonders häufig die Namen von Ärzten. die sie konsultiert haben, entstellen, und darf daraus schließen, daß sie dieselben innerlich gering schätzen, trotz der Höflichkeit, mit welcher sie ihnen zu begegnen pflegen.

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2) Durch solches Versprechen brandmarkt :. B. An z en gru b er im :,G’wissenswurm" den henchlerischen Erbschleicher.

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Koettieren schon abgewöhnen. Kein Zweifel, daß es nur das andere Wort k o i t i e r e n sein kann, dessen Einwirkung auf das intendierte k o k e t t i e r e n solche Abänderung zuzuschreiben ist.

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Die zufällige Gunst des Sprachmaterials läßt oft Beispiele von Versprechen entstehen, denen die geradezu niederschmetternde Wirkung einer Enthüllung oder der volle komische Effekt eines Witzes zukommt.

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So in nachstehendem, vom Kollegen Dr. R e i t l e r beobachteten und mitgeteilten Falle:

§ 282

„Diesen neuen, reizenden Hut haben Sie wohl sich selbst aufgepatzt ?“ sagte eine Dame in bewunderndem Tone zu einer anderen.

§ 283

Die Fortsetzung des beabsichtigten Lobes mußte nunmehr unter— bleiben; denn die im stillen geübte Kritik, der Hutaui‘putz sei eine „Patzerei“, hatte sich denn doch viel zu deutlich in dem unliebsameu Versprechen geäußert, als daß irgend welche Phrasen konventioneller Bewunderung noch glaubwürdig erschienen wären.

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Oder in folgendem von Dr. M ax Graf erlebtem Beispiele:

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„In der Generalversammlung des ]ournalistenvereins „Concordia“ hält ein junges, stets geldbedüritiges Mitglied eine heftige Oppositionsrede und sagt in seiner Erregung: „Die Herren V o r s c h u B mitglieder“ (anstatt V o r stands- oder Aus 5 c h u B mitglieder). Dieselben haben das Recht, Darlehen zu bewilligen, und auch der junge Redner hat ein Darlehensgesuch eingebrach ,"

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Erheiternd wirkt das Versprechen, wenn es als Mittel benützt wird, um während eines Widerspruchas zu bestätigen, was dem Arzte in der psychoanalytischen Arbeit sehr willkommen sein mag. Bei einem meiner Patienten hatte ich einst einen Traum zu deuten, in welchem der Name ] a. u n e r vorkam. Der Träumer kannte eine Person dieses Namens, es ließ sich aber nicht finden, weshalb diese Person in den Zusammenhang des Traumes aufgenommen war, und darum wagte ich die Vermutung, es könnte bloß wegen des. Namens, der an den Schimpf Gau ner anklinge, geschehen sein. Der Patient widersprach rasch und energisch, versprach sich aber dabei und bestätigte meine Vermutung, indem er sich der Ersetzung ein zweites Mal bediente. Seine Antwort lautete: Das erscheint mir doch zu jewagt. Als ich ihn auf das Versprechen aufmerksam machte, gab er meiner Deutung nach.

§ 287

Wenn im ernsthaften Wettstreit ein solches Versprechen, welches die Redeabsicht in ihr Gegenteil verkehrt, sich dem einen der beiden Streiter ereignet, so setzt es ihn sofort in Nachteil gegen den anderen, der es selten versäumt, sich seiner verbesserten Position zu bedienen.

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Ein schönes Beispiel von Versprechen, welches nicht so sehr den Verrat des Redners als die Orientierung das außer der Szene stehenden Hörers bezweckt, findet sich im W alle n s t ein (Piccolomini, I. Aufzug, 5. Auftritt) und zeigt uns, daß der Dichter, der sich hier dieses Mittels bedient, Mechanismus und Sinn des Versprechens wohl gekannt hat. Max Piccolomini hat in der vorhergehenden Szene aufs leidenschaftlichste für den Herzog Partei genommen und dabei von den Seg— nungen des Friedens geschwärmt, die sich ihm auf seiner Reise enthüllt, während er die Tochter Wallensteins ins Lager begleitete, Er läßt seinen Vater und den Abgesandten des Hofes, Questenberg, in voller Bestiirzung zurück. Und nun geht der fünfte Auftritt weiter: Questenberg: O weh uns! Steht es so? Freund, und wir lassen ihn in diesem Wahn Dahingehen, rufen ihn nicht gleich Zurück, daß wir die Augen auf der Stelle Ihm öffnen?

§ 291

Octavio: (aus einem tiefen Nachdenken zu sich kommend)

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Mir hat er sie jetzt geöffnet,

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Und mehr erblick ich, als mich freut.

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Questenberg: Was ist es, Freund?

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Octavio: Fluch über diese Reise! Questenberg: Wieso? Was ist es? Octavia: Kommen Sie! Ich muß

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Sogleich die unglückselige Spur verfolgen, Mit meinen Augen sehen —— kommen Sie —— (will ihn fortführen). Questenberg: Was denn? Wohin? Octavia (pressiert): Zu ihr! Questenberg: Zu — Octavio (korrigiert sich): Zum Herzog! Gehen wir! usw. Dies kleine Versprechen: Zu ihr anstatt: Zu ihm soll uns verraten, daß der Vater das Motiv der Parteinahme seines Sohnes durchschaut hat, während der Höfling klagt, „daß er in lauter Rätseln zu ihm rede“.

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Die hier vertretene Auffassung des Versprechens hält übrigens der Probe an dem Kleinsten Stand. Ich habe wiederholt zeigen können, daß die geringfügigsten und naheliegendsten Fälle von Redeirrung ihren guten Sinn haben und die nämliche Lösung zulassen wie die auffälligeren Beispiele. Eine Patientin, die ganz gegen meinen Willen, aber mit starkem eigenem Vorsatz, einen kurzen Ausflug nach Budapest unternimmt, rechtfertigt sich vor mir, sie gehe ja nur für drei T a g e

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Das Versprechen. 49

§ 300

dahin, verspricht sich aber und sagt: nur für drei Wochen. Sie verrät, daß sie mir zum Trotze lieber drei Wochen als drei Tage in jener Gesellschaft bleiben will, die ich als unpassend für sie erachte. — Ich soll mich eines Abends entschuldigen, daß ich meine Frau nicht vom Theater abgeholt und sage: Ich war 10 Minuten n ach ro Uhr beim Theater. Man korrigiert mich: Du willst sagen: v or 10 Uhr. Natürlich wollte ich v o r 10 Uhr sagen. N a c h 10 Uhr wäre ja keine Entschuldigung. Man hatte mir gesagt, auf dem Theaterzettel stehe: Ende vor 10 Uhr. Als ich beim Theater anlangte, fand ich das Vestibiil verdunkelt und das Theater entleert. Die Vorstellung war eben früher zu Ende gewesen, und meine Frau hatte nicht auf mich gewartet. Als ich auf die Uhr sah, fehlten noch 5 Minuten zu 10 Uhr. Ich nahm mir aber vor, meinen Fall zu Hause günstiger darzustellen und zu sagen, es hätten noch 10 Minuten zur zehnten Stunde gefehlt. Leider verdarb mir das Versprechen die Absicht und stellte meine Unautrichtigkeit bloß, indem es mich selbst mehr bekennen ließ, als ich zu bekennen hatte.

§ 301

Man gelangt von hier aus zu jenen Redestönmgen, die nicht mehr als Versprechen beschrieben werden, weil sie nicht das einzelne Wort, sondern Rhythmus und Ausführung der ganzen Rede beeinträchtigen, wie z. B. das Stammein und Stottern der Verlegenheit. Aber hier wie dort ist es der innere Konflikt, der uns durchdie Störung der Rede verraten wird. Ich glaube wirklich nicht, daß jemand sich versprechen würde in der Audienz bei Seiner Majestät, in einer emstgemeinten Liebeswerbung, in einer Verteidigungsrede um Ehre und Namen vor den Ge— schworenen, kurz in all den Fällen, in denen man gen z (1 a b ei is t , wie wir so bezeichnend sagen. Selbst bis in die Schätzung des Stils, den ein Autor schreibt, dürfen wir und sind wir gewöhnt, das Erklärungeprinzip zu tragen, welches wir bei der Ableitung des einzelnen Sprech— fehlers nicht entbehren können. Eine klare und unzweideutige Schreibweise belehrt uns, daß der Autor hier mit sich einig ist, und wo wir ge— zwungenen und gewundenen Ausdruck finden, der, wie so richtig ge— sagt wird, nach mehr als einem Scheine schielt, da können wir den Anteil einen nicht genugsam erledigten, komplizierenden Gedankens erkennen, oder die erstickte Stimme der Selbstkritik des Autors heraushören.

§ 302

Fund, Psychnpsthologie den Magdebm. 4

§ 303

§ 304

VI.

§ 305

Verlesen und Verschreiben.

§ 306

Daß für die Fehler im Lesen und Schreiben die nämlichen Gesichtspunkte und Bemerkungen Geltung haben, wie für die Sprechfehler, ist bei der inneren Verwandtschaft dieser Funktionen nicht zu verwundern. Ich werde mich hier darauf beschränken, einige sorgfältig analysierte Beispiele mitzuteilen, und keinen Versuch unternehmen, das Ganze der Erscheinungen zu umfassen.

§ 307

A. Verlesen.

§ 308

a) Ich durchblättere im Caféhaus eine Nummer der „Leipziger Illustrierten", die ich schräg vor mir halte, und lese als Unterschrift eines sich über die Seite erstreckenden Bildes: Eine Hochzeitsfeier in der Odyssee. Aufmerksam geworden und verwundert rücke ich mir das Blatt zurecht und korrigiere jetzt: Eine Hochzeitsfeier an der Ostsee. Wie komme ich zu diesem unsinnigen Lesefehler? Meine Gedanken lenken sich sofort auf ein Buch von Ruths „Experimentaluntersuchungen über Musikphantome usw.“, das mich in der letzten Zeit viel beschäftigt hat, weil es nahe an die von mir behandelten psychologischen Probleme streift. Der Autor verspricht für nächste Zeit ein Werk, welches „Analyse und Grundgesetze der Traumphänomene“ heißen wird. Kein Wunder, daß ich, der ich eben eine „Traumdeutung“ veröffentlicht habe, mit größter Spannung diesem Buche entgegensehe. In der Schrift Ruths über Musikphantome fand ich vorne im Inhaltsverzeichnis die Ankündigung des ausführlichen induktiven Nachweises, daß die althellenischen Mythen und Sagen ihre Hauptwurzeln in Schlummer- und Musikphantomen, in Traumphänomenen und auch in Delirien haben. Ich schlug damals sofort im Texte nach, um herauszufinden, ob er auch um die Zurückführung der Szene, wie Odysseus vor Nausikaa erscheint, auf den gemeinen Nacktheitstraum wisse. Mich hatte ein Freund auf die schöne Stelle in G. Kellers „Grünem Heinrich“ aufmerksam gemacht, welche diese Episode der Odyssee als Objektivierung der Träume des fern von der Heimat irrenden Schiffers aufklärt, und ich hatte die Beziehung zum Exhibitionstraum der Nacktheit hinzugefügt (S. 170). Bei Ruths entdeckte ich nichts davon. Mich beschäftigen in diesem Falle offenbar Prioritätsgedanken.

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b) Wie kam ich dazu, eines Tages aus der Zeitung zu lesen: „Im Faß durch Europa, anstatt: zu Fuß?“ Diese Auflösung bereitete

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Verlwen und Verschleiben. 51

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mir lange Zeit Schwierigkeiten. Die nächsten Einfälle deuteten allerdings: Es mi'ßse das Faß des Diogenes gemeint sein, und in einer Kunstgeschichte hatte ich unlängst etwas über die Kunst zur Zeit Alexanders gelesen. Es lag dann nahe, an die bekannte Rede Alexanders zu denken: Wenn ich nicht Alexander wäre, möchte ich Diogenes sein. Auch schwebte mir etwas von einem gewissen H e r m a n n Z e i t u n g vor, der in eine Kiste verpackt sich auf Reisen begeben hatte. Aber weiter wollte sich der Zusammenhang nicht herstellen, und es gelang mir nicht, die Seite in der Kunstgeschichte wieder aufzuschlagen, auf welcher mir jene Bemerkung ins Auge gefallen war. Erst Monate später fiel mir das beiseite geworfene Rätsel plötzlich wieder ein, und diesmal zugleich mit seiner Lösung. Ich erinnerte mich an die Bemerkung in einem Zeitungsartikel, was für sonderbare Arten der Bei 6 r d e r u n g die Leute jetzt wählten, umfnach Paris zur Weltausstellung zu kommen, und dort war auch, wie ich glaube, scherzhaft mitgeteilt werden, daß irgend ein Herr die Absicht habe, sich von einem anderen Herrn in einem F a B nach Paris rollen zu lassen. Natürlich hätten diese Leute kein anderes Motiv, als durch solche Tor— heiten Aufsehen zu machen. Hermann Zeitung war in der Tat der Name desjenigen Mannes, der für solche außergewöhnliche Beförderungen das erste Beispiel gegeben hatte. Dann fiel mir ein, daß ich einmal einen Patienten behandelt, dessen ln'ankhafte Angst vor der Zeitung sich als Reaktion gegen den krankhatten Ehr g e i z auflöste, sich gedruckt und als berühmt in der Zeitung erwähnt zu sehen. Der mazedonische Alexander war gewiß einer der ehrgeizigsten Männer, die je gelebt haben. Er klagte ja, daß er keinen Horn : finden werde, der seine Taten besinge. Aber wie konnte ich nur nich t daran denken, daß ein anderer Alexander mir näher stehe, daß Alexander der Name meines jüngeren Bruders ist! Ich fand nun sofort den anstößigen und der Verdrängung bedürftigen Gedanken in betreff dieses Alexanders und die aktuelle Veranlassung für ihn. Mein Bruder ist Sachverständiger in Dingen, die Tarife und T r a n s p o r t e angehen, und sollte zu einer gewissen Zeit für seine Lehrtätigkeit an einer kommerziellen Hochschule den Titel Professor erhalten. Für die gleiche B e t 6 r d e r u n g war ich an der Universität seit mehreren Jahren vorgeschlagen, ohne sie erreicht zu haben. Unsere Mutter äußerte damals ihr Beiremden darüber, daß ihr kleiner Sohn eher Professor werden sollte als ihr großer. So stand es zur Zeit, als ich die Lösung für jenen Leseirrtum nicht finden konnte. Dann erhoben sich Schwierigkeiten auch bei meinem Bruder; seine Chancen, Professor 4.

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52 , Verlesen und Verschreiben.

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zu werden, fielen noch unter die meinigen. Da aber wurde mit plötzlich der Sinn jenes Verlesens offenbar; es war, als hätte die Minderung in den Chancen des Bruders ein Hindernis beseitigt. Ich hatte mich so benommen, als läse ich die Ernennung des Bruders in der Zeitung und sagte mir dabei: Merkwürdig, daß man wegen solcher Dummheiten (wie er sie als Beruf betreibt) in der Zeitung stehen (d. h. zum Professor ernannt werden) kann! Die Stelle über die hellenistisehe Kunst im Zeitalter Alexanders schlug ich dann ohne Mühe auf und überzeugte mich zu meinem Erstaunen, daß ich während des vorherigen Suchens wiederholt auf derselben Seite gelesen und jedesmal wie unter der Herrschaft einer negativen Halluzination den betreffenden Satz übergangen hatte. Dieser enthielt übrigens gar nichts, war mir Aufklärung brachte, was des Vergessens wert gewesen wäre. Ich meine, das Symptom des Nichtanffindens im Buche ist nur zu meiner Irreführung geschaffen werden. Ich sollte die Fortsetzung der Gedankenverknüpfung dort suchen, wo meiner Nachforschung ein Hindernis in den Weg gelegt war, also in irgend einer Idee über den mazedonischen Alexander, und sollte so vom gleichnamigen Bruder sicherer abgelenkt werden. Dies gelang auch vollkommen; ich richtete alle meine Be— mühungen darauf, die verlorene Stelle in jener Kunstgeschichte wieder aufzufinden.

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Der Doppelsinn des Wortes „B e f ö r d e r u n g“ ist in diesem Falle die Assoziationsbriicke zwischen den zwei Komplexen, dem unwichtigen, der durch die Zeitungsnotiz angeregt wird, und dem interessanteren, aber anstößigen, der sich hier als Störung des zu Lesenden geltend machen darf. Man ersieht aus diesem Beispiel, daß 5 nicht immer leicht wird, Vorkommnisse wie diesen Leseiehler aufzuklären. Gelegentlich ist man auch genötigt, die Lösung des Rätsels auf eine günstigere Zeit zu verschieben. Je schwieriger sich aber die Lösungsarbeit erweist, desto sicherer darf man erwarten, daß der endlich aufgedeckte störende Gedanke von unserem bewußten Denken als fremdartig und gegensätzlich beurteilt werden wird.

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(1) Ich erhalte eines Tages einen Brief aus der Nähe Wiens, der mir eine ersehiitternde Nachricht mitteilt. Ich rufe auch sofort meine Frau an und fordere sie zur Teilnahme daran auf, daß di e arme Wilhelm M. so schwer erkrankt und von den Ärzten aufgegeben ist. An den Worten, in welche ich mein Bedauern kleide, muß aber etwas ialseh geklungen haben, denn meine Frau wird mißtrauisch, verlangt den. Brief zu sehen und äußert als ihre Überzeugung, so könne es nicht darin stehen, denn niemand nenne eine Frau nach dem Namen des

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Verlegen und Verschrelhen. 5 3

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Mannes, und überdies sei der Korrespondentin der Vorname der Frau sehr wohl bekannt. Ich verteidige meine Behauptung hartnäckig und verweise auf die so gebräuchlichen Visitkarten, auf denen eine Frau sich selbst mit dem Vornamen des Mannes bezeichnet. Ich muß endlich den Brief zur Hand nehmen, und wir lesen darin tatsächlich „der arme W. M.“, ja sogar was ich ganz übersehen hatte: „der arme Dr. W. M.“. Mein Versehen bedeutete also einen, sozusagen krampfhatten, Versuch, die traurige Neuigkeit von dem Marine auf die Frau zu überwälzen. Der zwischen Artikel, Beiwort und Name eingeschobene Titel paßte schlecht zu der Forderung, es müßte die Frau gemeint sein. Darum wurde er auch beim Lesen beseitigt. Das Motiv dieser Verfälschung war aber nicht, daß mir die Frau weniger sympathisch wäre als der Mann, sondern das Schicksal des armen Mannes hatte meine Besorgnisse um eine andere, mir nahe stehende Person rege gemacht, welche eine der mir bekannten Krankheitshedingungen mit diesem Falle gemeinsam hatte.

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(1) Ärgerlich und lächerlich ist mir ein Verlesen, dem ich sehr häufig unterliege, wenn ich in den Ferien in den Straßen einer fremden Stadt spaziere. Ich lese dann jede Ladentaiel, die dem irgendwie

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entgegenkommt als: Antiquitäten. Hierin äußert sich die Abenteuerlust des Sammlers.

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B. Verschreiben.

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a) Auf einem Blatte, welches kurze tägliche Aufzeichnungen meist von geschäftlichern Interesse enthält, finde ich zu meiner Überraschung mitten unter den richtigen Daten des Monats September eingeschlossen das verschriebene Datum „Donnerstag, den 20. 0 .“ Es ist nicht schwierig, diese Antizipation autzuklären, und zwar als Ausdruck eines Wunsches. Ich bin wenige Tage vorher frisch von der Ferienreise zurückgekehrt und fühle mich bereit für ausgiebige ärztliche Beschäftigung, aber die Anzahl der Patienten ist noch gering. Bei meiner Ankunft fand ich einen Brief von einer Kranken vor, die sich für den 20. 0 k t o b e r ankündigte. Als ich die gleiche Tagesmhl im September niederschrieb, kann ich wohl gedacht haben: Die X. sollte doch schon da sein; wie schade um den vollen Monat! und in diesem Gedanken rückte ich das Datum vor. Der störende Gedanke ist in diesem Falle kaum ein anstößiger zu nennen; dafür weiß ich auch sofort die Auflösung des Schreibfehlers, nachdem ich ihn erst bemerkt habe. Ein ganz analoges und ähnlich motiviertes Verschreiben wieder. hole ich dann im Herbst des nächsten Jahres.

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54 Verlesen und Verschreibeu.

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b) Ich erhalte die Korrektur meines Beitrags zum Jahresbericht für Neurologie und Psychiatrie und muß natürlich mit besonderer Sorgfalt die Autornamen revidieren, die, weil verschiedenen Nationen angehörig, dem Setzer die größten Schwierigkeiten zu bereiten pflegen. Manchen fremd klingenden Namen finde ich wirklich noch zu korrigieren, aber einen einzigen Namen hat merkwürdiger Weise der Setzer g e g e n mein Manuskript verbessert und zwar mit vollem Rechte. Ich hatte nämlich B u c k r h a r d geschrieben, woraus der Setzer B u r c k h a r d erriet. Ich hatte die Abhandlung eines Geburtshelfers über den Einfluß der Geburt auf die Entstehung der Kinderlähmungen selbst als verdienstlich gelobt, wüßte auch nichts gegen deren Autor zu sagen, aber den gleichen Namen wie er trägt auch ein Schriftsteller in Wien, der mich durch eine unverständige Kritik über meine „Traumdeutung“ geärgert hat. Es ist gerade so, als hätte ich mir bei der Niederschrift des Namen B u r c k h a r d , der den Geburtshelfer bezeichnete, etwas Arges über den anderen B., den Schriftsteller, gedacht, denn Namenverdrehen bedeutet häufig genug, wie ich schon beim Versprechen erwähnt habe, Schmähungß)

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c) Ein anscheinend ernsterer Fall von Verschreiben, den ich vielleicht mit ebensoviel Recht dem „Vergreifen“ einordnen könnte: Ich habe die Absicht, mir aus der Postsparkassa die Summe von 300 Kronen kommen zu lassen, die ich einem zum Kurgebrauch abwesenden Verwandten schicken will. Ich bemerke dabei, daß mein Konto auf 4380 Kr. lautet, und nehme mir vor, es jetzt auf die runde Summe von 4000 Kr. herunterzusetzen, die in der nächsten Zeit nicht angegriffen werden soll. Nachdem ich den Check ordnungsmäßig ausgeschrieben und die der Zahl entsprechenden Ziffern ausgeschnitten habe, merke ich plötzlich, daß ich nicht 380 Kr., wie ich wollte, sondern gerade 438 bestth habe, und erschrecke über die Unzuverlässigkeit meines Tuns. Den Schreck erkenne ich bald als unberechtigt; ich bin ja jetzt nicht ärmer geworden, als ich vorher war. Aber ich muß eine ganze Weile darüber nachsinnen, welcher Einfluß hier meine erste Intention gestört hat, ohne sich meinem Bewußtsein anzukündigen. Ich gerate zuerst auf falsche Wege, will

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1) Vgl. etwa die Stelle im _] ulius Caesar III. 3:

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C i n n a. Ehrlich, mein Name ist Cinna.

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B ü r g er. Reißt ihn in Stücke! er ist ein Verschworener.

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C i n n a. Ich bin Cinna der Poeti Ich bin nicht Cinna der Verschworene.

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B ü r 3 er. Es tut nichts; sein Name ist Cinna, reißt ihm den Namen aus dem Herzen und laßt ihn lauten.

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Verlesen und Verschreiben. 5 5

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die beiden Zahlen, 380 und 438, von einander abziehen, weiß aber dann nicht, was ich mit der Differenz anfangen soll. Endlich zeigt mir ein plötzlicher Einfall den wahren Zusammenhang. 438 entspricht ja. z e h n P r o z e n t des ganzen Konto von 4380 Kr.! 10% Rabatt hat man aber beim B u c h ä n d 1 er ! Ich besinne mich, daß ich vor wenigen Tagen eine Anzahl medizinischer Werke, die ihr Interesse für mich verloren haben, ausgesucht, um sie dem Buchhändler gerade für 300 Kronen anzubieten. Er fand die Forderung zu hoch und ver— sprach, in den nächsten Tagen endgütige Antwort zu sagen. Wenn er mein Angebot annimmt, 50 hat er mir gerade die Summe ersetzt, welche ich für den Kranken verausgaben soll. Es ist nicht zu verkennen, daß es mir um diese Ausgabe leid tut. Der Afiekt bei der Wahrnehmung meines Irrtums läßt sich besser verstehen als Furcht, durch solche Ausgaben arm zu werden. Aber beides, das Bedauern wegen dieser Ausgabe und die an sie geknüpfte Verarmungsangst, sind meinem Bewußtsein völlig fremd ; ich habe das Bedauern nicht verspürt, als ich jene Summe zusagte, und fände die Motivierung desselben lächerlich. Ich würde mir eine solcheRegung wahrscheinlich gar nicht zutrauen, wenn ich nicht durch die Übung in Psychoanalysen bei Patienten mit dem Verdrängten im Seelenleben ziemlich vertraut wäre, und wenn ich nicht vor einigen Tagen einen Traum gehabt hätte, welcher ,die nämliche Lösung er— forderte.“

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d) Nach meinem Kollegen Dr. W. S t ek el zitiere ich folgenden Fall, für dessenAuthenzität ich gleichfalls einstehen kann: „Ein geradezu unglaubliches Beispiel im Verschreiben und Verlesen ist in der Redaktion eines verbreiteten Wochenblattes vorgekommen. Die betreffende Leitung wurde öffentlich als „käuflich“ bezeichnet; es galt, einen Artikel der Abwehr und Verteidigung zu schreiben. Das geschah auch — mit großer Wärme und großem Pathos. Der Chefredakteur des Blattes las den Artikel, der Verfasser selbstverständlich mehrmals im Manuskript, dann noch im Bürstenabzuge, alle waren sehr befriedigt. Plötzlich meldet sich der Korrektor, und macht aut einen kleinen Fehler aufmerksam, der der Aufmerksamkeit aller entgangen war. Dort stand es ja deutlich: Unsere Leser werden uns das Zeugnis ausstellen, daß wir immer in e i g e n n ü t zig s t e r Weise für das Wohl der Allgemeinheit eingetreten sind. Selbstverständlich sollte es u n e i g e n n ü t zig —

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1) Es ist dies jener Traum, den ich in einer kurzen Abhandlung. „Über den Traum“, No. VIII der „Grenzfragen des Nerven- und Seeleflebans", herausgegeben von. Löwenfeld_und Kurella, 1901. zum Paradigma genommen habe.

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56 Verlesen und Ver-schreiben.

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s t e r Weise heißen. Aber die wahren Gedanken brachen mit elemen— tarer Gewalt durch die pathetische Rede ”

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Wu 11 dt gibt eine bemerkenswerte Begründung für die leicht zu bestätigende Tatsache, daß wir uns leichter verschreiben als versprechen (1. c. S. 374). „Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung mit einander in Einklang zu bringen. Wird die den Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch mecha— nische Ursachen verlangsamt wie beim Schreiben . . . ., so treten daher solche Antizipationen besonders leicht ein.“

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Die Beobachtung der Bedingungen, unter denen das Verlesen auftritt, gibt Anlaß zu einem Zweifel, den ich nicht unerwähnt lassen möchte, weil er nach meiner Schätzung der Ausgangspunkt einer frucht— baren Untersuchung werden kann. Es ist jedermann bekannt, wie häufig beim Vorles e n die Aufmerksamkeit des Lesenden den Text verläßt und sich eigenen Gedanken zuwendet. Die Folge dieses Abschweifens der Aufmerksamkeit ist nicht selten, daß er überhaupt nicht anzugeben weiß, was er gelesen hat, wenn man ihn im Vorlesen unterbricht und befragt. Er hat dann wie automatisch gelesen, aber er hat fast immer richtig vorgelesen. Ich glaube nicht, daß die Lese. fehler sich unter solchen Bedingungen merklich vermehren. Von einer ganzen Reihe von Funktionen sind wir auch gewöhnt, anzunehmen, daß sie automatisch, also von'kaum bewußter Aufmerksamkeit begleitet, 'am exaktesten vollzogen werden. Daraus scheint zu folgen, daß die Aufmerksamkeitsbedingung der Sprech-, Lase- und Schreibfehler anders zu bestimmen ist, als sie bei W u n d t lautet (Wegfall oder Nachlaß der Aufmerksamkeit). Die Beispiele, die wir der Analyse unterzogen haben, gaben uns eigentlich nicht das Recht, eine quantita— tive Verminderung der Aufmerksamkeit anzunehmen; wir fanden, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist, eine S t 6 r u n g der Aufmerksam« keit durch einen fremden, Anspruch erhebenden Gedanken.

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VII.

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Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

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Wenn jemand geneigt sein sollte, den Stand unserer gegenwärtigen Kenntnis vom Seelenleben zu überschätzen, so brauchte man ihn nur an die Gedächtnisfunktion zu mahnen, um ihn zur Bescheidenheit zu zwingen. Keine psychologische Theorie hat es noch vermocht, von dem fundamentalen Phänomen des Erinnerns und Vergessens im Zusammenhange Rechenschaft zu geben; ja, die vollständige Zergliederung dessen, was man als tatsächlich beobachten kann, ist noch kaum in Angriff genommen. Vielleicht ist uns heute das Vergessen rätselhafter geworden als das Erinnern, seitdem uns das Studium des Traumes und pathologischer Ereignisse gelehrt hat, daß auch das plötzlich wieder im Bewußtsein auftauchen kann, was wir für längst vergessen geschätzt haben.

§ 347

Wir sind allerdings im Besitze einiger weniger Gesichtspunkte, für welche wir allgemeine Anerkennung erwarten. Wir nehmen an, daß das Vergessen ein spontaner Vorgang ist, dem man einen gewissen zeitlichen Ablauf zuschreiben kann. Wir heben hervor, daß beim Vergessen eine gewisse Auswahl unter den dargebotenen Eindrücken stattfindet und ebenso unter den Einzelheiten eines jeden Eindrucks oder Erlebnisses. Wir kennen einige der Bedingungen für die Haltbarkeit im Gedächtnis und für die Erweckbarkeit dessen, was sonst vergessen würde. Bei unzähligen Anlässen im täglichen Leben können wir aber bemerken, wie unvollständig und unbefriedigend unsere Erkenntnis ist. Man höre zu, wie zwei Personen, die gemeinsam äußere Eindrücke empfangen, z. B. eine Reise mit einander gemacht haben, eine Zeitlang später ihre Erinnerungen austauschen. Was dem einen fest im Gedächtnis geblieben ist, das hat der andere oft vergessen, als ob es nicht geschehen wäre, und zwar ohne daß man ein Recht zur Behauptung hätte, der Eindruck sei für den einen psychisch bedeutsamer gewesen als für den anderen. Eine ganze Anzahl der die Auswahl fürs Gedächtnis bestimmenden Momente entzieht sich offenbar noch unserer Kenntnis.

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In der Absicht, zur Kenntnis der Bedingungen des Vergessens einen kleinen Beitrag zu liefern, pflege ich die Fälle, in denen mir das Vergessen selbst widerfährt, einer psychologischen Analyse zu unterziehen. Ich beschäftige mich in der Regel nur mit einer gewissen Gruppe dieser Fälle, mit jenen nämlich, in denen das Vergessen mich in Erstaunen setzt, weil ich nach meiner Erwartung das Betreffende wissen sollte. Ich will noch bemerken, daß ich zur Vergeßlichkeit im allge

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58 Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

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meinen (für Erlebtes, nicht für Gelerntes!) nicht neige, und daß ich durch eine kurze Periode meiner Jugend auch außergewöhnlicher Gedächtnisleistungen nicht unfähig war. In meiner Schulknabenzeit war es mir selbstverständlich, die Seite des Buches, die ich gelesen hatte, auswendig hersagen zu können, und kurz vor der Universität war ich imstande, populäre Vorträge wissenschaftlichen Inhalts unmittelbar nachher fast wortgetreu niederzuschreiben. In der Spannung vor dem letzten medizinischen Rigorosum muß ich noch Gebrauch von dem Rest dieser Fähigkeit gemacht haben, denn ich gab in einigen Gegen— ständen den Prüfern wie automatisch Antworten, die sich getreu mit dem Text des Lehrbuches deckten, welchen ich doch nur einmal in der größten Hast durchflogen hatte.

