Prof. Sigm. Freud
§ 2§ 3
Massenpsychologie und Ich-Analyse
§ 4§ 5
Internationaler Psychoanalytischer Verlag G. m. b. H.
§ 6MASSENPSYCHOLOGIE
UND ICH-ANALYSE' § 7VON
PROF. SIGM. _FREUD § 8INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG G. M. B. H. § 9LEIPZIG WIEN ZÜRICH
1921 § 10Inhalt.
§ 11I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . 1
II. Le Bon’s Schilderung der Massenseele . . . 5 III. Andere Würdigungen des. kollektiven Seelen lebens . . . . . . . . . . . . . . . 25 IV. Suggestion und Libido ._ . . . . . . . . 37 V. Zwei künstliche Massen: Kirche und. Heer . . 46 VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen . . . ,57 VII. Die Identifizierung . l. . . . . . . . . . 66 VIII. Verliebthelt und Hypnose . . . . . . . . 78 IX. Der Herdentrieb . . . . . . . . . . . . 89 X. Die Masse und die Urhorde . . . . . . . 100 XI. Eine Stufe im Ich . . . . . . . . . . . 112 § 12XII.
§ 13Nachträge..............122
§ 14I.
Einleitung.§ 15Der Gegensatz von Individual- und Sozial- oder Massenpsychologie, der uns auf den ersten Blick als sehr bedeutsam erscheinen mag, verliert bei eingehender Betrachtung sehr viel von seiner Schärfe. Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmsbedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne.
§ 162
§ 17Das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Eltern
und Geschwistern, zu seinem Liebesobjekt und zu seinem Arzt, also alle die Beziehungen, welche bis § 18her vorzugsweise Gegenstand der psychoanalytischen '
Untersuchung geworden sind, können den Anspruch § 19erheben, als soziale Phänomene gewürdigt zu wer
den, und stellen sich dann in Gegensatz zu gewissen , _ anderen, von uns 11 a r z i B t i s c h genanntén Vor § 20gängen, bei denen die Triebbefriedigung sich dem
Einfluß anderer Personen entzieht oder auf sie ver- ;, § 21ziehtet. Der Gegensatz zwischen sozialen ”und nar—
zißtischen — Ble uler würde yielleicht sagen: 'autistischen‘ .— seelischen Akten fällt also durchaus innerhalb des Bereichs der Individual psjchologie und eignet Sich nicht dazu, sie von § 22einer Sozial- oder Massenpsychologie abzutrennen;
§ 23Inden erwähnten Verhältnissen zu Eltern und
Geschwistern, zur Geliebten, zum Freundeund zum Arzt erfährt-der Einzelne immer nur den Einfluß einer einzigen oder einer sehr geringen Anzahl von Per § 24. sonen, von denen eine jede eine großartige Bedeu- " : ;
§ 25,tung für ihn erworben‘hat. Man hat sich nun ge,
wählt, wenn man von Sozial- oder Massenpsyeho logie" spricht, von diesen Beziehungen abzuseheti' „ § 26und ,die gleichzeitige Beeinflussung des Einzelnen
§ 27§ 28
]. Einleitung 3
§ 29durch eine große Anzahl von Personen, mit denen
er durch irgend etwas verbunden ist, während sie ' ihm sonst in vielen Hinsichten fremd sein mögen, als Gegenstand der Untersuchung abzusondern. Die Massenpsychologie behandelt also den einzelnen" Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhauiens, der sich zu einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organisiert„ Nach dieser Zerreißung eines natürlichen Zusammenhanges lag es dann nahe, die Erscheinungen, die sich unter diesen besonderen Be : dingungen zeigen, als Äußerungen eines besonderen, weiter nicht zurückführbaren Triebes anzusehen, des sozialen Triebes — herd irisfinct, group mind — der in anderen Situationen nicht zum Ausdruck kommt. Wir dürfen aber wohl den Einwand erheben, es falle uns schwer, dem Moment der_ Zahl eine so große Bedeutung einzuräumen, daß es ihm allein möglich sein sollte, im menschlichen Seelenleben einen neuen und sonst nicht betätigten Trieb zu wecken. Unsere Erwartung wird somit auf zwei— andere Möglichkeiten hingelenkt: daß der soziale Trieb kein ursprünglicher und unzerlegbarer sein mag, und daß die Anfänge seiner Bildung in einem § 30§ 31
4 ’ Massenpsychoiozie und Ich-Analyse
§ 32engeren Kreis wie etwa in dem der Familie gefunden
werden können. § 33Die Massenpsychologie, obwohl erst in ihren
Anfängen befindlich, umfaßt eine noch unüberseh bare Fülle von Einzelproblemen und stellt dem Untersucher ungezählte, derzeit noch nicht einmal" gut gesönderte Aufgaben. Die bloße Gruppierung der verschiedenen Formen von Massenbildung und die Beschreibung der von ihnen geäußerten psy chischen Phänomene erfordern einen großen Auf? wand von Beobachtung und Darstellung und haben bereits eine reichhaltigeliteratur entstehen lassen. Wer dies schmale Büchlein an dem Umfang der Massenpv5Ychologie mißt, wird ohneweiters, v‘er- ' muten dürfen„,daß hier nur wenige Punkte des ganzen Stoffes behandelt werden sollen, Es werden wirklich auch nur einige Fragen sein, an denen die Tiefenforschung der Psychoanalyse ein besonderes Interessen1mmt § 34§ 35
n.‘
Le Bon’s Schilderung der Massenseiale. § 36Zweckmäßiger als eine Definition voranzu
stellen scheint es,“ mit einein:Hinvveis auf das Er séhei11ungsgebiet zu beginnen und aus diesem einige besonders auffällige und charakteristische Tatsachen herauszugreifen, an welche die Untersuchung an knüpfen kann. Wir erreichen beides durch einen Auszug aus dem mit Recht berühmt gewordenen Buch von Le Bon, Psychologie der M a s s e n *. § 37Machen wir uns den Sachverhalt nochmals klar:
Wenn die Psychologie, welche die Anlagen, Trieb regungen, Motive, Absichten eines einzelnen Men schen bis zu seinen Handlungen und in die Bezie hungen zu seinen Nächsten verfolgt, ihre Aufgabe restlos gelöst und alle diese Zusammenhänge durch sichtig gemacht hätte, dann fände sie sich plötzlich ' § 38‘ Übersetzt von Dr. Rudolf Eisi er, zweite Auflage 1912.
§ 39§ 40
6
§ 41vor einer neuen Aufgabe, die sich ungelöst vor ihr
erhebt. Sie müßte die überraschende Tatsache er— klären, daß‘ dies ihr verständlich gewordene Indi viduum unter einer bestimmten Bedingung ganz an— ders fühlt, denkt und handelt, als von ihm zu er warten stand, und diese Bedingung ist die Einrei hung in eine Menschenmenge, welche die Eigen schaft einer „psychologischen Masse“ erworben hat. Was ist nun eine „Masse“, wbdurch erwirbt sie die Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so ent scheidend zu beeinflussen, und worin besteht die seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen auf nötigt? . , Diese drei Fragen zu’ beantworten, ist die Auf gabe‘ einer theoretischen Massenpsychologié. Man greift sie offenbar am besten an, wenn man von der dritten ausgeht. Es ist" die Beobachtung der ver änderten REaktion des Einzelnen, welche der Massen psychologie den Stoff 1ieiert;,jedem Erklärungsver such muß. ja die Beschreibung des zu Erklärenden vorausgehen. . ‘ § 42Ich lasse nun L e B o n zu Worte kommen.
Er sagt (S.- 13); „An ,einer psychologischen Masse ist das Sonderbarste dies: welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ähnf § 43§ 44
Il. Le Bon's Schilderung der Massenseele ' 7
§ 45lich oder unähnlieh ihre Lebensweise, Beschäftigung,
ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Un1formung zur Masse be sitzen sie eine Kollektivseele, vermöge der'en sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und han deln würde. Es gibt Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen Individuen auf— treten oder sich in Handlungen umsetzen.yDie psy— chologische Masse ist"ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich niiteinander "verbunden , haben, „genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden.“ § 46Indem wir uns die Freiheit nehmen, die Dar
stellung L e B dn’s durch unsere Glossen zu unter brechen, geben wir hier der Bemerkung Raum: Wenn die Individuen in der Masse zu einer Einheit verbunden sind, so muß es wohl etwas geben, was sie an einander bindet, und dies Bindemittel könnte gerade das sein, was für die Masse charakteristisch ist. Allein L e B 0 n beantwortet diese Frage nicht, er geht auf die Veränderung des Individuums in der - Masse ein und beschreibt sie in Ausdrücken, welche § 47§ 48
8 { Massennsycholoeie und Ich-Analyse
§ 49mit den Grundvoraussetzungen unserer Tiefen
psychologie in guter Übereinstimmung stehen. § 50(8. 14.) „Leicht ist die Feststellung des Maßes
von Verschiedenheit des einer Masse angehörenden vom isolierten Individuum, weniger leicht ist aber die Entdeckung _der Ursachen dieser Verschiedenheit. § 51Um diese Ursachen wenigstens einigermaßen
zu finden, muß man sich zunächst der von der modernen Psychologie gemachten Feststellung er innern, daß nicht bloß im organischen Leben, son dern auch in den intellektuellen Funktionen die un bewußten Phänomene eine überwiegende Rolle spie len. Das bewußte Geistesleben stellt nur einen recht geringen Teil neben dem unbewußten Seelenleben dar. Die feinste Analyse, die schärfste Beobachtung gelangt nur zu einer kleinen Anzahl bewußter Motive des Seelenlebens; Unsere bewußten Akte leitenSich aus einem, besonders durch Vererbungs einflüsse geschaffenen, unbewußten Substrat her. Dieses enthält die zahllosen Ahnen5puren, aus denen sich die Rassenseele- konstituiert. Hinter den ein gestandenen Motiven unserer Handlungen gibt es zweifellos die geheimen Gründe, die wir nicht ein— gestehen,-'liinter diesen liegen aber noch geheimere, § 52.
'“a‘. ... § 53§ 54
die wir nicht einmal kennen. Die Mehrzahl unserer
alltäglichen Handlungen ist nur die Wirkung ver borgener, uns entgehender Motive.“ § 55In der Masse, meint L e B o n, verwischen sich
die individuellen Erwerbungen der Einzelnen, und damit verschwindet deren Eigenart. Das rassen mäßige Unbewüßte tritt hervor, das Heterogene ver sinkt im'Homogenen. Wir werden sagen, der psy chische Oberhau, der sich bei den Einzelnen So Ver— schiedenartig entwicki'elt hat, wird abgetragen, und - das bei allen gleichartige unbewußte Fundament § 56wird bloßgeiegt. '
§ 57Auf diese Weise käme ein durchschnittlicher
Charakter der Massenindividuen zustande. Allein L e B o 11 findet, sie zeigen auch neue Eigenschaften, die sie vorher nicht besessen haben, und sucht den Grund dafür 111 drei verschiedenen Momenten. § 58(S. 15. ) „Die erste dieser Ursachen besteht darin,
daß das Individuum in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu iröhnen, die es allein notwe'ndig gezügelt hätte. Es wird dies nun umso weniger Anlaß haben, als bei der Anonyniität und demnach auch Unverantwort § 59§ 60
10 Massenpsyohologie “und Ich-“Analyse
§ 61lichkeit der Masse das Verantwortlichkeitsgefühl,
welches die Individuen stets zurückhält, völlig schwindet.“ , § 62Wir brauchten von unserem Standpunkt we
niger Wert auf das Auftauchen neuer Eigenschaften zu legen. Es genügte uns_zu sagen, das Individuuni komme in der Masse unter Bedingungen, die ihm gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen. Die anscheinend neuen Eigenschaften, die es dann zeigt, sind eben die Äußerungen dieses Unbewußt‘en, in “dem ja alles Böse der Menschen$eele in der Anlage enthalten ist; das Schwinden des Gewissens oder Verantwortlich keitsgeiühls unter diesen Umständen macht un3er-em Verständnis' keine Schwierigkeit. Wir hatten längst behauptet, der Kern des sogenannten Gewissens sei „soziale Angst“. § 63Eine gewisse Differenz zwischen der Anschauung
Le Bon’s und ,der unserigen stellt sich dadurch her, daß sein Begriff des Unbewußten nicht ganz mit dem , von der Psychoanalyse angenommenen zusarnrnentällt. Das Unbewußte L e B on’s enthält vor allem die tiefsten Merkmale der Rassenseele, welche für die Psychoanalyse eigentlich außer Betracht kommt. Wir verkennen zwar nicht, daß der Kern des Ichs', dem die „archaische Erb § 64schaft“ der Menschenseele angehört, unbewußt ist, aber
wir sondern-außerdem das „unbewußte Verdrängte“ ab. § 65„€
§ 66§ 67
II. Le Bon's Schildecung der Massenseele 11
§ 68welches aus einem Anteil dieser Erbschaft hervorgegan
gen ist. Dieser Begriff des Verdrängten fehlt bei L e B 0 n. § 69(S. 16.) „Eine zweite Ursache, die Ansteckung,
trägt ebenso dazu bei, bei den Massen die Äußerung spezieller Merkmale und zugleich deren Richtung zu bewerkstelligen. Die Ansteckung ist ein leicht Eau kon statierendes aber unerklärliches Phänomen, das man den von uns sogleich zu studierenden Phänomenen ' hypnotischer Art zurechnen muß. In der Menge ist jedes Gefühl, jede Handlung ansteckend, und zvirar in so hohem Grade, daß das Individuum sehr leicht sein persönliches Interesse dem Gesamtinteresse opiert. Es ist dies eine seiner Natur durchaus ent gegengesetzte: Fähigkeit, deren der Mensch nur als Massenbestandteil fähig ist.“ § 70Wir werden auj diesen letzten Satz später eine
wichtige Vermutung begründen. ‘ § 71(S.-. ,16.) „Eine dritte, und zwar die wichtigste
Ursache bedingt in den zur Masse vereinigten In dividuen besondere Eigenschaften, welche denen des isolierten Individuums völlig entgegengesetzt sind. Ich rede hier vonder Suggestibilität, ,von der die erwähnte Ansteckung übrigens nur eine Wirkung ist. § 72_ Zinn Verständnis dieser Erscheinung gehört die
Vergegenwärtigung gewisser neuer Entdeckungen § 73§ 74
12 Massenpsychoiogie rind Ich-Analyse
§ 75der Physiologie. Wir wissen jetzt, daß ein Mensch
mittels mannigfachér Prozeduren in einen solchen Zustand versetzt werden kann, daß er nach Verlust seiner ganzen bewußten Persönlichkeit allen Sug gestionen desjenigen gehorcht, der ihn seines Per sönlichkeitsbe'wüßtseins beraubt hat, und daß er die zu seinem Charakter und Seinen Gewohnheiten in schärfstem Gegensatz stehenden Handlungen begeht. Nun scheinen sehr sorgfältige Beobachtungen dar— zut'im, daß ein eine Zeitlang im Schoßeéiner tätigen Masse eingebettetes Individuum in Bälde —— durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen oder sonst eine unbekannte Ursache ——- in einem Sonderzustand sich befindet, der sich sehr der Faszination näher-t, die den Hypnotisierten unter dem Einfluß des Hyp notisators befällt ..... Die bewußte Persönlichkeit ist völlig geschwunden, Wille und Unterscheidungs vermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind § 76nach der durch den Hypnotisator hergestellten Rich- ,
§ 77tung orientiert.
