Die okkulte Bedeutung des Traumes (1900-001/1925.6)

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  • Diercks, Christine
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Freud, Sigmund: Die okkulte Bedeutung des Traumes (1900-001/1925.6). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1900-001__1925.6.xml
§ 1

DIE OKKULTE BEDEUTUNG DES TRAUMES

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Erschien, zuerst in der „In-ago, Zdzschnfl fiir Anwendung der Psyclwmaly-ss auf die Gaius:wissnuchnfim“, 191; (Bd. XI), Heft ;.

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Wenn der Probleme des Traumlebens kein Ende abzusehen ist, so kann sich nur der darüber verwundem, der eben vergißt, daß alle Probleme des Seelenlebens auch am Traume wiederkehren, vermehrt um einige neue, die die besondere Natur der Träume betreifen. Viele der Dinge, die wir am Traum studieren, weil sie sich uns dort zeigen, haben aber mit dieser psychischen Besonderheit des Traumes nichts oder wenig zu tun. So ist z. B. die Symbolik kein Traumproblem, sondern einThema unseres archaischen Denkens, unserer „Grundsprache“ nach des Paranoikers Sehr eb er trefl'lichem Ausdruck, sie beherrscht den Mythus und das religiöse Ritual nicht minder als den Traum; kaum daß der Traumsym— bolik die Eigenheit verbleibt, vorwiegend sexuell Bedeutsames zu verhüllen! Auch der Angsttraum braucht seine Aufklärung nicht von der Traumlehre zu erwarten, die Angst ist vielmehr ein Neurosenproblem, es bleibt nur zu erörtern, wie Angst unter den Bedingungen des Träumens entstehen kann.

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Ich meine, es ist mit dem Verhältnis des Truumes zu den angeblichen Tatsachen der okkulten Welt auch nicht anders. Aber da der Traum selbst immer etwas Geheimnisvolles war, hat man ihn mit jenen anderen unerkannten Geheimnissen in intime

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Beziehung gesetzt. Er hatte wohl auch» ein historisches Anrecht darauf, denn in den Urzeiten, als unsere Mythologie sich bildete, mögen die Traumbilder an der Entstehung der Seelenvorstellungen beteiligt gewesen sein.

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Es soll zwei Kategorien von Träumen-geben, die den okkulten Phänomenen zuzurechnen sind, die prophetjschen und die tele— pathischen. Für beide spricht eine unübersehbare Masse von Zeugnissen, gegen beide die hartnäckige Abneigung, wenn man will, das Vorurteil der Wissenschaft.

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Daß es prophetische Träume in dem Sinne gibt, daß ihr Inhalt irgendeine Gestaltung der Zukunft darstellt, leidet allerdings keinen Zweifel, fraglich bleibt nur, ob diese Vorhersagen in irgend bemerkenswerter Weise mit dem übereinstimmen, was später wirk— lich geschieht. Ich gestehe, daß mich für diesen Fall der Vorsatz der Unparteilichkeit im Stiche läßt. Daß es irgendeiner psychischen Leistung außer einer scharfsinnigen Berechnung möglich sein sollte, das zukünftige Geschehen im Einzelnen vorauszusehen, widerspricht einerseits zu sehr allen. Erwartungen und Einstellungen der Wissenschaft und entspricht anderseits allzu getreu uralten, wohlbekannten Menschheitswünschen, welche die Kritik als unberechtigte Anmeßung verwerfen muß. Ich meine also, _wenn man die Unzuverlässigkeit, Leichtgläubigkeit und Unglaubwürdigkeit der meisten Berichte zusammenhält mit der Möglichkeit effektiv erleichterter Erinnerungstäuschungen und der Notwendigkeit einzelner Zufallstreffer, darf man erwarten, daß sich der Spuk der prophetischen Wahrträume in ein Nichts auflösen wird. Persönlich habe ich nie etwas erlebt oder erfahren, was ein günstigeres Vorurteil erwecken könnte.

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Anders steht es mit den telepathischen Träumen. Hier sei aber vor allem bemerkt, daß noch niemand behauptet hat, das telepa— thische Phänomen — die Aufnahme eines seelischen Vorganges in einer Person durch eine andere auf anderem Wege als dem der Sinneswahrnehmung —— sei ausschließlich an den Traum

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74. Kleine Beiträge zur Traumlehrz

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gebunden. Die Telepathie ist also wiederum kein Traumproblem, man braucht sein Urteil über ihre Existenz nicht aus dem Studium der telepathischen Träume zu schöpfen.

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Unterwirft man die Berichte über telepathische Vorkommnisse (ungenau: Gedankenübertragung) derselben Kritik, mit der man andere okkulne Behauptungen abgewehrt hat, sobehält man doch ein ansehnliches Material übrig, das man nicht so leicht vernachlässigen kann. Auch gelingt es auf diesem Gebiete weit eher, eigene Beobachtungen und Erfahrungen zu sammeln, die eine freundliche Einstellung zum Problem der Telepathie berechtigen, wenngleich sie für die Herstellung einer gesicherten Überzeugung noch nicht ausreichen mögen. Man bildet sich vorläufig die Meinung, es könnte wohl sein, daß die Telepathie wirklich existiert und daß sie den Wahrheitskern von vielen anderen, sonst unglaublichen Aufstellungen bildet.

