Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes (1923-007/1928)

Über das Werk

  • Herausgegeben von
  • Diercks, Christine
  • Rohrwasser, Michael
  • Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen, Referenzsystem
  • Diercks, Christine
  • Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie
  • Blatow, Arkadi
  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
  • Technische Umsetzung der Datenbank und der digitalen Instrumente
  • Roedelius, Julian
  • Datenexport aus Drupal und TEI Serialisierung
  • Andorfer, Peter
  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes (1923-007/1928). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1923-007__1928.xml
§ 1

JOSEF POPPER-LYNKEUS UND DIE THEORIE DES TRAUMES

§ 2

Erschien im Juni 1923 in der „Zeitschrift des Vereines Allgemeine Nährpflicht“, Wien.

§ 3

Über den Anschein wissenschaftlicher Originalität ist viel Interessantes zu sagen. Wenn in der Wissenschaft eine neue Idee auftaucht, die zunächst als Entdeckung gewertet und in der Regel als solche auch bekämpft wird, so weist die objektive Erforschung bald nach, daß sie eigentlich doch keine Neuheit ist. In der Regel ist sie schon wiederholt gemacht und dann wieder vergessen worden, oft zu sehr weit voneinander entfernten Zeiten. Oder sie hat wenigstens Vorläufer gehabt, wurde undeutlich geahnt oder unvollkommen ausgesprochen. Das ist zu genau bekannt, als daß es einer weiteren Ausführung bedürfte.

§ 4

Aber auch die subjektive Seite der Originalität ist der Verfolgung würdig. Ein wissenschaftlicher Arbeiter mag sich einmal die Frage stellen, woher die ihm eigentümlichen Ideen kommen, die er an sein Material herangebracht hat. Dann findet er von einem Teil derselben ohne viel Besinnen, auf welche Anregungen er zurückgeht, welche Angaben von anderer Seite er dabei aufgegriffen, modifiziert und in ihre Konsequenzen ausgeführt hat. Von einem anderen Anteil seiner Ideen kann er nichts Ähnliches bekennen, er muß annehmen, diese Gedanken und Gesichtspunkte seien in seiner eigenen Denktätigkeit — er weiß nicht wie — entstanden, durch sie stützt er seinen Anspruch auf Originalität.

§ 5

Sorgfältige psychologische Untersuchung schränkt diesen Anspruch dann noch weiter ein. Sie deckt verborgene, längst vergessene Quellen auf, aus denen die Anregung der anscheinend originellen Ideen erflossen ist, und setzt an Stelle der vermeintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen Stoff. Daran ist nichts zu bedauern; man hatte ja kein Recht zu erwarten, daß das „Originelle“ etwas Unableitbares, Indeterminiertes sein würde. Auf solche Weise hat sich auch für meinen Fall die Originalität vieler neuer Gedanken, die ich in der Traumdeutung und in der Psychoanalyse verwendet hatte, verflüchtigt. Nur von einem dieser Gedanken kenne ich die Herkunft nicht. Er ist geradezu der Schlüssel meiner Auffassung des Traumes geworden und hat mir dazu verholfen, seine Rätsel zu lösen, soweit sie bis heute lösbar geworden sind. Ich knüpfte an den fremdartigen, verworrenen, unsinnigen Charakter so vieler Träume an und kam auf die Idee, daß der Traum so werden müsse, weil in ihm etwas nach Ausdruck ringt, was den Widerstand anderer Mächte des Seelenlebens gegen sich hat. Im Traume rühren sich geheime Regungen, die mit dem sozusagen offiziellen ethischen und ästhetischen Bekenntnis des Träumers im Widerspruch stehen; darum schämt sich der Träumer dieser Regungen, wendet sich tagsüber von ihnen ab, will nichts von ihnen wissen, und wenn er ihnen zur Nachtzeit nicht jede Art von Ausdruck verwehren kann, zwingt er sie zur Traumentstellung, durch die der Trauminhalt verworren und unsinnig erscheint. Die seelische Macht im Menschen, die diesem inneren Widerspruch Rechnung trägt und zugunsten der konventionellen oder auch der höheren sittlichen Ansprüche die primitiven Triebregungen des Traumes entstellt, nannte ich die Traumzensur.

§ 6

Gerade dieses wesentliche Stück meiner Traumtheorie hat aber PopperLynkeus selbst gefunden. Man vergleiche das nachstehende Zitat aus seiner Erzählung „Träumen wie Wachen“ in den „Phantasien eines Realisten“, die sicherlich ohne Kenntnis meiner 1900 veröffentlichten „Traumtheorie“ geschrieben worden sind, wie ich auch damals Lynkeus’ Phantasien noch nicht kannte:

§ 7

"„Von einem Manne, der die merkwürdige Eigenschaft hat, niemals Unsinn zu träumen“ ... „Diese herrliche Eigenschaft, zu träumen wie zu wachen, beruht auf Deinen Tugenden, auf Deiner Güte, Deiner Gerechtigkeit, Deiner Wahrheitsliebe: es ist die moralische Klarheit Deiner Natur, die mir alles an Dir verständlich macht.“"

§ 8

"„Wenn ich aber recht bedenke,“ erwiderte der Andere, „so glaube ich beinahe, alle Menschen seien so wie ich beschaffen, und gar niemand träume jemals Unsinn! Ein Traum, an den man sich so deutlich erinnert, daß man ihn nacherzählen kann, der also kein Fiebertraum ist, hat immer Sinn. Und es kann gar nicht anders sein! Denn was miteinander im Widerspruch steht, könnte sich ja nicht zu einem Ganzen gruppieren. Daß Zeit und Ort oft" "durcheinander gerüttelt werden, benimmt dem wahren Gehalt des Traumes gar nichts, denn sie beide sind gewiß ohne Bedeutung für seinen wesentlichen Inhalt gewesen. Wir machen es ja oft im Wachen auch so: denke an das Märchen, an so viele sinnvolle Phantasiegebilde, zu denen nur ein Unverständiger sagen würde: Das ist widersinnig! denn das ist nicht möglich!“"

§ 9

"„Wenn man nur die Träume immer richtig zu deuten wüßte, so wie Du es eben mit dem meinem getan hast“, sagte der Freund."

§ 10

"„Das ist gewiß keine leichte Aufgabe, aber es müßte bei einiger Aufmerksamkeit dem Träumenden wohl immer gelingen. Warum es meistens nicht gelingt? Es scheint bei Euch etwas Verstecktes in den Träumen zu liegen, etwas Unkeusches eigener und höherer Art, eine gewisse Heimlichkeit in Eurem Wesen, die schwer auszudenken ist; und darum scheint Euer Träumen so oft ohne Sinn, sogar ein Widersinn zu sein. Es ist aber im tiefsten Grunde nicht so; ja, es kann gar nicht anders sein, denn es ist immer derselbe Mensch, ob er wacht oder träumt.“"

§ 11

Ich glaube, was mich dazu befähigt hat, die Ursache der Traumentstellung aufzufinden, war mein moralischer Mut. Bei Popper war es die Reinheit, Wahrheitsliebe und moralische Klarheit seines Wesens.