§ 78So ungefähr verhält sich auch der Zustand des
einer psychologischen Masse angehörenden Indi viduums. Es ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewußt. Wie beim Hypnotisierten können bei ihm, während zugleich gewisse Fähigkeiten aufgehoben § 79§ 80
11. Le Bon's Schildernmg der Massenseele 13
§ 81sind, andere auf einen Grad höchster Stärke gebracht
werden. Unter dem Einflusse einer Suggestion wird es sich mit einem unwiderstehliehen Triebe an die Ausführung bestimmter Handlungen machen. Und dieses Ungestüm ist bei den Massen noch unwider stehlicher als beim Hypnotisierten, weil die für alle Individuen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit anwächst.“ § 82(S. 17.) „Die Hauptmerkmale des in der Masse
befindlichen Individuums sind demnach: Schwund de?bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft der un bewußten Persönlichkeit, Orientierung der Gedanken und Gefühle in derselben Richtung durch Suggestion und Ansteckung, Tendenz zur unverzüglichen Ver wirklichung der suggerierten Ideen. Das Individuum ist nicht mehr es selbst, es ist ein willenloser Auto mat geworden.“ § 83Ich habe dies Zitat so ausführlich wiedergege
ben, um zu hekräitigen, daß L e B o n den Zustand des Individuums in der Masse wirklich für einen hypnotischen erklärt, nicht etwa ihn bloß mit einem solchen vergleicht. Wir- beabsichtigen hier keinen Widerspruch, wollen nur hervorheben, daß die bei- ' den letzten Ursachen der Veränderung des Einzel § 84nen in der Masse, die Ansteckung und die höhere
2 § 85§ 86
14 Massemsyeholozie und Ich-Analyse
§ 87Suggefierbarkeit offenbar nicht gleichartig sind, da
ja die Ansteckung auch eine Äußerung der Sugge rierbarkeit sein soll. Auch die Wirkungen der bei den Momente scheinen uns im Text L e B o n’s nicht scharf geschieden. Vielleicht deuten wir seine ' Äußerung ain besten aus, wenn wir die Ansteckung auf die Wirkung der einzelnen Mitglieder der Masse aufeinander beziehen, während die mit den Phäno menen der hypnotischen Beeinflussung gleichgestell - ten Suggestionserscheinungen in der Masse auf eine andere Quelle hinweisen. Auf welche aber? Es muß uns als eine einpfindliche Unvollständigkeit berüh ren, daß eines der Hauptstücke dieser Angleichung, nämlich die Person, welche für die Masse den Hyp nofiseur ersetzt, in der Darstellung L e B o n’s nicht erwähnt wird. Immerhin unterscheidet er von die sem im Dunkeln gelassenen faszinierénden Einfluß die ansteckende Wirkung, die die Einzelnen auf einander ausüben, durch welche die ursprüngliche Suggestion verstärkt wird. § 88Noch ein wichtiger Gesichtspunkt für die Be“
urteilung des Massenindividuums: (S. 17.) „Ferner steigt durch die bloße Zugehörigkeit zu einer or— § 89ganisierten Masse der Mensch mehrere Stuten aui_
§ 90der Leiter der Zivilisation herab. In seiner Verein
§ 91§ 92
II. Le Bon’s Schilderung der Massenseele 15
§ 93zelung war er vielleicht ein gebildetes Individuum,
in der Masse ist er ein Barbar, d. h. ein Triebwesen. Er besitzt die Spontaneität, die Hettigkeit, die Wild heit und auch den Enthusiasmus und Heroismus primitiver Wesen.“ Er verweilt dann noch besonders bei der Herabsetzung der intellektuellen Leistung, die der Einzelne durch sein Aufgehen in_ der Masse erfährt“. § 94Verlassen wir nun den Einzelnen und wenden
wir uns zur Beschreibung der Massenseele, wie L e B o 11 sie entwirft. Es ist kein Zug darin, dessen Ab leitung und Unterbringung dern Psychoanalytiker Schwierigkeiten bereiten würde. L e B o 11 weist uns selbst den Weg, indem er auf die Übereinstimmung mit dem Seelenleben der Primitiven und der Kinder hinweist. (S. 19.) § 95Die Masse ist impulsiv, wandelbar und reizbar.
Sie wird iast ausschließlich vom Unbewußtefl ge leitet* *. Die Impulse, denen die Masse gehorcht, kön nen je nach Umständen edel oder grausam, heroisch oder feige sein, jedenfalls aber sind sie so gebie § 96' Vergleiche das Sehiller’sche Distichon:
Jeder, sieht man ihn einzeln. ist letztlich klug und verständig; Sind sie in corpore. gleich wird euch ein Dummkop_f daraus. ** Unbew-ußt wird von Le Bon richtig im Sinne der Deskrip tion gebraucht. wo es nicht allein das „Verdränste" bedeutet. § 972.
§ 98§ 99
16 Massenpsychologle und Ich-Analyse
§ 100terisch, daß nicht das persönliche, nicht einmal.das
Interesse der Selbsterhaltung zur Geltung kommt. (S. 20.) Nichts ist bei ihr vorbedacht. Wenn sie auch die Dinge leidenschaftlich begehrt, so doch nie für lange, sie ist unfähig zu einem Dauerwillen. Sie ver trägt keinen Aufschub zwischen ihrem Begehren und der Verwirklichung des Begehrten. Sie hat das Gefühl der Allmacht, für das Individuum in der Masse schWindet der Begriff des Unmöglichen*. § 101Die Masse ist außerordentlich beeinflußbar und
leichtgläubig, sie ist kritiklos, das Unwahrseheinliche. existiert für Sie nicht. Sie denkt in Bildern, die einan der assoziativ hervorrufen, wie sie sich beim Einzel— nen in Zuständen des freien Phantasierens einstellen, und die von keiner verständigen Instanz an der Über einstimmung mit der Wirklichkeit gemessen‘ werden. Die Gefühle der Masse sind stets sehr einfach und sehr überschwenglich. Die Masse kennt also weder Zweifel noch Ungewißheit. § 102In der 'Deutungdér Träume“; denen wir ja unse‘re
beste Kenntnis vom unbewußten Seelenleben verdanken, befolgen wir die technische Regel, daß von Zweifel und § 103Unsicherheit in der Traumerzählung abgesehen und jedes
Element des manifesten Traumes als gleich gesichert § 104-* Vergleiche "feiern und- Tabu m.. Animist ,um: und.
Allmacht der Gedanken. § 105§ 106
“Il. Le Bon’s Schilderung der Massenseele 17
§ 107behandelt wird. Wir leiten Zweifel und Unsicherheit von
der Einwirkung der Zensur ab, welcher die Traumarbeit unterliegt, und nehmen an, daß die primären Traum gedanken Zweifel und Unsicherheit als kritische Leistung nicht kennen. Als Inhalte mögen sie natürlich, wie alles andere, in den zum Traum führenden Tagesresten vor kommen. (8. Traumdeutung. 5. Aufl. 1919, S. 386.) § 108Sie geht sofort zum Äußersten, der ausgespro
chene Verdacht wandelt sich bei ihr sogleich in un ,umstößliche Gewißheit, ein Keim von Antipathie wird zum wilden Haß. (S. 32.) § 109Die nämliche Steigerung aller Geiühlsregungen zum
Extremen und Maßlosen gehört auch der Affektivität des Kindes an und findet sich im Traumleben wieder, wo dank der im Unbewußten vorherrschenden Isolierung der einzelnen Geiiihlsregungen ein leiser Ärger vom Tage sich als Todeswunsch gegen die sc;huldige Person zum . Ausdruck bringt oder ein Anflug irgend einer Ver suchung zum Anstoß einer im Traum dargestellten ver brecherischen Handlung wird. Zu dieser Tatsache hat Dr. Hanns Sachs die: hübsche Bemerkung gemacht: „Was der Traum uns an Beziehungen zur Gegenwart (Realität) kundgetan hat, wollen wir dann auch im Bewußtsein aufsuchen und dürfen uns nicht wundern, wenn wir das? Ungeheuer, das wir unter dem Vergrößerungsglas der Analyse gesehen haben, als Infusionstierchen wieder— finden.“ (Traumdeutung, S. 457.) § 110Selbst zu allen Extremen geneigt, wird die Masse
auch nur durch übermäßige Reize erregt. Wer auf sie § 111§ 112
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§ 113„[
§ 114n.|m|nu-„„\
§ 11518 Masssnp sychologie und “Ich-Analyse
§ 116wirken will, bedari_ keiner logischen Abmessung
§ 117'seiner Argumente, er muß in den kräftigsten' Bildern
§ 118malen, übertreiben- und immer das Gleiche wieder—
holen. ' Da die Masse betreffs des Wahren oder Falschen § 119nicht im Zweifel ist und dabei das Bewußtsein ihrer
§ 120großen Kraft hat, ist sie ebenso intolerant wie auto
ritätsgläubig. Sie resfiektiert die Kraft und läßt sich § 121von der Güte, die für sie nur eine Art von Schwäche '
bedeutet, nur mäßig beeinflussen. Was sie von ihren _ Helden verlangt, ist ,Stärke, selbst Gewalttätigkeit. Sie will beherrscht und unterdrückt werden und" ,‘ _ ihren Herrn fürchten. Im Grunde durchaus konser- 'f'5 vatisi hat sie tiefen Abscheu vor allen Neuerungen ,und Fortschrittén und unbegrenzte Ehriurcht vor der ' § 122Tradition. (S. 37.)
§ 123Um die? Sittlichk'eit der Massen richtig! zu be?
urteilen„imuß man in Betracht Ziehen, daß im Bei Sammensein' der Massenindivicluen alle individuelleri ' Hemmungen “entfallen und alle gräuSamen, brutalen, E“f'.; _ destrukfiven Inétifl-kte, die; als Überbleihsel der Urzeit im Ein'zelfl°fl.'schilimmern; zur 'fieien Triebbeiriedi gung ,geweckt werdiafi:kber die Massen sind,auch _, § 124unter dem E‘influßjfiler. $11ggestion ,hoher Leistungen
von Entsaguflgi'*,UnEigenuützigkeit, Hingebung an § 125§ 126
1]. Le Bon’s Schilderung der Massenseele 19
§ 127ein Ideal fähig. Während der persönliche Vorteil beim
isolierten Individuum so ziemlich die einzige Trieb feder ist, ist er bei den Massen sehr selten vorherr schend. Man kann von einer Versittlichung des Ein zelnen durch die Masse sprechen. (S. 39.) Während die intellektuelle Leistung der Masse immer tief unter der des Einzelnen steht, kann ihr ethisches Verhalten dies Niveau ebenso hoch überragen wie tief darunter herabgehen. . _ ‘ Ein helles Licht auf die Berechtigung, die Mas senseele mit der Seele der Primitiven zu identifizie ren, werfen einige ’andere Züge der L e B o n’schen Charakteristik. Bei den Massen können die entgegen gesetztesten Ideen nebeneinander bestehen und sich miteinander vertragen, ohne daß sich aus deren logischemWiderspruch ein Konflikt ergäbe. Dasselbe ist aber im unbewußten Seelenleben der Einie'lnen, der Kinder und der Neufotiker der Fall, wie die Psychoanalyse längst nachgewiesen hat. § 128Beim kleinen Kinde bestehen 2. "B. ambivalente
Getüh_lseinstellungen gegen die ihm nächsten Personen lange Zeit nebeneinander, ohne daß die eine die ihr ent ,gegengesetzte in ihrem Ausdruck stört. Kommt es dann endlich zum Konflikt zwischen den beiden, so wird er oft dadurch erledigt, daß das Kind das Objekt wechselt, die eine der ambivalenten Regungen auf ein Ers-atzobjekt § 129§ 130
20 -Massenpsycholozie und ich-«Analyse
§ 131verschiebt. Auch aus der Entwibklungsgeschichte einer
§ 132Neurose beim Erwachsenen kann man erfahren, daß eine
§ 133unterdrückte Regung sich häufig lange Zeit in unbewußten
§ 134oder selbst bewußten Phantasien fortsetzt, deren Inhalt
§ 135natürlich einer herrschenden Strebung direkt zuwider
§ 136läuft, ohne daß sich aus diesem Gegensatz ein Einschreiten
des lchs gegen das von ihm Verworiene ergäbe. Die Phan— § 137tasie wird eine ganze Wéile über toleriert, bis sich plötz—
lich einmal, gewöhnlich infolge einer Steigerung der effek— § 138tiven Besetzung derselben, der Konflikt zwischen ihr und
§ 139dem Ich mit allen seinen Folgen herstellt.
§ 140' In'1 Fortschritt der Entwicklung vom Kinde zum
reifen'Erwachsenen kommt es überhaupt zu einer immer weiter greifenden In t e g r at i o n der Persönlichkeit, zu einer Zusammenfassung der einzelnen unabhängig von einander in *ihr- gewachsenen Triebregungen und Ziel strebungen. Der analoge Vorgang auf dem Gebiet des Sexualiebens ist uns als Zusammenfassung aller Sexual trieb'e zur definitii*en Genitalorganisation lange bekannt (Drei Abhandluhgen- Zur Sexiialtheorie 1905). Daß die Ver— einheitlichung des Ichs übrigens dieselben Störungen er— fahren kann wie die der Libido, zeigen vielfache, sehr “bekannte Beisniele, wie 'd-asder Naturforscher, die bihel gläubig-g‘eblieben sind u. a. § 141Fernér unterliegt die Masse der wahrhaft ma
gischen Macht von Worten, die in der Massenseele die furchtbarsten- Stürme hervorrufen und sie auch besän'itigen können..($Q 74.) „Mit Vernunft und "Ar § 142. gumenten kann man gegen gewi35e Worte_und For
‘ meln nicht ankäm‘p‘r'en. Man spricht sie mit Andacht § 143§ 144
II. Le Bon's Schilderung der Masswseele 21
§ 145vor den Massen aus, und sogleich werden die Mienen
respektvoil und die Köpfe neigen sich. Von vielen § 146werden sie als Naturkräfte oder als übernatürliche .
§ 147Mächte betrachtet.“ (S. 75.) Man braucht sich dabei
nur an die Tabu der Namen bei den Primitiven, an die magischen Kräfte, die sich ihnen an Namen und Worte knüpfen, zu erinnern*. § 148Und endlich: Die Massen haben nie den Wahr
heitsdrirst gekannt. Sie-fordern Illusionen, auf die sie nicht verzichten können. Das Irreale hat bei ihnen stets den Vorrang vor dem Realen, das Unwirkliche beeinflußt sie fast ebenso stark wie das Wirkliche. Sie haben die sichtliche Tendenz, zwischen beiden keinen Unterschied zu machen. (5. 47.) § 149Diese Vorherrschaft des Phantasielebens und
der vom unerfüllten Wunsch getragenen Illusion haben wir als bestimmend für die Psychologie der Neurosen aufgezeigt. Wir fanden, für die Neurotiker gelte nicht die gemeine objektive, sondern die psy chische Realität. Ein hysterisches Symptom gründe sich auf Phantasie anstatt auf die Wiederholung Wirklichen Erlebens, ein zwangsneurotisches Schuld— bewußtsein auf die Tatsache eines bösen Vorsatzes, § 150‘" Siehe Toten: und Tabu.