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Man tut gewiß recht daran, wenn man auch in Sachen der Telepathie jede Position der Skepsis hartnäckig verteidigt und nur ungern vor der Macht der Beweise zurückvveicht. Ich glaube ein Material gefunden zu haben, welches den ‘rneisten sonst zulässigen Bedenken entzogen ist: nicht erfüllte Prophezeiungen berufsmäßiger Wahrsagen Leider stehen mir nur wenige solche Beobachtungen zu Gebote, aber zwei unter diesen haben mir einen starken Eindruck hinterlassen. Es ist mir versagt, diese so ausführlich mitzuteilen, daß sie auch auf andere wirken könnten. Ich muß mich auf die Hervorhebung einiger wesentlicher Punkte beschränken.

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Den betreffenden Personen war also -—- am fremden Ort und von seiten eines fremden Wahrsagers, der dabei irgendeine, wahrscheinlich gleichgültige, Praktik betrieb — etwas für eine bestimmte Zeit vorhergesagt worden, was nicht eingetroffen war. Die Verfallszeit der Prophezeiung war längst vorüber. Es war anfällig, daß die Gewährspersonen anstatt mit Spott und Enttäuschung mit offe'nbarem Wohlgefallen von ihrem Erlebnis erzählten. Im

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Inhalte der ihnen gewordenen Verkündigung fanden sich ganz bestimmte Einzelheiten, die willkürlich und unverständlich schienen, die eben nur durch ihr Eintreffen gerechtfertigt worden wären. So sagte z. B. der Chiromant der siebenundzwanzigjährigen, aber viel jünger aussehenden Frau, die den Ehering abgezogen hatte, sie werde noch heiraten und mit zweiunddreißig Jahren zwei Kinder haben. Die Frau war dreiundvierzig Jahre alt, als sie, schwer krank geworden, mir diese Begebenheit in ihrer Analyse erzählte, sie war kinderlos geblieben. Wenn man ihre Geheim— geschichte kannte, die dem „Professeur“ in der Halle des Pariser Hotels sicherlich unbekannt geblieben war, konnte man die beiden Zahlen der Prophezeiung verstehen. Das Mädchen hatte nach einer ungewöhnlich intensiven Vaterbindung geheiratet und sich dann sehnlichst Kinder gewünscht, um ihren Mann an die Stelle des Vaters rücken zu können. Nach jahrelanger Enttäuschung, an der Schwelle einer Neurose, holte sie sich die Prophezeiung, die — ihr das Schicksal ihrer Mutter versprach. Auf diese traf es zu, daß sie mit zweiunddreißig Jahren zwei Kinder gehabt hatte. So war es also nur mit Hilfe der Psychoanalyse möglich, die Eigentümlichkeiten der angeblich von außen her erfolgenden Botschaft sinnvoll zu deuten. Dann aber konnte man den ganzen, so eindeutig bestimmten, Sachverhalt nicht besser aufklären als durch die Annahme, ein starker Wunsch der Befiagenden —— in Wirklichkeit der stärkste, unbewußte Wunsch ihres Affektlebens und der Motor ihrer keimenden Neurose — habe sich durch unmittelbare Übertragung dem mit einer ablenkenden Hantierung beschäftigten Wahrsager kundgegeben.

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Ich habe auch bei Versuchen im intimen Kreise wiederholt den Eindruck gewonnen, daß die Übertragung von stark effektiv betonten Erinnerungen unschwer gelingt. Getraut man sich, die Einfälle der Person, auf welche übertragen werden soll, einer analytischen Bearbeitung zu unterziehen, so kommen oft Überein— stimmungen zum Vorschein, die sonst unkenntlich geblieben wären.

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76 Khine Beiträge zur Traumlehre

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Aus manchen Erfahrungen bin ich geneigt, den Schluß zu ziehen, daß solche Übertragungen besonders gut in dem Moment zustande kommen, da eine Vorstellung aus dem Unbewußten auftaucht, theoretisch ausgedrückt, sobald sie aus dem „Primärvorgang“ in den „Sekundärvorgang“ übergeht.

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Bei.aller'durch die Tragweite, Neuheit und Dunkelheit des Gegenstandes gebotenen Vorsicht hielt ich es doch nicht mehr für berechtigt, mit diesen Äußerungen zum Problem der Telepathie zurückzuhalten. Mit dem Traum hat dies alles nur so viel zu tun: Wenn es telepathische Botschaften gibt, so ist nicht abzuweisen, daß sie auch den Schlafenden erreichen und von ihm im Traum erfaßt werden können. Je nach der Analogie mit anderem Wahmehmungs- und Gedankenmaterial darf man es auch nicht abweisen, daß telepathische Botschaften, die während des Tages aufgenommen wurden, erst im Traum der nächsten Nacht zur/Verarbeitung kommen. Es wäre dann nicht einmal ein Einwand, wenn das telepathisch vermittelte Material im Traum wie ein.anderes verändert und umgestaltet würde. Man möchte gerne mit. Hilfe der Psychoanalyse'mehr und besser Gesichertes über die Telepathie erfahren.

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