§ 351

Die Verfügung über den Gedächtnisschatz ist seither bei mir immer schlechter geworden, doch habe ich mich bis in die letzte Zeit hinein überzeugt, daß ich mit Hilfe eines Kunstgrifies weit mehr erinnern kann, als ich mir sonst zutraue. Wenn z. B. ein Patient in der Sprechstunde sich darauf beruft, daß ich ihn schon einmal gesehen habe, und ich mich weder an die Tatsache noch an den Zeitpunkt erinnern kann, so helfe ich mir, indem ich rate, d. h. mir rasch eine Zahl von Jahren, von der Gegenwart an gerechnet, einfallen lasse. Wo Aufschreibungen oder die sichere Angabe des Patienten eine Kontrolle meines Einfalla ermöglichen, da zeigt es sich, daß ich selten um mehr als ein Halbjahr bei über 10 Jahren geirrt habe)) Ähnlich, wenn ich einen entfernteren Bekannten treffe, den ich aus Höflichkeit nach seinen kleinen Kindern frage. Erzählt er von den Fortschritten derselben, so suche ich mir einfallen zu lassen, wie alt das Kind jetzt ist, kontrolliere durch die Auskunft des Vaters und gehe höchstens um einen Monat, bei älteren Kindern um ein Vierteljahr fehl, obwohl ich nicht angeben kann, welche Anhaltspunkte ich für diese Schätzung hatte. Ich bin zuletzt so kühn geworden, daß ich meine Schätzung immer spontan vorbringe, und laufe dabei nicht Gefahr, den Vater durch die Bloßstellung meiner Unwissenheit über seinen Sprößling zu kränken. Ich erweitere so mein bewußtes Erinnern durch Anrufen meines jedenfalls weit reichhaltigeren unbewußten Gedächtnisses.

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Ich werde also über a uf f ällige Beispiele von Vergessen, die ich zumeist an mir selbst beobachtet, berichten. Ich unterscheide Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen, also von Wissen, und Vergessen von

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1) Gewöhnlich pflegen dann im Laufe der Besprechung die Einzelheiten des damaligen ersten Besuches bewußt aufzutauchen.

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Vergasen von Eindrücken und Vorsitzen. 59

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Vorsätzen, also Unterlassungen. Das einförmige Ergebnis der ganzen Reihe von Beobachtungen kann ich voranstehen: Inallen Fällen erwies sich das Vergessen als begründet durch ein Unlustmotiv.

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A. Vergessen von Eindrücken und Kenntnissen.

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a.) Im Sommer gab mir meine Frau einen an sich harmlosen Anlaß zu heftigem Ärger. Wir saßen an der Table d’höte einem Herrn aus Wien gegeniiber, den ich kannte, und der sich wohl auch an mich zu erinnern wußte. Ich hatte aber meine Gründe, die Bekanntschaft nicht zu erneuern. Meine Frau, die nur den ansehnlichen Namen ihres Gegenüber gehört hatte, verriet zu sehr, daß sie seinem Gespräch mit den Nach« barn zuhörte, denn sie wandte sich von Zeit zu Zeit an mich mit Fragen, die den dort gesponnenen Faden aufnehmen. Ich wurde ungeduldig und endlich gereizt. Wenige Wochen später führte ich bei einer Verwandten Klage über dieses Verhalten meiner Frau. Ich war aber nicht im imstande, auch nur ein Wort von der Unterhaltung jenes Herrn zu erinnern. Da ich sonst eher nachtragend bin und keine Einzelheit eines Vorfalls, der mich geärgert hat, vergessen kann, ist meine Amnesie in diesem Falle wohl durch Rücksichten auf die Person der Ehefrau motiviert. Ähnlich erging es mir erst vor kurzem wieder. Ich wollte mich gegen einen intim Bekannten über eine Äußerung meiner Frau lustig machen, die erst vor wenigen Stunden gefallen war, fand mich aber in diesem Vorsatz durch den bemerkenswerten Umstand gehindert, daß ich die betreffende Äußerung spurlos vergessen hatte. Ich mußte erst meine Frau bitten, mich an dieselbe zu erinnern. Es ist leicht zu verstehen, daß dies mein Vergessen analog zu fassen ist der typischen Urteilsstörung, welcher wir unterliegen, wenn es sich um unsere nächsten Angehörigen handelt.

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b) Ich hatte es übernommen, einer fremd in Wien angekommenen Dame eine kleine eiserne Handkassette zur Aufbewahrung ihrer Dokumente und Gelder zu besorgen. Als ich mich dazu erbot, schwebte mir mit ungewöhnlicher visueller Lebhaftigkeit das Bild einer Auslage in der Inneren Stadt vor, in welcher ich solche Kassen gesehen haben mußte. Ich konnte mich zwar an den Namen der Straße nicht erinnern, fühlte mich aber sicher, daß ich den Laden auf einem Spaziergang durch die Stadt auffindeu werde, denn meine Erinnerung sagte mir, daß ich unzählige Male an ihm vorübergegangen sei. Zu meinem Ärger gelang es mir aber nicht, diese Auslage mit den Kassetten aufzufinden, obwohl ich die Innere Stadt nach allen Richtungen durchstreifte. Es blieb

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60 Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

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mir nichts anderes übrig, meinte ich, als mir aus einem Adressenkalender die Kassenfabrikanten herauszusuchen, um dann auf einem zweiten Rundgang die gesuchte Auslage zu identifizieren. Es bedurfte aber nicht soviel; unter den im Kalender angezeigten Adressen befand sich eine, die sich mir sofort als die vergessene enthüllte. Es war richtig, daß ich ungezählte Male an dem Auslagefenster vorübergegangen war, jedesmal nämlich, wenn ich die Familie M. besucht hatte, die seit langen Jahren in dem nämlichcn Hause wohnt. Seitdem dieser intime Verkehr einer völligen Entfremdung gewichen war, pflegte ich, ohne mir von den GründenRechenschaft zu geben, auch die Gegend und das Haus zu meiden. Auf jenem Spaziergang durch die Stadt hatte ich, als ich die Kassetten in der Auslage suchte, jede Straße in der Umgebung begangen, dieser einen aber war ich, als ob ein Verbot darauf läge, ausgewichen. Das Unlustmotiv, welches in diesem Fall meine Unorientierfheit verschuldete, ist greifbar. Der Mechanismus des Vergessens ist aber nicht mehr so einfach wie im vorigen Beispiel. Meine Abneigung gilt natürlich nicht dem Kassenfabrikanten, sondern einem anderen, von dem ich nichts wissen will, und überträgt sich von diesem anderen auf die Gelegenheit, wo sie das Vergessen zustande bringt. Ganz ähnlich hatte im Falle B u r c k h a r d der Groll gegen den einen den Schreib— fehler im Namen hervorgebracht, wo es sich um den anderen handelte. Was hier die Namensgleichheit leistete, die Verknüpiung zwischen zwei im Wesen verschiedenen Gedankenkreisen herzustellen, das konnte im Beispiel von dem Auslagefenster die Konfiguität im Raum', die untrennbarc Nachbarschaft, ersetzen. Übrigens war dieser letzte Fall fester geiügt; es fand sich noch eine zweite inhaltliche Verknüpfung vor, denn unter den Gründen der Entfremdung mit der im Hause wohnenden Familie hatte das Geld eine große Rolle gespielt.

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c) Ich werde von dem Bureau B. & R. bestellt, einen ihrer Beamten ärztlich zu besuchen. Auf dem Wege zu dessen Wohnung beschäitigt mich die Idee, ich müßte schon wiederholt in dem Hause gewesen sein, in welchem sich die Firma befindet. Es ist mir, als ob mir die Tafel derselben in einem niedrigen Stockwerk aufgefallen wäre, während ich in einem höheren einen ärztlichen Besuch zu machen hatte. Ich kann mich aber weder daran erinnern, welches dieses Haus ist, noch wen ich dort besucht habe. Obwohl die ganze Angelegenheit gleichgültig und bedeutungslos ist, beschäftige ich mich doch mit ihrund erfahre endlich auf-dem gewöhnlichen Umwege, in dem ich meine Einfälle dazu sammle, daß sich einen Stock über den Lokalitäten der Firma B. & R. die Pension F i s c h e r befindet, in welcher ich häufig Patienten

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Vergessen von Eindrücken und Vorsätm 01

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besucht habe. Ich kenne jetzt auch das Haus, welches die Bureaus und die Pension beherbergt. Rätselhait ist mir noch, welches Motiv bei diesem Vergessen im Spiele war. Ich finde nichts für die Erinnerung Anstößiges an der Firma selbst oder an Pension Fischer oder an den Patienten, die dort wohnten. Ich vermute auch, daß es sich um nicht sehr Peinliches handeln kann; sonst wäre es mir kaum gelungen, mich das Vergessenen auf einem Umwege wieder zu bernächtigen, ohne äußere Hilfsmittel wie im vorigenBeispiel heranzuziehen. Es fällt mir endlich ein, daß mich eben vorhin, als ich den Weg zu dem neuen Patienten antrat, ein Herr auf der Straße gegrüßt hat, den ich Mühe hatte zu erkennen. Ich hatte diesen Mann vor Monaten in einem anscheinend schweren Zustand gesehen und die Diagnose der progressiven Paralyse über ihn verhängt, dann aber gehört, daß er hergestellt sei, so daß mein Urteil unrichtig gewesen wäre. Wenn nicht etwa hier eine der Remissionen vorliegt, die sich auch bei Dementia paralytica finden, so daß meine Diagnose doch noch gerechtfertigt wäre! Von dieser Begegnung ging der Einfluß aus, der mich an die Nachbarschaft der Bureaus von B. & R. vergessen ließ, und mein Interesse, die Lösung des Vergessenen zu finden, war von diesem Fall strittiger Diagnostik her übertragen. Die assoziative Verknüpfung aber wurde bei geringem inneren Zusammenhang — der Wider Erwarten Genesene war auch Beamter eines großen Bureaus, welches mir Kranke zuzuweisen pflegte —— durch eine Namensgleichheit besorgt, Der Arzt, mit welchem gemeinsam ich den fraglichen Paralytiker gesehen hatte, hieß auch F i s c h e r , wie die in dem Haus befindliche, vom Vergessen betroffene Pension.

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cl) Ein Ding verlege n heißt ja nichts anderes als vergessen, wohin man es gelegt hat, und wie die meisten mit Schriften und Büchern hantierenden Personen bin ich auf meinem Schreibtisch wohl orientiert und weiß das Gesuchte mit einem Griff hervorzuholen. Was anderen als Unordnung erscheint, ist für mich historisch gewordene Ordnung. Warum habe ich aber unlängst einen Bücherkatalog, der mir zugeschickt wurde, so verlegt, daß er unaufiindbar geblieben ist? Ich hatte doch die Absicht, ein Buch, das ich darin angezeigt fand, „Über die Sprache“, zu bestellen, weil es von einem Autor herrührt, dessen geistreich belebten Stil ich liebe, dessen Einsicht in der Psychologie und dessen Kenntnisse in der Kulturhistorie ich zu schätzen weiß. Ich meine, gerade darum habe ich den Katalog verlegt. Ich pflege nämlich Bücher dieses Autors zur Aufklärung unter meinenBekannten zu verleihen, und vor wenigen Tagen hat mir jemand bei der Rückstellung gesagt: „Der Stil erinnert mich ganz an den Ihrigen, und auch die Art zu denken ist dieselbe“. Der Redner

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wußte nicht, an was er mit dieser Bemerkung rührte. Vor Jahren, als ich noch jünger und anschlußbediirftiger war, hat mir ungefähr das Namliche ein älterer Kollege gesagt, dem ich die Schriften eines bekannten medizinischen Autors angepriesen hatte. „Ganz Ihr Stil und Ihre Art.” 50 beeinflußt hatte ich diesem .Autor einen um näheren Verkehr werbenden Brief geschrieben, wurde aber durch eine kühle Antwort in meine Schranken zurückgewiesen. Vielleicht verbergen sich außerdem noch frühere abschreckende Erfahrungen hinter dieser letzten, denn ich habe den verlegten Katalog nicht wiedergefunden und bin durch dieses Vorzeichen wirklich abgehalten worden, das angezeigte Buch zu bestellen, obwohl ein wirkliches Hindernis durch das Ver. schwinden des Kataloges nicht geschaffen worden ist. Ich habe ja die Namen des Buches und des Autors im Gedächtnis behalten!)

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Ein anderer Fall von Verlegen verdient wegen der Bedingungen, unter denen das Verlegte wiedergefunden wurde, unser Interesse. Ein jüngerer Mann erzählt mir: Es gab vor einigen Jahren Mißverständnisse in meiner Ehe, ich fand meine Frau zu kühl, und obwohl ich ihre vortreiflichen Eigenschaften gerne anerkannte, lebten wir ohne Zärtlichkeit neben einander. Eines Tages brachte sie mir von einem Spaziergange ein Buch mit, das sie gekauft hatte, weil es mich interessieren dürfte. Ich dankte für dieses Zeichen von „Aufmerksamkeit“, versprach das Buch zu lesen, legte es mir zurecht und fand es nicht wieder. Monate vergingen so, in denen ich mich gelegentlich an die: verschollene Buch erinnerte und es auch vergeblich aufzufinden versuchte. Etwa “ein halbes Jahr später erkrankte meine, getrennt von uns wohnende, geliebte Mutter. Meine Frau verließ das Haus, um ihre Schwiegermutter zu pflegen. Der Zustand der Kranken wurde ernst und gab meiner Frau Gelegenheit, sich von ihren besten Seiten zu zeigen. Eines abends komme ich begeistert von der Leistung meiner Frau und dankeriüllt gegen sie nach Hause. Ich trete zu meinem Schreibtisch, öffne ohne bestimmte Absicht, aber wie mit somnambuler Sicherheit eine bestimmte Lade desselben und zuoberst in ihr finde ich das so lange vermißte, das verlegte Buch.

§ 372

Wenn man die Fälle von Verlegen übersicht, wird es wirklich schwer anzunehmen, daß ein Verlegen jemals anders als infolge einer unbewußten Absicht erfolgt.

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1) Für vielerlei Zufälligkeitcn, die man seit Th. Viseher der „Tücke des Objekts“ zuschreibt. möchte ich ähnliche Erklärungen vorschlagen.

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e) Im Sommer des Jahres 1901 erklärte ich einmal einem Freunde, mit dem ich damals in regem Gedankenaustausch über wissenschaftliche Fragen stand: Diese neurotischen Probleme sind nur dann zu lösen, wenn wir uns ganz und voll auf den Boden der Annahme einer ursprüng lichen Bisexualität des Individuums stellen. Ich erhielt zur Antwort: „Das habe ich Dir schon vor 2% jahren in Br. gesagt, als wir jenen Abendspaziergang machten. Du wolltest damals nichts davon hören.“ Es ist nun schmerzlich, so zum Aufgeben seiner Originalität aufgefordert zu werden. Ich konnte mich an ein solches Gespräch und an diese Eröffnung meines Freundes nicht erinnern. Einer von uns beiden mußte sich da täuschen; nach dem Prinzip der Frage 0 u i p r o d e s t? mußte ich das sein. Ich habe im Laufe der nächsten Wochen in der Tat alles so erinnert, wie mein Freund es in mir erwecken wollte; ich weiß selbst, was ich damals zur Antwort gab: Dabei halte ich noch nicht, ich will mich darauf nicht einlassen. Aber ich bin seither um ein Stück toleranter geworden, wenn ich irgendwo in der medizinischen Literatur auf eine der wenigen Ideen stoße, mit denen man meinen Namen ver— knüpfen kann, und wenn ich dabei die Erwähnung meines Namens vermisse.

§ 377

Ausstellungen an seiner Ehefrau —— Freundschaft, die ins Gegenteil umgeschlagen hat —Irrtum in ärztlicher Diagnostik ——Zurückweisung durch Gleichstrebende — Entlehnung von Ideen; es ist wohl kaum zufällig, daß eine Anzahl von Beispielen des Vergessens, die ohne Auswahl gesammelt werden sind, zu ihrer Auflösung des Eingehens auf so peinliche Themata bedürfen. Ich vermute vielmehr, daß jeder Andere, der sein eigenes Vergessen einer Prüfung nach den Motiven unterziehen will, eine ähnliche Musterkarte von Widerwä.rtigkeiten aufzeichnen können wird. Die Neigung zum Vergessen des Ummgenehmen scheint mir ganz allgemein zu sein; die Fähigkeit dazu ist wohl bei verschiedenen Personen verschieden gut ausgebildet. Manches A b l e u g n e n , das uns in der ärztlichen Tätigkeit begegnet, ist wahr— scheinlich auf V e r g e s s e n zurückzuführen. 1) Unsere Auffassung

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1) Wenn man sich bei einem Menschen erkundigt, ob er vor ro oder rs Jahren eine luetische Infektion durchgemacht hat. vergißt mm zu leicht daran. daß der Befragte diesen Krankheitszufall psychisch ganz anders behandelt hat als etwa. einen akuten Rheumatismus. — In den Anamnesen, welche Eltern über ihre neurotisch erkrankten Töchter geben, ist der Anteil des Vagmem von dem des Verbergens kaum je mit. Sicherheit zu sondern, weil alles, was der späteren Verheiratnng des Mädchens im Wege steht. von den Eltern systemach bee seitigt, d. h. verdrängt wird.

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§ 380

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§ 381

eines solchen Vergessens beschränkt den Unterschied zwischen dem und jenem Benehmen allerdings auf rein psychologische Verhältnisse und gestattet uns, in beiden Reaktionsweisen den Ausdruck desselben Motivs zu sehen. Von all den zahlreichen Beispielen der Verleugnung unangenehmer Erinnerungen, die ich bei Angehörigen von Kranken gesehen habe, ist mir eines als besonders seltsam im Gedächtnis geblieben. Eine Mutter informierte mich über die Kinderja.hre ihres nervenkranken, in der Pubertät befindlichen Sohnes und erzählte dabei, daß er wie seine Geschwister bis in späte Jahre an Bettnässen gelitten habe, was ja für eine neurotische Krankengeschichte nicht bedeutungslos ist. Einige Wochen später, als sie sich Auskunft über den Stand der Behandlung holen wollte, hatte ich Anlaß, sie auf die Zeichen konstitutioneller Krankheitsveranlagung bei dem jungen Mann aufmerksam zu machen, und berief mich hierbei auf das anamnestisch erhobene Bettnässen. Zu meinem Erstaunen bestritt sie die Tatsache sowohl für dies als auch für die anderen Kinder, fragte mich, woher ich das wissen könne, und hörte endlich von mir, daß sie selbst es mir vor kurzer Zeit erzählt habe, was also von ihr vergessen worden war.1)

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‘) In den Tagen. während ich mit der Niederschrift dieser Seiten beschäftigt war. ist mir folgender, fest unglaublicher Fall von Vergessen widerfahren. Ich revidiere am 1. ]nnuar mein ärztlichns Buch, um meine Honornrrechnungen aussenden zu können, stoße dabei im Juni auf den Namen M. . . .l und kann mich an eine zu ihm gehörige Person nicht erinnern Mein Beiremden wächst, indem ich beim Weiterblättern bemerke, daß ich den Fall in einem Sanatorium be. handelt. und daß ich ihn durch Wochen täglich besucht habe. Einen Kranken, mit dem man sich unter solchen Bedingungen beschäftigt. vergißt man als Arzt nicht nach kaum 6 Monaten. Sollte es ein Mann, ein Paralytiker, ein Fall ohne Interesse gewesen sein, frage ich mich? Endlich bei dem Vermerk über das empfangene Honorar kommt mit all die Kenntnis wieder, die sich der Erinnerung entziehen wollte. M. . . ,1 war ein !4 jähriges Mädchen gewesen, der merkwürdigste Fall meiner letzten Jahre, welcher mir eine Lehre hinterlassen. an die ich kaum je vergessen werde, und dessen Ausgang mir die peinlichsten Stunden bereitet hat. Das Kind erkrankte an unzweideutiger Hysterie, die. sich auch unter meinen Händen rasch und gründlich besserte. Nach dieser Besserung wurde mir das Kind von den Eltern entzogen; es klagte noch über abdominale Schmerzen, denen die Hauptrolle im Symptcrmbild der Hysterie zugefallen war, Zwei Monate später war es an Sarkom der Unterleibsdrüsen gestorben. Die Hysterie, zu der das Kind nebstbei prädisponiert war, hatte die Tumorbildung zur provozierenden Ursache genommen, und ich hatte, von den lärmenden, aber harmlosen Erscheinungen der Hysterie gefesselt, vielleicht die ersten Anzeichen—der schief-chenden nnheilvollen Erkrankung übersehen

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Man findet also auch bei gesunden, nicht neurotischen Menschen reichlich Anzeichen dafür, daß sich der Erinnerung an peinliche Eindrücke, der Vorstellung peinlicher Gedanken, ein Widerstand entgegensetzt, Die volle Bedeutung dieser Tatsache läßt sich aber erst ermeesen, wenn man in die Psychologie neurotischer Personen eingeht. Man ist genötigt, ein solches elementares Abwehrbestreben gegen Vorstellungen, welche Unlustempfindungen erwecken können, ein Bestreben, das sich nur dem Fluchtreflex bei Schmerzreizen an die Seite stellen läßt, zu einem der Hauptpieiler des Mechanismus zu machen. welcher die hysterischen Symptome trägt. Man möge gegen die An— nahme einer solchen Abwehrtendenz nicht einwenden, daß wir es im Gegenteil häufig genug unmöglich finden, peinliche Erinnerungen, die uns verfolgen, los zu werden und peinliche Affektregungen wie Reue, Gewissensvorwürfe zu verscheuchen. Es wird ja nicht behauptet, daß diese Abwehrtendenz sich überall durchzusetzen vermag, daß sie nicht im Spiel der psychischen Kräfte auf Faktoren stoßen kann, welche zu anderen Zwecken das Entgegengesetzte anstreben und ihr zum Trotz zustande bringen. Als das architektonische Prinzip des seelischen Apparates läßt sich die Schichtung, der Aufbau aus einander überlagernden Instanzen erraten, und es ist sehr wohl möglich, daß dies Abwehrbestreben einer niedrigeren psychischen Instanz angehört, von höheren Instaan aber gehemmt wird. Es spricht jedenfalls fiir die Existenz und Mächtigkeit dißer Tendenz zur Abwehr, wenn wir Vorgänge wie die in unseren Beispielen von Vergessen auf sie zurückfiihren können. Wir sehen, daß manches um seiner selbst willen vergessen wird; wo dies nicht möglich ist, verschiebt die Abwehrtendenz ihr Ziel und bringt wenigstens etwas anderes, minder Bedeutsames, zum Vergessen, welches in assoziative Verknüpfung mit dem eigentlich Anstößigen geraten ist.

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Der hier entwickelte Gesichtspunkt, daß peinliche Erinnerungen mit besonderer Leichtigkeit dem motivierten Vergessen verfallen, verdiente aui mehrere Gebiete bezogen zu werden, in denen er heute noch keine oder eine zu geringe Beachtung gefunden hat. So erscheint er mir noch immer nicht genügend scharf betont bei der Würdigung von Zeugenaussagen vor Gericht,‘) wobei man offenbar der unter Eidstellung des Zeugen einen allzu großen purifizierenden Einfluß auf dessen psychisches Kräftespiel zutraut. Daß man bei der Entstehung

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1) Vgl, H a n s G r 0 B . Kriminalpsychologie 1898. Freud. Psychopatholog'ie du Allmgsleberu. 5

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der Traditionen und der Sagengeschichte eines Volkes einem solchen Motiv, das dem Nationalgefühl Peinliche aus der Erinnerung auszumerzen, Rechnung tragen muß, wird allgemein zugestanden. Vielleicht würde sich bei genauerer Verfolgung eine vollständige Analogie heraus— stellen zwischen der Art, wie Völkertraditionen und wie die Kindheitserinnerungen des einzelnen Individuums gebildet werden.

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Ganz ähnlich wie beim Namenvergessen kann auch beim Vergessen von Eindrücken Fehlerinnern eintreten, das dort, wo es Glauben findet, als Erinnerungstäuschung bezeichnet wird. Die Erinnerungstäuschung in pathologischen Fällen — in der Paranoia spielt sie geradezu die Rolle eines konstituierenden Moments bei der Wahnbildung — hat eine ausgedehnte Literatur wachgeruien, in welcher ich durchgängig den Hinweis auf eine Motivierung derselben vermisse. Da auch dieses Thema der Neurosenpsychologie angehört, entzieht es sich in unserem Zusammenhauge der Behandlung. Ich werde dafür ein sonderbares Beispiel einer eigenen Erinnerungstäuschung mitteilen, bei dem die Motivierung durch unbewußtes verdrängtes Material und die Art und Weise der Verknüpfi1ng mit demselben deutlich genug kenntlich werden.

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Als ich die späteren Abschnitte meines Buches über Traumdeutung schrieb, befand ich mich in einer Sommerfrische ohne Zugang zu Bib— liotheken und Nachschlagebiichern und war genötigt, mit Vorbehalt späterer Korrektur, allerlei Beziehungen und Zitate aus dem Gedächtnis in das Manuskript einzutragen. Beim Abschnitt über das Tagträumen fiel mir die ausgezeichnete Figur des armen Buchhalters im „N a b a b“ von Alp h. D a u d e t ein, mit welcher der Dichter wahrscheinlich seine eigene Träumerei geschildert hat. Ich glaubte mich an eine der Phantasien, die dieser Mann — Mr. Jocelyn nannte ich ihn —— auf seinen Spaziergängen durch die Straßen von Paris ausbrütet, deutlich zu erinnern und begann sie aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Wie also Herr ]ocelyn auf der Straße sich kühn einem durchgehenden Pferd entgegenwirft, es zum Stehen bringt, der Wagenschlag sich öffnet, eine hohe Persönlichkeit dem Koupé entsteigt, Herrn ]ocelyn die Hand drückt und ihm sagt: „Sie sind mein Retter, Ihnen verdanke ich mein Leben. Was kann ich für Sie tun ?“

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Etwaige Ungenauigkeiten in der Wiedergabe dieser Phantasie, tröstete ich mich, würden sich leicht zu Hause verbessern lassen, wenn ich das Buch zur Hand nähme. Als ich dann aber den „N ab a b" durchblätterte, um diejd.mckbereite Stelle meines Manuskriptes zu vergleichen, fand ich zu meiner größten Beschämung und Bstürzung nichts von einer solchen «Träumerei des Herrn ]ocelyn darin, ja der

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arme Buchhalter trug gar nicht diesen Namen, sondern hieß Mr. ] oyeuse. Dieser zweite Irrtum gab dann bald den Schlüssel zur Klärung des ersten, der Erinnerungstäuschung. ]oyeux (wovon der Name ‘die feminine Form darstellt): so und nicht anders müßte ich ja meinen eigenen Namen: Freu (1 ins Französische übersetzen. Woher konnte also die fälschlich erinnerte Phantasie sein, die ich D a u de t zugeschrieben hatte? Sie konnte nur ein eigenes Produkt sein, ein Tagtraum, den ich selbst gemacht, und der mir nicht bewußt geworden, oder der mir einst bewußt gewesen, und den ich seither gründlich vergessen habe. Vielleicht daß ich ihn selbst in Paris gemacht, wo ich oft genug einsam und voll Sehnsucht durch die Straßen spaziert bin, einen Helfers und Protektors sehr bedürftig, bis Meister C h a r c o t mich dann in seinen Verkehr zog. Den Dichter des „N a b a b“ habe ich dann wiederholt im Hause Ch are 0 ts gesehen. Das Ärgerliche an der Sache ist nur, daß ich kaum irgend einem anderen Vorstellungskreis so feindselig gegenüberstehe, wie dem des Protegiertwerdens. Was man in unserem Vaterlande davon sieht, verdirbt einem alle Lust daran, und meinem Charakter sagt die Situation des Protektionskindes überhaupt wenig zu. Ich habe immer ungewöhnlich viel Neigung dazu verspürt, „selbst der brave Mann zu sein“. Und gerade ich mußte dann an solche, übrigens nie erfüllte, Tagträ.ume gemahnt werden! Außerdem ist der Vorfall auch ein gutes Beispiel dafür, wie die zurückgehaltene ; in der Paranoia siegreich hervorbrechende —— Beziehung zum eigenen Ich uns in der objektiven Erfassung der Dinge stört und verwirrt.

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Ein anderer Fall von Erinnerungstäuschung, der sich befrie— digend aufklären ließ, mahnt an die später zu besprechende „iausse reconnaissance“ (vgl. Seite 122): Ich hatte einem meiner Patienten, einem ehrgeizigen und sehr befähigten Marine, erzählt, daß ein junger Student sich kürzlich durch eine interessante Arbeit „Der Künstler, Versuch einer Sexualpsychologie“ in den Kreis meiner Schüler eingeführt habe. Als diese Schrift 11/4 Jahre später gedruckt verlag, behauptete mein Patient, sich mit Sicherheit daran erinnern zu können, daß er die Ankündigung derselben bereits vor meiner ersten Mitteilung (einen Monat oder ein halbes Jahr vorher) irgendwo, etwa in einer Buchhändleranzeige, gelesen habe. Es sei ihm diese Notiz auch damals gleich in den Sinn gekommen, und er konstatiere überdies, daß der Autor den Titel verändert habe, da es nicht mehr „Versuch“, sondern „Ansätze zu einer Sexualpsychologie" heiße. Sorgtältige Erkundigung beim Autor und Vergleichung aller Zeitangaben zeigten

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indes daß mein Patient etwas Unmögliches erinnern wollte. Von jener Schrift war nirgends eine Anzeige vor dem Drucke erschienen, am wenigsten aber 11/4, Jahre vor ihrer Drucklegung. Als ich eine Deutung dieser Erinnerungstäuschung unterließ, brachte derselbe Mann eine gleichwertige Erneuerung derselben zu Stande. Er meinte, vor kurzem eine Schrift über „Agoraphobie“ in dem Auslagefenster einer Buchhandlung bemerkt zu haben, und suchte derselben nun durch Nachforschung in allen Verlagskatalogen habhait zu werden. Ich konnte ihn dann aufklären, warum diese Bemühung erfolglos bleiben mußte. Die Schrift über Agoraphohie bestand erst in seiner Phantasie als unbewußter Vorsatz und sollte von ihm selbst abgeiaßt werden. Sein Ehrgeiz, es jenem jungen Manne gleichz11tun und. durch eine solche Wissenschaftliche Arbeit zum Schüler zu werden, hatte ihn zu jener ersten wie zur wiederholten Erinnerungstäuschung geführt. Er besann sich dann auch, daß die Buchhändleranzeige, welche ihm zu diesem falschen Erkennen gedient hatte, sich auf ein Werk, betitelt: „Genesis, Das Gesetz der Zeugung“ bezog. Die von ihm erwähnte Abänderung des Titels kam aber auf meine Rechnung, denn ich wußte mich selbst zu erinnern, daß ich diese Ungenauigkeit in der Widergabe des Titels „Versuch -— anstatt: Ansätze“ begangen hatte.

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B. Das Vergessen von Vorsätzen.