§ 151§ 152
22 Massenpsychologle und Ich-Analyse
§ 153der nie zurAusiührung gekommen. Ja wie im Traum
und in der Hypnose, tritt in der Seelentätigkeit der Masse die Realitätsprüiung zurück gegen die Stärke der effektiv besetzten Wunschregungen. § 154Was L e B o 11 über die Führer der Massen sagt,
ist weniger erschöpfend und läßt das Gesetzmäßige nicht so deutlich durchschimmern. Er meint, sobald“ - lebende Wesen in einer gewissen Anzahl vereinigt sind, einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Men schenmenge, stellen sie sich instinktiv unter die Auto rität eines Oberhauptes. (S. 86.) Die Masse ist eine folgsame Herde, die nie ohne Herrn zu leben ver mag. Sie hat einen solchen Durst zu gehorchen, daß sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn ernennt, in stinktiv unterordnet. § 155Kommt so das Bedürfnis der Masse dem Führer
entgegen, so muß er ihm doch durch persönliche Eigenschaften entsprechen. Er muß selbst durch einen starken Glauben (an eine Idee) fasziniert sein, ’ um Glauben in der Masse zu erwecken, er muß einen starken, imponierenden Willen besitzen, den die willenlose Masse iron ihm annimmt. L e B an bespricht dann die verschiedenen Arten von Füh rern und die Mittel, duréh welche sie auf die Masse § 156§ 157
11. Le Bon‘s Schilderung der Massenseele 23
§ 158wirken. Im ganzen läßt er die Führer durch die
Ideen zur Bedeutung kommen, für die sie selbst ianatisiert sind. § 159Diesen Ideen wie den Führern schreibt er über-
dies eine geheimnisvolle unwiderstehliehe Macht zu, die er „Prestige“ benennt. Das Prestige ist eine Art Herrschaft, die ein Individuum, ein Werk oder eine Idee über uns übt. Sie lähmt all unsere Fähigkeit zur Kritik und erfüllt uns mit Staunen und Achtung. Sie dürfte ein Gefühl hervorrufen, ähnlich wie das der Faszination der Hypnose. (S. 96.) § 160Er unterscheidet erworbenes oder künstliches
und persönliches Prestige. Das erstere wird bei Personen durch Name, Reichtum, Ansehen ver liehen, bei" Anschauungen, Kunstwerken u. dgl. durch Tradition. Da es in allen Fällen auf die Ver gangenheit zurückgreift, Wird es für das Verständ nis dieses rätselhaiten Einflusses wenig leisten. Das persönliche Prestige haftet an wenigen Personen, die durch dasselbe zu Führern werden, und macht, daß ihnen alles wie unter der Wirkung eines magnetischen Zaubers gehorcht. Doch ist jedes Prestige auch vom Erfolg abhängig und geht durch Mißeriolge ver loren. (S. 105.) § 161§ 162
_- Museumycholoßimd lsn«Analyse
§ 163: Man "gewinnt nicht den Eindtmk,- daB bei «Le-» _
Bim die Rolle der Führer- und- die Betonung des , § 164vorgetragefien Schilderung der ‘Massen‘seele‘ ge- «
bracht worde_ti ist ‘ ' § 165§ 166
III.
Andere Würdigungen des kollektiven Seelenlebens. § 167.Wir haben uns der Darstellung von Le B o n
als Einführung bedient, weil sie in der Betonung des unbewußten Se‘elenlebens so sehr mit unserer eigenen Psychologie zusammentritit. Nun müssen .wir aber hinzufügen, daß eigentlich keine der Be hauptungen dieses Autors etwas Neues bringt. Alles was er Abträgliches und Hefabsetzendes über die Äußerungen der Massenseele sagt, ist schon vor ihm ebenso bestimmt und ebenso ieindselig von anderen gesagt worden, wird seit den älteSten Zei ten der Literatur von Denkern, ,Staatsmänirern und Dichtern gleichlautend so Wiederholt*. Die beiden Sätze, welche die wichtigsten Ansichten Le B o n’s enthalten, der von der_kollektiven Hemmung der intellektuellen Leistung und der von der Steigerung § 168“ Vergleiche den Text und das Literaturverzelohnis in
B_ Kra-äkoviö jun.. Die Psychologie der Kollektivitäten. Aus dem Kroatigchefi übersetzt von Siegmund von _Posavec. Vukova.r 1915. . § 169§ 170
26 Massenpsychologie und Ich -Analyse ,
§ 171der Aftektivität in der Masse waren kurz vorher
von S i ghele formuliert worden*. Im Grunde er übrigen als L e B o n eigentümlich nur die beiden Gesichtspunkte des Unbewußten und des Vergleichs mit dem Seelenleben der Primitiven, auch diese _i natürlich oftmals vor ihm berührt. ' § 172Aber noch mehr, die Beschreibung und Wür
digung der Massenseele, wie Le B on und die anderen sie geben, ist auch keineswegs unangeioch ten geblieben. Kein Zweifel, daß alle die vorhin be schriebenen Phänomene der Massenseele richtig be- £ obachtet werden sind, aber es lassen sich auch '—. andere, geradezu entgegengesetzt wirkende Äuße rungen der Massenbildung erkennen, aus denen man dann eine weit höhere Einschätzung der Massen seele ableiten muß. ' § 173Auch L e B o 11 war bereit zuzugestehen, daß ‘
die Sittlichkeit der Masse unter Umständen höher sein kann als die der sie zusammensetzenden Ein— 'zelnen, und daß nur die Gesamtheiten hoher Un eigennützigkeit und Hingebung fähig sind. § 174(8. 38.) „Während der persönliche Vorteil beim
§ 175f..„ MM.;L-MJ-a_‘
§ 176" Siehe Walter Moede, Die Massen- und Sozialmychologie
im kritischen Überblick. Zeitschrift für pädagogische Psychologie § 177und experimentelle Pädagogik von M e u m a n n und 5 ch e 1 h n e r, ‘
XVI.. 191_5. § 178§ 179
III. Andere Würdinungen des kollektiven Seelenlebens 27
§ 180isolierten Individuum so ziemlich die einzige Trieb
teder ist, ist er bei den. Massen sehr selten vorherr schend.“ § 181Andere machen geltend, daß es überhaupt
erst die Gesellschaft ist, welche dem Einzelnen die Normen der Sittlichkeit vorschreibt, während der Einzelne in der Regel irgendwie hinter diesen hohen Ansprüchen zurückbleibt. Oder, daß in Ausnahme zuständen in einer Kollektivität das Phänomen der Begeisterung zustande kommt, welches die groß artigsten Masserfleistungen ermöglicht hat. § 182In Betreff der intellektuellen Leistung bleibt
zwar bestehen, daß die großen Entscheidungen der Denkerbeit, die tolgenschweren Entdeckungen und Problemlösungen nur dem Einzelnen, der in der Einsamkeit arbeitet, möglich sind. . Aber auch die Massenseele ist genialer geistiger Schöpfungen fähig, wie vor allem die Sprache selbst beweist, so dann das Volkslied, Folklore und anderes. Und über dies bleibt es dahingestellt, wieviel der einzelne Den ker oder Dichter den Anregungen der Masse, in welcher er lebt, verdankt, ob er mehr als der Voll . ender einer seelischen Arbeit ist, an der gleichzeitig die anderen mitgetan haben. § 183Angesichts dieser vollkommenen Widersprüche
§ 184§ 185
28 Massenpsyehologle und Ich-.Analee
§ 186scheint es ja, daß die Arbeit der Massenpsychologie
ergebnislos verlaufen müsse. Allein es ist leicht, einen hoffnungsvolleren Ausweg zu finden. Man hat wahrscheinlich als „Massen“ sehr verschiedene Bildungen zusammengefaßt, die einer Sonderung bedürfen. Die Angaben von Si gb ele, L e B on und anderen beziehen sich auf Massén kurzlebiger Art, die rasch durch ein vorübergehendes Interesse aus verschiedenartigen Individuen zusammengeballt werden. Es ist unverkennbar, daß die Charaktere der revolutionären Massen, besonders der großen französischen Revolution, ihre Schilderungen beein flußt haben. Die gegensatzlichen Behauptungen stammen aus der Würdigung jener stabilen Massen“ oder Vergesellschattungeh, in denen die Menschen ihr Leben zubringen, die sich in den Institutionen ' der Gesellschaft verkörpern. Die Massen der ersten Art sind den letzteren gleichsam aufgesetzt, wie die kurzen, aber hohen Wellen den langen Dünungen der See. ' ‘ M°Dougall, der _in seinem Buch The Group M ind " von dem nämlichen, oben Aer— § 187wähnten Widerspruch ausgeht, findet die Lösung \
§ 188desselben im Moment der Organisation. Im einfach
* Cambridge. 1920. . § 189§ 190
Ill. Andere Würdimnaen des kollektiven Seelenlebens 29
§ 191sten Falle, sagt er, besitzt die Masse (group) über
haupt keine Organisation oder eine kaum nennens werte. Er bezeichnet eine solche Masse als einen Haufen (crowd). Doch gesteht er zu, daß ein Haufen Menschen nicht leicht Zusammenkommt, ohne daß sich in ihm wenigstens die ersten Anfänge einer Organisation bildeten, und daß gerade an diesen einfachen Massen manche Grundtatsachen der Kollektivpsychologie beson-‘ ders leicht zu erkennen sind. (8. 22.) Damit sich aus den zufällig zusammengewehten Mit gliedern eines Menschenhaufens etwas wie eine Masse im psychologischen Sinne bilde, wird als Bedingung erfordert, daß diese Ein2elnen etwas miteinander gemein-haben, ein gemeinsames Inter esse an einem Objekt, eine gleichartige Gefühlsrich tung in einer gewissen _Situation und (ich würde ein setzen: infolgedessen) ein gewisses Maß von Fähig- . keit sich untereinander zu beeinflussen. (Some degree of reciprocal influence between the members of the ‘ group) (3. 23.) Je stärker diese Gemeinsainke_iten (this mental homogeneity) sind,_ desto leichter bildet sich aus den Einzelnen eine psychologische Masse und desto auffälliger äußern sich die Kundgebungen einer Ma'ssenseele. § 192§ 193
30 ‘ Messenllsvehologle und Ich-Analyse
§ 194Das merkwürdigste- und zugleich wichtigste
Phänomen der Massenbildung ist nun die bei jedem Einzelnen hervorgerufene Steigerung der Aftektivi tät (exaltation or intensitication of emotion) (S. 24). Man kann sagen, meint Mc D o u g all, daß -die Affekte der Menschen kaum unter anderen Bedin gungen zu solcher Höhe anwachsen, wie es in einer Masse geschehen kann, und zwar ist es eine genuß reiche Empfindung für die Beteiligten, sich so schrankenlos ihren Leidenschaften hinzugeben und dabei in der Masse aufzugehen, das Gefühl ihrer individuellen Abgrenzung zu verlieren. Dies Mit fortgerissenwerden der Individuen erklärt Mc D o u g all aus dem von ihm so genannten „principle of direct induction of eumtion by way of the primitive sympathetic response“ (S. 25), d. b. durch die uns bereits» bekannte Gefühlsansteckung. Die Tatsache ist die, daß die wahrgenommenen Zeichen eines Aitektzustandes geeignet sind, bei dem Wahr nehmenden automatisch denselben Affekt hervorzu . rufen. Dieser automatische Zwang wird umso stär ker, an je mehr Personen gleichzeng derselbe Affekt bemerkbar ist. Dann schweigt die Kritik des Ein-' ' zelnen und er'läßt sich in denselben 'Aflekt gleiten. Dabei erhöht er aber die Erregung der anderen, die § 195§ 196
[II. Andere Würdieumren des kollektiven Seelenleben-s 31
§ 197auf ihn gewirkt hatten, und so steigert sich die
Afiektladung der Einzelnen durch gegenseitige ,In duktion. Es istunverkenfibar etwas wie ein Zwang dabei wirksam, es den anderen gleichzutun, im Ein— klang mit den Vielen zu bleiben. Die gröberen und einfacheren Gefühlsregungen haben die größere Aussicht, sich aui solche Weise in einer Masse zu verbreiten. (S. 39.) § 198Dieser Mechanismus der Affektsteigerung wird
noch durch einige andere, von ,der Masse aus gehende Einflüsse begünstigt. Die Masse macht dem Einzelnen den Eindruck einer unbeschränkten Macht und einer unbesiegbaren Gefahr. Sie hat sich für den Augenblick an die Stelle der gesamten mensch lichen Gesellschaft gesetzt, welche die Trägerin der Autorität ist, deren Strafen man gefürchtet, der zu liebe man sich so viele Hemmungen auferlégt hat. Es ist offenbar gefährlich, sich in Widerspruch mit ihr zu setzen,-und man ist sicher, wenn man dem rings umher sich zeigenden Beispiel folgt, also eventuell sogar „mit den Wölien heult“. Im Gehorsam gegen die neue Autorität darf man sein früheres „Gewissen“ außer Tätigkeit setzen und dabei der Lockung des Lustgewinns nachgehen, den man sicherlich durch die Aufhebung seiner Hemmungen erzielt. Es ist § 199af
§ 200§ 201
32» Massenpsychologiel und Ich-Analyse
§ 202also im ganzen nicht so merkwürdig, wenn wir den _
§ 203Einz‘elnen in der Masse Dinge tun oder gutheißen
sehen, von denen er sich in seinen gewohnten Lebensbedingungen abgewendet hätte, und wir § 204' . können selbst die Hoffnung fassen, auf diese Weise
§ 205ein Stück der Dunkelheit zu lichten, die man mit dern
Rätselwort der „Suggestion“ zu decken pflegt. § 206Dem Satz von der kollektiven fntelligenzhern
§ 207mung in der Masse widerspricht auch M6 D o u g a 11
nicht (S. 41). Er sagt, die geringeren Intelligenzen § 208ziehen die größeren auf ihr Niveau herab. Die letzte- ' "::,"i
ren werden in ihrer Betätigung gehen1mt, weil die . [.11 § 209Steigerung der Affektivität überhaupt ungünstige Be
dingungen für korrekte geistige Arbeit schafft, fer ner weil die Einzelnen durch die Masse eingeschiich tert sind und ihre Denkarbeit nicht frei ist, und weil § 210bei jedem Einzelnen das Bewußtsein der Verantworti
§ 211lichkeit für seine Leistung herabgesetzt wird.
§ 212Das Gesamturteil: über die psychische Leistung
einer einfachen, „unorganisierten“ Masse lautet bei § 213M°Dougall nicht freundlicher als bei Le Bon.“
§ 214Eine solche Masse ist (S. 45): überaus erfagbar,
impulsiv, leidenschaftlich, wanke‘hnütig, inkonse£ § 215quent, unentsch‘lossen und dabei zum äußersten
§ 216§ 217
Ill. Andere Würdigungen des kollektiven Seelenlebens 33
§ 218bereit in ihren Handlungen, zugänglich nur für die
gröberen Leidenschaften und einfacheren Gefühle, außerordentlich suggéstibel, leichtsinnig in ihren Überlegungen, heftig in ihren Urteilen, aufnahms fähig nur für die einfachsten und unvollkommensten Schlüsse und Argumente, leicht zu lenken und zu erschüttern, ohne Selbstbewußtsein, Selbstachtung und Verantwortlichkeitsgefühl, aber bereit, sich von ihrem Kraftbewußtsein zu allen Untaten fortreißen zu lassen, die wir nur von einer absoluten und un verantwortlichen Macht erwarten können. Sie, be nimmt sich also eher wie ein ungezogenes Kind oder wie ein 1eidenschaftliclier, nicht beaufsichtigter Wilder in einer ihm fremden Situation; in den schlimmsten Fällen ist ihr Benehmen eher das eines Rüdels von wilden Tieren als von menschlichen Wesen. _ § 219Da M°Dougall das Verhalten der hoch
organisierten Massen in Gegensatz zu dem hier Geschilderten bringt, werden wir besonders ge spannt sein zu erfahren, worin diese Organisation besteht und durch welche Momente sie hergestellt wird. Der Autor zählt fünf dieser „principal condi tiöns“ für die Hebung des seelischen Lebens der Masse auf ein höheres Niveau auf. § 220§ 221
34 . Massenpsveholoeie und lchAnalyse
§ 222Die erste,grundlegende Bedingung ist ein ge
wisses Maß von Kontinuität im Bestand der Masse. Diese kann eine materielle oder eine formale sein, das erste, wenn dieselben Personen längere Zeit in der Masse verbleiben, das andere, wenn innerhalb der Masse bestimmte Stellungen entwickelt sind, die den einander ablösenden Personen angewieserl werden. . § 223Die zweite, daß sich in dem Einzelnen der
Masse eine bestimmte Vorstellung von der Natur, der Funktion, den Leistungen und Ansprüchen der Masse gebildet hat, so daß sich daraus für ihn ein Gefühlsverhältnis zum Ganzen der Masse ergeben kann.-“— , < Die dritte, daß die Masse in Beziehung zu 311€le ren ihr ähnlichen, aber doch von ihr in vielen Punkten abweichenden Massenbildungen " gebracht wird, etwa daß sie mit diesen rivalisiert, § 224. Die vierte, daß die Masse Traditionen, Ge
bräuche und Einrichtungen besitzt, besonders solche, die sich auf das Verhältnis ihrer Mitglieder § 225zueinander beziehen
§ 226Die fünfte, daß es in der Masse eine Gliederung
. gibt, die sich in der Spezialisierung und Differenziéé § 227§ 228
IIL Andere Würdigungen des kollektiven Seeleniebens 35
§ 229rung der dem Einzelnen zufallenden Leistung aus
drückt. . ' Durch die Erfüllung dieser Bedingungen wer den nach M°Dougall die psychischen Nach teile der Massenbildung aufgehoben. Gegen die kollektive Herabsetzung der Intelligenzleistung . schützt man sich dadurch, daß man die Lösung der intellektuellen Aufgaben der Masse entzieht und sie „ , Einzelnen in ihr vorbehält. Es scheint uns, daß man die Bedingung, die MC Don gall als „Organisation“ der Masse be zeichnet hat, mit mehr Berechtigung anders be schreiben kann. Die Aufgabe besteht darin, der Masse gerade jene Eigenschaften zu verschaffen, diefür das Individuum charakteristisch waren und die bei ihm durch die Mas“senbildung ausgelöscht wurden. Denn das Individuum hatte _— außerhalb. der primitiven Masse __ seine Kontinuität, sein Selbstbewußtsein, seine Traditionen und Gewohn heiten, seine besondere Arbeitsleistung und. Ein reihung und hielt sich von anderen gesondert, mit denen es rivalisierte. Diese Eigenart hatte es durch seinen Eintritt in die nicht „organisierte“ Masse für eine Zeit verloren. Erkennt man so als Ziel, die Masse mit den Attributen des Individuums auszu § 230§ 231
r
‘. . " | „_ § 23235 . ' Mmanp'wdmlogie und Ich-Analyse
§ 233Siaitéfl;?gä 1'wirdman ,an eine gehaltreiche Bemerkung
Von W. Tr o tte1r * gemahnt, der in der Neigung— zur Maesenbilduflg Eine biolugische Fortführung der. Vielzelligkeit aller höheren Qrganismen erblickt;i § 234IV.
