Die Grenzen der Deutbarkeit (1900-001/1925.5)

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  • Diercks, Christine
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  • Diercks, Christine
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  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
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  • Andorfer, Peter
  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Die Grenzen der Deutbarkeit (1900-001/1925.5). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1900-001__1925.5.xml
§ 1

DIE GRENZEN DER DEUTBARKEIT

§ 2

Die Frage, ob man von jedem Produkt des Traumlebens eine vollständige und gesicherte Übersetzung in die Ausdrucksweise des Wachlebens (Deutung) geben kann, soll nicht abstrakt be— handelt werden, sondern unter Beziehung“ auf die Verhältnisse, unter denen man an der Traumdeutung arbeitet.

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Unsere geistigen Tätigkeiten streben entweder ein nützliches Ziel an oder unmittelbaren Lustgewinn. Im ersteren Falle sind es intellektuelle Entscheidungen, Vorbereitungen zu Handlungen oder Mitteilungen an andere; im anderen Falle nennen wir sie Spielen und Phantasieren. Bekanntlich ist auch das Nützliche nur ein Umweg zur lustvollen Befriedigung. Das Träumen ist nun eine Tätigkeit der zweiten Art, die ja entwicklungsgeschichtlich die ursprünglichere ist. Es ist irreführend, zu sagen, das Träumen bemühe sich um die bevorstehenden Aufgaben des Lebens oder suche Probleme der Tagesarbeit zu Ende zu führen. Darum kümmert sich das vorbewußte Denken. Dem Träumen liegt solche nützliche Absicht ebenso ferne wie die der Vorbereitung einer Mitteilung an einen anderen. Wenn sich der Traum mit einer Aufgabe des Lebens beschäftigt, löst er sie so, wie es einem irrationellen Wunsch, und nicht so, wie es einer verständigen Überlegung entspricht. Nur eine nützliche Absicht, eine Funktion, muß man dem Traum zusprechen, er soll die Störung des Schlafes verhüten. Der Traum kann beschrieben

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64. Kleine Beiträge zur Traumlehre

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werden als ein Stück Phantasieren im Dienste der Erhaltung des Schlafes.

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Es folgt daraus, daß es dem schlafenden Ich im ganzen gleich

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gültig ist, wa's während der_Nacht geträumt wird, wenn der Traum nur leistet, was ihm aufgetragen ist, und daß diejenigen Träume ihre Funktion am besten erfüllt haben, von denen man nach dem Erwachen nichts zu sagen weiß. Wenn es so oft anders zugeht, wenn wir Träume erinnern, — auch über Jahre und Jahrzehnte, —— so bedeutet dies jedesmal einen Einbruch des verdrängten Unbewußten ins normale Ich. Öhrié solche Genugtuung hat das ”(Tel-drängte“ seine” Hilfe zur Aufhebung der drohenden Schlafstörung nicht leihen wollen. Wir wissen, es ist -éie-Ieeachs,éieéssEiebreqhs. die,dem Traum seine Bedeutung für die Psychopathologie verschafft. Wenn wir sein treibendes Motiv aufdeckeu können, erhalten wir unvermutete Kunde von den verdrängten Regungen im Unbewußten; anderseits, wenn wir seine Entstellungen rückgängig machen, belauschen wir das vorbewußte Denken in Zuständen innerer Sammlung, die tags— über das Bewußtsein nicht auf sich gezogen hätten.

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Niemand kann die Traumdeutung als isolierte Tätigkeit üben; sie bleibt ein Stück der analytischen Arbeit. In dieser wenden wirje nach Bedarf unser Interesse bald dem vorbewußten Trauminhalt, bald dem unbewußten Beitrag zur Traumbildung zu, vernachlässigen auch oft das eine Element zugunsten des anderen. Es nützte auch nichts, wenn jemand sich vornehmen wollte, Träume außerhalb der Analyse zu deuten. Er würde den Bedingungen der analytischen Situation doch nicht entgehen, und wenn er seine eigenen Träume bear— beitet, unternimrfit er seine Selbstanalyse. Diese Bemerkung gilt nicht für den, der auf die Mitarbeit des Träumers verzichtet und die Deutung von Träumen durch intuitives Erfassen erfahren will. Aber solche Traumdeutung ohne Rücksicht auf die’Assoziationen des Träumers bleibt auch im günstigsten Falle ein unwissenschaftliches Virtuosenstück von sehr zweifelhaftem Wert.