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Keine andere Gruppe von Phänomenen eignet sich besser zum Beweis der These, daß die Geringfügigkeit der Aufmerksamkeit für sich allein nicht hinreiche, die Fehlleistung zu erklären, als die des Vergessens von Vorsätzen. Ein Vorsatz ist ein Impuls zur Handlung, der bereits Billigung gefunden hat, dessen Ausführung aber auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben wurde. Nun kann in dem so geschaffenen Intervall allerdings eine derartige Veränderung in den Motiven eintreten, daß der Vorsatz nicht zur Ausführung gelangt, aber dann wird er nicht vergessen, sondern revidiert und aufgehoben. Das Vergessen v6n Vorsätzen, dem wir alltäglich und in allen möglichen Situationen unterliegen, pflegen wir uns nicht durch eine Neuerung in der Motivengleichung zu erklären, sondern lassen es gemeinhin unerklärt, oder wir suchen eine psychologische Erklärung in der Annahme, gegen die Zeit der Ausführung bin habe sich die erforderliche Aufmerksamkeit für die Handlung nicht mehr bereit gefunden, die doch für das Zu— standekommen des Vorsatzes unerläßliche Bedingung war, damals also für die nämliche Handlung zur Verfügung stand. Die Beobachtung unseres normalen Verhaltens gegen Vorsätze laßt uns diesen Erklärungs

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versuch als willkürlich abweisen. Wenn ich des Morgens einen Vorsatz fasse, der abends ausgeführt werden soll, so kann ich im Laufe des Tages einigemal an ihn gemahnt werden. Er braucht aber tagsüber überhaupt nicht mehr bewußt zu werden Wenn sich die Zeit der Ausführung nähert, fällt er mir plötzlich ein und veranlaßt mich, die zur vorgesetzten Handlung nötigen Vorbereitungen zu treffen. Wenn ich auf einen Spaziergang einen Brief mitnehme, welcher noch befördert werden soll, so brauche ich ihn als normales und nicht nervöses Individuum keineswegs die ganze Strecke über in der Hand zu tragen und unterdessen nach einem Briefkasten auszuspähen, in den ich ihn werie, sondern ich pflege ihn in die Tasche zu stecken, meiner Wege zu gehen, meine Gedanken frei schweiien zu lassen, und ich rechne darauf, daß einer der nächsten Briefkästen meine Aufmerksamkeit erregen und mich veranlassen wird, in die Tasche zu greifen und den Brief hervorzuziehen. Das normale Verhalten bei gefaßtem Vorsatz deckt sich vollkommen mit dem experimentell zu erzeugenden Benehmen von Personen, denen man eine sog. „posthypnotische Suggestion auf lange Sicht“ in der Hypnose eingegeben hat)) Man ist gewöhnt, das Phä. namen in folgender Art zu beschreiben: Der suggerierte Vorsatz schlummert in den betreffenden Personen, bis die Zeit seiner Aus— führung herannaht. Dann wacht er auf und treibt zur Handlung.

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In zweierlei Lebenslagen gibt sich auch der Laie Rechenschaft davon, daß das Vergessen in Bezug auf Vorsätze keineswegs den Anspruch erheben darf, als ein nicht weiter zurückfiihrbares Elementar— phänomen zu gelten, sondern zum Schluß auf uneingestandene Motive berechtigt. Ich meine: im Liebesverhältnjs und in der Militärabhängigkeit. Ein Liebhaber, der das Rendezvous versäumt hat, wird sich vergeblich bei seiner Dame entschuldigen, er habe leider ganz daran vergessen. Sie wird nicht versäumen, ihm zu antworten: „Vor einem Jahr hättest Du es nicht vergessen. Es liegt Dir eben nichts mehr an mit.“ Selbst wenn er nach der oben erwähnten psychologischen Erklärung griffe und sein Vergessen durch gehäufte Geschäfte entschuldigen wollte, würde er nur erreichen, daß die Dame —— so scharfsichtig geworden wie der Arzt in der Psychoanalyse —— zur Antwort gäbe: „Wie merkwürdig, daß sich solche geschäftliche Störungen früher nicht ereignet haben.“ Gewiß will auch die Dame die Möglichkeit des Vergessens nicht in Abrede stellen; sie meint nur, und nicht

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1) Vgl. B e r n h e i m , Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psychotherapie, 1892.

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mit Unrecht, aus dem unabsichtlichen Vergessen sei ungefähr der nämliche Schluß auf ein gewisses Nichtwollen zu ziehen wie aus der bewußten Ausflucht.

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Ähnlich wird im militärischen Dienstverhältnis der Unterschied zwischen der Unterlassung durch Vergessen und der infolge von Absicht prinzipiell, und zwar mit. Recht, vernachlässigt. Der Soldat darf an nichts vergessen, was der militärische Dienst von ihm fordert. Wenn er doch daran vergißt, obwohl ihm die Forderung bekannt ist, so geht dies so zu, daß sich den Motiven, die auf Erfüllung der militärischen Forderung dringen, andere Gegenmotive entgegenstellen. Der Einjährige etwa, der sich beim Rapport entschuldigen wollte, er habe vergessen, seine Knöpfe blank zu putzen, ist der Strafe sicher. Aber diese Strafe ist geringfügig zu nennen im Vergleich zu jener, der er sich aussetzte, wenn er das Motiv seiner Unterlassung sich und seinem Vorgesetzten eingestehen würde: „Der elende Gamaschendienst ist mir überhaupt zuwider.“ Wegen dieser Strafersparnis, aus ökonomischen Gründen gleichsam, bedient er sich des Vergessens als Ausrede, oder kommt es als Kompromiß zustande.

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Frauendienst wie Militärdienst erheben den Anspruch, daß alles zu ihnen Gehörige dem Vergessen entrückt sein müsse, und erwecken so‘,die Meinung, Vergessen sei zulässig bei unwichtigen Dingen, während es bei wichtigen Dingen ein Anzeichen davon sei, daß man sie wie unwichtige behandeln wolle, ihnen also die Wichtigkeit abspreche. Der Gesichtspunkt der psychischen Wertschätzung ist hier in der Tat nicht abzuweisen. Kein Mensch vergißt Handlungen auszuführen, die ihm selbst wichtig erscheinen, ohne sich dem Verdachte geistiger Störung auszusetzen. Unsere Untersuchung kann sich also nur auf das Vergessen von mehr oder minder nebensächlichen Vorsätzen erstrecken; für ganz und gar gleichgütig werden wir keinen Vorsatz erachten, denn in diesem Falle wäre er wohl gewiß nicht geiaßt werden.

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Ich habe nun wie bei den früheren Funktionsstöningen die bei mir selbst beobachteten Fälle von Unterlassung durch Vergessen gesammelt und aufzuklären gesucht und hierbei ganz allgemein gefunden, daß sie auf Einmengung unbekannter und uneingostandener Motive —- oder, wie man sagen kann, auf einen G e g e n w i ll e n —— zurückzuführen waren. In einer Reihe dieser Fälle befand ich mich in einer dem Dienstverhältnisse ähnlichen Lage, unter einem Zwange, gegen welchen ich es nicht ganz aufgegeben hatte, mich zu sträuben, so daß ich durch Vergessen gegen ihn demonstrierte. Dazu gehört, daß ich

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besonders leicht vergosse, zu Geburtstagen, Jubiläen, Hochzeitsfeiern und Standeserhöhungen zu gratulieren. Ich nehme es mir immer wieder vor und überzeuge mich immer mehr, daß es mir nicht gelingen will. Ich bin jetzt im Begriffe, darauf zu verzichten, und den Motiven, die sich sträuben, mit Bewußtsein Recht zu geben. In einem Übergangsstadium habe ich einem Freund, der mich bat, auch für ihn ein Glückwunschtelegramm zum bestimmten Termin zu besorgen, vorher gesagt, ich würde an beide vergessen, und es war nicht zu verwundern, daß die Prophezeiung wahr wurde. Es hängt nämlich mit schmerzlichen Lebenserfahrungen zusammen, daß ich nicht imstande bin, Anteilnahme zu äußern, wo diese Äußerung notwendigerweise übertrieben ausfallen muß, da für den geringen Betrag meiner Ergriffenheit der entsprechende Ausdruck nicht zulässig ist. Seitdem ich erkannt, daß ich oft vorgebliche Sympathie bei anderen für echte genommen habe, befinde ich mich in einer Auflehnung gegen diese Konventionen der Mitgefühlsbezeugung, deren soziale Nützlichkeit ich anderseits einsehe. Kondolenzen bei Todesfällen sind von dieser zwiespältigen Behandlung ausgenommen; wenn ich mich zu ihnen entschlossen habe, versäume ich sie auch nicht. Wo meine Gefühlsbetätigung mit gesellschaftlicher Pflicht nichts mehr zu tun hat, da findet sie ihren Ausdruck auch niemals durch Vergessen gehemmt.

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Ähnlich erklären sich durch den Widerstreit einer konventionellen Pflicht und einer nicht eingestandenen inneren Schätzung die Fälle, in denen man Handlungen auszuführen vergißt, dielman einem anderen zu seinen Gunsten auszuführen versprochen hat. Hier trifft es dann regelmäßig zu, daß nur der Versprecher an die entschuldigende Kraft des Vergessens glaubt, während der Bittsteller sich ohne Zweifel die richtige Antwort gibt: Er hat kein Interesse daran, sonst hätte er es nicht vergessen. Es gibt Menschen, die man als allgemein vergeßlich bezeichnet und darum in ähnlicher Weise als entschuldigt gelten läßt wie etwa den Kurzsichtigen, wenn er auf der Straße nicht grüßt.‘) Diese Personen vergessen alle kleinen Versprechungen, die sie gegeben, lassen alle Aufträge unausgeführt, die sie empfangen haben,

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1) Frauen sind mit ihrem {einen Verständnis für unbewnßte seelische Vor— gänge in der Regel eher geneigt, es als Beleidigung anzusehen, wenn man sie auf der Straße nicht erkennt, also nicht grüßt, als an die nächstliegenden Erklärungen zu denken. daß der Säurnige knrzsichtig sei oder in Gedanken versunke‘n Sie nicht bemerkt habe. Sie schließen, man hätte sie schon bemerkt. wenn man sich „etwas aus ihnen machen würde“.

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erweisen sich also in kleinen Dingen als unverläßlich und erheben dabei die Forderung, daß man ihnen diese kleineren Verstöße nicht übel nehmen, (1. h. nicht durch ihren Charakter erklären, sondern auf organische Eigentümh'chkeit zurückführen solle. Ich gehöre selbst nicht zu diesen Leuten und habe keine Gelegenheit gehabt, die Handlungen einer solchen Person zu analysieren, um durch die Auswahl des Vergessens die Motivierung desselben aufzudecken. Ich kann mich aber der Vermutung per analogiam nicht erwehren, daß hier ein ungewöhnliche großes Maß von nicht eingestandener Geringschätzung des anderen das Motiv ist, welches das konstitutionelle Moment für seine Zwecke ausbcutet. —

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Bei anderen Fällen sind die Motive des Vergessens weniger leicht aufzm‘inden und erregen, wenn gefunden, ein größeres Befremden. So merkte ich in früheren Jahren, daß ich bei einer größeren Anzahl von Krankenbesuchen nie an einen anderen Besuch vergesse als bei einem Gratispatienten oder bei einem Kollegen. Aus Beschämung hierüber hatte ich mir angewöhnt, die Besuche des Tages schon am Morgen als Vorsatz zu notieren. Ich weiß nicht, ob andere Ärzte auf dem nämlichen Wege zu der gleichen Übung gekommen sind. Aber man gewinnt so eine Ahnung davon, was den sog. Neurastheniker veranlaßt, die Mitteilungen, die er dem Arzt machen will, auf dem berüchtigten „Zette“ zu notieren. Angeblich fehlt es ihm an Zutrauen zur Reproduktionsleishmg seines Gedächtnisses. Das ist gewiß richtig, aber die Szene geht zumeist so vor sich: Der Kranke hat seine verschiedenen Beschwerden und Anfragen höchst langatmig vorgebracht. Nachdem er fertig geworden ist, macht er einen Moment Pause, darauf zieht er den Zettel hervor, und sagt entschuldigend: Ich habe mir etwas aufgeschrieben, weil ich mir so gar nichts merke. In der Regel findet er auf dem Zettel nichts Neues. Er wiederholt jeden Punkt und beantwortet ihn selbst: Ja, danach habe ich schon gefragt. Er demonstriert mit dem Zettel wahrscheinlich nur eines seiner Symptome, die Häufigkeit, mit der seine Vorsätze durch Einmengung dunkler Motive gestört werden.

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Ich rühre ferner an Leiden, an welchen auch der größere Teil der mir bekannten Gesunden krankt, wenn ich zugestehe, daß ich besonders in früheren Jahren sehr leicht und für lange Zeit vergessen habe, entlehnte Bücher zurückzugeben, oder daß es mir besonders leicht begegnet ist, Zahlungen durch Vergessen aufzuschieben. Unlängst verließ ich eines Morgens die Tabaktratik, in welcher ich meinen täglichen Zigarreneinkauf gemacht hatte, ohne ihn zu bezahlen. Es war

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eine höchst harmlose Unterlassung, denn ich bin dort bekannt und konnte daher erwarten, am nächsten Tage an die Schuld gemahnt zu werden. Aber die kleine Versäumnis, der Versuch, Schulden zu machen, steht gewiß nicht außer Zusammenhang mit den Budgeterwägungen, die mich den Vortrag über beschäftigt hatten. In bezug auf das Thema von Geld und Besitz lassen sich die Spuren eines zwiespältigen Verhaltens auch bei den meisten sog. anständigen Menschen leicht nachweisen. Die primitive Gier des Säuglings, der sich aller Objekte zu bernächtigen sucht (um sie zum Munde zu fiihren), zeigt sich vielleicht allgemein als nur unvollständig durch Kultur und Erziehung überwunden.‘) Ich fürchte, ich bin mit allen bisherigen Beispielen einfach banal geworden. Es kann mir aber doch nur recht sein, wenn ich auf Dinge stehe, die jedermann bekannt sind, und die jeder in der nämlichen Weise versteht, da ich bloß vorhabe, das Alltägliche zu sammeln und wissenschaftlich zu verwerten; Ich sehe nicht ein, weshalb der Weisheit, d.ie Niederschlag der gemeinen Lebenseriahrung ist, die Aufnahme unter die Erwerbungen der Wissenschaft versagt sein sollte. Nicht die

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1) Der Einheit des Themas zuhebe darf ich hier die gewählte Einteilung durchbrechen und dem oben Gesagten anschließen. daß in bezug auf Geldsachen das Gedächtnis der Menschen eine besondere Parteilichkeit zeigt. Erinnerungstäuschungen, etwas bereits bezahlt zu haben, sind, wie ich von mir selbst weiß, oft sehr hartnäckig. Wo der gewinnsüchtigen Absicht abseits von den großen Interessen der Lebensführung, und daher eigentlich zum Scherz. freier Lauf gelassen wird wie beim Kartenspiel, neigen die ehrlichsten Männer zu Irrtümern. Erinnerungs« und Recheniehlern und finden sich selbst, ohne recht zu wissen wie, in kleine Betrügereien verwickelt. Auf solchen Freiheiten beruht nicht zum mindesten der psychisch erfrischende Charakter des Spiels. Das Sprichwort, daß man beim Spiel den Charakter des Menschen erkennt. ist zuzugeben, wenn man hinzufügen will: den unterdrückten Charakter. — Wenn es unabsichtliche Recheniehler bei Zahlkellnern noch gibt, so unterliegen sie offenbar derselben Beurteilung. — Irn Kaufmannsstande kann man häufig eine gewisse Zögerung in der Verausgabung von Geldmmmen, bei der Bezahlung von Rechnungen und dgl. beobachten. die dem Eigner keinen Gewinn bringt. sondern nur psychologisch zu verstehen ist als eine Äußerung des Gegenwillens. Geld von sich zu tun. —- Mit den intimsten und am wenigsten klar gewordenen Regungén hängt 85 zusammen. wenn gerade Frauen eine besondere Unlust zeigen, den Arzt zu honorieren. Sie haben gewöhnlich ihr Portemonnaie vergessen. können darum in der Ordination nicht zahlen, vergessen dann regelmäßig, das Honorar vom Hause aus zu schicken, und setzen es so durch, daß man sie umsonst —— „um

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ihrer schönen Augen willen“ — behandelt hat. Sie zahlen gleichsam mit ihrem Anblick.

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Verschiedenheit der Objekte, sondern die strengere Methode bei der Feststellung und das Streben nach weitreichendem Zusammenhang machen den. wesentlichen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit aus.

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Für die Vorsätze von einigem Belang haben wir allgemein gefunden, daß sie dann vergessen werden, wenn sich dunkle Motive gegen sie erheben. Bei noch weniger wichtigen Vorsätzen erkennt man als zweiten Mechanismus des Vergessens, daß ein Gegenwille sich von wo anders her auf den Vorsatz überträgt, nachdem zwischen jenem andern und dem Inhalt des Vorsatzee eine ä u B e r l i c h e Assoziation hergestth werden ist. Hierzu gehört folgendes Beispiel: Ich lege Wert auf schönes Löschpapier und nehme mir vor, auf meinem heutigen Nachmittagsweg in die Innere Stadt neues einzukauien. Aber an vier aufeinanderfolgendenTagen vergesse ich daran, bis ich mich beirage, welchen Grund diese Unterlassung hat. Ich finde ihn dann leicht, nachdem ich mich besonnen habe, daß ich zwar „Löschpapier“ zu schreiben, aber „Fließpapier“ zu sagen gewöhnt bin. „Fließ" ist der Name eines Freundes in Berlin, der mir in den nämlichen Tagen Anlaß zu einem quälenden, besorgten Gedanken gegeben hatte. Diesen Gedanken kann ich nicht los werden, aber die Abwehrneigung (vgl. Seite 65) äußert sich, indem sie sich mittelst der Wortgleichheit auf den indiiierenten und darum wenig resistenten Vorsatz überträgt.

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Direkter Gegenwille und entterntere Motivierung treffen in tol— gendem Falle von Aufschub zusammen: In der Sammlung „Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens“ hatte ich eine kurze Abhandlung über den Traum geschrieben, welche den Inhalt meiner „Traumdeutung“ resümiert. B e r g m a n n in Wiesbaden sendet eine Korrektur und bittet um umgebende Erledigung, weil er das Heft noch vor Weihnachten ausgeben Will. Ich mache die Korrektur noch in der Nacht und lege sie auf meinen Schreibtisch, um sie am nächsten Morgen mitzunehmen. Am Morgen vergesse ich daran, erinnere mich erst nachmittags beim Anblick des Kreuzbandes auf meinem Schreibtisch. Ebenso vergesse ich die Korrektur am Nachmittage, am Abend und am nächsten Morgen, bis ich mich auiraffe und am Nachmittag des zweiten Tages die Korrektur zu einem Briefkasten trage, verwundert, was der Grund dieser Verzögerung sein mag. Ich will sie offenbar nicht absenden, aber ich finde nicht, warum. Auf demselben Spaziergang trete ich aber bei meinem Wiener Verleger, der auch das Traumbuch publiziert hat, ein, mache eine Bestellung und sage dann, wie von einem plötzlichen Einfall getrieben: „Sie wissen doch, daß ich den „Traum“ ein zweites Mal geschrieben habe?“ —— „Ab, da würde ich doch bitten.“ — „Beruhigen

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Sie sich, nur ein kurzer Aufsatz fiir die Löwenield-Kurella— sche Sammlung.“ Es war ihm aber doch nicht recht; er besorgte, der Vortrag Würde dem Absatz des Buches schaden. Ich widersprach und fragte endlich: „Wenn ich mich früher an Sie gewendet hätte, würden Sie mir die Publikation untersagt haben?" —— „Nein, das keineswegs.“ Ich glaube selbst, daß ich in meinem vollen Recht gehandelt und nichts Anderes getan habe, als was allgemein üblich ist; doch scheint es mir gewiß, daß ein ähnliches Bedenken, wie es der Verleger äußerte, das Motiv meiner Zögerung war, die Korrektur abzusenden. Dies Bedenken geht auf eine frühere Gelegenheit zurück, bei welcher ein anderer Verleger Schwierigkeiten erhob, als ich, wie unvermeidlich, einige Blätter Text aus einer früheren, in anderem Verlag erschienenen Arbeit über zerebrale Kinderlähmung unverändert in die Bearbeitung desselben Themas im Handbuch von Nothn a g el hinübernahm. Dort findet aber der Vorwurf abermals keine Anerkennung; ich hatte auch damals meinen ersten Verleger (identisch mit dem der „Traumdeutung“) loyal von meiner Absicht verständigt. Wenn aber diese Erinnerungsreihe noch weiter zurückgeht, so rückt sie mir einen noch früheren Anlaß vor, den einer Übersetzung aus dem Französischen, bei welchem ich wirklich die bei einer Publikation in Betracht kommenden Eigenturnsrechte verletzt habe. Ich hatte dem übersetzten Text Anmerkungen beigefügt, ohne für diese Anmerkungen die Erlaubnis des Autors nachgesucht zu haben, und habe einige Jahre später Grund zur Annahme bekommen, daß der Autor mit dieser Eigenmächtigkeit unzufrieden war.

§ 438

Es gibt ein Sprichwort, welches die populäre Kenntnis verrät, daß das Vergessen von Vorsätzen nichts Zufälliges ist. „Was man einmal zu tun vergessen hat, das vergißt man dann noch öfter.“

§ 439

Das Vergessen von Vorsätzen erfährt übrigens eine gute Beleuchtung durch etwas, was man als das „Fassen von falschen Vorsätzen” bezeichnen könnte. Ich hatte einmal einem jungen Autor versprochen, ein Referat über sein kleines Opus zu schreiben, schob es aber wegen innerer, mir nicht unbekannter Widerstände auf, bis ich mich eines Tages durch sein Drängen bewegen ließ zu versprechen, daß es noch am selben Abend geschehen werde. Ich hatte auch die ernste Absicht so zu tun, aber ich hatte vergessen, daß die Abfassung eines unauischiebbaren Gutachtem für den nämlichen Abend angesetzt war. Nachdem ich so meinen Vorsatz als falsch erkannt hatte, gab ich den Kampf gegen meine Widerstände auf und sagte dem Autor ab.

§ 440

§ 441

VIII.

§ 442

Das Vergreifen.

§ 443

Der dankenswerten Arbeit von Meringer und Mayer entnehme ich noch die Stelle (S. 98):

§ 444

"Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten des Menschen sich oft einstellen und ziemlich töricht „Vergeßlichkeiten“ genannt werden."

§ 445

Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht hinter den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens Gesunder vermutet.

§ 446

Wenn die Fehler beim Sprechen, das ja eine motorische Leistung ist, eine solche Auffassung zugelassen haben, so liegt es nahe, auf die Fehler unserer sonstigen motorischen Verrichtungen die nämliche Erwartung zu übertragen. Ich habe hier zwei Gruppen von Fällen gebildet; alle die Fälle, in denen der Fehleffekt das Wesentliche scheint, also die Abirrung von der Intention, bezeichne ich als „Vergreifen“, die anderen, in denen eher die ganze Handlung unzweckmäßig erscheint, benenne ich „Symptom- und Zufallshandlungen“. Die Scheidung ist aber wiederum nicht reinlich durchzuführen; wir kommen ja wohl zur Einsicht, daß alle in dieser Abhandlung gebrauchten Einteilungen nur deskriptiv bedeutsame sind und der inneren Einheit des Erscheinungsgebietes widersprechen.

§ 447

Das psychologische Verständnis des „Vergreifens“ erfährt offenbar keine besondere Förderung, wenn wir es der Ataxie und speziell der „kortikalen Ataxie“ subsumieren. Versuchen wir lieber, die einzelnen Beispiele auf ihre jeweiligen Bedingungen zurückzuführen. Ich werde wiederum Selbstbeobachtungen hierzu verwenden, zu denen sich die Anlässe bei mir nicht besonders häufig finden.

§ 448

a) In früheren Jahren, als ich Hausbesuche bei Patienten noch häufiger machte als gegenwärtig, geschah es mir oft, daß ich, vor der Türe, an die ich klopfen oder läuten sollte, angekommen, die Schlüssel meiner eigenen Wohnung aus der Tasche zog, um — sie dann fast beschämt wieder einzustecken. Wenn ich mir zusammenstelle, bei welchen Patienten dies der Fall war, so muß ich annehmen, die Fehlhandlung — Schlüssel herausziehen anstatt läuten — bedeutete eine Huldigung für das Haus, wo ich in diesen Mißgriff verfiel. Sie war äquivalent dem Gedanken: „Hier bin ich wie zu Hause“, denn sie trug sich nur zu, wo ich den Kranken lieb gewonnen hatte. (An meiner

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eigenen Wohnungstür läute ich natürlich niemals.) Die Fehlhandlu.ng war also eine symbolische Darstellung eines doch eigentlich nicht fiir ernsthafte, bewußte Annahme bestimmten Gedankens, denn in der Realität weiß der Nervenarzt genau, daß der Kranke ihm nur so lange anhänglich bleibt, als er noch Vorteil von ihm erwartet, und daß er selbst nur zum Zweck der psychischen Hilfeleistung ein übermäßig warmes Interesse für seine Patienten bei sich gewähren läßt.

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b) In einem bestimmten Hause, wo ich seit sechs Jahren zweimal täglich zu festgesetzten Zeiten vor einer Türe im zweiten Stock auf Einlaß warte, ist es mir während dieses langen Zeitraums zweimal (mit einem kurzen Intervall) geschehen, daß ich um einen Stock höher gegangen bin, also mich „v e r s t i e g e n“ habe. Das eine Mal befand ich mich in einem ehrgeizigen Tagtraum, der mich „höher und immer höher steigen“ ließ. Ich iiberhörte damals sogar, daß sich die fragliche Tür geöffnet hatte, als ich den Fuß auf die ersten Stufen des dritten Stockwerks setzte. Das andere Mal ging ich wiederum „in Gedanken versunken“ zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich beherrschende Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, daß ich mich über eine (phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in welcher mir der Vorwurf gemacht wurde, daß ich immer „zu weit ginge“, und > in die ich nun den wenig respektvollen Ausdruck „v e r s t i e g e n” einzusetzen hatte.

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c) Auf meinem Schreibtische liegen seit vielen Jahren neben einander ein Reflexhammer und eine Stimmgabel. Eines Tages eile ich nach Schluß der Sprechstunde fort, weil ich einen bestimmten Stadtbahnzug erreichen will, stecke bei vollem Tageslicht anstatt des Hammers die Stimmgabel in die Rocktasche und werde durch die Schwere des die Tasche herabziehenden Gegenstandes auf meinen Mißgriff aufmerksam gemacht. Wer sich über so kleine Vorkommnisse Gedanken zu machen nicht gewöhnt ist, wird ohne Zweifel den Fehlgritt durch die Eile des Momentes erklären und entschuldigen. Ich habe es trotzdem vorgezogen, mir die Frage zu stellen, warum ich eigentlich die Stimmgabel anstatt des Hammers genommen. Die Eilfertigkeit hätte ebensowohl ein Motiv sein können, den Griff richtig auszuführen, um nicht Zeit mit der Korrektur zu versäumen.

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Wer hat zuletzt nach der Stimmgabel gegriffen? lautet die Frage, die sich mir da aufdrängt. Das war vor wenigen Tagen ein idio t i 5 c h e 3 Kind, bei dem ich die Aufmerksamkeit auf Sinneseindriicke prüfte, und das durch die Stimmgabel so gefesselt wurde, daß ich sie ihm nur schwer entreißen konnte, Soll das also heißen, ich sei ein Idiot?

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78 Das Vergreifen. _ Allerdings scheint es so, denn der nächste Einfall, der sich an Hammer assoziiert, lautet „C h a m e r“ (hebräisch: Esel).

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Was soll aber dieses Geschimpfe? Man muß hier die Situation befragen. Ich eile zu einer Konsultation in einem Ort an der Westbahnstrecke, zu einer Kranken, die nach der brieflich mitgeteilten Anamnese vor Monaten vom Balkon herabgestürzt ist und seither nicht gehen kann. Der Arzt, der mich einlädt, schreibt, er wisse trotzdem nicht, ob es sich um Rückenma.rksverletzung oder um traumatische Neurose — Hysterie — handle. Das soll ich nun entscheiden. Da wäre also eine Mahnung am Platze, in der heiklen Differentialdiagnose besonders vorsichtig zu sein. Die Kollegen meinen ohnedies, man diagnostiziere viel zu leichtsinnig Hysterie, wo es sich um ernstere Dinge handle. Aber die Beschimpfung ist noch nicht gerechtfertigt! Ja, es kommt hinzu, daß die kleine Bahnstation der nämliche Ort ist, an dem ich vor Jahren einen jungen Mann gesehen, der seit einer Gemütsbewegung nicht ordentlich gehen konnte. Ich diagnostizierte damals Hysterie und nahm den Kranken später in psychische Behandlung, und dann stellte es sich heraus, daß ich freilich nicht unrichtig diagnostiziert hatte, aber auch nicht richtig. Einel‘ganze»Anzahl der Symptome des Kranken war hysterisch gewesen, und diese schwanden auch prompt im Laufe der Behandlung. Aber,hinter diesen wurde nun ein für die Therapie unautastbarer Rest sichtbar, der sich nur auf eine multiple Sklerose beziehen ließ. Die den Kranken nach mir sahen, hatten es leicht, die organische Afiektion zu erkennen ; ich hätte kaum anders vorgehen und anders urteilen können, aber der Eindruck war doch der eines schweren Irrtums; das Versprechen der Heilung, das ich ihm gegeben hatte, war natürlich nicht zu halten. Der Miß— gri.ff nach der Stimmgabel anstatt nach dem Hammer ließ sich also so in \Worte übersetzen: Du Trottel, Du Esel, nimm Dich diesmal zusammen, daß du nicht wieder eine Hysterie diegnostizierst, wo eine unheilbare Krankheit vorliegt, wie bei dem armen Mann an demselben Ort vor Jahren! Und zum Glück für diese kleine Analyse, wenn auch zum Unglück für meine Stimmung, war dieser selbe Mann mit schwerer spastischer Lähmung wenige Tage vorher und_ einen Tag nach dem idiotischen Kind in meiner Sprechstunde gewesen.

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Man merkt, es ist diesmal die Stimme der Selbstkritik, die sich durch das Fehlgreifen vernehmlich macht. Zu solcher Verwendung als Selbstverwurf ist der Fehlgriff [ganz besonders geeignet. Der Mißgrit'i hier will den Mißgriff, den man anderswo begangen hat, darstellen.

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c) Selbstverständlich kann das Fehlgreifen auch einer ganzen Reihe anderer dunkler Absichten dienen. Hier ein erstes Beispiel: Es kommt sehr selten vor, daß ich etwas zerschlage. Ich bin nicht besonders geschickt, aber infolge der anatomischen Integrität meiner Nervmuskelapparate sind Gründe für so ungeschickte Bewegungen mit unerwünschtem Erfolg bei mir offenbar nicht gegeben. Ich weiß also kein Objekt in meinem Hause zu erinnem, dessengleichen ich je zerschlagen hätte. Ich war durch die Enge in meinem Studierzirnmer oft genötigt, in den unbequemsten Stellungen rnit einer Anzahl von antiken Ton- und Steinsachen, von denen ich eine kleine Sammlung habe, zu hantieren, so daß Zuschauer die Besorgnis ansdrückten, ich würde etwas herunterschleudern und zerschlagen. Es ist aber niemals geschehen. Warum habe ich also einmal den marmornen Deckel meines ein1achen Tintengefäßes zu Boden geworfen, so daß er zerbrach?