§ 235‘\
§ 236Suggestion und Libido.
§ 237Wir sind von der Grundtatsache ausgegangen,
daß ein Einzelner innerhalb einer Masse durch den Einfluß derselben eine oft tieigreiiende Veränderung _seiner seelischen Tätigkeit erfährt. Seine Atfektivität wird außerordentlich gesteigert, seine intellektuelle Leistung merklich eingeschränkt, beide Vorgänge offenbar in der Richtung einer Angleichung an die anderen Massenindividuen; ein Erfolg, der nur durch die Aufhebung der jedem ,Einzelnen eigen tümlichen Triebhemmnngen und durch den Verzicht auf die ihm besonderen Ausgestaltungen seiner Neigungen erreicht werden kann. Wir haben gehört, daß diese oft unerwünschten Wirkungen durch eine höhere „Organisation“ der Massen wenigstens teil— weise hintangehalten werden, aber der Grundtat sache der Massenpsychologie, den beiden Sätzen von der Aiiektsteigerung und der Denkhemmung in § 238§ 239
38 Massenn$vofiohzie und ich-Analyse
§ 240der primitiven Masse ist dadurch nicht wider
Sprochen werden; Unser Interesse geht nun dahin, für diese seelische Wandlung des Einzelnen in der Masse die psychologische Erklärung zu finden. Rationelle Momente wie die vorhin erwähnte § 241, Einschüchterung des Einzelnen, also die Aktion sei
§ 242nes Selbsterhaltungsüiebes, decken offenbar die zu
§ 243heobachtenden Phänomene nicht. Was uns sonst
§ 244als Erklärung von den Autoren über Soziologie und
Massenpsychologie geboten wird, ist immer das nämliche, wenn auch unterwechselnden Namen: das § 245.Zauberwort der S-uggestion. Bei Tarde,
§ 246hieß sie N a c h a h m u n g, aber wir müssen einem
§ 247„Autor-recht geben, der uns vorhält, die Nachahmung
§ 248falie unter denr"‘-Bzégriii „der Suggestion, sei eben eine
_Folgé derselben". Bei ]. e B o n wurde alles Befrem § 249dende der sozialen Erscheinungen auf zwei Faktoren
§ 250zürückgeiiihrt, auf. die gegenseitige Suggestion den
§ 251Einzelnen unfl'das Prestige der Führer. Aber das ‘ _.
§ 252Prestige äußert sich wiederum nur in der Wirkung,
§ 253Su—ggestion hervorzuruien. Bei Mc D o u g a 11 "
§ 254konnten wir einen Moment lang den Eindruck emp=
fangen, daß sein Prinzip der „primären Aiiektinduk § 255" Bru ge ille s. L’essenoe dm phénomene social: la suggestion
Revue philosophiuue XXV. 1913. § 256§ 257
IV.‘ Suggestion und Libido 39
§ 258tion“ die Annahme der Suggestion entbehrlich
mache. Aber bei weiterer Überlegung müssen wir doch einsehen, daß dies Prinzip nichts anderes aus— sagt als die bekannten Behauptungen der „Nach ahmung“ oder „Ansteckung“, nur unter entschie dener Betonung des aiiektiven Moments. Daß eine derartige Tendenz in uns besteht, wenn wir die Zeichen eines Aiiektzustandes bei einem anderen ge wahren, in denselben Ait'ekt zu verfallen, ist un- _ zw‘eifelhaft, aber wie oft widerstehen wir ihr ertolg- , reich, weisen den Affekt ab, reagieren oft in ganz gegensätzlicher Weise? Warum also geben wir die ser Ansteckung in der Masse'regelmäßig nach? Man wird wiederum sagen müssen, es sei der suggestive Einfluß der Masse, der uns nötigt, dieser Nach ahmungstendenz zu gehorchen, der den Affekt in _ uns induziert. Übrigens kommen wir auch sonst bei M: D o u gall‘ “nicht um die Suggestion herum; wir hören von ihm wie von anderen: die Massen zeichnen sich durch besondere Suggestibilität aus. Man wird so für die Aussage vorbereitet, die Suggestion (richtiger die Suggerierbarkeit) sei eben ein weiter nicht reduzierbares Urphänomen, eine Grundtatsache des menschlichen Seelenlebens. So hielt es auch B e rn h e i m, von dessen erstaunlichen § 259§ 260
40 Massenpsychologie und Ich-Analyse
§ 261Künsten ich im Jahre 1889 Zeuge war. Ich weiß
mich aber auch damals an eine dumpfe Gegnerschaft gegen diese Tyrännei der Suggestion zu erinnern. Wenn ein Kranker, der sich nicht gefügig zeigte, angeschriéen wurde: Was tun Sie denn? Vous‘vous contresuggestionnez! so sagte ich mir, das sei offen bares Unrecht und Gewalttat. Der Mann habe zu Gegensuggestionen gewiß ein Recht, wenn man ihn mit Suggestionen zu untérwerien versuche. Mein Widerstand nahm dann später die Richtung einer Auflehnung dagegen, daß die Suggestion, die alles erklärte, selbst der Erklärung entzogen sein sollte. Ich wiederholte mit Bezug auf sie die alte Scherz irage ?: _ § 262Christoph trug Christum,
§ 263Christus trug die ganze Welt,
§ 264Sag’, wo‘hat Christoph
Damals hin den, Fuß gestellt? § 265Christophorus Christmn, sed Christus sustulit orbem:
Constiterit pedib'us dic ubi Christophorus? § 266Wenn ich nun “nach etwa 30jähriger Fernhal
tung wieder an das Rätsel der Suggestion heran § 267' Konrad Richter. Der deutsche S. Christohh. Berlin
1896. Acta Genmanlca V. 1. ‘ § 268§ 269
IV. Suggestion und Libido , 41
§ 270trete, finde ich, daß sich nichts daran geändert hat.
Von einer einzigen Ausnahme, die eben den Einfluß _ der Psychoanalyse bezeugt, darf ich .ja bei dieser Behauptung absehen. Ich sehe, daß man sich beson— ders darum bemüht, den Begriff der Suggestion korrekt zu formulieren, also den Gebrauch des Namens konventionell festzulegen *, und dies ist nicht überflüssig, denn das Wort geht einer immer weiteren Verwendung mit aufgelockerter Bedeutung entgegen und wird bald jede beliebige Beeinflussung bezeichnen wie im Englischen, wo „to suggest, suggestion“ unserem „nahelegen“, unserer „An- . regung“ entspricht. Aber über das Wesen der Sug gestion, d. h. über die Bedingungen, unter, denen sich Beeinflussungen ohne zureichende logische Be gründung herstellen, hat sich eine Aufklärung nicht ergeben. Ich würde mich der Aufgabe nicht ent ziehen, diese Behauptung durch die: Analyse- der Literatur dieser letzten 30 Jahre zu erhärten, allein ich unterlasse_ es, weil mir bekannt ist, daß in meiner Nähe ,eine ausführliche Untersuchung vorbereitet wird, welche sich eben diese Aufgabe gestellt hat. § 271Anstatt dessen werde ich den Versuch machen,
§ 272" So M‘Dougali im „Journal of Neurology and Psycho
Datl'iologv“. Vol I. No. 1. May 1920: A note on suzgestion; § 273§ 274
42 Massenpsychologle und Ich-Analyse
§ 275zur Aufklärung der Massenpsychologie den Begriff
der Libido zu verwenden, der uns im Studium der Psychoneurosen so gute Dienste geleistet hat. § 276Libido ist ein Ausdruck aus der Afiektivitäts
' lehre. Wir heißen so die als quantitative Größe be trachtete — wenn auch derzeit nicht meßbare — Energie solcher Triebe, welche mit alldem zu tun haben, was man als Lie b e zusammenfassen kann. Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet na türlich, was man gemeinhin Liebe nennt und Was die Dichter besingen, die Geschlechtsliebe mit dem Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebé, anderer$eits die Eltern- und Kindesliebe, die Freund schaft und die allgemeine Menschenliebe, auch nicht die Hingebung an konkrete Gegenstände und an abstrakte Ideen. Unsere Rechtfertigung liegt darin, daß die psychoanalytische Untersuchung uns. gelehrt § 277hat, alle diese Strebungen seien;der Ausdruck der
§ 278männlichen Triebregungen, die zwischen den Ge
schlechtern zur geschlechtlichen Vereinigung hin drängen, in anderen Verhältnissen zwar von diesem sexuellen Ziel abgedrängt oder in der Erreichung desselben aufgehalten werden, dabei aber doch § 279§ 280
1v. 3uzzestion und Libido ' 43
§ 281immer genug von ihrem ursprünglicheg_ Wesen be
wahren, um ihre Identität kenntlich zu erhalten (Selbstaufopferung, Streben nach Annäherung) § 282Wir meinen also, daß die Sprache mit dem Wort
„Liebe“ in seinen vielfältigen Anwendungen eine - durchaus berechtigte Zusammenfassung geschaffen hat, und daß wir nichts Besseres tun können, als die selbe auch unseren wissenschaftlichen Erörterungen und Darstellungen zugrunde zu legen. Durch diesen Entschlüß hat die Psychoanalyse einen Sturm von Entrüstung entfesselt, als ob sie sich einer frevel haften Neuerung schuldig gemacht hätte. Und doch hat die Psychoanalyse mit dieser „erweiterten“ Auf fassung der Liebe nichts Originelles geschaffen. Der „E r 0 s“ des Philosophen Pl & to zeigt in seiner Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechts liebe eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft, der Libido der Psychoanalyse, wie N a c h m a n s o h n und P i i s t e r im Einzelnen dargelegt haben *, und wenn der Apostel Paulus in dem berühmten Brief an die Korinther die Liebe über § 283alles andere preist, hat er sie gewiß im nämlichen'
§ 284" N achmansohn, Freuds Libidotheorie verglichen mit der
Erosiehte Platos. Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse Ill, 1915, Pfis-te r, ebd. VII. 1921. § 285“„...—u...;—
§ 286§ 287
44 Massenpsycholozie und Ich«Analyse
§ 288„erweiterten“ Sinn verstanden ", Woraus nur zu
- lernen ist, daß die Menschen ihre großen Denker nicht immer ernst nehmen, auch wenn sie sie angeb lich sehr bewundern. § 289Dieseliebeätriebe werden nun in der Psycho
analyse a potiori und von ihrer Herkunft her Sexualtriebe geheißen. Die Mehrzahl dei: „Gebil deten“ hat diefse Namengebung als Beleidigung, empiiunden‘ und. sich für sie gerächt, indem sie der Psychoanalyse den Vorwurf des „Pansexualismus“ entgegenschleuderte. Wer die Sexualität für etwas die men3chliche Natur Beschämendes und Erniedri gendes hält, dem steht es ja frei, sich der vorneh nreren Ausdrücke Eros und Erotik zu bedienen. Ich hätte es auch selbst_von Anfang an_so tun können und hätte nur dadurch viel Wider9p‘ruch erspart. Aber “ich mochte es nicht, denn ich vermeide gern Konzessionen an die Schwachmütigkeit. Man kann nicht wissen, wohin man auf diesem Wege gerät; man gibt zuerst in Worten nach und dann allmäh lich auch in der Sache. Ich kann nicht finden, daß irgend ein Verdienst daran ist, sich der Sexualität zu schämen; das griechische Wort Eros, das den § 290' „Wenn ich mit Menschen- und mit: EnseIzm1gen redete. und
hätte der Liebe nith so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle". ru. ff. § 291§ 292
IV. Suggestion und Libido 45
§ 293Schimpi lindern soll, ist doch schließlich nichts an
deres als die Übersetzung unseres deutschen Wortes Liebe, und endlich, wer warten kann, braucht keine Konzessionen zu machen. § 294Wir werden es also mit der Voraussetzung ver
suchen, daß Liebesbeziehungen (inditferent ausge drückt: Geiiihlsbindungen) auch das Wesen der Massenseele ausmachen. Erinnern wir uns daran, daß von solchen bei den Autoren nicht die Rede ist. Was ihnen entsprechen würde, ist offenbar hinter' dem Schirm, der spanischen Wand, der Suggestion verborgen. Auf zwei flüchtige Gedanken stützen wir zunächst unsere Erwartung. Erstens, daß die Masse offenbar durch irgend eine Macht zusammengehal ten wird. Welcher Macht könnte man aber diese Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der allés in der Welt zusammenhält? Zweitens, daß man den Eindruck empfängt, wenn der Einzelne m der Masse seine Eigenart aufgibt und sich von den anderen suggerieren läßt, er tue es, weil ein Bedürfnis bei ihm besteht, eher im Einvernehmen mit ihnen als im Gegensatz zu ihnen zu sein, also vielleicht doch „ihnen zuliebe“. § 295§ 296
V?
§ 297Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer.
§ 298'
§ 299, Aus der Morphologie der Massen rufen w1r
uns ins Gedächtnis, daß man sehr verschiede __ _g § 300„ Arten von Massen und gegensätzliche Richtungen,“
- in ihrer Ausbildung unterscheiden kann. Es gibt. ‘ , sehr flüchtige Massen und höchst dauerhafte; Ühomngene, die aus gleicharügen Individuen bestehen—,' ' und méht homogene, natürliche Massen und künst hehe, die zu ihrem -'Zusa1nmenhalt auch einen äußeren Zwang erfordern; primitive Massen und gegliederte,_. hoch organisierte. AusGründen aber, in '-welche—_ ,die. Einsicht noeh verhith ist, möchten § 301_ wir auf eine Uhterscheidungbesonderen Wert legen,
die bei den Autoren“ eher zu wenig beachtet wird; ich meine die von fiihreilosen Massen und von solchen mit Führern. Und recht im Gegensatz zur gewohnten Übung soll unsere Untersuchung nicht eine relativ ehfache'Massenbfldmg zum Ausgangs- " § 302§ 303
V. Zwei künstliche Mass-en: Kirche und Heer 47
§ 304punkt wählen, sondern an hoch organisierten, dauer
haften, künstlichen Massen beginnen. Die inter essantesten Beispiele solcher Gebilde sind die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, und die Armee, § 305das Heer.
