REFERATE ÜBER BÜCHER UND AUFSÄTZE.
§ 2Löwenfeld. Die psychischen Zwangs J. F. Bergmann, 1904. erscheinungen.
§ 3Das vorliegende Werk von Löwenfeld, das unter dem Titel „Die psychischen Zwangs erscheinungen“ einen ansehnlichen Ausschnitt aus der Klinik und Symptomatologie der Neurosen behandelt, vereinigt von neuem alle die Vorzüge, durch welche die zu sammenfassenden Darstellungen des Münche ner Neuropathologen allen Fachgenossen wertvoll, ja unentbehrlich geworden sind. Die ganz außerordentliche Beherrschung der Literatur des Gegenstandes, der Reichtum an eigenen Beobachtungen, die Klarheit des Stils sollen aber den Leser nicht vergessen lassen, daß der Hauptwert des Buches nicht in diesen Eigenschaften des Kompilators, sondern in der unparteiisch besonnenen Kritik und in der durchaus selbständigen Auffassung des Autors gelegen ist. Als be sonders dankenswert erscheint mir, daß Löwenfeld nicht seine Arbeitskraft an die Darstellung eines schon ungezählte Male behandelten Gegenstandes gewandt, sondern ein noch wenig erforschtes Gebiet ordnend und sichtend in Angriff genommen hat.
§ 4Die Schwierigkeiten, die sich unterLöwenfeld als „psychischen Zwang“ behandelt, geht weit über den Um fang der sog. Zwangsvorstellungskrankheit hinaus und schließt noch die Phobien, einen Teil der Abulien und sämtliche neurotische Angstzustände, auch die Anfälle von „in haltsloser“ Angst, mit ein. Für den Leser des Buches ergibt sich so ein unerwarteter Gewinn, für den Autor aber stellt sich die Unmöglichkeit her, über Mechanismus, Ätio logie und Verlauf der „psychischen Zwangs erscheinungen“ etwas allgemein Zutreffendes auszusagen, da die in ihrem Wesen dispa raten Affektionen sich auch in all diesen Momenten weit von einander entfernen.
solchen Umständen dem Bearbeiter entgegen stellen, sind von nicht gewöhnlicher Art. Alle Definitionen sind schwankend, über die Abgrenzungen ist Einigkeit noch nicht erzielt worden. Was § 5Löwenfeld hält seine, nach des Ref. Meinung künstliche, Einheit durch die De finition des psychischen Zwanges zusammen, als dessen Grundcharakter er die „Immobi lität“, den Mangel der Verdrängbarkeit durch Willenseinflüsse betrachtet. Aber er aner kennt auch — gewiß mit Recht — Zwangs empfindungen und Zwangsaffekte, während wir gewohnt sind, von unserer normalen Willenstätigkeit nur die Verdrängung von Vorstellungen und Vorstellungskomplexen, nicht auch die Aufhebung von Empfindungen oder Gefühlen zu fordern. Wer an einem Angstanfall leidet, pflegt zu klagen, daß er sich so schlecht fühlt, nicht aber sich zu verwundern, daß er einen „Zwang“ nicht beseitigen kann. Bei konsequenter Anwen dung seines Kriteriums hätte der Autor übrigens auch ein gutes Stück der hysteri schen Symptomatologie mitbehandeln müssen, welchem der Charakter der Immobilität, der Unverdrängbarkeit durch Willenseinflüsse in ausgeprägtester Weise zukommt.
§ 6Es war daher vielleicht nicht zweckLöwenfeld wendet gegen diese Ableitung der Angst ein, daß sich sexuelle Schädlich keiten nicht in der Ätiologie aller Fälle von Angstneurose, sondern nur bei etwa 75% nachweisen lassen. Ref. akzeptiert diese Zahl; er möchte sich aber gegen den nahe liegenden Vorwurf verwahren, daß er einer Theorie zuliebe gegen die Beobachtung ver blendet wurde. Ref. hat die Fälle von Angst neurose ohne sexuelle Ätiologie bereits 1895 gekannt und gewürdigt, denn er sagt aus drücklich in dem erwähnten Aufsatz über die Angstneurose: „Die letzte der anzu führenden ätiologischen Bedingungen scheint zunächst überhaupt nicht sexueller Natur zu sein. Die Angstneurose entsteht, und zwar bei beiden Geschlechtern, auch durch das Moment der Überarbeitung, erschöpfender Anstrengung z. B. nach Nachtwachen, Kranken pflegen und selbst nach schweren Krank heiten.“ Diese Stelle pflegen Kritiker im Interesse der Vereinfachung zu übersehen.