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Mein Tintenzeug besteht aus einer Platte von Untersberger Marmor, die für die Aufnahme des gläsernen Tintenfäßchens ausgehöhlt ist; das Tintenfaß trägt einen Deckel mit Knopf aus demselben Stein. Ein Kranz von Bronzestatuetten und Terrakotta-Figürchen ist hinter diesem Tintenzeug aufgestellt. Ich setze mich an den Tisch, um zu schreiben, mache mit der Hand, welche den Federstiel hält, eine merkwürdig ungeschickte, austahrende Bewegung und werte so den Deckel des Tintenfasses, der bereits auf dem Tische lag, zu Boden. Die Erklärung ist nicht schwer zu finden. Einige Stunden vorher war meine Schwester im Zimmer gewesen, um sich einige neue Erwerbungen anzusehen. Sie fand sie sehr schön und äußerte dann: „Jetzt sieht Dein Schreibtisch wirklich hübsch aus, nur das Tintenzeug paßt nicht dazu. Dumu.ßt ein schöneres haben." Ich begleitete die Schwester hinaus und kam erst nach Stunden zurück. Dann aber habe ich, wie es scheint, an dem verurteilten Tintenzeug die Exekution vollzogen. Schloß ich etwa aus den Worten der Schwester, daß sie sich vorgenommen habe, mich zur nächsten festlichen Gelegenheit mit einem schöneren Tintenzeug zu beschenken, und zerschlug das unschöne alte, um sie zur Verwirklichung ihrer angedeuteten Absicht zu nötigen? Wenn dem so ist, so war meine schleudernde Bewegung nur scheinbar ungeschickt ; in Wirklichkeit war sie höchst geschickt und zielbewußt und verstand es, allen wertvolleren in der Nähe befindlichen Objekten schonend auszuweichen.

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Ich glaube wirklich, daß man diese Beurteilung für eine ganze Reihe von anscheinend zufällig ungeschickten Bewegungen annehmen muß. Es ist richtig, daß diese etwas Gewaltsames, Sehleuderndes,

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wie Spastisch-ataktischee zur Schau tragen, aber sie erweisen sich als von einer Intention beherrscht und treffen ihr Ziel mit einer Sicherheit, die man den bewußt willkürlichen Bewegungen nicht allgemein nachrühmen kann. Beide Charaktere, die Gewaltsamkeit wie die Treffsicherheit, haben sie übrigens mit den motorischen Äußerungen der hysterischen Neurose und zum Teil auch mit den motorischen Leistungen des Somnambulismus gemeinsam, was wohl hier wie dort auf die nämliche unbekannte Modifikation des Innervationsvorganges hinweist.

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Es ist mir in den letzten Jahren, seitdem ich solche Beobachtungen sammle, noch einige Male geschehen, daß ich Gegenstände von gewissem Werte zerschlagen oder zerbrochen habe, aber die Untersuchung dieser Fälle hat mich überzeugt, daß es niemals ein Erfolg des Zufalls oder meiner absichtslosen Ungeschicklichkeit war. So habe ich eines Morgens, als ich im Badekostüm, die Füße rnit Strohpantoffeln be— kleidet, durch ein Zimmer ging, einem plötzlichen Impuls folgend, einen der Pantoffel vorn Fuß weg gegen die Wand geschleudert, so daß er eine hübsche kleine Venus von Marmor von ihrer Konsole herunterholte. Während sie in Stücke ging, zitierte ich ganz ungerührt die Verse von B u s c h:

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Ach! Die Venus ist perdü — Klickeradoms! —— von Medici!

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Dieses tolle Treiben und meine Ruhe bei dem Schaden finden ihre Aufklärung in der damaligen Situation. Wir hatten eine schwer Kranke in der Familie, an deren Genesung ich im Stillen bereits verzweifelt hatte. An jenem Morgen hatte ich von einer großen Besserung erfahren; ich weiß, daß ich mir gesagt hatte: also bleibt sie doch am Leben. Dann diente mein Anfall von Zerstörungswut zum Ausdrucke einer denkbaren Stimmung gegen das Schicksal und gestattete mit, eine „0 p f e r h a n dl u n g" zu vollziehen, gleichsam als hätte ich gelobt; wenn sie gesund wird, bringe ich dies oder jenes zum Opfer! Daß ich für dieses Opfer die Venus von Medici ausgesucht, sollte gewiß nichts anderes als eine gelante Huldigung für die Genesende sein; nnbegreif— lich bleibt mir aber auch diesmal, daß ich, so rasch entschlossen, so geschickt gezielt und kein anderes der in so großer Nähe befindlichen Objekte getroffen habe.

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Ein anderes Zerbrechen, für das ich mich wiederum des der Hand entfahrenden Federstiels bedient habe, hatte gleichfalls die Bedeutung eines Opfers, aber diesmal eines B i t t o p { e r s zur Abwendung. Ich hatte mir einmal darin gefallen, einem treuen und verdienten Freunde einen Vorwurf zu machen, der sich auf die Deutung gewisser Zeichen

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aus seinem Unbewußten, auf nichts anderes, stützte. Er nahm es übel auf und schrieb mir einen Brief, in dem er mich bat, meine Freunde nicht psychoanalytisch zu behandeln. Ich mußte ihm recht geben und beschwichtigte ihn durch meine Antwort. Während ich diesen Brief schrieb, hatte ich meine neueste Erwerbung, ein prächtig glasiertes egyptisches Figürchen, vor mir stehen. Ich zerschlug sie auf die be— schriebene Weise und wußte dann sofort, daß ich dies Unheil an« gerichtet, um ein größeres abzuwenden. Zum Glück ließ sich beides —— die Freundschaft wie die Figur — so kitten, daß man den Sprung nicht merken würde.

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Ein drittes Zerbrechen stand in weniger ernsthaftem Zusammenhang; es war nur eine maskierte „Exelmtion“, um den Ausdruck von Th. Vischer („Auch Einer“) zu gebrauchen, an einem Objekt, das sich meines Gefallens nicht mehr erfreute. Ich hatte eine Zeitlang einen Stock mit Silbergrifi getragen; als die dünne Silberplatte einmal ohne mein Verschulden beschädigt werden war, wurde sie schlecht repariert. Bald nachdem der Stock zurückgekommen war, benützte ich den Griff, um im Übermut nach dem Bein eines meiner Kleinen zu angeln. Dabei brach er natürlich entzwei, und ich war von ihm befreit.

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Der Gleichmnt, mit dem man in all dißen Fällen den entstandenen Schaden auin.immt, darf wohl als Beweis für das Bestehen einer unbewußten Absicht bei der Ausführung in Anspruch genommen werden.

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Das Fallenlassen von Objekten, Umwerfen, Zerschlagen derselben scheint sehr häufig zum Ausdruck unbewußter Gedankengänge verwendet zu werden, wie man gelegentlich durch Analyse beweisen kann, häufiger aber aus den abergläubisch oder scherzhaft daran geküpften Deutungen im Volksmunde erraten möchte. Es ist bekannt, welche Deutungen sich an das Ausschütten von Salz, Umwerien eines Weinglases, Steckenbleiben eines zu Boden gefallenen Messers u. dgl. knüpfen. Welches Anrecht auf Beachtung solche abergläubische Deutungen haben, werde ich erst an späterer Stelle erörtern; hierher gehört nur die Bemerkung, daß die einzelne ungeschickte Vertichtung keineswegs einen konstanten Sinn hat, sondern je nach Umständen sich dieser oder jener Absicht als Darstellungsmittel bietet.

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Wenn dienende Personen gebrechliche Gegenstände durch Fallenlassen vernichten, so wird man an eine psychologische Erklärung hiefür gewiß nicht in erster Linie denken, doch ist auch dabei ein Beitrag dunkler Motive nicht unwahrscheinlich. Nichts liegt dem Unge

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bildeten ferner als die Schätzung der Kunst und der Kunstwerke. Freud, Psychopathnlogie des Alltagslebens. 6

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Eine dumpfe Feindseligkeit gegen deren Erzeugnisse beherrscht unser dienend'es Volk, zumal wenn die Gegenstände, deren Wert sie nicht einsehen, eine Quelle von Arbeitsanforderung für sie werden. Leute von derselben Bildungsstufe und Herkunft zeichnen sich dagegen in wissenschaftlichen Instituten oft durch große Geschicklichkeit und Verläßlichkeit in der Handhabung heikler Objekte aus, wenn sie erst begonnen haben, sich mit ihrem Herrn zu identifizieren und sich zum wesentlichen Personal des Instituts zu rechnen.

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Sich selbst fallen lassen, einen Fehltritt machen, ausgleiten, braucht gleichfalls nicht immer als rein zufälliges Fehlschlagen motorischer Aktion gedeutet zu werden. Der sprachliche Doppelsinn dieser Aus—« drücke weist bereits auf die Art von verhaltenen Phantasien hin, die sich durch solches Aufgehen des Körpergleichgewichts darstellen können. Ich erinnere mich an eine Anzahl von leichteren nervösen Erkrankungen bei Frauen und Mädchen, die nach einem Fall ohne Verletzung aufgetreten waren und als traumatische Hysterie zufolge des Schrecks beim Falle aufgefaßt wurden. Ich bekam schon damals den Eindruck, als ob die Dinge anders zusammenhingen, als wäre das Fallen bereits eine Veranstaltung der Neurose und ein Ausdruck derselben unbewußten Phantasien sexuellen Inhalts gewesen, die man als die bewegenden Kräfte hinter den Symptomen vermuten darf. Sollte dasselbe nicht auch ein Sprichwort sagen wollen, welches lautet: „Wenn

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' eine Jungfrau fällt, fällt sie auf den Rücken“?

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Zum Vergreifen kann man auch den Fall rechnen, daß jemand einem Bettler anstatt einer Kupfer- oder kleinen Silbermünze ein Goldstück gibt. Die Auflösung solcher Fehlgriffe ist leicht, es sind Opferhandlungen, bestimmt, das Schicksal zu erweichen, Unheil abzuwehren u. dgl. Hat man die zärtliche Mutter oder Tante unmittelbar vor dem Spaziergang, auf dem sie sich so widerwillig großmütig erzeigt, eine Besorgnis über die Gesundheit eines Kindes äußern gehört, so kann man an dem Sinn des angeblich unliebsarnen Zutalls nicht mehr zweifeln. Auf solche Art ermöglichen unsere Fehlleistungen die Ausübung aller jener kommen und abergläubischen Gebräuche, die wegen des Sträubens unserer ungläubig gewordenen Vernunft das Licht des Bewußtseins scheuen müssen.

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e) Daß zufällige Aktionen eigentlich absichtliche sind, wird auf keinem anderen Gebiete eher Glauben finden als auf dem der sexuellen Betätigung, wo die Grenze zwischen beiderlei Arten sich wirklich zu verwischen scheint Daß eine scheinbar ungeschickte Bewegung höchst raffiniert zu sexuellen Zwecken ausgenutzt werden kann, davon habe

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ich vor einigen Jahren an mir selbst ein schönes Beispiel erlebt. Ich traf in einem befreundeten Hause ein als Gast angelangtes junges Mädchen, welches ein längst für erloschen gehaltenes Wohlgefallen bei mir erregte und mich darum heiter, gesprächig und zuvorkommend stimmte. Ich habe damals auch nachgeforscht, auf welchen Bahnen dies zuging; ein Jahr vorher hatte dasselbe Mädchen mich kühl gelassen. Als nun der Onkel des Mädchens, ein sehr alter Herr, ins Zimmer trat, sprengen wir beide auf, um ihm einen in der Ecke stehenden Stuhl zu bringen. Sie war behender als ich, wohl auch dem Objekt näher; so hatte sie sich zuerst des Sessels bemächtigt und trug ihn mit der Lehne nach rückwärts, beide Hände auf die Sesselränder gelegt, vor sich hin. Indem ich später hinzutrat und den Anspruch, den Sessel zu tragen, doch nicht aufgab, stand ich plötzlich dicht hinter ihr, hatte beide Arme von rückwärts um sie geschlungen, und die Hände trafen sich einen Moment lang vor ihrem Schoß. Ich löste natürlich die Situation ebenso rasch, als sie entstanden war. Es schien auch keinem aufzutallen, wie geschickt ich diese ungeschickte Bewegung ausgebeutet hatte.

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Gelegentlich habe ich mir auch sagen müssen, daß das ärgerliche, ungeschickte Ausweichen auf der Straße, wobei man durch einige Sekunden hin und her, aber doch stets nach der nämlichen Seite wie der oder die Andere, Schritte macht, bis endlich beide vor einander stehen bleiben, daß auch dieses „den Weg Vertreten“ ein unartig provozierendes Benehmen früherer Jahre wiederholt und sexuelle Absichten unter der Maske der Ungeschicklichkeit verfolgt. Aus meinen Psychoanalysen Neurotischer weiß ich, daß die sogenannte Naivität junger Leute und Kinder häufig nur solch eine Maske ist, um das Unanständige unbeirrt durch Genieren aussprechen oder tun zu können.

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Ganz änliche Beobachtungen hat W. S t e k el von seiner eigenen Person mitgeteilt „Ich trete in ein Haus ein und reiche der Dame des Hauses meine Rechte. Merkwürdigerweise löse ich dabei die Schleife, die ihr loses Morgenkleid zusammenhält. Ich bin mir keiner unehrbaren Absicht bewußt und doch habe ich diese ungeschickte Bewegung mit der Geschicklichkeit eines Eskamoteurs vollbracht.“

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f) Die Effekte, die durch das Fehlgreifen normaler Menschen zustande kommen, sind in der Regel von harmlosester Art. Gerade darum wird sich ein besonderes Interesse an die Frage knüpfen, ob Fehlgriffe von erheblicher Tragweite, die von bedeutsamen Folgen begleitet sein können, wie z. B. die des Arztes oder Apothekers, nach irgend einer Richtung unter unsere Gesichtspunkte fallen.

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Da ich sehr selten in die Lage komme, ärztliche Eingriffe vorzunehmen, habe ich nur über ein Beispiel von ärztlichem Vergreifen aus eigener Erfahrung zu berichten. Bei einer sehr alten Dame, die ich seit Jahren zweimal täglich besuche, beschränkt sich meine ärztliche Tätigkeit beim Morgenbesuch auf zwei Akte: ich träutle ihr ein paar Tropfen Augenwasser ins Auge und gebe ihr eine Morphiuminjektion. Zwei Fläschchen, ein blaues für das Kollyrium und ein weißes mit der Morphinlösung, sind regelmäßig vorbereitet. Während der beiden Verrichtungen beschäftigen sich meine Gedanken wohl meist mit etwas anderem; das hat sich eben schon so oft wiederholt, daß die Aufmerksamkeit sich wie frei benimmt. Eines Morgens bemerkte ich, daß der Automat falsch gearbeitet hatte; das Tropiröhrchen hatte ins weiße anstatt ins blaue Fläschchen eingetaucht und nicht Kollyrium, sondern Morphin ins Auge geträuielt. Ich erschrak heftig und beruhigte mich dann durch die Überlegung, daß einige Tropfen einer zweiprozentigen Morphinlösung auch im Bindehautsack kein Unheil anzurichten vermögen. Die Schreckempfindung war offenbar anderswoher abzuleiten.

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—Bei dem Versuch, den kleinen Fehlgrifi zu analysieren, fiel mir zunächst die Phrase ein: „sich an der Alten vergreifen“, die den kurzen Weg zur Lösung weisen konnte. Ich stand unter dem Eindrucke eines Traumes, den mir am Abend vorher ein junger Mann erzählt hatte, dessen Inhalt sich nur auf sexuellen Verkehr mit der eigenen Mutter deuten ließ.l) Die Sonderbarkeit, daß die Sage keinen Anstoß an dem Alter der Königin Jokaste nimmt, schien mir gut zu dem Ergebnis zu stimmen, daß es sich bei der Verliebtheit in die eigene Mutter niemals um deren gegenwärtige Person handelt, sondern um ihr jugendliches Erinnerungsbild aus den Kinderjahren. Solche Inkongruenzen stellen sich immer heraus, wo eine zwischen zwei Zeiten schwankende Phantasie bewußt gemacht und dadurch an eine bestimmte Zeit gebunden wird. In Gedanken solcher Art versunken kam ich zu meiner über neunzigjährigen Patientin, und ich muß wohl auf dem Wege gewesen sein, den allgemein menschlichen Charakter der Oedipusfabel als das Korrelat des Verhängnisses, das sich in den Orakeln äußert, zu erfassen, denn ich vergrifi mich dann „bei oder an der Alten“. Indes dies Ver

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1) Des Oedipus-Traurnes. wie ich ihn zu nennen pflege, weil er den Schlüssel zum Verständnis der Sage von König Oedipus enthält. Im Text des Sophokles ist die Beziehung auf einen solchen Traum der Jokaste in den Mund gelegt (Vgl, „Traumdeu'tung", p. 182).

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Das Vergreiien. 85

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greifen war wiederum harmlos; ich hatte von den beiden möglichen Irrtümern, die Morphinlösung fürs Auge zu verwenden, oder das Augen— wasser zur Injektion zu nehmen, den bei weitem harmloseren gewählt. Es bleibt immer noch die Frage, ob man bei Fehlgriiien, die schweren Schaden stiften können, in ähnlicher Weise wie bei den hier behandelten eine unbewußte Absicht in Erwägung ziehen darf.

§ 500

Hier läßt mich denn, wie zu erwarten steht, das Material im Stiche, und ich bleibe auf Vermutungen und Annäherungen angewiesen. Fß ist bekannt, daß bei den schwereren Fällen von Psychoneurose Selbstbeschädigungen gelegentlich als Krankheitssymptome auftreten, und daß der Ausgang des psychischen Konfliktes in Selbstmord bei ihnen niemals auszuschließen ist. Ich habe nun erfahren, und werde es eines Tages durch gut aufgeklärte Beispiele belegen, daß viele scheinbar zufällige Schädigungen, die solche Kranke treffen, eigentlich Selbstbeschädigungen sind, indem eine beständig lauemde Tendenz zur Selbstbestrai'ung, die sich sonst als Selbstvorwurl äußert, oder ihren Beitrag zur Symptombildung stellt, eine zufällig gebotene äußere Situation geschickt ausniitzt, oder ihr etwa, noch bis zur Erreichung des gewünschten schädigenden Effekten nachhilit. Solche Vorkommnisse sind auch bei mittelschweren Fällen keineswegs selten, und sie verraten den Anteil der unbewußten Absicht durch eine Reihe von besonderen Zügen, z. B. durch die auffällige Fassung, welche die Kranken bei dem angeblichen Unglüclßfalle bewahrenß) ,

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Aus der ärztlichen Erfahrung will ich anStatt vieler nur ein einziges Beispiel ausführlich berichten: Eine junge Frau bricht sich bei einem Wagenuntall die Knochen des. einen Unterschenkels, so daß sie für Wochen bettlägerig wird, fällt dabei durch den Mangel an Schmerzensi äußerungen und durch die Ruhe auf, mit der sie ihr Ungernach erträgt. Dieser Unfall leitet eine lange und schwere neurotische Erkrankung ein, von der sie endlich durch Psychotherapie hergestellt wird. In der Behandlung erfahre ich die Nebenumstände des Unialles sowie gewisse Eindrücke, die ihm vorausgegangen sind. Die junge Frau befand sich mit ihrem sehr eiiersüchtigen Marine auf dem Gut einer verheirateten

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1) Die Selbstbeschädigung, die nicht voll auf Selbstvemichtung hinzielt, hat in unserem gegenwärtigen Kulturzustand überhaupt keine andere Wahl, als sich hinter der Zufälligkeit zu verbergen, oder sich durch Simulation einer spontanen Erkrankung durchzusetzen. Früher einmal war sie ein gebräuchliche Zeichen der Trauer; zu anderen Zeiten konnte sie Ideen der Frömmigkeit und Weltentsagung Ausdruck geben.

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Schwester in Gesellschaft ihrer zahlreichen übrigen Geschwister und deren Männer und Frauen. Eines Abends gab sie in diesem intimen Kreise eine Vorstellung in einer ihrer Künste, sie tanzte kunstgerecht Cancan unter großem Beifall der Verwandten, aber zur geringen Befriedigung ihres Mannes, der ihr nachher zuzischelte: Du hast Dich Wider benommen wie eine Dirne. Das Wort traf; wir wollen es dahingestellt sein lassen, ob gerade wegen der Tanzproduktion. Sie schlief die Nacht unruhig, am nächsten Vormittag begehrte sie eine Ausfahrt zu machen. Aber sie wälte die Pferde selbst, refüsierte das eine Paar und verlangte ein anderes Die jüngste Schwester wollte ihren Säugling mit seiner Amine im Wagen mitfahren lassen; dem widersetzte sie sich energisch. Auf der Fahrt zeigte sie sich nervös, mahnte den Kutscher, daß die Pferde schen würden, und als die unruhigen Tiere wirklich einen Augenblick Schwierigkeiten machten, sprang sie im Schrecken aus dem Wagen und brach sich den Fuß, während die im Wagen Verbliebenen heil davonkamen. Kann man nach der Aufdeckung dieser Einzelheiten kaum mehr bezweifeln, daß dieser Unfall eigentlich eine Veranstaltung war, so wollen wir doch nicht versäumen die Geschick— lichkeit zu bewundern, welche den Zufall nötigte, die Strafe so passend für die Schuld auszuteilen. Denn nun war ihr das Cancantanzen für längere Zeit unmöglich gemacht.

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Von eigenen Selbstbeschädigungen weiß ich in ruhigen Zeiten wenig zu berichten, aber ich finde mich solcher unter außerordentlichen Bedingungen nicht unfähig. Wenn eines der Mitglieder meiner Familie sich beklagt, jetzt habe es sich auf die Zunge gebissen, die Finger gequetscht usw., so erfolgt anstatt der erhofften Teilnahme von meiner Seite die Frage: Wozu hast du das getan ? Aber ich habe mir selbst aufs schmerzhafteste den Daumen eingeklemmt, nachdem ein jugendlicher Patient in der Behandlungsstunde die (natürlich nicht ernsthaft zu nehmende) Absicht bekannt hatte, meine älteste Tochter zu heiraten, während ich wußte, daß sie sich gerade im Sanatorium Lu äußerster Lebensgefahr befand.

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Einer meiner Knaben, dessen lebhaftes Temperament der Krankenpflege Schwierigkeiten zu bereiten pflegte, hatte eines Morgens einen Zornanfall gehabt, weil man ihm zugemutet hatte, den Vormittag im Bette zuzubringen, und gedreht, sich umzubringen, wie es ihm aus der Zeitung bekannt geworden war. Abends zeigte er mir eine Beule, die er sich durch Anstoßen an die Türklinke an der Seite des Brustkorbs zugezogen hatte. Auf meine iranische Frage, wozu er das getan und was er damit gewollt habe, antwortete das II jährige Kind wie

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erleuchtet: Das war mein Selbstmordversuch, mit dem ich in der Früh‘ gedreht habe. Ich glaube übrigens nicht, daß meine Anschauungen über die Selbstbeschädigung meinen Kindern damals zugänglich waren.

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Wer an das Vorkommen von halb absichtlicher Selbstbeschädigung _ wenn der ungeschickte Ausdruck gestattet ist —— glaubt, der wird dadurch vorbereitet anzunehmen, daß es außer dem bewußt absichtlichen Selbstmord auch halb absichtliche Selbstvemichtung — mit unbewußter Absicht — gibt, die eine Lebensbedrohung geschickt aus— zunützen und sie als zufällige Verunglückung zu maskieren weiß. Eine solche braucht keineswegs selten zu sein. Denn die Tendenz zur Selbstvernichtung ist bei sehr viel mehr Menschen in einer gewissen Stärke vorhanden, als bei denen sie sich durchsetzt; die Selbstbeschädigungen sind in der Regel ein Kompromiß zwischen diesem Trieb und den ihm noch entgegenwirkenden Kräften, und auch wo es wirklich zum Selbstmord kommt, da ist die Neigung dazu eine lange Zeit vorher in geringerer Stärke oder als unbewußte und unterdrückte Tendenz vorhanden gewesen.

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Auch die bewußte Selbstmordabsicht wählt ihre Zeit, Mittel und Gelegenheit, es ist ganz im Einklang damit, wenn die unbewußte einen Anlaß abwartet, der einen Teil der Verursachung auf sich nehmen und sie durch Inanspruchnahme der Abwehrkräfte der Person von ihrer Bedrückung frei machen kann.“ Es sind keineswegs müßige Erwägungen, die ich da. vorbringe; mir ist mehr als ein Fall von anscheinend zufälligem Verunglücken (zu Pferde oder aus dem Wagen) bekannt geworden, dessen nähere Umstände den Verdacht auf un

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1) Der Fall ist dann sd11ießlich kein anderer als der des sexuellen Attentats auf eine Frau, bei dem der Anng des Mannes nicht durch die volle Muskelkraft des Vlieibes abgewehrt werden kann, weil ihm ein Teil der unbewnßten Regungen der Angegrifienen fürde entgegen kommt. Man sagt ja wohl. eine solche Situation \ äh m e die Kräite der Frau; man braucht dann nur noch die Gründe für diese Lähmung hinzufügen. Inmiern ist. der geistreiche Richterspruch des San clio Pause, den er als Gouverneur auf seiner Insel fällt, psychologisch ungerecht. (Don Quijote II. T. Kap. XLV,) Eine Frau zerrt einen Mann vor den Richter, der sie angeblich gewaltsam ihrer Ehre beraubt hat. S a n c h o entschädigt sie durch die volle Geldbörse, die er dem Angeklagten abnimmt. und gibt diesem nach dem Abgange der Frau die Erlaubnis, ihr nachzneilen und ihr die Börse wieder zu entreißen. Sie kommen beide ringend wieder, und die Frau berühmt sich, daß der Bösewicht nicht imstande gewesen sei, sichlder Börse in bemächtigen. Darauf S a n c h o: Hättest Du Deine Ehre halb so. ernsthaft verteidigt wie diese Börse, so hätte sie Dir der Mann nicht rauhen können.

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bewußt zugelassenen Selbstmord rechtfertigen. Da stürzt z. B. während eines Offizierswettrennens ein Offizier vom Pferde und verletzt sich so schwer, daß er mehrere Tage nachher erliegt. Sein Benehmen, nachdem er zu sich gekommen, ist in manchen Stücken auffällig. Noch bemerkenswerter ist sein Benehmen vorher gewesen. Er ist tief verstimmt durch den Tod seiner geliebten Mutter, wird von Weinkrämpfen in der Gesellschaft seiner Kameraden befallen, er äußert Lebensüberdruß gegen seine vertrauten Freunde, will den Dienst quittieren, um an einem Kriege in Afrika Anteil zu nehmen, der ihn sonst nicht berührt ?) früher ein schneidiger Reiter, weicht er jetzt dem Reiten aus, wo es nur möglich ist. Vor dem Wettrennen endlich, dem er sich nicht entziehen kann, äußert er eine trübe Ahnung; wir werden uns bei unserer Auffassung nicht mehr vermindern, daß diese Ahnung Recht behielt. Man wird mir entgegenhalten, & sei ja ohne weiteres verständlich, daß ein Mensch in solcher nervöser Depression das Tier nicht zu meistern versteht wie in gesunden Tagen. Ich bin ganz einverstanden; nur möchte ich den Mechanismus dieser motorischen Hemmung durch die Nervosität in der hier betonten Selbstvernichtungsabsicht suchen.

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Wenn so ein Wiiten gegen die eigene Integrität und das eigene Leben hinter anscheinend zufälliger Ungeschicklichkeit und motorischer Unzulänglichkeit verborgen sein kann, so braucht man keinen großen Schritt mehr zu tun, um die Übertragung der nämlichen Auffassung auf Fehlgriffe möglich zu finden, welche Leben und Gesundheit anderer ernstlich in Gefahr bringen. Was ich an Belegen für die Triftigkeit dieser Auffassung verbringen kann, ist der Erfahrung an Neurotikern entnommen, deckt sich also nicht völlig mit dem Erfordernis. Ich werde über einen Fall berichten, in dem mich nicht eigentlich ein Fehlgriff, sondern, was man eher eine Symptom- oder Zufallshandlung nennen kann, auf die Spur brachte, welche dann die Lösung des Kon— flikts bei dem Patienten ermöglichte. Ich übernahm es einmal, die Ehe eines sehr intelligenten Mannes zu bessern, dessen Mißhelligkeiten mit seiner ihn zärtlich liebenden jungen Frau sich gewiß auf reale Begründungen berufen konnten, aber wie er selbst Zugab, durch diese nicht voll erklärt wurden. Er beschäftigte sich unablässig mit dem

§ 518

1) Daß die Situation des Schlachtfeldas eine solche ist. wie sie der’bewnßten Selbstmordabsicht entgegenkounrnt. die doch den direkten Weg scheut, ist einlenehtend. Vgl. im .,Wallenstein“ die Worte des schwedischen Hauptmanns über den Tod des Max I’iecolomini: „Man sagt, er wollte sterben“.

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Das Vergreifen. 89

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Gedanken der Scheidung, den er dann wieder verwarf, weil er seine beiden kleinen Kinder zärtlich liebte. Trotzdem kam er immer wieder auf den Vorsatz zurück und versuchte dabei kein Mittel, um sich die Situation erträglich zu gestalten. Solches Nichtfertigwerden mit einem Konflikt gilt mir als Beweis dafür, daß sich unbewußte und verdrängte Motive zur Verstärkung der miteinander streitenden bewußten bereit gefunden haben, und ich unternehme es in solchen Fällen, den Kon— flikt durch psychische Analyse zu beenden. Der Mann erzählte mir eines Tages von einem kleinen Vorfall, der ihn aufs äußerste erschreckt hatte. Er „hetzte“ mit seinem älteren Kind, dem weitaus geliebteren, hab es hoch und ließ es nieder und einmal an solcher Stelle und so hoch, daß das Kind mit dem Scheitel fast an den schwer herabhängenden Gasluster angestoßen hätte. F as 1: , aber doch eigentlich nicht oder gerade eben noch! Dem Kind war nichts geschehen, aber es wurde vor Schreck schwindlig. Der Vater blieb entsetzt mit dem Kinds im Arme stehen, die Mutter bekam einen hysterischen Anfall. Die be— sondere Geschicklichkeit dieser unvorsichtigen Bewegung, die Heftigkeit der Reaktion bei den Eltern legten es mir nahe, in dieser Zufälligkeit eine Symptomhandlung zu suchen, welche eine böse Absicht gegen das geliebte Kind zum Ausdruck bringen sollte. Den Wider— spruch gegen d.ie aktuelle Zärtlichkeit dieses Vaters zu seinem Kinde konnte ich aufheben, wenn ich den Impuls zur Schädigung in die Zeit zurückverlegte, da dieses Kind das einzige und so klein gewesen war, daß sich der Vater noch nicht zärtlich für dasselbe zu interessieren brauchte. Dann hatte ich es leicht, anzunehmen, daß der von seiner Frau wenig befriedigte Mann damals den Gedanken gehabt oder den Vorsatz gefaßt: Wenn dieses kleine Wesen, an dem mir gar nichts liegt, stirbt, dann bin ich frei und kann mich von der Frau scheiden lassen. Ein Wunsch nach dem Tode dieses jetzt so geliebten Wesens mußte also unbeth weiterbestehen. Von hier ab war der Weg zur unbewußten Fixierung dieses Wunsches leicht zu finden. Eine mächtige Determinierung ergab sich wirklich aus der Kindheitserinnerung des Patienten, daß der Tod eines kleinen Bruders, den die Mutter der Nachlässigkeit des Vaters zur Last legte, zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern mit Scheidungsandrohung geführt hatte. Der weitere Verlauf der Ehe meines Patienten bestätigte meine Kombination auch durch den therapeutischen Erfolg.

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go Symptom- und Zufallshandlungen.

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IX.

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Symptom- und Zufallshandlungen.

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Die bisher beschriebenen Handlungen, in denen wir die Ausführung einer unbewußten Absicht erkannten, traten als Störungen anderer beabsichtigter Handlungen auf und deckten sich mit dem Vorwand der Ungeschicklichkeit. Die Zufallshandlungen, von denen jetzt die Rede sein soll, unterscheiden sich von denen des Vergreifens nur dadurch, daß sie die Anlehnung an eine bewußte Intention verschmä.hen und also des Vorwandes nicht bedürfen. Sie treten für sich auf und werden zugelassen, weil man Zweck und Absicht bei ihnen nicht vermutet. Man fiihrt sie aus, „ohne sich etwas bei ihnen zu denken“, nur „rein zufällig“, „wie um die Hände zu beschäftigen“, und man rechnet darauf, daß solche Auskunft der Nachforschung nach der Bedeutung der Handlung ein Ende bereiten wird. Um sich dieser Ausnahmsstellung erfreuen zu können, müssen diese Handlungen, die nicht mehr die Entschuldigung der Ungeschicklichkeit in Anspruch nehmen, bestimmte Bedingungen erfüllen; sie müssen u n — a u f t al 1 l i g und ihre Effekte müssen geringfügig sein.