Kirche und Heer sind künstliche Massen, das § 306heißt, es wird ein gewisser äußerer Zwang auf
gewendet, um sie vor der Auflösung zu bewahren und Veränderungen in ihrer Struktur hintanzuhalten. Man wird in der Regel nicht befragt oder es wird ‘ einem nicht frei'gestellt, ob man in eine solche Masse eintreten will; der Versuch des Austritts wird gewöhnlich verfolgt oder strenge bestraft oder ist an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft. Warum diese Vergesellschaftungen so besonderer Sicherun gen bedürfen, liegt unserem Interesse gegenwärtig -ganz ferne. Uns zieht nur der eine Umstand an, daß‘ man an diesen hocharganisie'rten, in solcher Weise vor dem. Zerfall geschützten Massen mit großer Deutlichkeit gewisse Verhältnisse erkennt, die anderswo weit mehr verdeckt sind. _ In der Kirche — wir können mit Vorteil "die katholische Kirche zum Muster nehmen —— gilt wie im Heer; so verschieden beide sonst sein mögen, die § 307nämliche Vorspiegelung (Illusion), daß ein Oberhaupt
. {. § 308§ 309
48 ‘ Massmnsyeholcsle und Ich—Amlyse
§ 310da ist, — in der katholischen Kirche Christus, in der
Armee der Feldherr — das alle Einzelnen der Masse _ mit der gleichen Liebe liebt. An dieser Illusion hängt alles; ließe man sie fallen, so zerfielen sofort, soweit der äußere Zwang es gestattete, Kirche wie Heer. Von Christus wird diese gleiche Liebe ausdrücklich ausgesagt: Was ihr getan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan, Er steht zu den Einzelnen der gläubigen Masse im Verhältnis eines gütigen älteren Bruders, . ist ihnen ein Vaterersatz. Alle Anforderungen an die Einzelnen leiten sich von dieser Liebe Christi ab. Ein demokratischer Zug geht durch die Kirche, eben weil vor Christus alle gleich sind, alle den gleichen Anteil an seiner Liebe - haben. Nicht ohne tiefen Grund wird die Gleichartigkeit der christlichen Gemeinde mit einer Familie heraui- ' beschworm und nennén sich die Gläübigen‘ßrüder, in Christo, d. h. Brüder durch die Liebe, die Christus ‘ für sie hat. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bin dung jedes'Einzelnen an Christus auch die Ursache ihrer Bindung unter einander ist. Ähnliches gilt für das Heer; der Feldhen° ist der Vater, der alle seine Soldaten gleich liebt, und darum sind sie Kameraden untereinander. Das Heer unterscheidet sich struk § 311§ 312
V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer 49
§ 313turell von der Kirche darin, daß es aus einem Stufen
bau von solchen Massen besteht. Jeder Hauptmann ist gleichsam der Feldherr und Vater seiner Abtei lung, jeder Unteroffizier der seines Zuges. Eine ähn liche Hierarchie ist zwar auch in der Kirche aus gebildet, spielt aber in ihr nicht dieselbe ökono mische Rolle,‘ da man Christus mehr _Wissen und Bekümmern um die Einzelnen zuschreiben darf als dem menschlichen Feldherrn. § 314Gegen diese Auffassung der lihidinösen Struktur
einer Armee wird man mit Recht einwenden, daß die Ideen des Vaterlandes, des nationalen Ruhms u. a., die für den Zusammenhalt der Armee so bedeutsam sind, hier keine Stelle gefunden haben. Die Antwort darauf lautet, dies sei ein anderer, nicht mehr so ,einfacher Fall von Massenbindung, und wie die Beispiele großer Heeriiihrer, Caesar, Wallenstein, Napoleon, zeigen, sind solche Ideen für den Bestand einer Armee nicht unentbehrlich. Von dem möglichen Ersatz des Führers durch eine führende Idee und den Beziehungen zwischen beiden wird später kurz die Rede sein. Die Vernachlässigung dieses libidi nösen Faktors in der Armee, auch dann, wenn er nicht der einzig wirksanie ist, scheint nicht nur ein theoreti scher Mangel, sondern auch eine praktische Gefahr. Der preußische Militarismus, der ebenso unpsychologisch war wie die ,deutsche Wissenschaft, hat dies vielleicht im großen Weltkrieg erfahren müssen. Die Kriegsneürosen, welche die deutsche Armee zersetzten, sind ja bekannt lich als Protest des Einzelnen gegen die ihm in der Armee § 315§ 316
50 Mmssenmyehologie und Ich-Analyse
§ 317Zugemutete Rolle erkannt werden, und nach den Mit—
teilungen von E. Simmel* darf man behaupten, daß die lieblose Behandlung des gemeinen Mannes durch seine Vorgesetzten obenan unter den Motiven der Erkrankung stand. Bei besserer Würdigung dieses Libidoanspruches hätten wahrscheinlich die phantastischen Versprechungen der 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten nicht so leicht Glauben gefunden und das großartige Instrument wäre den deutschen Kriegsktinstlern nicht in der Hand § 318„ zerbrochen.
§ 319Merken wir an, daß in diesen beiden künstlichen
Massen jeder Einzelne einerseits an den Führer » , (Christus, Feldberrn), andererseits an die anderen ;,1-Ü' Massenindividuen libidinös gebunden ist. Wie sich _ diese beiden Bindungen zueinander verhalten, ob f,_:_, . sie glerchartrg und gleichwertig sind und wie sie' -:,._'.-_ psychologisch zu beschreiben wären, das müssen " wir einer späteren Untersuchung vorbehalten. Wir getrauen_ uns aber jetzt schon eines leisen Vorwurfes ;f gegen die Autoren, daß sie die Bedeutung des Füh mm für die. Psychologie der Masse nicht genügend?" gewürdigt haben, während uns die Wahl des ersten Untersuchungsobjekts in eine günstigere Lage ge- "‘ bracht hat. Es will uns scheinen, als befinden W11' § 320* Krlezsneurosen und ,Psychisches Traum“ ,München 1918.
§ 321§ 322
v. Zwei künstliche Massen: Kirche ui1d Heer 51
§ 323Einzelnen in der Masse, aufklären kann. Wenn für
jeden Einzelnen eine so ausgiebige Geiühlsbindung nach zwei Richtungen besteht, so wird es uns nicht schwer werden, aus diesem Verhältnis die beobach tete Veränderung und Einschränkung seiner Persön lichkeit abzuleiten. § 324Einen Wink ebendahin, das Wesen einer Masse
bestehe in den in ihr vorhandenen libidinösen Bin dungen, erhalten wir auch in dem Phänomen der Panik, welches am besten an militärischen Massen zu studieren ist. Eine Panik entsteht, Wenn eine solche Masse sich zersetzt. Ihr Charakter ist, daß kein Befehl des Vorgesetzten mehr angehört wird, und daß jeder für sich selbst sorgt ohne Rücksicht auf die anderen. Die gegenseitigen Bindungen haben aufgehört und eine riesengroße, sinnlose Angst wird frei. Natürlich wird auch hier wieder der Einwand naheliegen,- es sei vielmehr umgekehrt, indem die Angst so groß gewachsen sei, daß sie sich über alle Rücksichten und Bindungen hinaussetzen konnte. M°Dougall hat sogar (S. 24) den Fall der Panik (allerdings der nicht militärischen) als Muster bäspiel für die von ihm betonte Afiektsteigerung durch Ansteckung (primary induction) verwertet. Allein diese rafionelle Erklärungsweise geht hier § 325§ 326
52 _ Massenpsychologie und Iohq\nalyse
§ 327doch ganz fehl. Es steht eben zur Erklärung, warum
die Angst so riesengroß geworden ist. Die Größe der Gefahr kann nicht beschuldigt werden, denn die— selbe Armee, die jetzt der Panik verfällt, kann ähnlich große und größere Gefahren tadellos bestanden haben, und es gehört geradezu zum Wesen der Panik, daß sie nicht im Verhältnis zur drohenden Gefahr steht, oft bei den nichtigsten Anlässen aus bricht. Wenn der Einzelne in panischer Angst für § 328siehselbst zu sorgen unternimmt, so bezeugt er da-
mit die Einsicht, daß die affektiven Bindungen auf- ' § 329gehört haben, die bis dahin die Gefahr für ihn herab
§ 330setzten. Nun, da er der Gefahr allein entgegensteht, _
darf er sie allerdings höher einschätzen. Es verhält “3 § 331Sich. also;-so, daß die panische Angst die Locke;
rung in der libidinösen Struktur der Masse voraus § 332setzt und' m berechtigter Weise auf sie reagiert, nicht
§ 333umgekehrt, daß die Libidobindungen der Masse an
§ 334der Angst vor der Gefahr zugrunde geEangen Wären. ,
§ 335Mit dieseii Bemerkungen wird der Behauptung, daß
die Angst in der Masse durch Induktion (Ansteckung) in's Ungeheure wachse. keineswegs wider5prochen. Die M°Doug all’ sche Auffassung ist durchaus zutreffend § 336fiir den Fall, daß “die Gefahr eine real große ist und daß in ' _ '
§ 337der _ Masse keine stafkefl Gefühlsbindungen bestehen,
Bedmg‘uugen, die verwirklicht Werden, wenn 2. B. in § 338§ 339
V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer 53
§ 340einem Theater oder Unterhaltungslokal Feuer ausbricht.
Der lehrreiche und für unsere Zwecke verwertete Fall ist der oben erwähnte, daß ein Heereskörper in Panik gerät, wenn die Gefahr nicht über das gewohnte und oftmals gut vertragene Maß hinaus gesteigert ist. Man wird nicht erwarten dürfen, daß der Gebrauch des § 341Wortes „Panik“ scharf und eindeutig bestimmt sei.
§ 342Manchmal bezeichnet man so jede Massenangst, andere
Male auch die Angst eines Einzelnen, wenn sie über jedes Maß hinausgeht, häufig scheint der Name für den Fall reserviert, daß der Angstausbruch durch den Anlaß nicht gerechtfertigt wird. Nehmen wir das Wort „Panik“ im Sinne der Massenangst, so können wir eine weitgehende Analogie behaupten. Die Angst des lndividuums wird her vorgerufen entweder durch die Größe der Gefahr oder durch das Auflassen von Gefühlsbindungen (Libido besetzungen); der letztere Fall ist der der neurotischen Angst. (5. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoana lyse, XXV., 3. Aufl., 1920.) Ebenso entsteht die Panik durch die Steigerung der Alle betreffenden Gefahr oder durch das Aufhören der die Masse zusammenhaltenden Gefühlsbindungen, und "dieser letzte Fall ist der neu_roti schen Angst analog. (Vgl. hiezu den gedankenreichen, etwas phantastischen Aufsatz von Bela v. Fel szeghy: Panik und Pankomplex, „lmago“, VI, 1920.) § 343Wenn man die Panik wie M°Dougall (l. c.)
als eine der deutlichsten Leistungen des „group mind“ beschreibt, gelangt man zum Paradoxon, daß sich diese Massenseele in einer ihrer auffälligsten Äußerungen selbst aufhebt. Es ist kein Zweifel möglich, daß die Panik die Zersetzung der Masse bedeutet, sie hat das Aufhöre'n aller Rücksichten zur Folge, welche sonst die Einzelnen der Masse für einander zeigen. § 344mws‘a;.l und:.M ..
§ 345§ 346
54 Massenmvchologle und Ich-Analyse
§ 347Der typische Anlaß für den Ausbruch einer
Panik ist so ähnlich, wie er in der N e st r 0 y’schen Parodie des H eb b el schen Dramas von Judith und Holoiernes dargestellt wird. Da schreit ein Krieger: „Der Feldherr hat den K0pi Verloren“, und darauf ergreifen alle Assyrer die Flucht. Der Verlust des Führers in irgend einem Sinne, das Irrewerden an ihm bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum Ausbruch; mit der Bindung an den Führer schwinden —— in der Regel —— auch die gegenseitigen Bindungen der Massenindividuen. Die Masse zer stiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die Spitze abgebrochen hat. § 348Die Zersetzung einer religiösen Masse ist nicht
so leicht zu beobachten.. Vor kurzem geriet mir ein von katholischer Seite stammender, vom Bischof von London empiohlener englischer Roman in die Hand § 349mit dem Titel: „When it was dark“, der eine solche _
§ 350' Möglichkeit und ihre Folgen in geschickter und,
wie ich meine, zutrefiender Weise ausmalte. Der ' Roman erzählt wie aus der Gegenwart, daß es einer Verschwörung von Feinden der Persori Christi und des christlichen Glaubens gelingt, eine Grabkammer in Jerusalem auftinden zu lassen, in deren Inschrift Josef von Arimathäa bekennt, § 351§ 352
V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer _ 55
§ 353daß er aus Gründen der Pietät den Leichnam
Christi am dritten Tag nach seiner Beisetzung heim lich aus seinem Grab entfernt und hier bestattet habe. Damit ist die Auferstehung Christi und seine _ göttliche Natur abgetan und die Folge dieser archäologischen Entdeckung ist eine Erschütterung , der europäischen Kultur und eine außerordentliche Zunahme aller Gewalttaten und Verbrechen, die erst schwindet, nachdem das Komplett der Fälscher ent hüllt werden kann. § 354Was bei der hier angenommenen Zersetzung
der 'religiösen Masse zum Vorschein kommt, ist nicht ' Angst, für welche der Anlaß fehlt, sondern rück sichtslose und feindselige Impulse gegen andere Personen, die sich bis dahin dank der gleichen Liebe Christi nicht äußern konnten *. Außerhalbdieser Bindung stehen aber auch während des Reiches Christi jene Individuen, die nicht zur Glaubens— gemeinschait gehören, die ihn nicht lieben und die ‘er nicht liebt; darum muß eine Religion, auch wenn sie sich die Religion der Liebe heißt, hart und lieb los gegen diejenigen sein, die ihr nicht angehören. Im Grunde ist ja jede Religion eine solche Reli § 355* Vgl. hlezu die Erklärung ähnlicher Phänomene nach dem
Wegiall der landesväterliohe-n Autorität bei P. Federn, Die vater lose Gesellschaft. Wien» Anzengr-uher-Verlag. 1919. § 356§ 357
56 Massensévchoiosie und Ich-Analyse
§ 358gion der Liebe für alle, die sie umfaßt, und jeder
liegt Grausamkeit und Intolerariz gegen die nicht dazugehörigen nahe. Man darf, so schwer es einem auch persönlich fällt, den Gläubigen daraus-keinen zu argen Vorwurf machen; Ungläubige und Indif ferente haben es in diesem Punkte psychologisch umso viel leichter. Wenn diese Intoleranz sich heute nich-t mehr so gewalttäüg und grausam kundgibt wie in früheren Jahrhunderten, so wird man daraus kaum auf eine Milderung in den Sitten der Men schen schließen dürfen. Weit eher ist die Ursache davon in der unleugbaren Abschwächung der reli giösen Gefühle und der von ihnen abhängigen libi dinösen Bindungen zu suchen. Wenn eine andere Massenbindung an die Stelle der religiösen tritt, wie es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint, SQ wird sich dieselbe, Intoleranz gegen die Außen stehenden ergeben wie im Zeitalter der Religions kämpfe, und wenn die Differenzen wissenschaft licher Anschauungen je eine ähnliche Bedeutung für die Massen gewinnen könnten, würde sich das § 359‘ selbe Resultat auch für diese Motivierung wieder
§ 360holen.
§ 361§ 362
V1.
§ 363Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen.