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Übt man die Traumdeutung nach dem einzigen technischen Verfahren, das sich rechtfertigen läßt, so merkt man .bald, daß der Erfolg durchaus .von der Widerstandsspannung zwischen dem erwachten Ich und dem verdrängten Unbewußten; -‘abhängig ist. ' Die Arbeit unter „hohem Widerstandsdruc “.erfordert selbst, wie ich an anderer Stelle auseinandergesetzt habe, ein anderes Verhalten des Analytikers als bei geringem Druck. Inwder Analyse hat man es durch lange Zeiten mit starken Widerständen zu tun, die noch nicht bekannt sind, die jedenfalls nicht überwunden werden können, solange sie unbekannt bleiben. Es ist, also' nicht zu verwundern, daß man von den Traumproduk'tionen' idee Patienten nur einen gewissen Anteil und auch. diesen .'meist nicht vollständig übersetzen und verwerten kann. Auch <Wenn maxi; durch die eigene Geübtheit in die Lage kommt,; viele Träume' zu verstehen, zu deren Deutung der Träumer wenig Beiträge geliefert hat, soll man gemahnt bleiben, daß die Sicherheit solcher Deutung in Frage steht, und wird Bedenken tragen, seine Vermutung dem Patienten aufzudrängen.

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Kritische Einwendungen werden nun sageanenn'man nicht alle Träume, die man bearbeitet, zur Deutung'bringt, soll man auch nicht mehr behaupten, als man vertreten kann, und sich mit der Aussage begnügen, einzelne Träume-seien durch Deutung als sinnreich zu erkennen, von anderen wisse man es nicht. Allein gerade die Abhängigkeit des Deutungserfolges vom Widerstand enthebt den Analytiker einer solchen Bescheidenheit. Er kann die Erfahrung machen, daß ein anfangs unverständlicher Traum noch in derselben Stunde durchsichtig wird, nachdem es gelungen ist, einen Widerstand des Träumers durch eine glückliche Aussprache zu beseitigen. Plötzlich fällt ihmdann ein bisher vergessenes Traumstück ein, das den Schlüssel zur Deutung bringt, oder es stellt sich eine neue Assoziation ein, mit deren Hilfe das Dunkel sich lichtet. Es kommt auch vor, daß man nach Monaten und Jahren analytischer Bemühung auf einen Traum

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zurückgreift, der zu Anfang der Behandlung unsinnig und unverständlich erschien, und der nun durch die seither gewonnenen Einsichten eine völlige Klärung erfährt. Nimmt man aus der Theorie des Traumes das Argument hinzu, daß die vorbildlichen Traumleistungen der Kinder durchwegs sinnvoll und leicht deutbar sind, so wird man sich zur Behauptung berechtigt finden, der Traum sei ganz allgemein ein deutbares psychisches Gebilde, wenn— gleich die Situation nicht immer die Deutung zu geben gestattet.

§ 18

Wenn man die Deutung eines Traumes gefunden hat, ist es nicht immer leicht zu entscheiden, ob sie eine „vollständige“ ist, d. h. ob nicht auch andere vorbewußte Gedanken sich durch denselben Traum“ Ausdruck verschafft haben. Als erwiesen hat dann jener Sinn zu gelten, der sich auf die Einiälle des Träumers und» die Einschätzung der Situation berufen kann, ohne daß man darum den anderen Sinn jedesmal abweisen dürfte. Er bleibt möglich, wenn auch unerwiesen; man muß sich mit der Tatsache einer solchen Vieldeutigkeit der Träume hefreunden. Diese ist übrigens nicht jedesmal einer Unvollkommen— heit der Deutuilgsarbeit zur Last zu legen, sie kann ebensowohl an den latenten- Traumgedanken selbst haften. Der Fall, daß wir unsicher bleiben, ob» eine Äußerung, die wir gehört, eine Auskunft, die wir erhalten haben, diese oder jene Auslegung zulassen, außer ihrem oflenberen Sinn noch etwas anderes andeuten, ereignet sich ja auch im Wachleben und außerhalb der Situation der Traumdeutung.

§ 19

Zu weniguntersucht sind die interessanten Vorkommnisse, daß derselbe manifeste Trauminhalt gleichzeitig einer konkreten Vor— stellungsreihe und einer abstrakten Gedankenfolge, die an erstere angelehnt ist, Ausdruck gibt. Der Traumarbeit macht es natür— lich Schwierigkeiten, die Vorstellungsmittel für abstrakte Gedanken zu finden.

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