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Ich habe eine große Anzahl solcher Zufallshandlungen bei mir und anderen gesammelt, und meine nach gründlicher Untersuchung der einzelnen Beispiele, daß sie eher den Namen von Sympt om?) a 1] dl u n g e n verdienen. Sie bringen etwas zum Ausdruck, was der Täter selbst nicht in ihnen vermutet, und was er in der Regel nicht mitzuteilen, sondern für sich zu behalten beabsichtigt. Sie spielen also ganz so wie alle anderen bisher betrachteten Phänomene die Rolle von Symptomen.

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Die reichste Ausbeute an solchen Zufalls- oder Symptomhandlungen erhält man allerdings bei der psychoanalytischen Behandlung der Neurotiker. Ich kann es mir nicht versagen, an zwei Beispielen dieser Herkunft zu zeigen, wie weit und wie fein die Determinierung dieser unscheinbaren Vorkommnisse durch unbewußte Gedanken ge4 trieben ist. Die Grenze der Symptomhandlungen gegen das Vergreifen ist so wenig scharf, daß ich diese Beispiele auch im vorigen Abschnitt hätte unterbringen können.

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a) Eine junge Frau erzählte als Einiall während der Sitzung, daß sie sich gestern beim Nägelschneiden „ins Fleisch geschnitten, Während sie das feine Häutchen im Nagelbett abzutragen bemüht war". Das ist so wenig interessant, daß man sich verwundert fragt, wozu es über—

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haupt erinnert und erwähnt wird, und auf die Vermutung gerät, man habe es mit einer Symptomhandlung zu tun. Es war auch wirklich der Ringfinger, an dem das kleine Ungeschick verfiel, der Finger, an dem man den Ehering trägt. Es was überdies ihr Hochzeitstag, was der Verletzung des feinen Häutchens einen ganz bestimmten, leicht zu erratenden Sinn verleiht. Sie erzählt auch gleichzeitig einen Traum, der auf die Ungeschicklichkeit ihres Mannes und auf ihre Anästhesie als Frau anspielt. Warum war es aber der Ringfinger der linken Hand, an dem sie sich verletzte, da man doch den Ehering an der rechten Hand trägt? Ihr Mann ist Jurist, „Doktor der Rechte“, und ihre geheime Neigung hatte als Mädchen einem Arzt (scherzhaft: „Doktor der Linke“) gehört. Eine Ehe zur linken Hand hat auch ihre bestimmte Bedeutung.

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b) Eine unverheiratete junge Dame erzählt: „Ich habe gestern ganz unabsichtlich eine wo Guldennote in zwei Stücke gerissen und die Hälfte davon einer mich besuchenden Dame gegeben. Soll das auch eine Symptomhandlung sein?“ Die genauere Erforschung deckt folgende Einzelheiten auf: Die Hundertguldennote: Sie widmet einen Teil ihrer Zeit und ihres Vermögens wohltätigen Werken. Gemeinsam mit einer anderen Dame sorgt sie für die Erziehung eines verwaisten Kindes. Die 100 Gulden sind der ihr zugeschickte Beitrag jener Dame, den sie in ein Convert einscldoß und vorläufig auf ihren Schreibtisch niederlegte.

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Die Besucherin war eine angesehene Dame, der sie bei einer anderen Wohltätigkeitsaktion beisteht. Diese Dame wollte eine Reihe von Namen von Personen notieren, an die man sich um Unterstützung wenden könnte. Es fehlte an Papier, da griff meine Patientin nach dem Convert auf ihrem Schreibtisch und riß es, ohne sich an seinen Inhalt zu beginnen, in zwei Stücke, von denen sie eines selbst behielt, um ein Duplikat der Namenshste zu haben, das andere ihrer Besucherin übergab. Man bemerke die Harmlosigkeit dieses unzweckmäßigen Vorgehens. Eine Hundertguldennote erleidet bekanntlich keine Einbuße an ihrem Werte, wenn sie Zerrissen wird, falls sie sich aus den Rißstücken vollständig zusammensetzen läßt. Daß die Dame das Stück Papier nicht wegwerten würde, war durch die Wichtigkeit der darauf stehenden Namen'verbürgt, und ebensowenig litt es einen Zweifel, daß sie den wertvollen Inhalt zurückstellen würde, sobald sie ihn bemerkt hätte.

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Welchem unbewußten Gedanken sollte aber diese Zufallshand lung, die sich durch ein Vergessen ermöglichte, Ausdruck geben? Die

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besuchende Dame hatte eine ganz bestimmte Beziehung zu unserer Kur. Es war dieselbe, die mich seinerzeit dem leidenden Mädchen als Arzt empfohlen, und wenn ich nicht irre, hält sich meine Patientin zum Dank für diesen Rat verpflichtet. Soll die halbierte Hundertguldennote etwa ein Honorar für diese Vermittlung darstellen? Das bliebe noch recht befrerndlich.

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Es kommt aber anderes Material hinzu. Einige Tage vorher hatte eine Vermittlerin ganz anderer Art bei einer Verwandten angefragt, ob das gnädige Fräulein wohl die Bekanntschaft eines gewissen Herrn machen wolle, und am Morgen, einige Stunden vor dem Besuche der Dame, war der Werbebrief des Freiers eingetroffen, der viel Anlaß zur Heiterkeit gegeben hatte. Als nun die Dame das Gespräch mit einer Erkundigung nach dem Befinden meiner Patientin eröffnete, konnte diese wohl gedacht haben: „Den richtigen Arzt hast Du mir zwar empfohlen, wenn Du mit aber zum richtigen Mann (und dahinter: zu einem Kind) verhelfen könntest, wäre ich Dir doch denkbaren“ Von diesem verdrängt gehaltenen Gedanken aus flossen ihr die beiden Vermittlerinnen in eins zusammen, und sie überreichte der Besucherin das Honorar, das ihre Phantasie der anderen zu geben bereit war. Völlig verbindlich wird diese Lösung, wenn ich hinzufüge, daß ich ihr erst am Abend vorher von solchen Zufalls- oder Symptomhandlungen erzählt hatte. Sie bediente sich dann der nächsten Gelegenheit, um etwas Analoges zu produzieren,

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Eine Gruppierung der so überaus häufigen Zufalls- und Symptomhaudlungen könnte man voi'nehmen, je nachdem sie gewohnheitsmäßig, regelmäßig unter gewissen Umständen, oder vereinzelt erfolgen. Die ersteren (wie das Spielen mit der Uhrkette, das Zwirbeln am Bart etc.), die fast zur Charakteristik der betreffenden Personen dienen können, streifen an die mannigfaltigen Tikbewegungen und verdienen wohl im Zusammenhange mit letzteren behandelt zu werden. Zur zweiten Gruppe rechne ich das Spielen, wenn man einen Stock, das Kritzeln, wenn man einen Bleistift in der Hand hält, das Klimpern mit Münzen in der Tasche, das Kneten von Teig und anderen plastischen Stoffen, allerlei Hantierungen an seiner Gewandung u. dgl. mehr. Unter diesen spielenden Beschäftigungen verbergen sich während der psychischen Be— handlung regelmäßig Sinn und Bedeutung, denen ein anderer Ausdruck versagt ist. Gewöhnlich weiß die betreffende Person nichts davon, 7 daß sie dergleichen tut, oder daß sie gewisse Modifikationen an ihrem

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gewöhnlichen Tändeln vorgenommen hat, und sie übersieht und über— hört auch die Effekte dieser Handlungen. Sie hört z. B. das Geräusch

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nicht, das sie beim Klimpern mit Geldstücken hervorbringt, und benimmt sich wie erstaunt und ungläubig, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Ebenso ist alles, was man, oft ohne es zu merken, mit seinen Kleidern vornirnmt, bedeutnngsvoll und der Beachtung des Arztes wert. Jede Veränderung des gewohnten Aufzuges, jede kleine Nachlässigkeit wie etwa ein nicht schließender Knopf, jede Spur von Entblößung will etwas hesagen, was der Eigentümer der Kleidung nicht direkt sagen Will, meist gar nicht zu sagen weiß. Die Deutungen dieser kleinen Zufallsbandlungen, sowie die Beweise für diese Deutungen ergeben sich jedesmal mit zureichender Sicherheit aus den Begleitumständen während der Sitzung, aus dem eben behandelten Thema und aus den Einfällen, die sich einstellen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die anscheinende‘ Zufälligkeit lenkt. Wegen dieses Zusammen— hanges unterlasse ich es, meine Behauptungen durch Mitteilung von Beispielen mit Analyse zu unterstützen; ich erwähne diese Dinge aber, weil ich glaube, daß sie bei normalen Menschen dieselbe Bedeutung haben wie bei meinen Patienten.

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Ich kann etwa aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung einen Fall erzählen, in dem die mit einem Klumpen Brotkrume spielende Hand eine beredte Aussage ablegte. Mein Patient war ein noch nicht I3j., seit fast zwei jahren schwer hysterischer Knabe, den ich endlich in psychoanalytische Behandlung nahm, nachdem ein längerer Aufent— halt in einer Wasserheilanstalt sich erfolglos erwiesen hatte. Er mußte nach meiner Voraussetzung sexuelle Erfahrungen gemacht haben und seiner Altersstufe entsprechend von sexuellen Fragen gequä.lt sein; ich hütete mich aber, ihm mit Aufklärungen zur Hilfe zu kommen, weil ich wieder einmal eine Probe auf meine Voraussetzungen anstellen wollte. Ich durfte also neugierig sein, auf welchem Wege sich das Gesuchte bei ihm andeuten würde. Da fiel es mir auf, daß er eines Tages irgend etwas zwischen den Fingern der rechten Hand rollte, damit in die Tasche {Uhr, dort weiter spielte, es wieder hervorzog etc. Ich fragte nicht, was er in der Hand habe; er zeigte es mir aber, indem er plötzlich die Hand öffnete. Es war Brotkrume, die zu einem Klnmpen zusammengeknetet war. In der nächsten Sitzung brachte er wieder einen solchen Klumpen mit, formte aber aus ihm, während wir das Gespräch führten, mit unglaublicher Raschheit und bei geschlossenen Augen Figuren, die mein Interesse erregten. Es waren unzweifelhatt Männchen mit Kopf, zwei Armen, zwei Beinen, wie die rohesten prä—

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historischen Idole, und einem Fortsatz zwischen beiden Beinen, den ' er in eine lange Spitze auszog. Kaum daß dieser gefertigt war, knetete

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er das Männchen wieder zusammen; später ließ er es bestehen, zog aber einen ebensclchen Fortsatz an der Rückenfläche und an anderen Stellen aus, um die Bedeutung des ersten zu verhüllen. Ich wollte ihm zeigen, daß ich ihn verstanden habe, ihm aber dabei die Ausflucht benehmen, daß er sich bei dieser Menschen iormenden Tätigkeit nichts gedacht habe. In dieser Absicht fragte ich ihn plötzlich, ob er sich an die Geschichte jenes römischen Königs erinnere, der dem Abgesandten seines Sohnes eine pantornirnische Antwort im Garten gegeben. Der Knabe wollte sich nicht an das erinnern, was er doch vor so viel kürzerer Zeit als ich gelernt haben mußte. Er iragte, ob das die Geschichte von dem Sklaven sei, auf dessen glattrasierten Schädel man die Antwort geschrieben habe. Nein, das gehört in die griechische Geschichte, sagte ich und erzählte: Der König Tarquinius Superbus hatte seinen Sohn Sextus veranlaßt, sich in eine feindliche latinische Stadt einzuschleichen. Der Sohn, der sich unterdes Anhang in dieser Stadt verschafft hatte, schickte einen Boten an den König rnit der Frage, was nun weiter ge— schehen solle. Der König gab keine Antwort, sondern ging in seinen Garten, ließ sich dort die Frage wiederholen und schlug schweigend die größten und schönsten Mohnköpie ab. Dem Boten blieb nichts übrig als dieses dem Sextus zu berichten, der den Vater verstand und es sich angelegen sein ließ, die angesehensten Bürger der Stadt durch Mord zu beseitigen.

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Während ich redete, hielt der Knabe in seinem Kneten inne, und als ich mich anschickte zu erzählen, was der König in seinem Garten tat, schon bei den Worten „schlug schweigend", hatte er mit einer blitzschnellen Bewegung seinem Männchen den Kopf abgerissen. Er hatte mich also verstanden und gemerkt, daß er von mir verstanden werden war. Ich konnte ihn nun direkt befragen, gab ihm die Auskünfte, um die es ihm zu tun war, und wir hatten binnen kurzem der Neurose ein Ende gemacht.

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Die Symptomhandlungen, die man in fast unerschöpflicher Reich— haltigkeit bei Gesunden wie Kranken beobachten kann, verdienen unser Interesse aus mehr als einem Grunde. Dem Arzte dienen sie oft als wertvolle Winke zur Orientierung in neuen oder ihm wenig bekannten Verhältnissen, dern Menschenbeobachter verraten sie oft alles, und mitunter selbst mehr, als er zu wissen wünscht. Wer mit ihrer Würdigung vertraut ist, datt sich gelegentlich wie der König Salomo vor— kommen, der nach der orientalischen Sage die Sprachen der Tiere ver— stand. Eines Tages sollte ich einen mir fremden jungen Mann im Hause seiner Mutter ärztlich untersuchen. Als er mir entgegentrat,

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fiel mir ein großer Eiweißfleck, kenntlich an seinen eigentiimlich starren Rändern, auf seiner Hose auf. Der junge Mann entschuldigte sich nach kurzerVerlegenheit, er habe sich heiser gefühlt und darum ein rohes Ei getrunken, von. dem wahrscheinlich etwas schlüpfriges Eiweiß auf seine Kleidung herabgeronnen sei, und konnte zur Bestätigung auf die Eierschale hinweisen, die noch auf einem Tellerchen im Zimmer zu sehen war. Somit war der suspekte Fleck in harmloser Weise aufgeklärt; als aber die Mutter uns allein gelassen hatte, dankte ich ihm, daß er mir die Diagnose so sehr erleichtert habe, und nahm ohne weiteres sein Geständnis, daß er unter den Beschwerden der Masturbation leide, zur Grundlage unserer Unterhaltung. Ein anderes Mal machte ich einen Be. such bei einer ebenso reichen als geizigen und närrischen Dame, die dem Arzte die Aufgabe zu stellen pflegte, sich durch ein Heer von Klagen durchzuarbeiten, ehe man zur simpeln Begründung ihrer Zustände gelangte. Als ich eintrat, saß sie bei einem Tischchen damit beschäftigt, Silbergulden in Häufchen zu schichten, und während sie sich erhob, warf sie einige der Geldstücke zu Boden. Ich half ihr beim Aufklauben derselben, unterbrach sie bald in der Schilderung ihres Elends und fragte : Hat Sie also der vornehme Schwiegersohn wiederum um soviel Geld gebracht? Sie antwortete mit erbitterter Verneinung, um die kürzeste Zeit nachher die klägliche Geschichte von der Aufregung über die Verschwendung des Schwiegersohnes zu erzählen, hat mich aber allerdings seither nicht wieder gerufen. Ich kann nicht behaupten, daß man sich immer Freunde unter denen wirbt, denen man die Bedeutung ihrer Symptomhandlungen mitteilt.

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Die Zufalls- oder Symptomhandlungen, die sich in Ehesachen ereignen, haben oft die ernsteste Bedeutung und könnten den, der sich um die Psychologie des Unbewußten nicht bekümrnern will, zum Glauben an Vorzeichen nötigen. Es ist kein guter Anfang, wenn eine junge Frau auf der Hochzeitsreise ihren Ehering verliert, doch war er meist nur verlegt und wird bald wiedergefunden. —- Ich kenne eine jetzt von ihrem Marine gaschiedene Dame, die bei der Verwaltung ihres Vermögens Dokumente häufig mit ihrem Mädchennamen unterzeichnet hat, viele Jahre vorher, ehe sie diesen wirklich Wieder annahm. — Einst war ich Gast bei_;einem jung verheirateten Paare und hörte die junge Frau lachend ihr letztes Erlebnis erzählen, wie sie am Tage nach der Rückkehr von der Reise wieder ihre ledige Schwester aufgesucht hätte, um mit ihr wie in früheren Zeiten Einkäufe zu machen, während der Ehemann seinen Geschäften nachging. Plötzlich sei ihr ein Herr auf der anderen Seite der Straße aufgefallen, und sie habe, ihre Schwester

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anstoßend, gerufen: Schau, dort geht ja der Herr L. Sie hatte vergessen, daß dieser Herr seit einigen Wochen ihr Ehegemahl war. Mich überlief es kalt bei dieser Erzählung, aber ich getraute mich der Folgerung nicht; die kleine Geschichte fiel mir erst Jahre später wieder ein, nachdem diese Ehe den unglücklichsten Ausgang ge— nommen hatte

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Von der großen Schauspielerin El e o n o r a D u s e erzählte mir ein Freund, der auf Zeichen achten gelernt hat, sie bringe in einer ihrer Rollen eine Symptomhandlung an, die so recht zeige, aus welcher Tiefe sie ihr Spiel heraufhole. Es ist ein Ehebruchsdrama; sie hat eben eine Auseinandersetzung mit ihrem Marine gehabt und steht nun in Gedanken abseits, ehe sich ihr der Versucher nähert. In diesem kurzen Intervall spielt sie mit dem Ehering an ihrem Finger, zieht ihn ab, um ihn wieder anzustecken, und zieht ihn wieder ab. Sie ist nun reif für den Anderen.

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Ich weiß auch von einem älteren Herrn, der ein sehr junges Mädchen zur Frau nahm und die Hochzeitsnacht anstatt abzureisen in einem Hotel der Großstadt zuzubringen gedachte. Kaum im Hotel angelangt, merkte er mit Schrecken, daß er seine Brieitasche, in der sich die ganze für die Hochzeitsreise bestimmte Geldsumme befand, vermisse, also verlegt oder verloren habe. Es gelang noch, den Diener telephonisch zu erreichen, der das Vermißte in dem abgelegten Rock des Hoch« zeiters auffand und dem Harrenden, der so ohne Vermögen in die Ehe gegangen war, ins Hotel brachte. Er konnte also am nächsten Morgen die Reise mit seiner jungen Frau antreten; in der Nacht selbst war er, wie seine Befürchtung vorausgesehen hatte, „unvermögend“ geblieben.

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Es ist tröstlich zu denken, daß das „Ve rl i er e n“ der Menschen in nngeahnter Ausdehnung Symptomhandlung und somit wenigstens einer geheimen Absicht des Verlustträgers willkommen ist. Es ist oit nur ein Ausdruck der geringen Schätzung des verlorenen Gegenstandes oder einer geheimen Abneigung gegen denselben oder gegen die Person, von der etwa herstammt, oder die Verlustneigung hat sich auf diesen Gegenstand durch symbolische Gedankenverbindung von anderen und bedeutsameren Objekten her übertragen. Das Verlieren wertvollerer Dinge dient mannigfachen Regungen zum Ausdruck, es soll entweder einen ver-drängten Gedanken symbolisch darstellen, also eine Mahnung wiederholen, die man gerne überhören möchte, oder es soll —— und dies vor allem anderen — den dunkeln Schicksals

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mächten —-— Opfer bringen, deren Dienst auch unter uns noch nicht erloschen ist?)

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Von den vereinzelten Zufallshandlungen will ich ein Beispiel mitteilen, welches auch ohne Analyse eine tiefere Deutung zuließ, das die Bedingungen trefflich erläutert, unter denen solche Symptome vollkommen unauffällig produziert werden können, und an das sich eine praktisch bedeutsame Bemerkung anknüpfen läßt. Auf einer Sommerreise traf es sich, daß ich einige Tage an einem gewissen Orte auf die Ankunft meines Reisegefährteu zu warten hatte. Ich machte unterdes die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der sich gleichfalls einsam zu fühlen schien und sich bereitwillig mir anschloß. Da Wir in demselben Hötel wohnten, fügte es sich leicht, daß wir alle Mahlzeiten gemeinsam einnahrnen und Spaziergänge miteinander machten. Am

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1) Hier noch eine kleine Sammlung mannigfaltiger Symptomhandlungen bei Gesunden und Neurotikern: Ein älterer Kollege, der nicht gerne im Kartenspiel verliert, hat eines abends eine größere Verlustsumrne klaglos aber in eigentüm— lich verhaltener Stimmung ausgezahlt. Nach seinem Weggehen wird entdeckt, daß er so ziemlich alles. was er bei sich trägt. au.t seinem Platz zurückgelassen hat: Brille, Zigarrentasche und Sacktuch. Das fordert wohl die Übersetzung: Ihr Räuber. ihr habt mich da schön ansgeplündert. ——Ein Mann. der an gelegentlich auftretender sexueller Impotenz leidet, welche in der Inuigkcit seiner Kinderbeziehungen zur Mutter begründet ist, berichtet. daß er gewohnt ist. Schriften und Aufzeichnungen mit einem S., dem Antangsbuchstaben des Namens seiner Mutter. zu verzieren. Er verträgt es nicht, daß Briefe von Hause auf seinem Schreibtisch in Berührung mit: anderen, unheiligen Bdefechaften geraten. und ist darum genötigt, erstere gesondert aufzubewahren. — Eine junge Dame reißt plötzlich die Türe des Behandlungszimmers auf, in dem sich noch ihre Vargängerin befindet. Sie entschuldigt sich mit „Gedankenlosigkeit“; es ergibt sich bald, daß sie die Neugierde demonstriert hat, welche sie seinerzeit ins Schlafzimmer der Eltern dringen ließ. —— Mädchen, die auf ihre schönen Haare stolz sind, wissen so geschickt mit Kamm und Haarnadeln umzugehen. daß sich ihnen mitten im Gespräch die Haare lösen. — Manche Männer zerstreuen während der Behandlung (in liegender Stellung) Kleingeld aus der Hosentasche und honorieren so die Arbeit der Behandlungsstunde je nach ihrer Schätzung. — Wer beim Arzt einen mitgebrachten Gegenstand wie Zwicker. Handschuhe, Täschchen vergißt, deutet damit gewöhnlich an. daß er sich nicht losrei.ßen kann und gerne bald wiederkommen möchte. — Wer sich wie ] un g (Uber die Psychologie der Dementia praecox. 1907, p. 62) die Mühe nehmen will, auf die Melodien zu achten, welche man ohne es zu beabsichtigen. oft ohne es zu merken, vor sich hin trällert. wird die Be— ziehung des Textes zu einem die Person beschäftigenden Komplex wohl regelmäßig aufdecken können,

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Freud, Psychopatlmlogie des Alltagslebens. 7

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Nachmittag des dritten Tages teilte er mir plötzlich mit, daß er heute abends seine mit dem Eilzuge anlangende Frau erwarte, Mein psycho— logisches Interesse wurde nun rege, denn es war mir an meinem Gesellschafter bereits am Vormittag aufgefallen, daß er meinen Vorschlag zu einer größeren Partie zurückgewiesen und auf unserem kleinen Spaziergang einen gewissen Weg als zu steil und gefährlich nicht hatte begehen wollen. Ani dem Nachmittagsspaziergang behauptete er plötzlich, ich müßte doch hungrig sein, ich sollte doch ja nicht seinet— wegen die Abendmahlzeit aufsehieben, er werde erst nach der Ankunft seiner Frau mit ihr zu Abend essen. Ich verstand den Wink und setzte mich an den Tisch, während er auf den Bahnhof ging. Am nächsten Morgen trafen wir uns in der Vorhalle des Hötels. Er stellte mich seiner Frau vor und fügte hinzu: Sie werden doch mit uns das Frühstück nehmen ? Ich hatte noch eine kleine Besorgung in der nächsten Straße vor und versicherte, ich würde bald nachkornrnen. Als ich dann in den Frühstückssaal trat, sah ich, daß das Paar an einem kleinen Fenstertisch Platz genommen hatte, auf dessen einer Seite sie beide saßen. Auf der Gegenseite befand sich nur ein Sessel, aber über dessen Lehne hing der große und schwere Lodenmantel des Mannes herab, den Platz verdeckend. Ich verstand sehr wohl den Sinn dieser gewiß nicht absichtlichen, aber darum um so ausdrucksvolleren Lagerung. Es hieß: für Dich ist hier kein Platz, Du bist jetzt überflüssig. Der Mann bemerkte es nicht, daß ich vor dem Tische stehen blieb, ohne mich zu setzen, wohl aber die Dame, die ihren Mann sofort anstieß und ihm zufliisterte: Du hast ja dem Herrn den Platz verlegt.

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Bei diesem wie bei anderen ähnlichen Erlebnissen habe ich mir gesagt, daß die unabsichtlich ausgeführten Handlungen unvermeidlich zur Quelle von Mißverständnissen im menschlichen Verkehr werden müssen, Der Täter, der von einer mit ihnen verknüpften Absicht nichts weiß, rechnet sich dieselben nicht an und hält sich nicht ver— antwortlich für sie. Der andere hingegen erkennt, indem er regelmäßig auch solche Handlungen seines Partners zu Schlüssen über dessen Absichten und Gesinnungen verwertet, mehr von den psychischen Vorgängen des Fremden, als dieser selbst zuzugeben bereit ist und mitgeteilt zu haben glaubt Letzterer aber entrüstet sich, wenn ihm diese aus seinen Symptomhandlungen gezogenen Schlüsse vorgehalten werden, erklärt sie für grundlos, da ihm das Bewußtsein für die Absicht bei der Ausführung fehlt, und klagt über Mißverständnis von seiten des anderen. Genau besehen beruht ein solches Mißverständnis auf einem Zufein- und Zuvielverstehen. ]e „nervöser“ zwei Menschen

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Irrtümer. 99

§ 574

sind, desto eher werden sie einander Anlaß zu Entzweiungen bieten, deren Begründung jeder für seine eigene Person ebenso bestimmt leugnet, wie er sie für die Person des anderen als gesichert annimmt. Und dies ist wohl die Strafe für die innere Unaufrichtigkeit, daß die Menschen unter den Vorwänden des Vergessens, Vergreifens und der Unabsichtlichkeit Regungen den Ausdruck gestatten, die sie besser sich und anderen eingestehen würden, wenn sie sie schon nicht beherrschen können. Man kann in der Tat ganz allgemein behaupten, daß jedermann fortwährend psychische Analyse an seinen Nebenmenschen betreibt und diese infolgedessen besser kennen lernt als jeder einzelne sich selbst. Der Weg zur Befolgung der Mahnung 1%“! film“ führt durch das Studium seiner eigenen scheinbar zufälligen Handlungen und Unterlassungen.

§ 575

X.

§ 576

Irrtümer.

§ 577

Die Irrtümer des Gedächtnisses sind vom Vergessen mit Fehl. erinnern nur durch den einen Zug unterschieden, daß der Irrtum (das Fehlerirmern) nicht als solcher erkannt wird, sondern Glauben findet, Der Gebrauch des Ausdruckes „Irrtum“ scheint aber noch an einer anderen Bedingung zu hängen. Wir sprechen von „Irren“ anstatt von „falsch Erinnern“, wo in dem zu reproduzierenden psychischen Material der Charakter der objektiven Realität hervorgehoben werden 5011, wo also etwas anders erinnert werden soll als eine Tatsache meines eigenen psychischen Lebens, vielmehr etwas, was der Bestätigung oder Widerlegung durch die Erinnerung anderer zugänglich ist. Den Gegensatz zum Gedächtnisirrturn in diesem Sinn bildet die Un— wissenheit.

§ 578

In meinem Buche „Die Traumdeutung (1900)“ habe ich mich einer Reihe von Verfälschungen an geschichtlichern und überhaupt tatsächlichen-r Material schuldig gemacht, auf die ich nach dem Er— scheinen des Buches mit Verwunderung aufmerksam geworden bin. Ich habe bei näherer Prüfung derselben gefunden, daß sie nicht meiner Unwissenheit entsprungen sind, sondern sich auf Irrtümer des Gedächtnisses zurückleiten, welche sich durch Analyse aufklären lassen.

§ 579

a) Auf 5. 266 bezeichne ich als den Geburtsort S chill ersIdie Stadt M a r b u r g , deren Name in der Steiermark wiederkehrt. Der

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7.

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sind, desto eher werden sie einander Anlaß zu Entzweiungen bieten, deren Begründung jeder für seine eigene Person ebenso bestimmt leugnet, wie er sie für die Person des anderen als gesichert annimmt. Und dies ist wohl die Strafe für die innere Unaufrichtigkeit, daß die Menschen unter den Vorwänden des Vergessens, Vergreifens und der Unabsichtlichkeit Regungen den Ausdruck gestatten, die sie besser sich und anderen eingestehen würden, wenn sie sie schon nicht beherrschen können. Man kann in der Tat ganz allgemein behaupten, daß jedermann fortwährend psychische Analyse an seinen Nebenmenschen betreibt und diese infolgedessen besser kennen lernt als jeder einzelne sich selbst. Der Weg zur Befolgung der Mahnung γνῶδι σεαυτὸν führt durch das Studium seiner eigenen scheinbar zufälligen Handlungen und Unterlassungen.

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X.

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Irrtümer.

§ 584

Die Irrtümer des Gedächtnisses sind vom Vergessen mit Fehlerinnern nur durch den einen Zug unterschieden, daß der Irrtum (das Fehlerinnern) nicht als solcher erkannt wird, sondern Glauben findet. Der Gebrauch des Ausdruckes „Irrtum“ scheint aber noch an einer anderen Bedingung zu hängen. Wir sprechen von „Irren“ anstatt von „falsch Erinnern“, wo in dem zu reproduzierenden psychischen Material der Charakter der objektiven Realität hervorgehoben werden soll, wo also etwas anders erinnert werden soll als eine Tatsache meines eigenen psychischen Lebens, vielmehr etwas, was der Bestätigung oder Widerlegung durch die Erinnerung anderer zugänglich ist. Den Gegensatz zum Gedächtnisirrtum in diesem Sinn bildet die Unwissenheit.

§ 585

In meinem Buche „Die Traumdeutung (1900)“ habe ich mich einer Reihe von Verfälschungen an geschichtlichem und überhaupt tatsächlichem Material schuldig gemacht, auf die ich nach dem Erscheinen des Buches mit Verwunderung aufmerksam geworden bin. Ich habe bei näherer Prüfung derselben gefunden, daß sie nicht meiner Unwissenheit entsprungen sind, sondern sich auf Irrtümer des Gedächtnisses zurückleiten, welche sich durch Analyse aufklären lassen.

§ 586

a) Auf S. 266 bezeichne ich als den Geburtsort Schillers die Stadt Marburg, deren Name in der Steiermark wiederkehrt. Der

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1 00 Irrtümer.

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Irrtum findet sich in der Analyse eines Traumes während einer Nachtreise, aus dem ich durch den vom Kondukteur ausgemfenen Stationsnamen M a r b u r g geweckt wurde. Im Trauminhalt wird nach einem Buch von Schiller gefragt, Nun ist Schiller nicht in der Universitätsstadt M a r b u r g , sondern in dem schwäbischen M a r b a c h geboren. Ich behaupte auch, daß ich dies immer gewußt habe.

§ 589

b) Auf S. 135 wird Hannibals Vater Hasdrubal genannt. Dieser Irrtum war mir besonders ärgerlich, hat_mich aber in der Auffassung solcher Irrtümer am meisten bestärkt. In der Geschichte der B a r k i d e n dürften wenige der Leser des Buches besser Bescheid wissen als der Verfasser, der diesen Fehler niederschrieb und ihn bei drei Korrekturen übersah. Der Vater Hannibals hieß Hamilkar Barkas, Hasdrubal war der Name von H ann i bals Bruder, übrigens auch der seines Schwagers und Vorgängers im Kommando.