§ 364Wir haben bisher zwei artifizielle Massen unter
sucht und gefunden, daß sie von zweierlei Gefühls bindungen beherrscht werden, von denen die eine an den Führer — wenigstens für sie — bestimmender zu sein scheint als die andere, die der Massenindi viduen aneinander. § 365Nun gäbe es in der Morphologie der Massen
noch viel zu untersuchen und zu beschreiben. “Man hätte von der Feststellung auszugehen, daß eine bloße Menschenmengé noch keine Masse ist, so lange sich jene Bindungen in ihr nicht hergestellt haben, hätte aber das Zugeständnis zu machen, daß in einer beliebigen Menschenmenge sehr“ leicht die Tendenz zur Bildung einer psychologischen Masse hervortritt. Man müßte den verschiedenarügen, mehr ‘ oder minder beständigen Massen, die spontan zu stande kommen, Aufmerksamkeit schenken, die Be § 366§ 367
58 ' Massenpsychologie und Ich-«Analyse
§ 368dingungen ihrer Entstehung und ihres Zerfalls stu
dieren. Vor allem würde uns der Unterschied zwi— schen Massen, die einen Führer haben, und führer losen Massen beschäftigen. Ob nicht die Massen mit Führer die ursprünglicheren und vollständigeren sind, ob in den anderen der Führer nicht durch eine Idee, ein Abstraktüm ersetzt sein kann, wow ja schon die religiösen Massen mit ihrem unaufzeig baren Oberhaupt die Überleitung bilden, ob nicht eine gemeinsame Tendenz, ein Wunsch, an dem eine Vielheit Anteil nehmen kann, den nämlichen Ersatz leistet. Dieses Abstrakte könnte sich wiederum mehr oder weniger vollkommen in der Person eines gleich § 369_ sam sekundären Führers verkörpern, und aus der
'Beziehung zwischen Idee und Führer ergäben sich § 370interessante Mannigt'altigkeitén. Der Führer oder ,die
führende Idee könnten auch sozusagen negativ wer den; der Haß gegen eine bestimmte Person oder Institution könnte ebenso einigend wirken und ähn liche _Gefühlsbindnngen hermrrufen. wie die po sitive Anhänglichkeit. Es fragte sich dann auch, ob der Führer für das Wesen der Masse wirklich un erläßlich ist u.a. m. § 371' Aber all diese Fragen, die zum Teil auch in der
Literatur der Massehpsychologie behandelt sein § 372§ 373
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 59
§ 374mögen, werden nicht imstande sein, unser Interesse
von den psychologischen Grundproblemen abzu lenken, die uns in der Struktur einer Masse geboten werden. Wir werden zunächst von einer Überlegung gefesselt, die uns auf dem kürzesten Weg den Nach weis verspricht, daß es Libidobindungen sind, welche eine Masse charakterisieren. § 375_! Wir halten uns vor, wie sich die Menschen im
allgemeinen affektiv zueinander verhalten. Nach dem berühmten S c ho p e n h a u e r’schen Gleichnis von den iriereuden Stachelschweinen verträgt keiner eine allzu intime Annäherung des anderen. § 376„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an
einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empianden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wenn nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusamrnenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin— und her geworien wurden, bis sie eine mäßige Entfernung heraus gefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“ (Parerga und Paralipomena, II. Teil, XXXL, Gleichnisse und Parabeln.) § 377Nach dem Zeugnis der Psychoanalyse hinter
läßt fast jedes intime Gefühlsverhältnis zwischen zwei Personen von längerer Dauer —_ Ehebeziehung, § 378§ 379
60 Massenpsychotogie und Ich-Analyse
§ 380Freundschaft, Eltern- und Kindschait* — einen
Bodensatz von ablehnenden, feindseligen Gefühlen, der erst durch Verdrängung beseitigt werden muß. Unverhüllter ist es, wenn jeder Kompagnon mit sei nem Gesellschafter hadert, jeder Untergebene gegen seinen Vorgesetzten murrt. Dasselbe geschieht dann, wenn ‘die Menschen zu größeren Einheiten zusam mentret'en. Jedesmal, wenn sich zwei Familien durch eine Eheschließung verbinden, hält sich jede _ von ihnen für die bessere oder vornehmere auf Kosten der anderen. Von zwei benachbarten Städten wird jede zur mißgünstigen Konkurrentin' der anderen; jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeut schen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portu giesen. Daß bei größeren Differenzen sich eine schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des Galliers gegen den Germanen, des Ariers gegen den Semiten, des Weißen gegen den Farbigen, hat auf gehört uns zu verwundern. § 381" Vielleicht mit einzige;- Amnahme der Beziehung der Mutter
zum Sohn. die auf Narzißmus «gründet. durch spätere Rivailität nich; gestögt und durch einen Ansatz zur sexuellen Objekth ver stär t wir . § 382?
27 11 _ 4 § 383§ 384
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 61
§ 385Wenn sich die Feindseligkeit gegen sonst ge
liebte Personen richtet, bezeichnen wir es als Ge fühlsambivalenz und erklären uns diesen Fall in wahrscheinlich allzu rationeller Weise durch die vielfachen Anlässe zu Interessenkonflikten, die sich gerade in so intimen Beziehungen ergeben. In den unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Ab stoßungen gegen nahestehende Fremde können wir den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, er— kennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und sich so benimrnt, als ob das Vorkommen einer Ab“ weichung von seinen individuellen Ausbildungen eine Kritik derselben und eine Aufforderung sie um zugestalten mit sich brächte. Warum sich eine so große Empfindlichkeit gerade auf diese Einzelheiten' der Differenzierung geworfen haben sollte, wissen wir nicht; ' es ist aber unverkennbar, daß sich in diesem ganzen Verhalten der Menschen eine Haß bereitschait, eine Aggressivität kui1dgibt, deren Her kunft unbekannt ist, und der man einen elementaren Charakter zusprechen möchte. § 386In einer kürzlich (1920) veröffentlichten Schritt
„Jenseits des Lustprinzips" habe ich versucht, die Po larität von Lieben und Hassen mit einem angenommenen Gegensatz von Lebens- und Todestrieben zu verknüpfen, § 3875
§ 388§ 389
--p-:-——._——_,_„_.._„ *fic.w„„„_m „„_ . , 7.7 j
§ 39062 _ Maßenpsychdlogie und Ich—Analyse
§ 391; und die Sexualtriebe als die reinsten Vertreter der
ersteren, der Lebenstriebe, hinzustellen. § 392Aber all diese Intoleranz schwindet, zeitweilig
oder dauernd, dürch die Massenbildung und in der § 393Masse. Solange die Massenbildung anhält oder so-_ _. :“?
§ 394weit sie reicht, benehmen sich die Individuen “als
Wären sie gleichi'örmig, dulden sie die Eigenart des anderen, stellen sich ihm gleich und verspüren kein Gefühl der Abstoßung gegen ihn. Eine solche Ein schränkung des Narzißrnus kann nach unseren theo retischen Anschauungen nur durch ein Moment er . z'eugt werden, durch libidinöse Bindung an andere Personen. Die Selbstfiebe findet nur an der Fremd ' fiebé,"Liebe zu Objekten, eine Schranke*. Man wird § 395sofort—die “Frage “aufwerien, ob nicht die Interessen- ‘ ":>
§ 396gemeins'chaft, an und für sich und ohne jeden libidi
nösen Beitrag, zur Duldung des anderen und zur ' Rücksidltnahme auf ihn führen muß. Man wird diesem Einwand mit dem Bes'cheid begegnen, daß auf Solche—Weise; eiiiebléibéridé Einschränkung des Narzißmus doch nicht zustande kommt, da diese To leranz nicht länger anhält als der unmittelbare Vor teil, den man aus der Mitarbeit des anderen zieht, § 397- '- S. zur Einführung des Nadißmus 1914. San-min klei er
Schritten zur Neurosml‘ehre. vierte Folge 1918. m u § 398§ 399
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsricht—ungen 63
§ 400Allein- der praktische Wert dieseriStreitirage ist ge;
finger, als man meinen sollte, denn die Erfahrung hat gezeigt, daß sich im Falle der Mitarbeiterschaft § 401regelmäßig libidinöse Bedingungen zwischen den
§ 402Kameraden herstellen, welche die Beziehung zwi
schen ihnen über das Vorteilhafte hinaus verlängern ’ und fixieren. Es geschieht in den sozialen Beziehun gen der Menschen dasselbe, was der psychoanalyti schen Forschung in dem Entwicklungsgang der indi viduellen Libido bekannt geworden ist. Die Libido lehnt sich an die Befriedigung der-großen Lebens bedürfnisse an und Wählt die daran beteiligten Per sonen zu ihren ersten Objekten. Und wie beim Ein zelnen, so hat auch in der Entwicklung der ganzen § 403Menschheit nur die Liebe als Kulturtaktor im Sinne
§ 404einer Wendung vom Egoismus zum Altruismus ge
wirkt. Und zwar sowohl die geschlechtliche Liebe zum Weihe mit all den aus ihr fließenden Nötigun gen das zu verschonen, was dem Weihe lieb war, § 405als auch die descxualisierte, sublimiert homosexuelle
§ 406Liebe zum anderen Manne, die sich aus der gemein
samen Arbeit ergab. ' § 407Wenn also in der Masse Einschränkungen der
narzißtischen Eigenfiebe auftreten, die außerhalb'der—' selben nicht wirken, so ist dies ein zwinger'1der Hin— § 408,.
§ 409hahm‘ißatinittébd!tflüatiib
§ 410h .
§ 4115'9'3f'hm
§ 41264 Massenrpsychologie und Ioh4-nalys-e
§ 413weis darauf, daß das Wesen der Massenbildung in V —
§ 414neuartigen libidinösen Bindungen der Massenmit
glieder aneinander besteht. § 415_ Nun wird aber unser Interesse _ dringend tra
gen, welcher Art diese Bindungen in der Masse sind. In "der psychoanalytischen Neurosenlehre haben wir uns bisher fast ausschließlich mit der Bindung sol cher Liebestriebe an ihre Objekte beschäftigt, die. § 416noch direkte Sexualziele verfolgen. Um solche Sexual- _
§ 417ziele kann es sich in der Masse offenbar nicht han
§ 418dein. Wir haben es hier mit Liebestrieben zu tun,.
§ 419die ohne-« dar-um minder energisch zu Wirken, doch
§ 420von ihren ursprünglichen Zielen abgelenkt sind. Nun
haben wir bereits im Rahmen der gewöhnlichen § 421sexuellen Objektbes'etzung Erscheinungen bemerkt,
die einer Ablenkung des Triebe von seinem Sexual ziel entsprechen. Wir haben sie als Grade von Ver liebth'eit beschrieben und erkannt, daß sie eine ge § 422wisse Beeinträchtigung des Ichs mit sich bringen. ‘
§ 423Diesenlirscheinungiäir der—Verliebtheit werden wir
jetzt eingehendere Aufmerksamkeit zuwenden, in der begründeten Erwartung, an ihnen Verhältnisse zu finden, die sich auf die Bindungen in den Massen übertragen lassen. Außerdem möchten wir aber wissen, ob diese Art der Objektbesetzung, wie wir § 424§ 425
VI. Weitere Auigahen [.in Arbeitsrichtungen 65
§ 426sie aus dem Geschlechtsleben kennen, die einzige.
Weise der Geiühlsbindung an eine andere Person darstellt, oder ob wir noch andere solche Mecha nismen in Betracht zu ziehen haben'. Wir' erfahren tatsächlich aus der Psychoanalyse, daß es noch an dere Mechanismen der Gefühlsbindung gibt, die so genannten ld e n t i f i z i e r u n g e n, ungenügend bekannte, schwer darzustellende Vorgänge, deren Untersuchung uns nun eine gute Weile vom Thema der Massenpsychologie fernhalten wird. § 427§ 428
_ VII.
§ 429Die Identifizierung.
§ 430Die Identifizierung ist der Psychoanalyse als
früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person bekannt. Sie spielt in der Vor § 431' geschichte des Ödipuskomplexes eine Rolle. Der
. kleine Knabe legt ein besondereslnteresse für seinen Vater an.den Tag, er möchte so werden und so sein Wie er, in allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen Wir ruhig: er nimmt den Vater zu seinem Ideal. Dies Verhalten hat nichts rnit einer passiven oder femininen Einstellung zum Vater (und zum Manne überhaupt) zu tun, es ist vielmehr exquisit männlich. Es verträgt sich sehr wohl mit dern Ödipuskomplex, den es vdrbereiten hilft. ‘ Gleichzeitig mit dieser Identifizierung mit dem Vater oder etwas später, hat der Knabe begonnen, eine richtige Objektbesetzung der Mutter nach dem Anlehnungstypus vorzunehmen. Er zeigt also dann § 432§ 433
VII. Die Identifizierung 67
§ 434zwei psychologisch verschiedene Bindungen, zur
Mutter ein; glatt sexuelle Objektbesetzung, zum Vater eine vorbildliche Identifizierung. Die beiden bestehen eine Weile nebeneinander, ohne gegen seitige Beeinflussung oder Störung. Infolge der unaufhaltsam fortschreitenden Vereinheitlichung des Seelenlebens treffen sie sich endlich und durch dies Zusammenströmen entsteht der normale Ödipus komplex.‘ Der Kleine merkt, daß ihm der Vater bei der Mutter im Wege steht; seine Identifizierung mit dem Vater nimmt jetzt eine feindselige Tönung an und wird mit dem Wunsch identisch, den Vater auch bei der Mutter 2u- ersetzen. Die Identifizieng ist eben von Anfang an ambivalent, sie kann sich _ ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum Wunsch der Beseitigung wenden. Sie benimmt sich wie ein Abkömmling der ersten 0 r ale 11 Phase der Libidoorganisation, in welcher man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einver leibte und es dabei als solches vernichtete. Der Karinibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt stehen; er hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er frißt nur die, die erlieb hat *. ' § 435" 5. Drei Abhändlungen zur Sexualtheorie und Abraham:
..Untersuohungen über die früheste Bränenibazle Entwicklumsbufe § 436§ 437
68 Massennsychoiog‘ie und Ich—Analyse
§ 438Das Schicksal dieser Vateridentifizierung ver—
liert man später leicht aus den Augen. %s kann dann geschehen, daß der Ödipuskomplex eine Umkeh rung erfährt, daß der Vater in femininer Einstellung zum Objekte genommen wird, von dem die direkten Sexualtriebe ihre Befriedigung erwarten, und dann ist die Vateridentifizierung zum Vorläufer der Ob jektbindung an den Vater geworden. Dasselbe gilt mit den entsprechenden Ersetzungen auch für die kleine Tochter. § 439Es ist leicht, den Unterschied einer, solchen
Vateridentifizierung von einer Vaterobjektwahl in einer Formel auszusprechen. Im ersten Falle ist der Vater das, was man 3 ein, im zweiten das, was man 11 a b e n möchte. Es ist also der Unterschied, _ob die Bindung am Subjekt oder am Objekt des Ichs an greift. Die erstere. ist darum bereits vor jeder sexuellen Objektwahl möglich. Es ist weit schwie riger, diese Verschiedenheit metapsychologisch an schaulich darzustellen. Man erkennt nur, die Identi fizierung strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere zum „Vorbild“ genom mene. § 440der Libido“. intern. Zeitschr. i. Psychoanalyse IV. 1916. auch in
dessen „Klinische Beiträge zur Psychoanalyse.“ intern. 'DSYChoanalYt. Bibliothek Bd. 10, 1921. § 441- i_.L._m--..:oi_'l._-u .-( . ..
§ 442.. „b-. „__-L......nm _...„1- .. . '
§ 443§ 444
VII. Die Identifizierung. 69
§ 445Aus einem verwickeltefen Zusammenhange
lösen wir die Identifizierung bei einer neurotischen Symptombildung. Das kleine Mädchen, an das wir uns jetzt halten wollen, bekomme dasselbe Leidens symptom wie seine Mutter, 2. B. denselben quälenden Husten. Das kann nun auf verschiedenen Wegen zugeben. Entweder' ist die Identifizierung dieselbe" aus dem Ödipuskomplex, die ein teindseliges Er setzenwollen der Mutter bedeutet, und das Symptom drückt die Objektliebe zum Vater aus; es realisiert die Ersetzung der Mutter unter dem Einfluß des Schuldbewußtsejns: Du hast die Mutter sein wollen, jetzt bist du’s wenigstens im Leiden. Das ist dann der komplette Mechanismus der ,hysterischen Sym ptombildung. Oder aber, das Symptom ist dasselbe wie das der geliebten Person (so wie z. B. Dora im „BruchStück einer Hysterieanalyse“ den Husten des Vaters imitiert); dann können wir den Sachverhalt nur so beschreiben, die Identiiizierungsei an Stelle der Objektwahl getreten, die 0bje'ktwahl sei zur Identifizie rung regrediert. Wir haben gehört, daß die Identifizierung die früheste und ursprünglichste Form der Gefühlsbindung ist; unter den Verhält nissen der Symptombildung, also der Verdrängung, § 446§ 447
70 _ Massenpsychologie und Ich-Analyse
§ 448und der Herrschaft der Mechanismen des Unbe
wußten kommt es oft vor, daß die Objektwahl wie der zur Identifizierung wird, also das Ich die Eigen schaften des Objekts an sich nimmt. Bemerkenswert ist es, daß das Ich bei diesen Identifizierungen das eine Mal die ungehebte, das andere Mal aber die § 449geliebte Person kopiert. Es muß uns auch auffallen, .