mäßig, den Begriff „Zwang“ in seinem logi schen Sinne zur Abgrenzung zu benützen. Es ist aber schwierig, derzeit etwas Besseres an die Stelle zu setzen. In Wirklichkeit ist die innere Verschiedenheit der vom Autor zu sammengefaßten Affektionen leichter zu ahnen und aus gewissen Anzeichen zu er raten als klarzulegen. Die richtigen Unter scheidungen dürften sich erst angeben lassen, wenn der psychologische Mechanismus der einzelnen Formen genauer bekannt ge worden ist. Im Mittelpunkte aller auf die Auffassung der Zwangsphänomene bezüg lichen Fragen steht das Problem der neuro tischen Angst. Mit der Aufklärung, woher diese Angst stammt, und unter welchen Be dingungen sie auftritt, wäre der Schüssel zum Verständnis der Psychoneurosen ge wonnen. Ref. kann nur bedauern, daß der Autor auch diesmal der von ihm [Ref.] auf gestellten Formel nicht beigetreten ist, welche aussagt, daß die neurotische Angst somati scher Herkunft ist, aus dem Sexualleben stammt und einer verwandelten Libido ent spricht. Die Richtigkeit oder wenigstens den heuristischen Wert dieser Aufstellung versuchte Ref. seinerzeit [1895] an dem Bei spiel seiner „Angstneurose“ zu erweisen. § 7Wenn die Theorie des Ref. trotzdem dieÄtiologie des Krankheitsfalles nicht durchwegs eine sexu elle Schädlichkeit, wohl aber betreffe der Mechanismus der Störung regelmäßig die Sexualität. Diese Unterscheidung läuft auf die gewiß nicht unwahrscheinliche Annahme hinaus, daß die organisch-sexuellen Vor gänge ebensowohl durch Schädlichkeiten aus dem Sexualleben selbst wie auch durch tiefgreifende allgemeine Noxen eine Störung erfahren können, ähnlich wie z. B. die Vor gänge der Verdauungstätigkeit einerseits von den Ingesten aus, andererseits durch allge meine toxische Erkrankungen, Kachexien und Blutveränderungen krankhaft verändert werden können.
neurotische Angst ganz allgemein [also auch in diesen Fällen] von der Libido ableitet, so scheint entweder eine Inkonsequenz des Ref. oder ein Mißverständnis seiner Kritiker unausweichlich. Es ist nicht schwer, das letztere aufzuzeigen. Ref. hat Ätiologie und Mechanismus begrifflich scharf geschieden, was seine Kritiker nicht tun. Er meint, bei der Angstneurose sei die § 8Ref. kennt auch die von Löwenfeld gegen ihn angeführten Fälle von Angst neurose mit erheblicher Steigerung anstatt einer Abnahme der Libido; er weiß aber, daß bei diesen nichts anderes als ein Oszillieren zwischen libidinöser und in Angst (teilweise) verwandelter Erregung vorliegt.
§ 9Unter den Ursachen der AngstneuroseLöwenfeld ferner Schrecken und andere emotionelle Noxen hervor. Ref. muß nach seinen Untersuchungsergebnissen viel mehr behaupten, daß diese sehr häufig vor kommenden Fälle durchwegs die Reaktionen der Hysterie ergeben, also dieser Neurose zuzurechnen sind.
hebt § 10Es ist unmöglich im Rahmen eines ReLöwenfeld über die psychischen Zwangs erscheinungen enthält. Wir dürfen hoffen, daß seine Veröffentlichung eine außer ordentliche Steigerung des Interesses für diese merkwürdigen und praktisch bedeut samen Erkrankungsformen zur Folge haben wird. Sigm. Freud (Wien).
ferates auszuführen, welche Fülle von Mit teilungen und Anregungen das Buch von § 11JOURNAL
§ 12FÜR
§ 13PSYCHOLOGIE UND NEUROLOGIE
§ 14BAND III
§ 15ZUGLEICH
ZEITSCHRIFT FÜR HYPNOTISMUS, BAND XIII § 16HERAUSGEGEBEN VON
§ 17AUGUST FOREL UND OSKAR VOGT
§ 18REDIGIERT VON
K. BRODMANN § 19MIT 15 TAFELN
§ 20LEIPZIG
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH 1904