§ 590

c) Auf S. I77 und S. 370 behaupte ich, daß Zeus seinen Vater Kronos entmannt und ihn vom Throne stürzt. Diesen Greuel habe ich aber irrtümlich um eine Generation vorgeschoben; die griechische Mythologie läßt ihn von K r o n o 5 an seinem Vater U r a n 0 5 verüben.

§ 591

Wie ist es nun zu erklären, daß mein Gedächtnis in diesen Punkten Ungetreues lieferte, während es mir sonst, wie sich Leser des Buches überzeugen können, das entlegenste und ungebräuchlichste Material zur Verfügung stellte? Und ferner, daß ich bei drei sorgfältig durchgeführten Korrekturen wie mit Blindheit geschlagen an diesen Irrtümern vorbeiging‘?

§ 592

Goethe hat von Lichtenberg gesagt: Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen. Ähnlich kann man über die hier angeführten Stellen meines Buchs behaupten: wo ein Irrtum vorliegt, da steckt eine Verdrängung dahinter. Richtiger gesagt: eine Unaufrichtigkeit, eine Entstehung, die schließlich auf Verdrängtem fußt. Ich bin bei der Analyse der dort mitgeteilten Träume durch die bloße Natur der Themata, auf welche sich die Traumgedanken beziehen, 'genötigt gewesen, einerseits die Analyse irgendwo vor ihrer Abrundung abzubrechen, anderseits einer indiskreten Einzelheit durch leise Entstehung die Schärfe zu benehmen. Ich konnte nicht anders und hatte auch keine andere Wahl, wenn ich überhaupt Beispiele uud Belege verbringen wollte; meine Zwangslage leitete sich mit Notwendigkeit aus der Eigenschaft der Träume ab, Verdrängtem,

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Irrtümer. ! 0 I

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d. h. Bewußtseinsuniähigem, Ausdruck zu geben. Es dürfte trotzdem genug übrig geblieben sein, woran empfindlichen Seelen Anstoß genommen haben. Die Entstellung oder Verschweigung der mir selbst noch bekannten fortsetzenden Gedanken hat sich nun nicht spurlos durchführen lassen. Was ich unterdrücken wollte, hat sich oftmals wider meinen Willen den Zugang in das von mir Autgenommene erkämpft und ist darin als von mir unbemerkter Irrtum zumVorschein gekommen. In allen drei hervorgehobenen Beispielen liegt übrigens das nämliche Thema zu Grunde; die Irrtümer sind Abkömmlinge verdrängter Gedanken, die sich mit meinem verstorbenen Vater beschäftigen.

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ad. a) Wer den auf S. 266 analysierten Traum durchliest, wird teils unverhüllt erfahren, teils aus Andeutungen erraten können, daß ich bei Gedanken abgebrochen habe, die eine untreundliche Kritik am Vater enthalten hätten. In der Fortsetzung dieses Zuges von Gedanken und Erinnerungen liegt nun eine ärgerliche Geschichte, in welcher Bücher eine Rolle spielen und ein Geschäftsfreund des Vaters, der den Namen M a r b n r g führt, denselben Namen, durch dessen Anruf in der gleichnamigen Südbahnstation ich aus dem Schlaf geweckt wurde. Diesen Herrn M a r b u r g wollte ich bei der Analyse mit und den Lesern unterschlagen; er rächte sich dadurch, daß er sich dort einmengte, wo er nicht hingehört, und den Namen des Geburtsortes Schillers aus Marbach in Marburg veränderte.

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ad. b) Der Irrtum Hasdrubal anstatt Hamilkar, der' Name des Bruders an Stelle des Namens des Vaters, ereignete sich gerade in einem Zusammenhange, der von den. Hannibalphantasien meiner Gymnasiastenjahre und von meiner Unzufriedenheit mit dem Benehmen des Vaters gegen die „Feinde unseres Volkes“ handelt. Ich hätte formetzen und erzählen können, wie mein Verhältnis zum Vater durch einen Besuch in England verändert wurde, der mich die Bekanntsth meines dort lebenden Halbbruders aus früherer Ehe des Vaters machen ließ. Mein Bruder hat einen ältesten Sohn, der mir gleichalterig ist; die Phantasien, wie anders es geworden wäre, wenn ich nicht als Sohn des Vaters, sondern des Bruders zur Welt gekommen wäre, fanden also kein Hindernis an den Altersrelationen. Diese nnterdrückten Phantasien fälschten nun an der Stelle, wo ich in der Analyse abbrach, den Text meines Buches, indem sie mich nötigten den Namen des Bruders für den des Vaters zu setzen.

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ad. c) Dem Einfluß der Erinnerung an diesen selben Bruder schreibe ich a zu, daß ich die mythologischen Greuel der griechischen Götterwelt um eine Generation vorgeschoben habe. Von den Mahnungen

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l 02 Irrtümer.

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des Bruders ist mir lange Zeit eine im Gedächtnis geblieben: „Vergiß nicht, in Bezug auf Lebensführung, eines“, hatte er mir gesagt, „daß Du nicht der zweiten, sondern eigentlich der dritten Generation vom Vater aus angehörst." Unser Vater hatte sich in späteren Jahren wieder ver— heiratet und war um so Vieles älter als seine Kinder zweiter Ehe, Ich begehe den besprochenen Irrtum im Buche gerade, wo ich von der Pietät zwischen Eltern und Kindern handle.

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Es ist auch einige Male vorgekommen, daß Freunde und Patienten, deren Träume ich berichtete, oder auf die ich in den Traumanalysen anspielte, mich aufmerksam machten, die Umstände der gemeinsam erlebten Begebenheit seien von mir ungenau erzählt worden. Das wären nun wiederum historische Irrtümer. Ich habe die einzelnen Fälle nach der Richtigstellung nachgepriift und mich gleichfalls überzeugt, daß meine Erinnerung des Sachlichen nur dort ungetreu war, wo ich in der Analyse etwas mit Absicht entstth oder verhehlt hatte. Auch hier wieder ein unbemerkter Irrtum als Ersatz für eine absichtliche Verschweigung oder Verd r ii n g u n g.

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Von diesen Irrtümeru, die der Verdrängung eutspringen, heben sich scharf andere ab, die auf wirklicher Unwissenheit beruhen. So war es z. B. Unwissenheit, wenn ich auf einem Ausflug in die W a c h a u den Aufenthalt des Revolutionärs Fi s chhoi berührt zu haben glaubte. Die beiden Orte haben nur den Namen gemein; das E m — mersdorf Fischhofs liegt in Kärnthen. Ich wußte es aber nicht anders.

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Noch ein heschämender und lehrreicher Irrtum, ein Beispiel von temporärer Ignoranz, wenn man so sagen darf. Ein Patient mahnte mich eines Tages, ihm die zwei versprochenen Bücher über Venedig mitzugeben, aus denen er sich für seine Osterreise vorbereiten wolle. Ich habe sie bereit gelegt, erwiderte ich, und ging in das Bibliotheks— zimmer, um sie zu holen. In Wahrheit hatte ich aber vergessen, sie herauszusuchen, denn ich war mit der Reise meines Patienten, in der ich eine unnötige Störung der Behandlung und eine materielle Schädigung des Arztes erblickte, nicht recht einverstanden. Ich halte also in der Bibliothek rasche Umschau nach den beiden Büchern, die ich ins Auge gefaßt hatte. „Venedig als Kunststätte“ ist das eine; außer— dem aber muß ich noch ein historisches Werk in einer ähnlichen Sammlung besitzen. Richtig, da ist es: „Die Mediceer,“ ich nehme es und bringe es dem Wartenden, um dann beschämt den Irrtum einzugestehen. Ich weiß doch wirklich, daß die Medici nichts mit Venedig zu tun

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Irrtümer. l 03

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haben, aber es erschien mir für eine kurze Weile gar nicht unrichtig. Nun muß ich Gerechtigkeit üben; da ich dem Patienten so häufig seine eigenen Symptomhandlungen vorgehalten habe, kann ich meine Autorität vor ihm nur retten, wenn ich ehrlich werde und ihm die geheim gehaltenen Motive meiner Abneigung gegen seine Reise kundgebe.

§ 608

Man darf ganz allgemein erstaunt sein, daß der Wahrheitsdrang der Menschen soviel stärker ist, als man ihn für gewöhnlich einschätzt. Vielleicht ist es übrigens eine Folge meiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse, daß ich kaum mehr lügen kann. So oft ich eine Entstellung versuche, nnterliege ich einer Irrung oder anderen Fehlleistung, durch die sich meine Unaufrichtigkeit wie in diesen und den vorstehenden Beispielen verrät.

§ 609

Der Mechanismus des Irrtums scheint der lockerste unter allen Fehlleistungen, d. h. das Vorkommen des Irrtums zeigt ganz allgemein an, daß die betreffende seelische Tätigkeit mit irgend einem störenden Einfluß zu kämpfen hatte, ohne daß die Art des Irrtums durch die Qualität der im dunkeln gebliebenen störenden Idee determiniert wäre. Wir tragen indeß an dieser Stelle nach, daß bei vielen einfachen Fällen von Versprechen und Verschreiben derselbe Tatbßtand anzunehmen ist. ]edeemal, wenn wir uns versprechen oder verschreiben, dürfen wir eine Störung durch seelische Vorgänge außerhalb der Intention erschließen, aber es ist zuzugeben, daß das Versprechen und Verschreiben oftmals den Gesetzen der Ähnlichkeit, der Bequemlichkeit oder der Neigung zur Beschleunigung folgt, ohne daß es dem Störenden gelungen wäre, ein Stück seines eigenen Charakters in dem beim Versprechen oder Verschreiben resultierenden Fehler durchzusetzen. Das Entgegenkommen des sprachlichen Materiales ermöglicht erst die Determinierung des Fehlers und setzt derselben auch die Grenze.

§ 610

Um nicht ausschließlich eigene Irrtümer anzulühren, will ich noch zwei Beispiele mitteilen, die allerdings ebensowohl beim Versprechen und Vergreifen hätten eingereiht werden können, was aber bei der Gleichwertigkeit all dieser Weisen von Fehlleistung bedeutungslos zu nennen ist.

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&) Ich habe einem Patienten untersagt, die Geliebte, mit der er selbst brechen möchte, telephonisch anzumfen, da. jedes Gespräch den Abgewöhnungskampf von neuem entfacht. Er soll ihr seine letzte Meinung schreiben, wiewohl es Schwierigkeiten hat, ihr Briefe zuzustellen. Er besucht mich nun um 1 Uhr, um mir zu sagen, daß er einen Weg gefunden hat, der diese Schwierigkeiten umgeht, fragt auch unter anderem, ob er sich auf meine ärztliche Autorität berufen darf.

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104 Irrtümer.

§ 614

Um 2 Uhr ist er mit der Abfassung des Absagebriefes beschäftigt, unterbricht sich plötzlich, sagt der dabei anwesenden Mutter: Jetzt habe ich vergessen, den Professor zu fragen, ob ich in dem Brief seinen Namen nennen darf, eilt zum Telephon, läßt sich verbinden und ruft die Frage ins Rohr: Bitte, ist der Herr Professor schon nach dem Speisen zu sprechen? Als Antwort tönt ihm ein erstauntes „Adolf, bist Du verrückt geworden ?“ entgegen und zwar von der nämlichen Stimme, die er nach meinem Gebote nicht mehr hätte hören sollen. Er hatte sich bloß „geh-rt" und anstatt der Nummer des Arztes die der Geliebten angegeben. »

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b) In einer Sommerirische hat der Schullehrer, ein ganz armer, aber stattlicher junger Mann, der Tochter eines Villenbesitzers aus der Großstadt so lange den Hof gemacht, bis das Mädchen sich leidenschaftlich in ihn verliebt und auch ihre Familie bewogen hat, die Heirat trotz der bestehenden Standes- und Rassenunterschiede gutzuheißen. Da schreibt der Lehrer eines Tages seinem Bruder einen Brief, in dem es heißt: Schön ist das Dirndl ja gar nicht, aber recht lieb, und soweit wärs gut. Ob ich mich aber werd’ entschließen können, eine ]üdin zu heiraten, das kann ich Dir noch nicht sagen. Dieser Brief gerät in die Hände der Braut und macht dem Verlöbnis ein Ende, während der Bruder sich gleichzeitig über die an ihn gerichteten Liebes— beteuerungen zu verwundern hat. Mein Gewährsmann versicherte mir, daß hier Irrtum und nicht eine schlaue Veranstaltung verlag. Mir ist auch ein anderer Fall bekannt geworden, in dem eine Dame, die, mit ihrem alten Arzt unzufrieden, ihm doch nicht offen absagen wollte, diesen Zweck mittelst einer Briefverwechslung erreichte, und wenigstens hier kann ich dafür einstehen, daß der Irrtum und nicht die bewußte List sich des bekannten Lustspielmotivs bedient hat.

§ 616

Man wird vielleicht nicht geneigt sein, die Klasse von Irrtümern, fiir die ich hier die Aufklärung gebe, für sehr zahlreich oder besonders bedeutnngsvoll zu halten. Ich gehe aber zu bedenken, ob man nicht Grund hat, die gleichen Gesichtspunkte auch auf die Beurteilung der ungleich wichtigeren U r t e i ls i r r t ü m e r der Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen. Nur den auserlesensten und ausgeglichensten Geistern scheint es möglich zu sein, das Bild der wahrgenommen äußeren Realität vor der Verzerrung zu bewahren, die es sonst beim Durchgang durch die psychische Individualität das Wahrnehmenden erfährt.

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XI.

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Kombinierte Fehlleistungen.

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Zwei der letzterwähnten Beispiele, mein Irrtum, der die Mediceer nach Venedig bringt, und der des jungen Mannes, der ein telephonisches Gespräch mit seiner Geliebten dem Verbote abzutrotzen weiß, haben eigentlich eine ungenaue Beschreibung gefunden und stellen sich bei sorgfältigerer Betrachtung als Vereinigung eines Vergessens mit einem Irrtum dar. Dieselbe Vereinigung kann ich noch deutlicher an einigen anderen Beispielen aufzeigen.

§ 621

a) Ein Freund teilt mir folgendes Erlebnis mit: Ich habe vor einigen Jahren die Wahl in den Ausschuß einer bestimmten Literarischen Vereinigung angenommen, weil ich vermutete, die Gesellschaft könnte mir einmal behilflich sein, eine Aufführung meines Dramas durchzusetzen, und nahm regelmäßig, wenn auch ohne viel Interesse, an den jeden Freitag stattfindenden Sitzungen teil. Vor einigen Monaten erhielt ich nun die Zusicherung einer Aufführung am Theater in F., und seither passierte es mir regelmäßig, daß ich an die Sitzungen jenes Vereins vergaß. Als ich Ihre Schrift über diese Dinge las, schämte ich mich meines Vergessens, machte mir Vorwürfe, es sei doch eine Gemeinheit, daß ich jetzt ausbleibe, nachdem ich die Leute nicht mehr brauche, und beschloß, nächsten Freitag gewiß nicht zu vergessen. Ich erinnerte mich an diesen Vorsatz immer wieder, bis ich ihn ausführte und vor der Tür des Sitzungssaales stand. Zu meinem Erstaunen war sie geschlossen, die Sitzung war schon vorüber; ich hatte mich nämlich im Tage geirrt; es war schon Samstag!

§ 622

b) Das nächste Beispiel ist eine Kombination einer Symptomhandlung mit einem Verlegen; es ist auf entfernteren Umwegen, aber aus guter Quelle zu mir gelangt.

§ 623

Eine Dame reist mit ihrem Schwager, einem berühmten Künstler, nach Rom. Der Besucher wird von den in Rom lebenden Deutschen sehr gefeiert und erhält unter anderem eine goldene Medaille antiker Herkunft zum Geschenk. Die Dame kränkt sich darüber, daß ihr Schwager das schöne Stück nicht genug zu schätzen weiß. Nachdem sie, von ihrer Schwester abgelöst, wieder zu Hause angelangt ist, entdeckt sie beim Auspacken, daß sie die Medaille — sie weiß nicht, wie — mitgenommen hat. Sie teilt es sofort dem Schwager brieflich mit und kündigt ihm an, daß sie das Entführte am nächsten Tage nach Rom zurückschicken wird. Am nächsten Tage aber ist die Medailleso geschickt verlegt, daß sie unauffindbar und unabsendbar ist, und dann dämmert der Dame, was ihre „Zerstreutheit“ bedeute, nämlich, daß sie das Stück für sich selbst behalten wolle.

§ 624

Ich will nicht behaupten, daß solche Fälle von kombinierten Fehlleistungen etwas neues lehren können, was nicht schon aus den Einzelfällen zu ersehen wäre, aber dieser Formenwechsel der Fehlleistung bei Erhaltung desselben Erfolgs gibt doch den plastischen Eindruck eines Willens, der nach einem bestimmten Ziele strebt, und widerspricht in ungleich energischerer Weise der Auffassung, daß die Fehlleistung etwas zufälliges und der Deutung nicht bedürftiges sei. Es darf uns auch auffallen, daß es in diesen Beispielen einem bewußten Vorsatz so gründlich mißlingt, den Erfolg der Fehlleistung hintanzuhalten. Mein Freund setzt es doch nicht durch, die Vereinssitzung zu besuchen, und die Dame findet sich außer Stande, sich von der Medaille zu trennen. Jenes Unbekannte, das sich gegen diese Vorsätze sträubt, findet einen anderen Ausweg, nachdem ihm der erste Weg versperrt wird. Zur Überwindung des unbekannten Motivs ist nämlich noch etwas anderes als der bewußte Gegenvorsatz erforderlich; es brauchte eine psychische Arbeit, welche das Unbekannte dem Bewußtsein bekannt macht.

§ 625

XII.

§ 626

Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

§ 627

Als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Einzelerörterungen kann man folgende Einsicht hinstellen: Gewisse Unzulänglichkeiten unserer psychischen Leistungen deren gemeinsamer Charakter sogleich näher bestimmt werden sollund gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen erweisen sich, wenn man das Verfahren der psychoanalytischen Untersuchung auf sie anwendet, als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert.

§ 628

Um in die Klasse der so zu erklärenden Phänomene eingereiht zu werden, muß eine psychische Fehlleistung folgenden Bedingungen genügen:so geschickt verlegt, daß sie unauffindbar und unabsendbar ist, und dann dämmert der Dame, was ihre „Zerstreutheit“ bedeute, nämlich, daß sie das Stück für sich selbst behalten wolle.

§ 629

Ich will nicht behaupten, daß solche Fälle von kombinierten Fehlleistungen etwas neues lehren können, was nicht schon aus den Einzelfällen zu ersehen wäre, aber dieser Formenwechsel der Fehlleistung bei Erhaltung desselben Erfolgs gibt doch den plastischen Eindruck eines Willens, der nach einem bestimmten Ziele strebt, und widerspricht in ungleich energischerer Weise der Auffassung, daß die Fehlleistung etwas zufälliges und der Deutung nicht bedürftiges sei. Es darf uns auch auffallen, daß es in diesen Beispielen einem bewußten Vorsatz so gründlich mißlingt, den Erfolg der Fehlleistung hintanzuhalten. Mein Freund setzt es doch nicht durch, die Vereinssitzung zu besuchen, und die Dame findet sich außer Stande, sich von der Medaille zu trennen. Jenes Unbekannte, das sich gegen diese Vorsätze sträubt, findet einen anderen Ausweg, nachdem ihm der erste Weg versperrt wird. Zur Überwindung des unbekannten Motivs ist nämlich noch etwas anderes als der bewußte Gegenvorsatz erforderlich; es brauchte eine psychische Arbeit, welche das Unbekannte dem Bewußtsein bekannt macht.

§ 630

XII.

§ 631

Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

§ 632

Als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Einzelerörterungen kann man folgende Einsicht hinstellen: Gewisse Unzulänglichkeiten unserer psychischen Leistungen deren gemeinsamer Charakter sogleich näher bestimmt werden sollund gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen erweisen sich, wenn man das Verfahren der psychoanalytischen Untersuchung auf sie anwendet, als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert.

§ 633

Um in die Klasse der so zu erklärenden Phänomene eingereiht zu werden, muß eine psychische Fehlleistung folgenden Bedingungen genügen:

§ 634

Determinismus. — Zufalls— und Aberglauben, —— Gesichtspunkte. 107

§ 635

a) Sie darf nicht über ein gewisses Maß hinausgehen, welches von unserer Schätzung festgesetzt ist und durch den Ausdruck „innerhalb der Breite des Normalen“ bezeichnet wird.

§ 636

b) Sie muß den Charakter der momentanen und zeitweiligen Störung an sich tragen. Wir müssen die nämliche Leistung vorher korrekter ausgeführt haben oder_uns jederzeit zutrauen, sie korrekter auszuführen. Wenn wir von anderer Seite korrigiert werden, müssen wir die Richtigkeit der Korrektur und die Unrichtigkeit unseres eigenen psychischen Vorganges sofort erkennen.

§ 637

c) Wenn wir die Fehlleistung überhaupt wahrnehmen, dürfen wir von einer Motivierung derselben nichts in uns verspüren, sondern müssen versucht sein, sie durch „Unaufrnerksamkeit“ zu erklären oder als „Zufälligkeit“ hinzustellen.

§ 638

Es verbleiben somit in dieser Gruppe die Fälle von Vergessen und die Irrtümer bei besserem Wissen, das Versprechen, Verlasen, Verschreiben, Vergreifen und die sog. Zufallshandlungen. Die gleiche Zusammensetzung mit der Vorsilbe v e r deutet für die meisten dieser Phänomene die innere Gleichartigkeit sprachlich an. An die Aufklärung dieser so bestimmten psychischen Vorgänge knüpft aber eine Reihe von Bemerkungen an, die zum Teil ein weitergehendes Interesse erwecken dürfen.

§ 639

1. Indem wir einen Teil unserer psychischen Leistungen als unaufklärbar durch Zielvorstellungen preisgeben, verkennen wir den Umfang der Determinierung im Seelenleben. Dieselbe reicht hier und noch auf anderen Gebieten weiter, als wir es vermuten. Ich habe im Jahre 1900 in einem Aufsatz des Literarhistorikers R. M. M e y e r in der „Zeit“ ausgeführt und an Beispielen erläutert gefunden, daß % unmöglich ist, absichtlich und willkürlich einen Unsinn zu komponieren. Seit längerer Zeit weiß ich, daß man es nicht zustande bringt, sich eine Zahl nach freiem Belieben einfallen zu lassen, ebensowenig wie etwa einen Namen. Untersucht man die scheinbar willkürlich gebildete, etwa mehrstellige, wie im Scherz oder Ubennut ausgesprochene Zahl, so erweist sich deren strenge Determinierung, die man wirklich nicht für möglich gehalten hätte. Ich will nun zunächst ein Beispiel eines willkürlich gewählten Vornamens kurz erörtern und dann ein analoges Beispiel einer „gedankenlos hingeworfenen“ Zahl ausführlicher analysieren.

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a) Im Begriffe, die Krankengeschichte einer meiner Patientinnen für die Publikation herzun'chteu, erwäge ich, welchen Vornamen ich ihr in der Arbeit geben soll. Die Auswahl scheint sehr groß; gewiß

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108 Determinismns. — Zufall» und Aberglauben. —- Gesichtspunkte.

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schließen sich einige Namen von vorne herein aus, in erster Linie der echte Name, sodann die Namen meiner eigenen Familienangehörigeu, an denen ich Anstoß nehmen würde, etwa noch andere Frauennamen von besonders seltsamern Klang; im übrigen aber brauchte-ich um einen solchen Namen nicht verlegen zu sein. Man sollte erwarten und ich erwarte selbst, daß sich rnir eine ganze Schar weiblicher Namen zur Verfügung stellen wird. Anstatt dessen taucht ein einzelner auf, kein zweiter neben ihm, der Name Der a. Ich frage nach seiner Determinierung. Wer heißt denn nur sonst Dora? Ungläubig möchte ich den nächsten Einfall zurückweisen, der lautet, daß das Kindermädchen meiner Schwester so heißt. Aber ich besitze soviel Selbstzucht oder Übung im Analysieren, daß ich den Einfall festhalte und weiterspinne. Da fällt mir auch sofort eine kleine Begebenheit des vorigen Abends ein, welche die gesuchte Determinierung bringt. Ich sah auf dem Tisch im Speisezimmer meiner Schwester einen Brief liegen mit der Aufschrift: „An Fräulein Rosa W." Erstaunt fragte ich, wer so heißt, und wurde belehrt, daß die vermeintliche Dora eigentlich Rosa heißt, und diesen ihren Namen beim Eintritt ins Haus ablegen mußte, weil meine Schwester den Ruf „Rosa“ auch auf ihre eigene Person beziehen kann. Ich sage bedauernd: Die armen Leute, nicht einmal ihren Namen können sie beibehalten! Wie ich mich jetzt besinne, wurde ich dann für einen Moment still und begann an.allerlei ernsthafte Dinge zu denken, die ins Unklare verliefen, die ich mir jetzt aber leicht bewußt machen könnte. Als ich dann am nächsten Tag nach einem Namen fiir eine Person suchte, cl i e i h r e n e i g e n e n nicht beibehalten durfte, fiel mirkein anderer als „Dora“ ein, Die Ausschließlichkeit beruht hier auf fester inhaltlicher Ver— knüpfung, denn in der Geschichte meiner Patientin rührte ein auch für den Verlauf der Kur entscheidender Einfluß von der im fremden Haus dienenden Person, von einer Gouvernente, her.

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Diese kleine Begebenheit fand jahre später eine unerwartete Fortsetzung. Als ich einmal die längst veröffentlichte Krankengeschichte des nun Dora genannten Mädchens in meiner Vorlesung besprach, fiel mir ein, daß ja eine meiner beiden Hörerinnen den gleichen Namen Dora, den ich in den verschiedensten Verknüpfungen so oft auszusprechen hatte, trage, und ich wandte mich an die junge Kollegin, die mir auch persönlich bekannt war, mit der Entschuldigung, ich hätte wirklich nicht daran gedacht, daß sie auch so heiße, sei aber gern bereit, den Namen in der Vorlesung durch einen anderen zu ersetzen. Ich hatte nun die Aufgabe, rasch einen anderen zu wählen, und überlegte

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Detenninismus. — Zufalls- und Aberglauhen. —— Gesichtspunkte, lag

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dabei, jetzt dürfe ich nur nicht auf den Vornamen der anderen Hörerin kommen und so den psychoanalytiseh bereits geschulten Kollegen ein schlechtes Beispiel geben. Ich war also sehr zufrieden, als mir zum Ersatz für Dora der Name Erna einfiel, dessen ich mich nun im Vortrage bediente. Nach der Vorlesung fragte ich mich, woher wohl der Name Erna stammen möge, und mußte lachen, als ich merkte, daß die geiürchtete Möglichkeit sich bei der Wahl des Ersatz— namens dennoch, wenigstens teilweise, durchgesetzt hatte. Die andere Dame hieß mit ihrem Familiennamen L u c e r n a , wovon E r n a ein Stück ist.

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[B) In einem Briefe an einen Freund kündige ich ihm an, daß ich jetzt die Korrekturen der Traumdeutung abgeschlossen habe und nichts mehr an dem Werk ändern will, „möge es auch 2467 Fehler enthalten." Ich versuche sofort, mir diese Zahl aufzuklären und füge die kleine Analyse noch als Nachschrift dem Briefe an. Am besten zitiere ich jetzt, wie ich damals geschrieben, als ich mich auf frischer Tat ertappte:

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„Noch rasch einen Beitrag zur Psychopathologie des Alltagslebens. Du findest im Brief die Zahl 2467 als übermütige Willkürschätzung der Fehler, die sich im Traumbuch finden werden. Es soll heißen: irgend eine große Zahl, und da stellt sich diese ein. Nun gibt es aber nichts Willkürliches, Undeterminiertes im Psychischen. Du wirst also auch mit Recht erwarten, daß das Unbewußte sich beeilt hat, die Zahl zu determinieren, die von dem Bewußten freigelassen wurde. Nun hatte ich gerade vorher in der Zeitung gelesen, daß ein General E. M. als Feldzeugmeister in den Ruhestand getreten ist. Du mußt wissen, der Mann interessiert mich. Während ich als militärärzth'cher Eleve diente, kam er einmal, damals Oberst, in den Krankenstand und sagte zum Arzt: „Sie müssen mich aber in 8 Tagen gesund machen, denn ich habe etwas zu arbeiten, worauf der Kaiser wartet.“ Damals nahm ich mir vor, die Laufbahn des Mannes zu verfolgen, und siehe da, heute (1899) ist er am Ende derselben, Feldzeugmeistcr und schon im Ruhestande. Ich wollte ausrechnen, in welcher Zeit er diesen Weg zurückgelegt, und nahm an, daß ich ihn 1882 im Spital gesehen. Das wären also 17 Jahre. Ich erzähle meiner Frau davon und sie bemerkt: „Da müßtest Du also auch schon im Ruhestand sein ?“ Und ich protestiere: Davor bewahre mich Gott. Nach diesem Gespräch setze ich mich an den Tisch, um Dir zu schreiben. Der frühere Gedankengang setzt sich aber fort und mit gutem Recht. Es war falsch gerechnet ; ich habe einen festen Punkt dafür in meiner Erinnerung. Meine Großjährigkeit, meinen 24. Geburtstag also, habe ich im Militär

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1 10 Determinismus. —- Zutalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

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rarest gefeiert (weil ich mich eigenmächtig absentiert hatte). Das war also 1880: es sind 19 Jahre her. Da hast Du nun die Zahl 24 in 2467! Nimm nun meine Alterszahl 43 und gib 24 Jahre hinzu, so bekommst Du die 67! D. h. auf die Frage, ob ich auch in den Ruhestand treten will, habe ich mir im Wunsch noch 24 Jahre Arbeit zu— gelegt. Offenbar bin ich gekränkt darüber, daß ich es in dem Intervall, durch das ich den Oberst M. verfolgt, selbst nicht weit gebracht habe, und doch wie in einer Art von Triumph darüber, daß er jetzt schon fertig ist, während ich noch Alles vor mir habe. Da darf man doch mit Recht sagen, daß nicht einmal die absichtslos hingeworfene Zahl 2467 ihrer Determinierung aus dem Unbewußten entbehrt.“

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Seit diesem ersten Beispiel von Aufklärung einer scheinbar wilb kürlich gewählten Zahl habe ich den gleichen Versuch vielmals mit dem nämlichen Erfolg wiederholt; aber die meisten Fälle sind so sehr intimen Inhalts, daß sie sich der Mitteilung entziehen.

§ 654

Gerade darum aber will ich es nicht versäumen, eine sehr interessante Analyse eines „Zahleneinfalls“ hier anzufügen, welche mein Kollege Dr. A l f r e d A d l e r von einem ihm bekannten „durchaus gesunden“ Gewährsmann erhielt?) A. schreibt mir: „Gestern Abend habe ich mich über die „Psychopathologie des Alltags“ hergemacht und ich hätte das Buch gleich ausgelesen, wenn mich nicht ein merkwürdiger Zwischenfall gehindert hätte. Als ich nämlich las, daß jede Zahl, die wir scheinbar ganz willkürlich ins. Bewußtsein rufen, einen bestimmten Sinn hat, beschloß ich, einen Versuch zu machen. Es fiel mir die Zahl 1734 ein. Nun überstürzten sich folgende Einfälle: r734 : 17 = I02; 102: 17 = 6. Dann zerreiße ich die Zahl in 17 und 34. Ich bin 34 Jahre alt. Ich betrachte, wie ich Jhnen, glaube ich, einmal gesagt habe, das 34. Jahr als das letzte ]ugendjahr, und ich habe mich darum an meinem letzten Geburtstag sehr miserabel gefühlt. Am Ende meines 17. Jahres begann für mich eine sehr schöne und interessante Periode meiner Entwicklung. Ich teile mein Leben in Abschnitte von 17 Jahren. Was haben nun die Divisionen zu bedeuten? Es fällt mir zu der Zahl 102 ein, daß die Nummer 102 der Reclam’schen Universalbibliothek das K o t z e b u e’sche Stück „Menschenhaß und Reue“ enthält.