§ 450daß beide Male die Identifizierung eine partielle,
§ 451höchst beschränkte ist, nur einen einzigen Zug von '
§ 452der Objektperson entlehnt.
§ 453' Es ist ein dritter, besonders häufiger und be
deutsamer Fall der Symptombildung, daß die Iden— tiiizierung vom Objektverhältnis zur kopierten Per son ganz absieht. Wenn z. B. eines der Mädchen im Pensionat einen Brief vom geheim Geliebten bekommen hat, der ihre Eifersucht erregt, und aui den sie mit einem hysterischen Anfall reagiert, so werden einige ihrer Freundinnen, die darum wissen, diesen Anfall übernehmen, wie wir Sagen,_ auf dem Wege der psychischen Infektion. Der Mechanismus ist der der Identifizierung auf Grund des" sich in dieselbe Lage" Versetzenkönnens oder Versetze_n , wollens. Die anderen möchten auch ein geheimes Liebesverhältnis haben und akzeptieren unter dem Einfluß des Schuldbewußtseins auch das damit.ver § 454‘-W‘ uülhne..i .» \. .
§ 455t;-_=_ "“?
§ 456§ 457
VII. Die Identifizierung. ' 71
§ 458bundene Leid. Es wäre unrichtig, zu behaupten,
sie eignen sich das Symptom aus Mitgefühl an. Im Gegenteil, das Mitgefühl entsteht erst aus der Iden tifizierung, und der Beweis hiefür ist, daß sich solche Infektion oder Imitation auch unter Umständen her stellt, .wo noch geringere vorgängige Sympathie zwischen beiden anzunehmen ist, als unter Pen-‘ sionsfreundinnen zu bestehen pflegt. Das eine Ich hat am anderen eine bedeutsame Analogie in einem Punkte wahrgenommen, in unserem Beispiel in der gleichen Gefühlsbereitschaft, es bildet sich darauf hin eine Identifizierung in diesem Punkte, und unter dem Einfluß der pathogenen Situation verschiebt sich diese Identifizierung zum Symptom, welches das eine Ich produziert hat. Die Identifizierung durch das Symptom Wird so zum Anzeichen für eine Deckungsstelle der beiden Ich, die Verdrängt gehalten werden soll. § 459Das aus diesen drei Quellen Gelernte können
wir dahin zusammenfassen, daß erstens die Iden tifizierung die ursprünglichste Form der Gefühle bindung an ein Objekt ist, zweitens daß sie auf regtess‘ivém Wege zum Ersatz für eine libidinöse Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion des Objekts ins Ich, und daß sie drittens bei jeder § 460§ 461
72 Massenpsychologie und IobAnalyse
§ 462neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer
Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, 'ent stehen kann. Je bedeutsamer diese Gemeinsamkeit ist, desto erfolgreicher muß diese partielle Identi fizierung werden können und so dem Anfang einer neuen Bindung entsprechen. § 463Wir ahnen bereits, daß die gegenseitige Bin
dung der Massenindividuen' von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Ge meinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer. Eine andere Ahnung kann uns sagen, daß wir weit davon entfernt sind, das Problem der Iden tifizierung erschöpft zu haben, daß wir vor dem Vorgang stehen, den. die Psychologie „Einfühlung“ heißt, und der den größten Anteil an unserem Ver ständnis für das Ichfremde anderer Personen hat, Aber wir wollen uns hier auf die nächsten affektiven Wirkungen der Identifizierung beschränken und ihre Bedeutung für unser intellektuelles Leben bei seite lassen. ' _ § 464Die psychoanalytische Forschung, die ge—
legentlich auch schon die schwierigeren Probleme der Psychosen in Angriff genommen hat, konnte uns auch die Identifizierung in einigen anderen Fällen § 465"Aug-_l„ 't' ' "
§ 466§ 467
VII. Die Identifizierung 73
§ 468aufzeigen, die unserem Verständnis nicht ohne wei
teres zugänglich sind. Ich werde zwei dieser Fälle äls Stoff für unsere weiteren Überlegungen ausführ— § 469lich behandeln. '
Die Genese der männlichen Homosexualität ist § 470in einer großen Reihe von Fällen die folgende: Der
junge Mann ist ungewöhnlich lange und intensiv im Sinne des Ödipuskomplexes an seine Mutter fixiert gewesen. Endlich kommt doch nach vollen deter Pubertät die Zeit, die Mutter gegen ein anderes Sexualobjekt zu vertauschen. Da geschieht eine plötz liche Wendung; der Jüngling verläßt nicht seine Mutter, sondern identifiziert sich mit ihr, er wandelt sich in sie um und sucht jetzt nach Objekten, die ihm sein Ich ersetzen können, die er so lieben und pflegen kann, wie er es von der Mutter erfahren hatte. Dies ist ein häufiger Vorgang, der beliebig oft bestätigt werden kann und natürlich ganz un? abhängig' von jeder Annahme ist, die man über die organische Triebkraft und. die Motive jener plötz— lichen Wandlung macht. Auffällig ‘an dieser Iden tifizierung ist ihre Ausgiebigkeit, sie wandelt das Ich in einem höchst wichtigen Stück, im Sexual charakter, nach dem Vorbild des bisherigen Objekts um. Dabei wird das Objekt selbst aufgegeben, ob § 471§ 472
74 Massenpsychologie und ich-Analyse
§ 473durchaus oder nur in dem Sinne, daß es im _Un- ,
§ 474bewußtexr erhalten bleibt, steht hier außer Diskus
sion. Die Identifizierung mit dem aufgegebenen oder. verlorenen Objekt zum Ersatz desselben, die Intro jektion dieses Objekts ins Ich, ist für uns allerdings keine Neuheit mehr. Ein solcher Vorgang läßt sich gelegentlich am kleinen Kind unmittelbar beobach _ ten. Kürzlich wurde in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse eine solche Beobachtung ver öffentlicht, daß ein Kind, das unglücklich über den Verlust eines Kätzchens war, frischweg erklärte, es sei jetzt selbst das Kätzchen, dem entsprechend auf allen Vieren kroch, nicht am Tische essen wollte usw.‘ , § 475Ein anderes Beispiel von solcher Introjektion
des Objekts hat uns die Analyse der Melancholie gegeben, welche Afiektion ja den realen oder aiiek tiven Verlust des geliebten Objekts unter ihre auf . iälligsten Veranlassungen zählt. Ein Hauptcharakter dieser Fälle ist die grausame Selbstherabsetzung des Ichs in Verbindung mit Schonungsloser Selbstkritik und bitteren :Selbstvorwürien. Analysen haben er geben, daß diese Einschätzung und diese Vorwürfe § 476_ ’ Ma-rkuszewiez. Beitrag zum autlätischen Denken bei
Kindern. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, VI., 1920. § 477§ 478
VII. Die Identifizierung 75
§ 479im Grunde dem Objekt gelten und die Rache des
Ichs an diesem darstellen. Der Schatten des Objekts ist auf das Ich gefallen, sagte ich an anderer Stelle. Die Introjektion des Objekts ist hier von unverkenn § 480barer Deutlichkeit.‘
' Diese Melancholien zeigen uns aber noch etwas § 481anderes, was für unsere späteren Betrachtungen
wichtig werden kann. Sie zeigen uns das Ich ge teilt, in zwei Stücke zeriällt, von denen das eine gegen das andere wütet. Dies—andere Stück ist das durch Introjektion veränderte, das das verlorene Objekt einschließt. Aber auch das Stück, das sich so grausam betätigt, ist uns nicht unbekannt. Es schließt das Gewissen ein, eine kritische Instanz im Ich, die sich auch in normalen Zeiten dem Ich kritisch gegénübergestellt hat, nur niemals so unerbittlich und so ungerecht. Wir haben schon bei früheren Anlässen die Annahme machen müssen (Narzißmus, Trauer und Melancholie), daß sich in unserem Ich eine solche Instanz entwickelt, welche sich vom an deren Ich absondern und in Konflikte mit ihm ge raten kann. Wir nannten sie das „Ichideal“ und schrieben ihr an Funktionen die Selbstbcobachtung, das moralische Gewissen, die Traumzensur und den Haupteiniluß bei der Verdrängung zu. Wir sagten, § 482§ 483
76 Massenpsychologie und ish-Analyse
§ 484sie sei der Erbe des ursprünglichen Narzißmus, in
' dem das kindliche Ich sich selbst genügte. Allmäh lich nehme sie aus den Einflüssen der Umgebung die Anforderungen auf, die diese an das Ich stelle, denen das Ich nicht immer nachkommen könne, so daß der Mensch, wo er mit seinem Ich selbst nicht zufrieden sein kann, doch seine Befriedigung in dem aus dem Ich differenzierten Ichideal finden dürfe. Im Beobachtungswahn, stellten wir ferner fest, werde der Zerfall dieser Instanz offenkundig und dabei ihre Herkunft aus den Einflüssen der Autori täten, voran der Eltern, aufgedeckt*. Wir haben aber nicht vergessen anzuführen, daß das Maß der Ent fernung dieses Ichideals vom aktuellen Ich für das einzelne Individuum sehr variabel ist, und daß bei vielen diese Differenzierung-innerhälb des Ichs nicht weiter reicht als beim Kinde. _ § 485‘ Ehe wir aber diesen Stoff zum Verständnis der
‘ libidinösen Organisation einer Masse verwenden können, müssen wir einige andere der Wechsel beziehungen zwischen Objekt und Ich in Betracht ziehen. § 486Wir wissen sehr gut, daß wir mit diesen der Patho
logie entnommenen Beispielen das Wesen der Identi— § 487"‘ Zur Einführung des Narzißmus. !. c.
§ 488§ 489
VII. Die Identifizierung 77
§ 490fizierung nicht erschöpft haben und 30mit am Rätsel der
‘ Massenbildung ein Stück unangerührt lassen. Hier müßte eine viel gründlichere und mehr umfassende psycho logische Analyse eingreifen. Von der Identifizierung führt ein Weg über die Nachahmung zur Einfühlung, d. h. zum Verständnis des Mechanismus, durch den uns überhaupt eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenlehcn er möglicht wird. Auch an den Äußerungen einer bestehen den Identifizierung ist noch vieles aufzuklären. Sie hat unter anderem die Folge, daß man die Aggression gegen die Person, mit der" man sich identifiziert hat, einschränkt, sie verschont und ihr Hilfe leistet. Das Studium solcher Ideütifizierungen, wie sie z’.‘ B. der Clang9meinschaft zugrunde liegen, ergab Robertson Smith das überraschende Resultat, daß sie auf der Anerkennung einer gemeinsamen Substanz beruhen (Kinship and Mar— riage, 1885), daher auch durch eine gemeinsam genom mene Mahlzeit geschaffen werden können. Dieser Zug gestattet es, eine solche Identifizierung mit der von mir in „Totem und Tabu“ konstruierten Urgeschichte der menschlichen Familie zu verknüpfen. § 491§ 492
VIII.
Verliebthelt und Hypnose. § 493Der Sprachgebrauch bleibt selbst in seinen
Launen irgend einer Wirklichkeit treu. So nennt er zwar sehr mannigialtige Geiiihlsbéziehüngen„l.iebe“, die mein wir theoretisch als Liebe zusammenfassen, ”zweifelt aber dann wieder, ob diese Liebe die eigent— liche, richtige, wahre sei, und delitet so auf eine ganze Shiienleiter vc'>_n Möglichkeiten inwrhalb der Liebes phänomene hin. Es Wird uns auch nicht schwer, die— selbe in der Beobachtung aufzufinden. § 494In einer Reihe von Fällen ist die Verliebtheit
nichts anderes als Objektbesetzung von seiten der Sexualtriebe zum Zweck der direkten Sexualbefrie digung, die auch mit der Erreichung dieses Zieles erlischt; das ist das, was man die gemeine, sinnliche Liebe heißt. ‘Äber wie bekannt, bleibt die libidinöse Situation selten so einfach. Die Sicherheit, mit der man'aui das Wiedererwachen des eben erloschenen § 495§ 496
' VIII. Verliehthelt und Hypnose 79
§ 497Bedürfnisses rechnen konnte, muß wohl das nächste
Motiv gewesen sein, dem. Sexualobjekt eine dauernde Besetzung zuzuwenden, es auch in den begierde § 498freien Zwischenzeiten zu „lieben“.
Aus der sehr merkwürdigen Entwicklungs § 499geschichte des menschlichen Liebeslebens kommt ein
zweites Moment hinzu. Das Kind hatte, in der ersten, mit fünf Jahren meist schon abgeschlossenen Phase in einem Elternteil ein erstes Liebesobjekt gefunden, auf welches sich alle seine Befriedigung heischenden Sexualtriebe vereinigt hatten. Die dann eintretende Verdrängung erzwang den Verzicht auf die meisten dieser kindlichen Sexualziele und hinterließ eine tief greiiende Modifikation des Verhältnisses zu den Eltern. Das Kind blieb iernerhin an die Eltern ge bunden, aber mit Trieben, die man „zielgehemmte“ nennen muß. Die Gefühle, die es von nun an für diese geliebten Personen empfindet, werden als „zärtliche“ bezeichnet. Es ist bekannt, daß im Un bewußten die früheren „sinnlichen“ Strebungen mehr oder minder stark erhalten bleiben, so daß die ursprüngliche Vollströmung in gewissem Sinne weiterbesteht“. § 500Mit der Pubertät setzen bekanntlich neue sehr
§ 501" S. Sexualtheorie l. c.