§ 655

Mein gegenwärtiger psychischer Zustand ist Menschenhaß und Reue. Nr. 6 der U.-B. (ich weiß eine ganze Menge Nummern auswendig) ist

§ 656

1) Ali. Adler, Drei Psycho-Analysen von Zahleneiniällen und obsedieren— den Zahlen. Psych.—Neur. Wochenschrift. Nr. 28. r905.

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§ 658

Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte. II!

§ 659

M13 11 n e rs „Schuld“. Mich quält in einem fort der Gedanke, daß ich durch meine Schuld nicht geworden bin, was ich nach meinen Fähigkeiten hätte werden können. Weiter fällt mir ein, daß Nr. 34 der U.-B. eine Erzählung desselben M ii 1 1 n e r , betitelt „Der Kaliber“ enthält. Ich zerreiße das Wort in „Ka fiber“; weiter fällt mir ein, daß es die Worte „Ali“ und „Kali“ enthält. Das erinnert mich daran, daß ich einmal mit meinem (6 jährigen) Sohn Ali Reime machte. Ich forderte ihn auf, einen Reim auf Ali zu suchen. Es fiel ihm keiner ein und ich sagte ihm, als er einen von mir wollte: „Ali reinigt den Mund mit hypermangansaurem Kali." Wir lachten viel und Ali war sehr lieb. In den letzten Tagen mußte ich mit Verdruß konstatieren, daß er „ka (kein) lieber Ali sei.“

§ 660

„Ich fragte mich nun: Was ist Nr. 17 der U.—B. ?, konnte es aber nicht herausbringen. Ich habe es aber früher ganz bestimmt gewußt, nehme also an, daß ich diese Zahl vergessen wollte. Alles Nachsinnen blieb umsonst. Ich wollte weiter lesen, las aber nur mechanisch, ohne ein Wort zu verstehen, da. mich die 17 quälte. Ich löschte das Licht aus und suchte weiter. Schließlich fiel mir ein, daß Nr. 17 ein Stück von Shakespeare sein muß. Welches aber? Es fällt mir ein: Hero und Leander. Offenbar ein blödsinniger Versuch meines Willens, mich abzulenken. Ich stehe endlich aui und Suche den Katalog der U.-B. Nr. X7 ist „Macbeth“. Zu meiner Verblüiiung muß ich konstatieren, daß ich von dem Stück fast gar nichts weiß, trotzdem es mich nicht weniger beschäftigt hat als andere Dramen Shakespeares. Es fällt mir nur ein: Mörder, Lady Macbeth, Hexen, „Schön ist häßlich“, und daß ich seinerzeit Schillers Macbethbearbeitung sehr schön gefunden habe. Zweifellos habe ich also auch dß Stück vergessen wollen. Noch fällt mir ein, daß 17 und 34 durch 17 dividiert 1 und 2 ergibt. Nr. I und 2 der U.—B. ist Goethes „Faust“. Ich habe früher sehr viel Faustisches in mir gefunden.“

§ 661

Wir müssen bedauern, daß die Diskretion des Arztes uns keinen Einblick in die Bedeutung dieser Reihe von Einfällen gegönnt hat. Ad 1 er bemerkt, daß dem Menue die Synthese seiner Auseinandersetzungen nicht gelungen ist. Dieselben würden uns auch kaum mit— teilenswert erschienen sein, wenn in deren Fortsetzung nicht etwas autträte, was uns den Schlüssel zum Verständnis der Zahl 1734 und der ganzen Einiallsreihe in die Hand spielte.

§ 662

„Heute früh hatte ich freilich ein Erlebnis, das sehr für die Richtigkeit der F r e u d schen Auffassung spricht. Meine Frau, die ich beim

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§ 664

112 Determinismus. — Zu£alls— und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

§ 665

Aufstehen des Nachts aufgeweckt hatte, fragte mich, was ich denn mit dem Katalog der U.-B. gewollt hätte. Ich erzählte ihr die Geschichte. Sie fand, daß alles Rabulistik sei, nur — sehr interessant! — den Macbeth, gegen den ich mich so sehr gewehrt hatte, ließ sie gelten. Sie sagte, ihr falle gar nichts ein, wenn sie sich eine Zahl denke. Ich antwortete: „Machen wir eine Probe.“ Sie nennt die Zahl 117. Ich erwidere darauf sofort: „17 ist eine Beziehung auf das, was ich Dir erzählt habe. Ferner habe ich Dir gestern gesagt: wenn eine Frau im 32. Jahre steht und ein Mann im 35., so ist das ein arges Mißverhältnis.“ Ich frozzle seit ein paar Tagen meine Frau mit der Behauptung, daß sie ein altes Mütterchen von 82 Jahren sei. 82 +35=117.“

§ 666

Der Mann, der seine eigene Zahl nicht zu determinieren wußte, fand also sofort die Auflösung, als seine Frau ihm eine angeblich willkürlich gewählte Zahl nannte. In Wirklichkeit hatte die Frau sehr wohl aufgefaßt, aus welchem Komplex die Zahl ihres Mannes stammte, und wählte die eigene Zahl aus dem nämlichen Komplex, der gewiß beiden Personen gemeinsam war, da es sich in ihm um das Altersverhältnis der beiden handelte. Wir haben es nun leicht, den Zahlen— einiall des Mannes zu übersetzen. Er spricht, wie Dr. Adler andeutet, einen unterdrückten Wunsch des Mannes aus, der voll entwickelt lauten würde: „Zu einem Marine von 34 Jahren, wie ich einer bin, paßt nur eine Frau von 17 Jahren.”

§ 667

Damit man nicht allzu geringsehätzig von solchen „Spielereien" denken möge, Will ich hinzufügen, was ich kürzlich von Dr. A dl e r erfahren habe, daß ein Jahr nach Veröffentlichung dieser Analyse der Mann von seiner Frau geschieden war!)

§ 668

Ähnliche Aufklärungen gibt Adler für die Entstehung abse— dierender Zahlen. Ein hübsches Beispiel von Herleitung eines Obsedierenden, d. h. verfolgenden Wortes findet sich bei ] u n g (Diagnost. Assoziationsstudien IV, 5. 215). „Eine Dame erzählte mir, daß ihr seit einigen Tagen beständig das Wort „Taganrog“ im Munde liege, ohne daß sie eine Idee habe, woher das komme. Ich fragte die Dame nach den affektbetonten Ereignissen und verdrängten Wünschen

§ 669

1) Zur Aufklärung des „Macbeth“ Nr. r7 der [).-B. teilt mit A die r mit. daß der betreffende in seinem 17. Lebenst einer marehistischen Gesellschaft beigetrete'n war, die sich den Königsmord zum Ziel gesetzt hatte. Darum verfiel wohl der Inhalt des Macbeth dem Vergessen. Zu jener Zeit erfand die nämliche Person eine Geheimschrift, in der die Buchstaben durch Zahlen ersetzt waren.

§ 670

§ 671

Determinismus. —— Zutalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte. 113

§ 672

der ]üngstvergangenheit. Nach einigem Zögern erzählte sie mir, daß sie sehr gerne einen „M o r g e n r o c k“ hätte, ihr Mann aber nicht das gewünschte Interesse dafür habe. „Morgen-rock: Tag— an-rock“, man sieht die partielle Sinn- und Klangverwandtschaft. Die Determination der russischen Form kommt daher, daß ungefähr zu gleicher Zeit die Dame eine Persönlichkeit aus Taganrog kennen gelernt hatte.“

§ 673

In eigenen Analysen dieser Art ist mir zweierlei besonders auffällig: Erstens die geradezu somnambule Sicherheit, mit der ich auf das mir unbekannte Ziel losgehe, mich in einen rechnenden Gedankengang versenke, der dann plötzlich bei der gesuchten Zahl angelangt ist, und die Raschheit, mit der sich die ganze Nacharbeit vollzieht; zweitens aber der Umstand, daß die Zahlen meinem unbewußten Denken so bereitwillig zur Verfügung stehen, während ich ein schlechter Rechner bin und die größten Schwierigkeiten habe, mir ]ahreszahlen, Hausnummern und dergleichen bewußt zu merken. Ich finde übrigens in diesen unbewußten Gedankenoperationen mit Zahlen eine Neigung zum Aberglauben, deren Herkunft mir lange Zeit fremd geblieben ist.

§ 674

11. Diese Einsicht in die Deterrninierung scheinbar willkürlich gewählter Namen und Zahlen kann vielleicht zur Klärung eines anderen Problems beitragen. Gegen die Annahme eines durchgehenden psychischen Determinismus berufen sich bekanntlich viele Personen auf ein besonderes Überzeugungsgefiihl für die Existenz eines freien Willens. Dieses Überzeugungsgeiühl besteht und weicht auch dem Glauben an den Determinismns nicht. Es muß wie alle normalen Gefühle durch irgend etwas berechtigt sein. Es äußert sich aber, soviel ich beobachten kann, nicht bei den großen und wichtigen Willensentscheidungen; bei diesen Gelegenheiten hat man vielmehr die Empfindung des psychischen Zwanges und beruft sich gerne auf sie („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“). Hingegen möchte man gerade bei den belanglosen, indifterenten Entschließungen versichern, daß man ebensowohl anders hätte handeln können, daß man aus freiem, nicht motiviertem Willen gehandelt hat. Nach unseren Analysen braucht man nun das Recht des Überzeugungsgefühles vom freien Willen nicht zu bestreiten. Führt man die Unterscheidung der Motivierung aus dern Bewußten von der Motivierung aus dem Unbewußten ein, so berichtet uns das Überzeugungsgetiihl, daß die bewußte Motivierung sich nicht auf alle unsere motorischen Entscheidungen erstreckt. Minima non curat praetor. Was aber so von der einen Seite frei gelassen wird, das empfängt seine Motivierung von anderer Seite, aus

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Freud, Piychopathulogie des Ane;=i=b=„. 8

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"

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114 Determinismus. — Zufall? und Aberglauben. —— Gesichtspunkte.

§ 679

dern Unbewußten, und so ist die Determinierung im Psychischen doch lückenlos durchgeführt!)

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III. Wenngleich dem bewußten Denken die Kenntnis von der Motivierung der besprochenen Fehlleistungen nach der ganzen Sachlage abgehen muß, so wäre es doch erwünscht, einen psychologischen Beweis für deren Existenz aufzufinden; ja es ist aus Gründen, die sich bei näherer Kenntnis des Unbewußten ergeben, wahrscheinlich, daß solche Beweise irgendwo aufiindbar sind. Es lassen sich wirklich auf zwei Gebieten Phänomene nachweisen, welche einer unbewußten und darum verschobenen Kenntnis von dieser Motivierung zu entsprechen scheinen.

§ 681

&) Es ist ein auffälliger und allgemein bemerkter Zug im Verhalten der Paranoiker, daß sie den kleinen, sonst von uns vernachlässigten Details im Benehmen der anderen die größte Bedeutung beilegen, dieselben ausdeuten und zur Grundlage weitgehender Schlüsse machen. Der letzte Paranoiker z. B., den ich gesehen habe, schloß auf ein allgemeines Einverständnis in seiner Umgebung, weil die Leute bei seiner Abreise auf dem Bahnhof eine gewisse Bewegung mit der einen Hand gemacht hatten. Ein anderer hat die Art notiert, wie die Leute auf der Straße gehen, mit den Spazierstöcken fuchteln und dglfi)

§ 682

Die Kategorie des Zutälligen, der Motivierung nicht Bedürttigen, welche der Normale für einen Teil seiner eigenen psychischen Leistungen und Fehlleistungen gelten läßt, verwirft der Paranoiker also

§ 683

1) Diese Anschauungen über die strenge Determinieruug anscheinend willkürlicher psychischer Aktionen haben bereits reiche Früchte für die Psychologie, — vielleicht auch für dic Rechtspflege -— getragen. Bleuler und ] u ng haben in diesem Sinne die Reaktionen beim sogenannten Assoziationscxpcriment verständlich gemacht, bei dem die untersuchte Person auf ein ihr zugerufeucs Wort mit einem ihr dazu einfallemlen antwortet (Reizwort-Reaktion) und die indes verlaufende Zeit gemessen wird (Reaktionszeit). ] u n g hat in seinen „Diag— nostischen Assoziationsstudien 1906” gezeigt, welch feines Reagens für spychische Zustände wir in dem so'gedeuteten Assoziationsexperiment besitzen. Zwei Schüler des Str—aircchtslehrers H. Oro B in Prag. We r t h e i m e r und Klein haben aus diesen Experimenten eine Technik zur „Tatbestands-Diagnostik“ in strairechtlichen Fällen entwickelt, deren Prüfung gegenwärtig Psychologen und Juristen beschäftigt

§ 684

2) Von anderen" Gesichtspunkten ausgehend, hat man diese Beurteilung nnwesenflicher und Zufälliger Äußerungen bei anderen zum „Beziehungswahn“

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gerechnet.

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Determinismus, — Zufalls« und Aberglauben. — Gesichtspunkte. 115

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in der Anwendung auf die psychischen Äußerungen der anderen. Alles, was er an den anderen bemerkt, ist bedeutungsvoll, alles ist deutbar. Wie kommt er nur dazu? Er projiziert wahrscheinlich in das Seelenleben der anderen, was im eigenen unbewußt vorhanden ist, hier wie in so vielen ähnlichen Fällen. In der Paranoia drängt sich eben so vielerlei zum Bewußtsein durch, was wir bei Normalen und Neurotikern erst durch die Psychoanalyse als im Unbewußten vorhanden nach— weisen.“ Der Paranoiker hat also hierin in gewissem Sinne Recht, er erkennt etwas, was dem Normalen entgeht, er sieht schärfer als das normale Denkvermögen, aber die Verschiebung des so erkannten Sachverhalte: auf andere macht seine Erkenntnis wertlos. Die Rechtfertigung der einzelnen paranoischen Deutungen wird man dann hoffentlich von mir nicht erwarten. Das Stück„Berechtigung aber, welches wir der Paranoia bei dieser Auifassung der Zufallshandlungen zugestehen, wird uns das psychologische Verständnis der Überzeugung erleichtern, welche sich beim Paranoiker an alle diese Deutungen geknüpft hat. Es ist eben etwas Wahres daran; auch unsere nicht als krankhaft zu bezeichnenden Urteilsirrtiimer erwerben das ihnen zugehörige Überzeugungsgefiihl auf keine andere Art. Dies Gefühl ist tür ein gewisses Stück des irrtümlichen Gedankenganges oder für die Quelle, aus der er stammt, berechtigt und wird dann von uns auf den iibrigen Zusammenhang ausgedehnt.

§ 689

b) Ein anderer Hinweis auf die unbewußte und verschobene Kenntnis der Motivierung bei Zufalls- und Fehlleistungen findet sich in den Phänomenen des Aberglaubens. Ich will meine Meinung durch die Diskussion des kleinen Erlebnisses klar legen, welches für mich der Ausgangspunkt dieser Überlegungen war.

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Von den Ferien zurückgekehrt, {richten sich meine Gedanken alsbald auf die Kranken, die mich in dem neu beginnenden Arbeitsjahr beschäitigen sollen. Mein erster Weg gilt einer sehr alten Dame, bei der ich (siehe oben) seit Jahren die nämlichen ärztlichen Manipulationen zweimal täglich vornehme. Wegen dieser Gleichförmig— keit haben sich unbewußte Gedanken sehr häufig auf dem Wege zu der Kranken und während der Beschäftigung mit ihr Ausdruck ver

§ 691

1) Die durch Analyse bewußt zu machenden Phantasien der Hysteriket von sexuellen und grausamen Mißhandlungen decken sich z, B. gelegentlich bis ins Einzelne mit den Klagen veriolgter Paranoiker. Es ist bemerkenswert, aber nicht unverständlich, wenn der identische Inhalt uns auch als Realität in den Veranstaltungen Perverser zur Befriedigung ihrer Gelüste entgegentritt.

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8ll

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r 16 Determinismus. — Zufalls— und Aberglauben. —— Gesichtspunkte.

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schafft. Sie ist über 90 Jahre alt ; es liegt also nahe, sich bei Beginn eines jeden Jahres zu fragen, wie lange sie wohl noch zu leben hat. An dem Tage, von dem ich erzähle, habe ich Eile, nehme also einen Wagen, der mich vor ihr Haus führen soll. Jeder der Kutscher auf dem Wagen— standplatz vor meinem Hause kennt die Adresse der alten Frau, denn jeder hat mich schon oftmals dahin geführt. Heute ereignet es sich nun, daß der Kutscher nicht vor ihrem Hause, sondern vor dem gleichbezifferten in einer nahegelegenen und wirklich ähnlich aussehenden Parallelstraße Halt macht. Ich merke den Irrtum und werie ihn dem Kutscher vor, der sich entschuldigt. Hat das nun etwas zu bedeuten, daß ich vor ein Haus geführt werde, in dem ich die alte Dame nicht vorfinde? Für mich gewiß nicht, aber wenn ich a b e r gl ä u b is c h wäre, würde ich in dieser Begebenheit ein Vorzeichen erblicken, einen Fingerzeig des Schicksals, daß dies Jahr das letzte für die alte Frau sein wird. Recht viele Vorzeichen, welche die Geschichte aufbewahrt hat, sind in keiner besseren Symbolik begründet gewesen. I c h erkläre allerdings den Vorfall für eine Zufälligkeit ohne weiteren Sinn.

§ 696

Ganz anders läge der Fall, wenn ich den Weg zu Fuß gemacht und dann in „Gedanken“, in der „Zerstreutheit" vor das Haus der Parallelstraße anstatt vers richtige gekommen wäre. Das würde ich für keinen Zufall erklären, sondern für eine der Deutung bedürftige Handlung mit unbewußter Absicht. Diesem „V e r g e h e n“ müßte ich wahrscheinlich die Deutung geben, daß ich die alte Dame bald nicht mehr anzutreffen erwarte.

§ 697

Ich unterscheide mich also von einem Abergläubischen in folgendem:

§ 698

Ich glaube nicht, daß ein Ereignis, an dessen Zustandekommen mein Seelenleben unbeteiligt ist, mir etwas Verborgenes über die zukünftige Gestaltung der Realität lehren kann; ich glaube aber, daß eine unbeabsichtigte Äußerung meiner eigenen Seelentätigkeit mir allerdings etwas Verborgenes enthüllt, was wiederum nur meinem Seelenleben angehört; ich glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit. Der Abergläubische umgekehrt: er weiß nichts von der Motivierung seiner zufälligen Handlungen und Fehlleistungen, er glaubt, daß es psychische Zutälligkeiten gibt; dafür ist er geneigt, dem äußeren Zufall eine Bedeutung zuzuschreiben, die sich im realen Geschehen äußern wird, im Zufall ein Ausdrucksmittel für etwas draußen ihm Verborgenes zu sehen. Die Unterschiede zwischen mir und dem Abergläubischen sind zwei: erstens projiziert er eine Motivierung nach außen, die ich innen suche;

§ 699

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Determinismus. —— Zufalls- und Aberglauhen. — Gesichtspunkte. ! 17

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zweitens deutet er den Zufall durch ein Geschehen, den ich auf einen Gedanken zurückführe. Aber das Verborgene bei ihm entspricht dem Unbewußten bei mir, und der Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen, sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam. Ich nehme nun an, daß diese bewußte Unkenntnis und unbewußte Kenntnis von der Motivierung der psychischen Zufälligkeiten eine der psychischen Wurzeln des Aberglaubens ist. W e il der Abergläubische von der Motivierung der eigenen zufälligen Handlungen nichts weiß, und weil die Tatsache dieser Motivierung nach einem Platz in seiner Anerkennung drängt, ist er gen'o'tigt, sie durch Verschiebung in der Außenwelt unterzubringen. Besteht ein solcher Zusammenhang, so wird er kaum auf diesen einzelnen Fall beschränkt sein. Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen Weltaufiassung, die weit bis in die modernsten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt proj izierte P s y c h 01 o g i e. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen: endopsychische Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhältnisse 1) des Unbewußten spiegelt sich — es ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der Paranoia muß hier zur Hilfe genommen werden — in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität , welche von der Wissenschait in Psycholdgie des Unbewußten zurückverwandelt werden soll. Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit und dgl. in solcher Weise aufzulösen, die M e t a — physik in Metapsychologie umzusetzen. Die Kluft zwischen der Verschiebung des Paranoikers und der des Abergläubischen ist minder groß, als sie auf den ersten Blick erscheint. Als die Menschen zu denken begannen, waren sie bekanntlich genötigt, die Außenwelt anthropomorphisch in eine Vielheit von Persönlichkeiten nach ihrem Gleichnis autzulösen; die Zufälligkeiten, die sie abergläubisch deuteten, waren also Handlungen, Äußerungen von Personen, und sie haben sich demnach genau so benommen wie die Paranoiker, welche aus den un— scheinbaren Anzeichen, die ihnen die Anderen geben, Schlüsse ziehen, und wie die Gesunden alle, welche mit Recht die zufälligen und unbeabsichtigten Handlungen ihrer Nebenmenschen zur Grundlage der Schätzung ihres Charakters machen. Der Aberglaube erscheint nur so sehr deplaziert in unserer modernen, naturwissenschaftlichen, aber noch keineswegs abgerundeten Weltanschauung; in der Weltanschauung

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1) Die natürlich nichts vom Charakter einer Erkenntnis hat.

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118 Determinismus. —— Zufalls- und Abarglauben. —— Gesichtspunkte.

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vorwissenschaftlicher Zeiten und Völker war er berechtigt und konsequent.

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Der Römer, der eine wichtige Unternehmung aufgab, wenn ihm ein widriger Vogelflug begegnete, war also relativ im Recht; er handelte konsequent nach seinen Voraussetzungen. Wenn er aber von der Unternehmung abstand, weil er an der Schwelle seiner Tür gestolpert war („Un Romain retournerai “), so war er uns Ungläubigen auch absolut überlegen, ein besserer Seelenkundiger, als wir uns zu sein bemühen. Denn dies Stolpern konnte ihm die Existenz eines Zweifels, einer Gegen— strörnung in seinem Innern beweisen, deren Kraft sich im Momente der Ausführung von der Kraft seiner Intention abziehen konnte. Des vollen Erfolges ist man nämlich nur dann sicher, wenn alle Seelenkräfte einig dem gewünschten Ziel entgegenstreben. Wie antwortet S c h i ll e r s T el 1 , der so lange gezaudert, den Apfel vom Haupt seines Knaben zu schießen, auf die Frage des Vogts, wozu er den zweiten Pfeil eingesteckt ?

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„Mit diesem zweiten Pfeil durchbohrt’ ich — Euch, Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und E u e r — wahrlich — hätt’ ich nic h t gefehlt.“

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IV. Wer die Gelegenheit gehabt hat, die verborgenen Seelenregungen der Menschen mit dem Mittel der Psychoanalyse zu studieren, der kann auch über die Qualität der unbewußten Motive, die sich im Aber glauben ausdrücken, einiges Neue sagen. Am deutlichsten erkennt man bei den oft sehr intelligenten, mit Zwangsdenken und Zwangszuständen behafteten Nervösen, daß der Aberglaube aus unterdrückten feindseligen und grausamen Regungen hervorgeht. Aberglaube ist zum großen Teile Unheilserwartung, und wer anderen häufig Böses gewünscht, aber infolge der Erziehung zur Güte solche Wünsche ins Unbew-ußte verdrängt hat, dem wird es besonders nahe liegen, die Strafe für solches unbewußte Böse als ein ihm drohendes Unheil von außen zu erwarten.

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Wenn wir zugeben, daß wir die Psychologie des Aberglaubens mit diesen Bemerkungen keineswegs erschöpft haben, so werden wir auf der anderen Seite die Frage wenigstens streifen müssen, ob denn reale Wurzeln des Aberglaubens durchaus zu bestreiten seien, ob es gewiß keine Ahnungen, prophetische Träume, telepathische Erfahrungen, Äußerungen übersinnlicher Kräfte u. dgl. gebe. Ich bin nun weit davon entfernt, diese Phänomene überall so kurzer Hand aburteilen zu wollen, über welche so viele eingehende Beobachtungen selbst

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Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. —— Gesichtspunkte. I 19

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intellektuell hervorragender Männer vorliegen, und die am besten die Objekte weiterer Untersuchungen bilden sollen. Es ist dann sogar zu hoffen, daß ein Teil dieser Beobachtungen durch unsere beginnende Erkenntnis der unbewußten seelischen Vorgänge zur Aufklärung gelangen wird, ohne uns zu grundstürzenden Abänderungen unserer heutigen Anschauungen zu nötigen. Wenn noch andere, wie z. B. die von den Spiritisten behaupteten Phänomene, erweist werden sollten, so werden wir eben die von der neuen Erfahrung geforderten Modifikationen unserer „Gesetze“ vornehmen, ohne an dem Zusammen— hang der Dinge in der Welt irre zu werden.

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Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen kann ich die nun aufgeworfenen Fragen nicht anders als subjektiv, d. i. nach meiner persönlichen Erfahrung beantworten. Ich muß leider bekennen, daß ich zu jenen unwürdigen Individuen gehöre, vor denen die Geister ihre Tätigkeit einstellen und das Übersiunliche entweicht, so daß ich niemals in die Lage gekommen bin, selbst etwas zum Wunderglauben anregendes zu erleben. Ich habe wie alle Menschen Ahnungen gehabt und Unheil erfahren, aber die beiden wichen einander aus, so daß auf die Ahnungen nichts folgte, und das Unheil unangekündigt über mich kam. Zur Zeit, als ich, ein junger Mann, allein in einer fremden Stadt lebte, habe ich oft genug meinen Namen plötzlich von einer unverkennbaren, teuern Stimme rufen hören, und mir dann den Zeitmoment der Halluzination notiert, um mich besorgt bei den Daheimgebliebenen zu erkundigen, was um jene Zeit vorgefallen. Es war nichts. Zum Ersatz dafür habe ich später ungerührt und ahnungslos mit meinen Kranken gearbeitet, während mein liebes Kind einer Verblutung zu erliegen drohte. Es hat auch keine der Ahnungen, von denen mir Patienten berichtet haben, meine Anerkennung als reales Phänomen erwerben können.

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Der Glaube an prophetische Träume zählt viele Anhänger, weil er sich darauf stützen kann, daß manches sich wirklich in der Zukunft so gestaltet, wie es der Wunsch im Traume vorher konstruiert hat. Allein daran ist wenig zu verwundem, und zwischen dem Traum und der Erfüllung lassen sich in der Regel noch weitgehende Abweichungen nachweisen, welche die Gläubigkeit der Träumer zu vernaclflässigen liebt. Ein schönes Beispiel eines mit Recht prophetisch zu nennenden Traumes bot mir einmal eine intelligente und wahrheitsliebende Patientin zur genauen Analyse. Sie erzählte, daß sie einmal geträumt, sie treffe ihren früheren Freund und Hausarzt vor einem bestimmten Laden einer gewissen Straße, und als sie am nächsten Morgen in die Innere

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120 Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

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Stadt ging, traf sie ihn wirklich an der im Traum genannten Stelle Ich bemerke, daß dieses wunderbare Zusammentreffen seine Bedeutung durch kein nachfolgendes Ereignis erwies, also nicht aus dern Zukünftigen zu rechtfertigen war.

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Das sorgfältige Examen stellte fest, daß kein Beweis dafür vorliege, die Dame habe den Traum bereits am Morgen nach der Traumnacht, also vor dem Spaziergang und der Begegnung erinnert. Sie konnte nichts gegen eine Darstellung des Sachverhaltes einwenden, die der Begebenheit alles Wunderbare nimmt und nur ein interessantes psychologisches Problem übrig läßt. Sie ist eines Vormittags durch die gewisse Straße gegangen, hat vor dem einen Laden ihren alten Hausarzt begegnet und min bei seinem Anblick die Überzeugung bekommen, daß sie die letzte Nacht von diesem Zusammentreffen an der nämlichen Stelle geträumt habe. Die Analyse konnte dann mit großer Wahrscheinlichkeit andeuten, wie sie zu dieser Überzeugung gekommen war, welcher man ja nach allgemeinen Regeln ein gewisses Anrecht auf Glaubwürdigkeit nicht versagen darf. Ein Zusammentreffen am bestimmten Orte nach vorheriger Erwartung, das ist ja der Tatbestand eines Rendezvous. Der alte Hausarzt rief die Erinnerung an alte Zeiten in ihr wach, in denen Zusammenkiinite mit einer d r i t t e n , auch dem Arzt befreundeten Person für sie bedeutungsvoll gewesen waren. Mit diesem Herrn war sie seitdem in Verkehr geblieben und hatte am Tage vor dem angeblichen Traum vergeblich auf ihn gewartet. Könnte ich die hier vorliegenden Beziehungen aus— führlicher mitteilen, so wäre es mir leicht zu zeigen, daß die Illusion des prophetischen Traumes beim Anblick des Freundes aus früherer Zeit äquivalent ist etwa folgender Rede: „Ach, Herr Doktor, Sie erinnern mich jetzt an vergangene Zeiten, in denen ich niemals vergeblich auf N. zu warten brauchte, wenn wir eine Zusammenkunft bestellt hatten.“

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Von jenem bekannten „merkwürdigen Zusammentreffen“, daß man einer Person begegnet, mit welcher man sich gerade in Gedanken beschäftigt hat, habe ich bei mir selbst ein einfaches und leicht zu deutendss Beispiel beobachtet, welches wahrscheinlich ein gutes Vor— bild für ähnliche Vorfälle ist. Wenige Tage, nachdem mir der Titel eines Professors verliehen werden war, der in monarchisch eingerichteten Staaten selbst viel Autorität verleiht, lenkten während eines Spazierganges durch die Innere Stadt meine Gedanken plötzlich in eine kindische Rachephantasie ein,‘{die sich gegen ein gewisses Elternpaar richtete. Diese hatten mich einige Monate vorher zu ihrem Töchterchen gerufen,

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Determinismns. — Zutalls— und Aber-glauben. —— Gesichtspunkte. 121

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bei dem sich eine interessante Zwangserscheinung im Anschluß an einen Traum eingestth hatte. Ich brachte dem Falle, dessen Genese ich zu durchschauen glaubte, ein großes Interesse entgegen; meine Behandlung wurde aber von den Eltern abgelehnt und mir zu verstehen gegeben, daß man sich an eine ausländische Autorität, die mittelst Hypnotismus heile, zu wenden gedenke. Ich phantasierte nun, daß die Eltern nach dem völligen Mißglücken dieses Versuches mich bäten, mit meiner Behandlung einzusetzen, sie hätten jetzt volles Vertrauen zu mir usw. Ich aber antwortete: Ja, jetzt, nachdem ich auch Professor geworden bin, haben Sie Vertrauen. Der Titel hat an meinen Fähigkeiten weiter nichts geändert; wenn Sie mich als Dozenten nicht brauchen konnten, können Sie mich auch als Professor entbehren. — An dieser Stelle wurde meine Phantasie durch den lauten Gruß: „Habe die Ehre, Herr Professor“ unterbrochen, und als ich aufsehaute, ging das nämliche Elternpaar an mir vorüber, an dem ich soeben durch die Abweisung ihres Anerbietens Rache genommen hatte. Die nächste Überlegung zerstörte den Anschein des Wunderbaren. Ich ging auf einer geraden und breiten, fast menschenleeren Straße jenem Paar entgegen, hatte bei einem flüchtigen Aufschauen, vielleicht zwanzig Schritte von ihnen entfernt, ihre stattlichen Persönlichkeiten erblickt und erkannt, diese Wahrnehmung aber — nach dem Muster einer negativen Halluzination — aus jenen Gefühlsmotiven beseitigt, die sich dann in der anscheinend spontan auftauchenden Phantasie zur Geltung brachten.

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In die Kategorie des Wunderbaren und Unheimlichen gehört noch jene eigentiimliche Empfindung, die man in manchen Momenten und Situationen verspiirt, als ob man genau das Nämliche schon einmal erlebt hätte, sich in derselben Lage schon einmal befunden‘ hätte, ohne daß es je dem Bemühen gelingt, das frühere, das sich so anzeigt, deutlich zu erinnern. Ich weiß, daß ich bloß dem lockeren Sprach— gebrauch folge, wenn ich das, was sich in solchen Momenten in einem regt, eine Empfindung heiße; es handelt sich wohl um ein Urteil und zwar ein Erkennungsurteil, aber diese Fälle haben doch einen ganz eigentümlichen Charakter, und daß man sich niemals an das Gesuchte erinnert, darf nicht bei Seite gelassen werden. Ich weiß nicht, ob dies Phänomen des „Dei ä vn“ im Ernst zum Erweis einertrüheren psychischen Existenz des Einzelwesens herangezogen worden ist; wohl aber haben die Psychologen ihm ihr Interesse zugewendet und die Lösung des Rätsels auf den mannigfaltigsten spekulativen Wegen an— gestrebt. Keiner der beigebrachten Erklärungsversuche scheint mir

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richtig zu sein, weil in keinem etwas anderes als die Begleiterscheinungen und begünstigenden Bedingungen des Phänomens in Betracht gezogen wird. jene psychischen Vorgänge, Welche nach meinen 380bachtung8n allein für die Erklärung des „Déjä vu“ verantwortlich sind, die un— bewußten Phantasien nämlich, werden ja heute noch von den Psychologen allgemein vernachlässigt.

§ 727

Ich meine, man tut Unrecht, die Empfindung des schon einmal Erlebthabens als eine Illusion zu bezeichnen. Es wird vielmehr in solchen Momenten wirklich an etwas geführt, was man bereits einmal erlebt hat, nur kann dies letztere nicht bewußt erinnert werden, weil es niemals bewußt war. Die Empfindung des „Déjä vu“ entspricht, kurz gesagt, der Erinnerung an eine unhewußte Phantasie. Es gibt unbewußte Phantasien (oder Tagträume), wie es bewußte solche Schöpfungen gibt, die ein jeder aus seiner eigenen Erfahrung kennt.

§ 728

Ich weiß, daß der Gegenstand der eingehendsten Behandlung würdig wäre, will aber hier nur die Analyse eines einzigen Falles von „Déjä vu” anfiihren, in dem sich die Empfindung durch besondere Intensität und Ausdauer auszeichnete. Eine jetzt 37jährige Dame behauptet, daß sie sich aufs schärfste erinnere, im Alter von 12% Jahren habe sie einen ersten Besuch bei Schulfreundinnen auf dem Lande gemacht, und als sie in den Garten eintrat, sofort die Empfindung gehabt, hier sei sie schon einmal gewesen; diese Empfindung habe sich, als sie die. Wohnräume betrat, wiederholt, so daß sie vorher zu wissen glaubte, welcher Raum der nächste sein wiirde, welche Aussicht man von ihm aus haben werde usw. Es ist aber ganz ausgeschlossen und durch ihre Erkundigung bei den Eltern widerlegt, daß dieses Bekanntheitsgefühl in einem früheren Besuch des Hauses und Gartens, etwa in ihrer ersten Kindheit, seine Quelle haben könne. Die Dame, die das berichtete, suchte nach keiner psychologischen Erklärung, sondern sah in dem Auftreten dieser Empfindung einen prophetischen Hinweis auf die Bedeutung, welche eben diese Freundinnen später für ihr Gefühlsleben gewannen. Die Erwägung der Umstände, unter denen das Phänomen bei ihr auftrat, zeigt uns aber den Weg zu einer anderen Auffassung. Als sie den Besuch unternahm, wußte sie, daß diese Mädchen einen einzigen schwerkranken Bruder hatten. Sie bekam ihn bei dem Besuch auch zu Gesichte, fand ihn sehr schlecht aussehend und dachte sich, daß er bald sterben werde. Nun war ihr eigener einziger Bruder einige Monate vorher an Diphthen'e gefährlich erkrankt gewesen; während seiner Krankheit hatte sie vom Elternhause entfernt wochenlang bei einer Verwandten gewohnt. Sie

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Deterininismus. — Zufalls— und Aber-glauben. — Gesichtspunkte. I 23

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glaubt, daß der Bruder diesen Landbesuch mitmachte, meint sogar, es sei sein erster größerer Ausflug nach der Krankheit gewesen; doch ist ihre Erinnerung in diesen Punkten merkwürdig unbestimmt, während alle anderen Details, und besonders das Kleid, das sie an jenem Tage trug, ihr überdeutlich vor Augen stehen. Dem Kundigen wird es nicht schwer fallen, aus diesen Anzeichen zu schließen, daß die Erwartung, ihr Bruder werde sterben, bei dem Mädchen damals eine große Rolle gespielt hatte und entweder nie bewußt geworden oder nach dem glücklichen Ausgang der Krankheit energischer Verdrängung verfallen war. Im anderen Falle hätte sie ein anderes Kleid, nämlich Trauerkleidung, tragen müssen. Bei den Freundinnen fand sie nun die analoge Situation vor, den einzigen Bruder in Gefahr, bald zu sterben, wie es auch kurz darauf Wirklich eintraf. Sie hätte bewußt erinnern sollen, daß sie diese Situation vor wenigen Monaten selbst durchlebt hatte; anstatt dies zu erinnern, was durch die Verdrängung verhindert war, übertrug sie das Erinnerungsgefühl auf die Lokalitäten, Garten und Haus und verfiel der „fausse recnnnaissance“, daß sie das alles genau ebenso schon einmal gesehen habe. Aus der Tatsache der Verdrängung dürfen wir schließen, daß die seinerzeitige Erwartung, ihr Bruder werde sterben, nicht weit entfernt vom Charakter einer Wunschphantasie gewesen war, Sie wäre dann das einzige Kind geblieben. In ihrer späteren Neurose litt sie in intensivster Weise unter der Angst, ihre Eltern zu verlieren, hinter welcher die Analyse wie gewöhnlich den unbewußten Wunsch des gleichen Inhalts aufdecken konnte.

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Meine eigenen flüchtigen Erlebnisse von „déjä vu“ habe ich mir in ähnlicher Weise aus der Gefühlskonstellation des Moments ableiten können. „Das wäre wieder ein Anlaß, jene [unbewußte und unbekannte] Phantasie zu wecken, die sich damals und damals als Wunsch zur Verbesserung der Situation in mir gebildet hat“.

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V. Als ich unlängst Gelegenheit hatte, einem philosophisch gebildeten Kollegen einige Beispiele von Namenvergessen mit Analyse vorzutragen, beeilte er sich zu erwidem: Das ist sehr schön, aber bei mir geht das Namenvergessen anders zu. So leicht darf man es sich offenbar nicht machen; ich glaube nicht, daß mein Kollege je vorher an eine Analyse bei Namenvergossen gedacht hatte; er konnte auch nicht sagen, wie es bei ihm anders zugehe. Aber seine Bemerkung berührt doch ein Problem, welches viele in den Vordergrund zu stellen geneigt sein werden. Trifft die hier gegebene Auflösung der Fehl- und Zufallshandlungen allgemein zu oder nur vereinzelt, und wenn letzteres, welches sind die Bedingungen, unter denen sie zur Erklärung der auch anderswie er

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möglichten Phänomene herangezogen werden darf? Bei der Beantwortung dieser Frage lassen mich meine Erfahrungen im Stiche. Ich kann nur davon abmahnen, den aufgezeigten Zusammenhang für selten zu halten, denn so oft ich bei mir selbst und bei meinen Patienten die Probe angestellt, hat er sich wie in den mitgeteilten Beispielen sicher nachweisen lassen, oder haben sich wenigstens gute Gründe, ihn zu vermuten, ergeben, Es ist nicht zu verwundern, wenn es nicht alle Male gelingt, den verborgenen Sinn der Symptomhandlung zu finden, da die Größe der inneren Widerstände, die sich der Lösung widersetzen, als entscheidender Faktor in Betracht kommt. Man ist auch nicht imstande, bei sich selbst oder bei den Patienten jeden einzelnen Traum zu deuten; es genügt, um die Allgemeingiltigkeit der Theorie zu bestätigen, wenn man nur ein Stück weit in den verdeckten Zusammenhang einzudringen vermag. Der Traum, der sich beim Versuche, ihn am Tage nachher zu lösen, refraktär zeigt, läßt sich oft eine Woche oder einen Monat später sein Geheimnis entreißen, wenn eine unterdes erfolgte reale Veränderung die mit einander streitenden psychischen Wertigkeiteu herabgesetzt hat. Das nämliche gilt für die Lösung der Fehl- und Symptomhandlungen; das Beispiel von Verlesen „Im Faß durch Europa“ auf Seite 50 hat mir die Gelegenheit gegeben zu zeigen, wie ein anfänglich unlösbares Symptom der Analyse zugänglich wird, wenn das r e al e I n t c r e s s e an den verdrängten Gedanken nachgelassen hat. So lange die Möglichkeit bestand, daß mein Bruder den beneideten Titel vor mir erhalte, Widerstand das genannte Verlesen allen wiederholten Bemühungen der Analyse; nachdem es sich herausgestellt hatte, daß diese Bevorzugung unwahrscheinlich sei, klärte sich mir plötzlich der Weg, der zur Auflösung desselben führte. Es wäre also unrichtig, von all den Fällen, welche der Analyse widerstehen, zu behaupten, sie seien durch einen anderen als den hier aufgedeckten psychischen Mechanismus entstanden; es brauchte für diese Annahme noch andere als negative Beweise. Auch die bei Gesunden wahrscheinlich allgemein vorhandene Bereitwilligkeit, an eine andere Erklärung der Fehl- und Symptomhandlungen zu glauben, ist jeder Beweiskraft bar; sie ist, wie selbstverständlich, eine Äußerung derselben seelischen Kräfte, die das Geheimnis hergestellt haben, und die sich darum auch für dessen Bewahrung einsetzen, gegen dessen Authellung aber sträuben.

§ 737

Auf der anderen Seite dürfen wir nicht übersehen, daß die verdrängten Gedanken und Regungen sich den Ausdruck in Symptomund Fehlhandlungen ja nicht selbständig schaffen. Die technische Möglichkeit für solches Ausgleiten der Innervationen muß unab

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hängig von ihnen gegeben sein; diese wird dann von der Absicht des Verdrängten, zur bewußteu Geltung zu kommen, gerne ausgenützt. Welche Struktur— und Funktionsrelationen es sind, die sich solcher Absicht zur Verfügung stellen, das haben für den Fall der sprachlichen Fehlleistung (vgl. Seite 31) eingehende Untersuchungen der Philosophen und Philologen festzustellen sich bemüht. Unter-scheiden wir so an den Bedingungen der Fehl- und Symptomhandlung das unbewußte Motiv von den ihm entgegenkommenden physiologischen und psycho— physischen Relationen, so bleibt die Frage offen, ob es innerhalb der Breite der Gesundheit noch andere Momente gibt, welche, wie das unbewußte Motiv und an Stelle desselben, auf dem Wege dieser Re ]ationen die Fehl- und Symptornhan.dlungen zu erzeugen vermögen. Es ist nicht meine Aufgabe, diese Frage zu beantworten.

§ 741

VI. Seit den Erörterungen über das Versprechen haben wir uns begnügt, zu beweisen, daß die Fehlleistungen eine verborgene Motivierung haben, und uns mit dem Hilfsmittel der Psychoanalyse den Weg zur Kenntnis dieser Motivierung gebahnt. Die allgemeine Natur und die Besonderheiten der in den Fehlleistungen zum Ausdruck gebrachten psychischen Faktoren haben wir bisher fast ohne Berücksichtigung gelassen, jedenfalls noch nicht versucht, dieselben näher zu bestimmen und auf ihre Gesetzmäßigkeit zu prüfen. Wir werden auch jetzt keine gründliche Erledigung des Gegenstandes versuchen, denn die ersten Schritte werden uns bald belehrt haben, daß man in dies Gebiet besser von anderer Seite einzudringen vermag. Man kann sich hier mehrere Fragen vorlegen, die ich wenigstens aniüh.ren und in ihrem Umfang umschreiben will. I. Welches Inhalts und welcher Herkunft sind die Gedanken und Regungen, die sich durch die Fehl— und Zufallshandlungen andeuten? 2. Welches sind die Bedingungen dafür, daß ein Gedanke oder eine Regung genötigt und in den Stand gesetzt werde, sich dieser Vorfälle als Ausdrucksmittel zu bedienen? 3. Lassen sich konstante und eindeutige Be ziehungen zwischen der Art der Fehlhandlung und den Qualitäten des durch sie zum Ausdruck Gebrachten nachweisen?

§ 742

Ich beginne damit, einiges Material zur Beantwortung der letzten Frage zusammenzutragen. Bei der Erörterung der Beispiele von Versprechen haben wir es für nötig gefunden, über den Inhalt der intendierten Rede hinauszugehen, und haben die Ursache der Rede-— störung außerhalb der Intention suchen müssen. Dieselbe lag dann in einer Reihe von Fällen nahe und war dem Bewußtsein des Sprechenden bekannt. In den scheinbar einfachsten und durchsichtigsten Bei

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126 Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

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spielen war es eine gleichberechtigt klingende, andere Fassung desselben Gedankens, die dessen Ausdruck störte, ohne daß man hätte angeben können, warum die eine unterlegen, die andere durchgedrungen war (Kontaminationen von M e rin g e r und M a y e r). In einer zweiten Gruppe von Fällen war das Unterliegen der einen Fassung motiviert durch eine Rücksicht, die sich aber nicht stark genug zur völligen Zurückhaltung erwies („zum Vorschwein gekommen“). Auch die zurückgehaltene Fassung war klar bewußt. Von der dritten Gruppe erst kann man ohne Einschränkung behaupten, daß hier der störende Gedanke von dem intendierten verschieden war, und kann hier eine, wie es scheint, wesentliche Unterscheidung aufstellen. Der störende Gedanke ist entweder mit dem gestörten durch Gedankenassoziation verbunden (Störung durch inneren Widerspruch), oder er ist ihm wesensfremd, und durch eine bei-remdende ä u B e r li c 11 e Assoziation ist gerade das gestörte Wort mit dem störenden Gedanken, der o f t unbewußt ist, verknüpft. In den Beispielen, die ich aus meinen Psychoanalysen gebracht habe, steht die ganze Rede unter dem Einfluß gleichzeitig aktiv gewordener, aber völlig unbewußter Gedanken, die sich entweder durch die Störung selbst verraten (K 1 a p p e r schlange * K l e 0 p a t r a) oder einen indirekten Einfluß äußern, indem sie ermöglichen, daß die einzelnen Teile der bewußt intendierten Rede einander stören (A s e n a t m e 11: wo H a s e n a u e r straße, Remi— niszenzen an eine Französin dahinter stehen). Die zurückgehaltenen oder unbewußten Gedanken, von denen die Sprechstörung ausgeht, sind von der mannigtaltigsten Herkunft. Eine Allgemeinheit enthüllt uns diese Überschau also nach keiner Richtung.

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Die vergleichende Prüfung der Beispiele von Verlesen und Ver» schreiben führt zu den nämlichen Ergebnissen. Einzelne Fälle scheinen wie beim Versprechen einer weiter nicht motivierten Verdichtungsarbeit ihr Entstehen zu danken (z. B.: der A p i e). Man möchte aber gern erfahren, ob nicht doch besondere Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine solche Verdichtung, die in der Traumarbeit regelrecht, in unserem wachen Denken fehlerhaft ist, Platz greife, und bekommt hier— über aus den Beispielen selbst keinen Aufschluß. Ich Würde es aber ablehnen, hieraus den Schluß zu ziehen, es gebe keine solchen Bedingungen als etwa den Nachlaß der bewußten Aufmerksamkeit, da ich von anderswoher weiß, daß sich gerade automatische Venichtungen durch Korrektheit und Verläßlichkeit auszeichnen. Ich möchte eher betonen, daß hier, wie so häufig in der Biologie, die normalen oder dem N ormalen angenäherten Verhältnisse ungünstigere Objekte der Forschung sind

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Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. —— Gesichtspunkte. 127

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als die pathologischen. Was bei der Erklärung dieser leichtesten Störungen dunkel bleibt, wird nach meiner Erwartung durch die Aufklänmg schwererer Störungen Licht empfangen.

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Auch beim Verlesen und Verschreiben fehlt es nicht an Beispielen, Welche eine entierntere und komplizierten: Motivierung erkennen lassen. „Im Faß durch Europa" ist eine Lesestörung, die sich durch den Einfluß eines entlegenen, wesensfremden Gedankens aufklärt, welcher einer verdrängten Regung von Eifersucht und Ehrgeiz ent‘ springt, und den „Wechsel“ des Wortes „B e { ö r d e r u n g“ zur Verknüpfung mit dem gleichgiiltigen und harmlosen Thema, das gelesen wurde, benützt. Im Falle: B u r c k h a r d ist der Name selbst ein solcher „Wechsel“.

§ 751

Es ist unverkennbar, daß die Störungen der Sprechfunktionen leichter zustande kommen und weniger Anforderungen an die störenden Kräfte stellen als die anderer psychischer Leistungen.

§ 752

Auf anderem Boden steht man bei der Prüfung des Vergessens im eigentlichen Sinne, (1. h. des Vergessens von vergangenen Erleb— nissen (das Vergessen von Eigennamen und Fremdworten, wie in den Abschnitten I und II könnte man als „Enttallen“, das von Vorsätzen als „Unterlassen“ von diesem Vergessen sensu strictiori absondern) Die Grundbedingungen des normalen Vorgangs beim Vergessen sind unbekannt. 1) Man wird auch daran gemahnt, daß nicht alles ver

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1) Über den Mechanismus des eigentlichen Vergessene kann ich etwa. folgende Andeutungen geben. Das Erinnerungsmaterial unterliegt im allgemeinen zwei Einflüsen, der Verdichtung und der Entstellung. Die Entstellung ist das Werk der im Seelenleben herrschenden Tendenzen und wendet sich vor allem gegen die aiiektwirksam gebliebenen Elinnerungsspuren, die sich gegen die Verdichtung resistenter verhalten. Die indiifereut gewordenen Spuren verfallen dern Verdichtungsvorgang ohne Gegenwehr, doch kann man. beobachten. daß überdies Entstellungstendenzen sich an dem indiiferenten Material sättigen, welche dort, wo sie sich äußern wollten, unbefriedigt geblieben sind. Da. diese Prozesse der Verdichtung und Entstellung sich über lange Zeiten hinziehen, während weicher alle frischen Erlebnisse auf die Umgestaltung des Gedächtnisinhnltes einwirken, meinen wir, es sei die Zeit, welche die Erinnerungen unsicher und undeutlich macht. Sehr wahrscheinlich ist beim Vergessen von einer direkten Funktion der Zeit überhaupt nicht die Rede. — An den verdrängten Erinnerungsspuren kann man. konstatieren, daß sie durch die längste Zeitdauer keine Veränderung erfahren haben. Das Unbewußte ist überhaupt zeitlos. Der wichtigste und auch befrem— dendste Charakter der psychischen Fixierung ist der, daß alle Eindrücke einerseits in der nämlichen Art erhalten sind, wie sie aufgenommen wurden, und über

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128 Determinismus. —— Zufalls- und Aberglauben. —— Gesichtspunkte.

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gessen ist, was man dafür hält. Unsere Erklärung hat es hier nur mit jenen Fällen zu tun, in denen das Vergessen bei uns ein Befremden erweckt, insofern es die Regel verletzt, daß Unwichtiges vergessen, Wichtiges aber vom Gedächtnis bewahrt wird. Die Analyse der Beispiele von Vergessen, die uns nach einer besonderen Aufklärung zu verlangen scheinen, ergibt als Motiv des Vergessens jedesmal eine Unlust, etwas zu erinnern, was peinliche Empfindungen erwecken kann. Wir gelangen zur Vermutung, daß dieses Motiv im psychischen Leben sich ganz allgemein zu äußern strebt, aber durch andere gegenwirkende Kräfte verhindert wird, sich irgendwie regelmäßig durchzusetzen. Umfang und Bedeutung dieser Erinnerungsunlust gegen peinliche Eindrücke scheinen der sorgfältigsten psychologischen Prüfung wert zu sein; auch die Frage, welche besonderen Bedingungen das allgemein angestrebte Vergessen in einzelnen Fällen ermöglichen, ist aus diesem weiteren Zusammen— hange nicht zu lösen.

§ 757

Beim Vergessen von Vorsätzen tritt ein anderes Moment in den Vordergrund; der beim Verdrängen des peinlich zu Erinnernden nur ver« mutete Konflikt wird hier greifbar, und man erkennt bei der Analyse der Beispiele regelmäßig einen Gegenwillen, der sich dem Vorsatze widersetzt, ohne ihn aufzuheben. Wie bei früher besprochenen Fehl— leistungen erkennt man auch hier zwei Typen des psychischen Vorgangs : der Gegenwille kehrt sich entweder direkt gegen den Vorsatz (bei Absichten von einigem Belang), oder er ist dem Vorsatz selbst wesens. fremd und. stellt seine Verbindung mit ihm durch eine ä u B e rl i c h e Assoziation her (bei fast inditferenten Vorsätzen).

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Derselbe Konflikt beherrscht die Phänomene des Vergreifens. Der Impuls, der sich in der Störung der Handlung äußert, ist häufig ein Gegenimpuls, doch noch öfter ein überhaupt fremder, der nur die Gelegenheit benützt, sich bei der Ausführung der Handlung durch eine Störung derselben zum Ausdruck zu bringen. Die Fälle, in denen die Störung durch einen inneren Widerspruch erfolgt, sind die bedeutsameren und betreffen auch die wichtigeren Verrichtungen.

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dies noch in all den Formen, die sie bei den weiteren Entwicklungen angenommen haben. ein Verhältnis, welches sich durch keinen Vergleich aus einer anderen Sphäre erläutern läßt. Der Theorie zufolge ließe sich also jeder frühere Zustand des Gedächtnisinhaltes wider für die Erinnerung herstellen, auch wenn dessen Elemente alle ursprünglichen Beziehungen längst gegen neuere eingebauscht. haben.

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Determinismus. — Zufalls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte. 129

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Der innere Konflikt tritt dann bei den Zufalls- oder Symptomhandlungen immer mehr zurück. Diese vom Bewußtsein gering geschätzten oder ganz übersehenen motorischen Äußerungen dienen so mannigfachen unbewußten oder zurückgehaltenen Regungen zum Ausdruck; sie stellen meist Phantasien oder Wünsche symbolisch dar. —

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Zur ersten Frage, welcher Herkunft die Gedanken und Regungen seien, die sich in den Fehlleistungen zum Ausdruck bringen, läßt sich sagen, daß in einer Reihe von Fällen die Herkunft der störenden Gedanken von unterdrückten Regungen des Seelenlebens leicht nachzuweisen ist. Egoistische, eifersiichtige, ieindselige Gefühle und Impulse, auf denen der Druck der moralischen Erziehung lastet, bedienen sich bei Gesunden nicht selten des Weges der Fehlleistungen, um ihre unleugbar vorhandene, aber von höheren seelischen Instanzen nicht anerkannte Macht irgendwie zu äußern. Das Gewährenlassen dieser Fehl- und Zufallshandlungen entspricht zum guten Teil einer bequemen Diildung des Unmoralischen. Unter diesen unterdrückten Regungen spielen die mannigfachen sexuellen Strömungen keine geringfügige Rolle. Es ist ein Zufall des Materials, wenn gerade sie so selten unter den durch die Analyse aufgedeckten Gedanken in meinen Beispielen erscheinen. Da ich vorwiegend Beispiele aus meinem eigenen Seelenleben der Analyse unterzogen habe, so war die Auswahl von vornherein parteiisch und auf den Ausschluß des Sexuellen gerichtet. Andere Male scheinen es höchst harmlose Einwendungen und Rücksichten zu sein, aus denen die störenden Gedanken eutspringen.

§ 764

Wir stehen nun vor der Beantwortung der zweiten Frage, welche psychologischen Bedingungen dafür gelten, daß ein Gedanke seinen Ausdruck nicht in voller Form, sondern in gleichsam parasitärer, als Modifikation und Störung eines anderen suchen müsse. Es liegt nach den auftä.liigsten Beispielen von Fehlhandlung nahe, diese Bedingung in einer Beziehung zur Bewußtseinsfähigkeit zu suchen, in dem mehr oder minder entschieden ausgeprägten Charakter des „Verdrängten“. Aber die Verfolgung durch die Reihe der Beispiele löst diesen Charakter in immer mehr verschwommene Andeutungen auf. Die Neigung, über etwas als zeitraubend hinwegzukommen, — die Erwägung, daß der betreffende Gedanke nicht eigentlich zur intendierten Sache gehört, — scheinen als Motive für die Zurückdrängung eines Gedankens, der dann auf den Ausdruck durch Störung eines anderen angewiesen ist, dieselbe Rolle zu spielen wie die moralische Verurteilung einer unbotmäßigen Geiühlsregung oder die Abkunft von völlig unbewußten Ge— dankeuzügen. Eine Einsicht in die allgemeine Natur der Bedingt

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Freud, Psychopat'nelogie des Alltagslebms, 9

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13o; Determinismue, —— Zufalls- und‘ Aberglauiben. — Gesichtspunkte.

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heit von Fehl- und Zufallsleistungen läßt sich auf diese Weise nicht gewinnen. Einer einzigen bedeutsamen Tatsache wird man bei diesen Untersuchungen habhaft; je harmloser die Motivierung der Fehlleistung ist, je weniger anstößig und darum weniger bewußtseinsunfähig der Gedanke ist, der sich in ihr zum Ausdruck bringt, desto leichter wird auch die Auflösung des Phänomens, wenn man ihm seine Aufmerksamkeit zugewendet hat; die leichtesten Fälle des Versprechens werden sofort bemerkt und spontan korrigiert. Wo es sich um Moti— vierung durch wirklich verdrängte Regulian handelt, da bedarf es zur Lösung einer sorgfältigen Analyse, die selbst zeitweise auf Schwierigkeiten stoßen oder mißlingen kann.

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Es ist also wohl berechtigt, das Ergebnis dieser letzten Unter— suchung als einen Hinweis darauf zu nehmen, daß die befriedigende Aufklärung für die psychologischen Bedingungen der Fehl- und Zu— fallshandlungen auf einem anderen Wege und von anderer Seite her zu gewinnen ist. Der nachsichtige Leser möge daher in diesen Auseinandersetzungen den Nachweis der Bruchflächen sehen, an denen dieses Thema ziemlich künstlich aus einem größeren Zusammenhauge herausgelöst wurde.

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VII. Einige Worte sollen zum mindesten die Richtung nach diesem weiteren Zusammenhauge andeuten. Der Mechanismus der Fehl— und Zufallshandlungen, wie wir ihn durch die Anwendung der Analyse kennen gelernt haben, zeigt in den wesentlichsten Punkten eine Übereinstimmung mit dem Mechanismus der Traumbildung, den ich in dem Abschnitt „Traurnarheit” meines Buches über die Traumdeutung auseinandergesetzt habe. Die Verdichtungen und Kom— promißbildungen (Kontaminationen) findet man hier wie dort; die Situation ist die nämliche, daß unbewußte Gedanken sich auf ungewöhnlichen Wegen, über äußerliche Assoziationen, alsModifikation von anderen Gedanken zum Ausdruck bringen. Die Ungereimtheiten, Absurditäten und Irrtümer des Trauminhaltes, denen zufolge der Traum kaum als Produkt psychischer Leistung anerkannt wird, entstehen auf dieselbe Weise, freilich mit freierer Benützung der vorhandenen Mittel, wie _die gemeinen Fehler unseres Alltagsleben5; hier wie dort löst sich der Anschein inkorrekter Funktion durch die eigentümliche Interferenz zweier oder mehrerer korrekter Leistungen. Aus diesem Zusammentreffen ist ein wichtiger Schluß zu ziehen: Die eigen— tiimliche Arbeitsweise, deren euffä.lligste Leistung wir im Trauminhalt erkennen, darf nicht auf den Schlefzustand des Seelenlebens zurück

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Determiniemue. — Zufall»- und Aber-glauben. —- Geeichtmnkte. 131

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geführt werden, wenn wir in den Fehlhandlungen so reichliche Zeugnisse für ihre Wirksamkeit während des wachen Lebens besitzen. Derselbe Zusammenhang verbietet uns auch, tiefgreifenden Zerfall der Seelentätigkeit, krankhafte Zustände der Funktion als die Bedingung dieser uns abnorm und- iremdartig erscheinenden psychischen Vorgänge anzusehen.1)

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Die richtige Beurteilung der sonderbaren psychischen Arbeit, welche die Fehlhandlungen wie die Traumbilder entstehen läßt, wird uns erst ermöglicht, wenn wir erfahren haben, daß die psychoneurotischen Symptome, speziell die psychischen Bildungen der Hysterie und der Zwangsneurose, in ihrem Mechanismus alle wesentlichen Züge dieser Arbeitsweise Wiederholen. An dieser Stelle schlösse sich also die Fortsetzung unserer Untersuchungen an. Für uns hat es aber noch ein besonderes Interesse, die Fehl-,'Zufalls- und Symptomhandlungen in dem Lichte dieser letzten Analogie zu betrachten. Wenn wir sie den Leistungen der Psychoneurosen, den neurotischen Symp— tomen, gleichstelleri, gewinnen zwei oft wiederkehrende Behauptungen, daß die Grenze zwischen nervöser Norm und Abnormität eine fließende, und daß wir alle ein wenig nervös seien,_ Sinn und Unter— lage. Man kann sich vor aller ärztlicher Erfahrung verschiedene Typen von solcher-blos angedeuteten Nervosität — von formes irustes der Neurosen — konstruieren: Fälle, in denen nur wenige Symptome, oder diese selten oder nicht heftig auftreten, die Abschwächung also in die Zahl, in die Intensität, in die zeitliche Ausbreitung der krankhaften Erscheinungen verlegen; vielleicht würde man aber gerade den Typus nicht erraten, welcher als der häufigste den Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit zu vermitteln scheint. Der uns vorliegende Typus, dessen Krankheitsäußerungen die Fehl- und Symptomhandlungen sind, zeichnet sich nämlich dadurch aus, daß die Symptome in die mindest wichtigen psychischen Leistungen verlegt sind, während alles, was höheren psychischen Wert beanspruchen kann, frei von Störung vor sich geht. Die gegenteilige Unterbringung der Symptome, ihr Hervortreten an den wichtigsten individuellen und sozialen Leistungen, so daß sie Nahrungsaufnahme und Sexualverkehr, Berufsarbeit und Geselligkeit zu stören vermögen, kommt den schweren Fällen von Neurose zu und charakterisiert diese besser als etwa die Mannigfaltigkeit oder die Lebhaftigkeit der Krankheitsäußerungen.

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1) Vgl. hierzu „Traumdeutung“ S. 362. ‘ gt

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132 Determim‘smus. —— Zuialls- und Aberglauben. — Gesichtspunkte.

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Der gemeinsame Charakter aber der leichtesten wie der schwersten Fälle, an dem auch die Fehl- und Zufallshandlungen Anteil haben, liegt in der Rückführbarkeit der Phänomene auf unvollkommen unterdrücktes psychisches Ma— terial, das, vom Bewußtsein abgedrängt, doch nicht jeder Fähigkeit, sich zu äußern, beraubt

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werden ist.

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