6. § 502§ 503
'80 Massenmsvubhlozle md [dt-Analyse
§ 504intensive Strebungen nach den direkten Sexualzielen
an. In ungünstigen Fällen bleiben sie als sinnliche Strömung von den fortdauernden „zärtlichen“ Ge iühlsrichtungen geschieden. Man hat dann das Bild vor sich, dessen beide Ansichten von gewissen Rich - tungen der Literatur so gerne idealisiert werden. Der Mann zeigt schwärmerische Neigungen zu hoch geachteten Frauen, die ihn ,aber zum Liebesverkehr nicht reizen, und ist nur patent gegen andere Frauen, die er nicht „liebt“, geringschätzt oder selbst ver achtet ". Häufiger indes gelingt dem Heranwachsen den ein gewisses Maß von Synthese der unsinn lichen, himmlischen und der sinnlichen, irdischen Liebe, und ist sein Verhältnis zum Sexualobjekt durch das ZusammenWirken vgn--urrgehefl1hiteii ,mit zielgehemrnten Trieben gekennzeichnet. Nach dem Beitrag der zielgehemmten Zärtlichkeitstriebe kann man die Höhe der Verliebtheit im Gegensatz zum bloß sinnlichen Begehren bemessen. § 505Im Rahmen dieser verliebtheit ist uns von An
fang an dasPhänomen der Sexualüberschätzung auf gefallen, die Tatsache, daß das geliebte Objekt eine gewisse Freiheit von der Kritik genießt, daß alle § 506* Uber die allg'enreinste Erniedrigaung des Liebesleben Samm
lung, 4. Folse._l918. § 507§ 508
VIII. Verliebtheit und Hypnose 81
§ 509seine Eigenschaften höher eingeschätzt werden als
die ungeliebter Personen oder als zu einer Zeit, da es nicht geliebt wurde. Bei einigermaßen wirksamer Verdrängung oder Zurücksetzungl der' sinnlichen Strebungen kommt die Täuschung zustande, daß das ' Objekt seiner seelischen Vorzüge wegen auch sinn lich geliebt wird, während umgekehrt erst das sinn liche Wohlgeiallen ihm diese Vorzüge verliehen haben mag. § 510Das Bestreben, welches hier das Urteil iälscht,
ist das der Id e alisj e ru n g. Damit ist uns aber - die Orientierung erleichtert; wir erkennen, daß das § 511Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich, daß also
in der Verliebtheit ein größeres Maß narzißtischer Libido auf das Objekt überfließt. Bei manchen For men der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, daß das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Voll— kommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzißrnus verschaffen möchte. § 512Nehmen Sexualüberschätzung und Verliebtheit
noch weiter zu, so wird die Deutung des Bildes immer unverkennbarer. Die auf direkte Sexualbefrie digung drängenden Strebungen können nun ganz § 513§ 514
82 Massenssyclwlozie und Ida—Analyse
§ 515zurückgedrängt werden, wie es z. B, regelmäßig
bei der schwärmerischen Liebe des jünglings ge schieht; das Ich wird immer anspruchsloser, beschei dener, das Objekt immer großartiger, wertvoller; es gelangt schließlich in den Besitz der gesamten Selbstliebe des Ichs, so daß dessen Selbstau’t'opferung zur natürlichen Konsequenz wird. Das Objekt hat das Ich sozusagen aufgezehrt. Züge von Demut, Einschränkung des Narzißmus, Selbstschädigung sind in jedem Falle von Verliebtheit vorhanden; im _ extremen Falle werden sie nur gesteigert und durch das Zurücktreten der sinnlichen Ansprüche bleiben _ ' sie alleinherrschend. § 516Dies ist besonders leicht bei unglücklicher, un
erfüllbarer Liebe der Fall, da bei jedersemellen Be friedigung doch die Sexualüberschätzung immer wieder eine Herabsetzung erfährt. Gleichzeitig mit dieser „I-Iingabe“ des Ichs an das Objekt, die sich von der sublimierten Hingabe an eine abstrakte Idee schon nicht mehr unterscheidet; 'versagen die dem Ichideal zugeteilten Funktionen gänzlich. Es schweigt die Kritik, die von dieser Instanz ausgeübt wird; alles was das Objekt tut und fordert, ist recht und untadelhait. Das Gewissen findet keine Anwendung auf alles, was zugunsten des Objekts geschieht; § 517§ 518
VIII. Von-liebtheit und Hypnose 83
§ 519in der Liebesverblendung wird man reuelos zum
Verbrecher. Die ganze Situation läßt sich restlos in eine Formel zusammenfassen; D a s 0 b j e k t h at sich an die Stelle des Ichideals ge setzt ' § 520Der Unterschied der Identifizierung von der
Verliebtheit in ihren höchsten Ausbildungen, die man Faszination, verliebte Hörigkeit heißt, ist nun leicht zu beschreiben. Im ersteren Falle hat sich das Ich um die Eigenschaften des Objekts bereichert, sich § 521dasselbe nach F e r e n e 2 PS Ausdruck „introji— ;
ziert“; im zweiten Fall ist es verarmt, hat sich dem _ Objekt hingegeben, dasselbe an die Stelle seines {_ § 522wichtigsten Bestandteils gesetzt. Indes merkt man
bei näherer Erwägung bald, daß eine solche Dar stellung Gegensätze vorspiegelt, die nicht bestehen. Es handelt sich ökonomisch nicht um Verarmui1g § 523oder Beréicher-ung, man kann auch die extreme Ver-'
§ 524liebtheit so beschreiben, daß das Ich sich das Objekt
introjiziert habe. Vielleicht trifft eine andere Unter scheidung eher das Wesentliche. Im Falle der Iden tifizierung ist das Objekt verloren gegangen oder aufgegeben worden; es wird dann im Ich wieder aufgerichtet, das Ich verändert sich partiell nach dem Vorbild des verlorenen Objekts. Im anderen Falle § 525§ 526
84 Massenpsych'btogie und IohäAnaiyse
§ 527ist das Objekt erhalten geblieben und wird als sol
ches von seiten und auf Kosten des Ichs überbesetzt. - Aber auch hiegegen erhebt sich ein Bedenken. Steht es denn fest, daß die Identifizierung das Aufgeben der Objektbesetzung voraussetzt, kann es nicht Identifizierung bei erhaltenem Objekt geben? Und ehe wir uns in die Diskussion dieser heikeln Frage einlassen, kann uns bereits die Einsicht aufdämmem, daß eine andere -Alternaüvedas Wesen dieses Sach verhalte in sich faßt, nämlich 0 b d a s 0 bj ekt an die Stelle des Ichs oder des Ichideals gesetztwird. . Von der Verliebtheit ist offenbar kein weiter Schritt zur Hypnose. Die Übereinstimmungen beider sind augenfällig. Dieselbe demiitige Unterwerfrmg Gefügigkeit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur wie gegen das geliebte Objekt. Dieselbe Aufsaugung der eigenen Initiative; kein Zweifel, der Hypnotiseur ist an die Stelle des lchideals getreten. Alle Verhält nisse sind in der Hypnose nur nach deutlicher und gesteigerter, so daß es zweckmäßiger wäre, die Ver liebtheit durch ' die Hypnose zu erläutern als um gekehrt. Der Hypnotiseur ist das, einzige Objekt, kein anderes wird neben ihm beachtet. Daß das Ich traumhaft erlebt, was er fordert und behauptet, § 528-' .-.-v,'—lüLH.-ä M....u-g'S. - -..'. .
§ 529§ 530
VIII. Verliebtheit und Hypnose 85
§ 531mahnt uns daran, daß wir verabsäumt haben, unter
den Funktionen des lchideals auch die Ausübung der Realitätsprüfung zu erwähnen‘. Kein Wunder, daß das Ich eine Wahrnehmung für real hält, wenn die sonst mit der Aufgabe der Realitätsprüiung betraute psychische Instanz sich für diese Realität einsetzt. Die völlige Abwesenheit von Strebungen mit un gehemmten Sexualzielen trägt zur extremen Reinheit der Erscheinungen weiteres bei. Die hypnoüsche Beziehung ist eine uneingeschränkte verliebte Hin gabe bei Ausschluß sexueller Befriedigung, während eine solche bei. der Verliebtheit doch nur zeitweilig zurückgeschoben ist und als Spätere Zielmöglichkeit im Hintergrunde verbleibt. § 532Anderseits können wir aber auch sagen, die
hypnotische Beziehuhg sei — wenn dieser Ausdruck gestattet ist — eine Massenbildung zu zweien. Die Hymose ist kein gutes Vergleichsobjekt mit der Massenbildung, weil sie irielmehr mit dieser identisch ist. Sie isoliert uns aus dem komplizierten Gefüge der Masse ein Element, das Verhalten des Massen individuuins zum Führer. Durch diese Einschrän kung der Zahl scheidet sich die Hypnose von der § 533‘ S. Metapsycholngische Ergänzung zur Traumlehre. Samm
lung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Vierte Folge. 1918. § 534§ 535
86 ’ Massenpsychologie und Ich-Analyse
§ 536Massenbildung, wie durch den Wegfall der direkt
sexuellen Strebungen von der Verliebtheit. Sie hält insoferne die Mitte zwischen beiden. § 537Es ist interessant zu sehen, daß gerade die ziel
gehemmten Sexualstrebungen so dauerhafte Bindun gen der Menschen aneinander erzielen. Dies versteht sich aber leicht aus der Tatsache, “daß sie einer vollen Befriedigung nicht fähig sind, während ungehemmte Sexuals‘trebungen durch die Abfuhr bei der Errei chung des jedesmaligen Sexualziels eine außer ordentliche Herabsetzung erfahren. Die sinnliche Liebe ist dazu bestimmt, in der Befriedigung zu erlöschen; um andauern zu können, muß sie mit rein zärtlichen, d. h. zielgehemrhten Komponenten von Anfang an versetzt sein oder eine solche Um— § 538'setzung erfahren. > ' '
§ 539Die Hypnose würde uns das Rätsel der libidi
nöse_n Konstitution einer Masse glatt lösen, wenn sie selbst nicht noch Züge enthielte, die sich der bis herigen rationellen Aufklärung ‘— als Verliebtheit bei Ausschluß direkt sexueller Strebungen --— ent ziehen. Es ist noch vieles an ihr als unv'erstanden, als mystisch anzuerkennen. Sie enthält einen Zusatz von Lähmung aus dem Verhältnis eines Übermäch tigen zu einem Ohnmächtigen, Hilflosen, was etwa § 540§ 541
VIII. Verliebthelt und Hypnose 87
§ 542zur Schreckhypnose der Tiere überleitet. Die Art,
wie sie erzeugt wird, ihre Beziehung zum Schlaf, sind nicht durchsichtig, und die rätselhaite Auswahl von Personen, die sich für sie eignen, während an dere sie gänzlich ablehnen, weist auf ein noch un bekanntes Moment hin, welches in ihr. verwirklicht wird, und das vielleicht erst die Reinheit der Libido einstellungen in ihr ermöglicht. Beachtenswert ist auch, daß häufig das moralische Gewissen der hyp notisierten Person sich selbst bei sonst voller sug— gestiver Geiügigkeit resistent zeigen kann. Aber das mag daher kommen, daß bei der Hypnose, wie sie zumeist geübt wird, ein Wissen erhalten geblieben sein kann, es handle sich nur um ein Spiel, eine un wahre Reproduktion einer anderen, weit lebens wichtigeren Situation. . § 543Durch die bisherigen Erörterungen sind wir
aber voll darauf vorbereitet, die Formel für die libidinöse Konstitution einer Masse anzugeben. Wenigstens einer solchen Masse, wie wir sie bisher betrachtet haben, die also einen Führer hat und nicht durch allzu viel „Organisation“ sekundär die Eigen , schaften eines Individuums erwerben konnte. Ein e solche prir'näre Masseist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe § 544§ 545
88 Massenpswhologle und Ich-Analyse
§ 546Objekt an die Stelle ihreslchidea’ls
gesetzt und sich infolgedessen in ihremlch miteinander identifiziert h a b e 11. Dies Verhältnis läßt eine graphische Dar stellungzu: § 547.[chid'eal _ Ich 0biek'.
‘ °“ \ ‘ \ äußeres § 548.-_
§ 549>
§ 550!
§ 551|
§ 552I
§ 553| I
§ 554| f
§ 555| I
§ 556l'
§ 557: l
§ 558'I
§ 559|; o
§ 560, s.
§ 561" a
.. § 562_-—
,> \ \ \ \ \ \ \ \ § 563§ 564
[X.
§ 565Der Herdentrieb.
§ 566Wir werden uns nur kurze Zeit der Illusion
freuen, durch diese Formel das Rätsel der Masse gelöst zu habeanlsbald muß uns die Mahnung beunruhigen, daß wir ja im wesentlichen die Ver weisung auf das Rätsel der Hypnose angenommen haben, an dem so vieles noch unerledigt ist. Und nun zeigt uns ein anderer Einwand den weiteren Weg. _ Wir dürfen uns sagen, die ausgiebigen affek tiven Bindungen, die_.wir in der Masse erkennen, reichen voll aus, um einen ihrer Charaktere zu er—. klären, den Mangel an Selbständigkeit und Initiative beim Einzelnen, die Gleichariigkeit seiner Reaktion mit der aller anderen, sein Herabsinken zum Massen individuum sozusagen. Aber die Masse zeigt, wenn wir sie als Ganzes ins Auge fassen, mehr; die Züge von Schwächung der intellektuellen Leistung, von § 567§ 568
90 Massenpsyohologie und Ich-Analyse
§ 569Ungeherhmtheit der Affektivität, die Unfähigkeit zur
Mäßigung und zum Aufschub, ,die Neigung zur Überschreitung aller Schranken in der Gefühls äußerqu und zur vollen Abiuhr derselben in Hand lung, dies und alles Ähnliche, was wir bei L e B o 11 so eindrucksvoll geschildert finden, ergibt ein un verkennbares Bild von Regression der seelischen Tätigkeit auf eine frühere Stufe, ' wie wir _sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sind. Eine solche Regression gehört insbesondere zum Wesen der gemeinen Massen, während sie, wie wir gehört haben, bei hoch organisierten, künst lichen weitgehend hintangehalten werden kann. Wir erhalten so den Eindruck eines Zustandes“, in dem die vereinzelte Gefühls‘regung und 'der per— sönliche intellektuelle Akt ' des Individuums' zu schwach sind, um sich allein zur Geltung zu brin gen, und durchaus auf Bekrättigung durch gleich artige Wiederholung von seiten der anderen warten müssen. Wir werden daran erinnert, wieviel Von diesen Phänomenen der Abhängigkeit zur normalen Konstitution der menschlichen Gesellschaft gehört, wie wenig Originalität und persönlicher Mut sich in ihr findet, wie sehr jeder Einzelne durch die Ein stellungen einer Massenseele beherrscht wird, die § 570- - ng"
' a» § 571§ 572
IX. Der Herden-trieb 91
§ 573sich als Rasseneigentümlichkeiten, Standesvorurteile,
öffentliche Meinung u. dgl. kundgeben. Das Rätsel des suggestiven' Einflusses vergrößert sich für uns, wenn wir zugeben, daß ein solcher nicht allein vom Führer, sondern auch von jedem Einzelnen auf jeden Einzelnen geübt wird, und wir machen uns den Vor wurf, daß wir die Beziehung zum Führer einseitig herausgehoben, den anderen Faktor der gegenseiti gen Suggesfion aber ungehührend zurückgedrängt haben. § 574Auf solche Weise zur Bescheidenheit gewiesen,
werden wir geneigt sein, auf eine andere Stimme zu horchen, welche uns Erklärung auf einfacheren Grundlagen verspricht. Ich entnehme eine solche dem klugen Buch von W. Trotter über den Herdentrieb, an dem ich nur bedäuere, daß es sich den durch den letzten großen Krieg entfesselten Anflp'a'thien nicht ganz entzogen hat*. § 575T r o t t e r leitet die an der Masse beschriebe
nen seelischen Phänomene von einem Herdeninstinkt (gregariousness) ab, der dem Menschen wie anderen Tiérarten angeboren zukommt. Diese Herden- _ haftigkeit ist biologisch eine Analogie und gleich- ' § 576‘ W. Trotter. Instlncß of the. Herd in Peace and War.
London 1916. § 577§ 578
92 Massenpsychologie und IchAA'maiyse
§ 579sam eine Fortführung der Vielzelligkeit, im
Sinne der Libidotheorie eine weitere Äußerung der von der Libido ausgehenden Neigung aller gleichartigeir Lebewesen, sich zu immer umfassen deren Einheiten zu vereinigen". Der Einzelne fühlt sich unvollständig (incemplete), wenn er allein ist. Schon die Angst des kleinen Kindes seigeine Äuße rung dieses Herdeninstinkts. Widerspruch gegen die Herde ist soviel wie Trennung von ihr und wird darum angstvoll vermieden. Die Herde lehnt aber alles Neue, Ungewohnte ab. Der Herdeninstinkt sei etwas Primäres, nicht weiter Zerlegbares (which cannot be split up). ‘ _ _ _ § 580Trotter gibt als die Reihe der,von ihm als
primär angenommenen Triebe (oder *lnstinkte):— den Selbäbehauptungs-, ‘Ernährungsfi .Geschlechts- und § 581Herdenirieb. Der letztere gerate oft in die Lage, sich
§ 582den anderen gegenüberzustellen. Schuldbewußtsein
und Pflichtgeiühl seien die charakteristischen Besitz tiimer eines gregarious animal. Vom Herdeninstinkt läßt T r o t t e r auch die verdrängenden Kräfte aus gehen, weiche die Psychoanalyse im Ich aufgezeigt hat, und folgerichtig gleicherweise die Widerstände, § 583" Siehe meinen Aufsatz: Jenseits des Lustnrinzlps. Beih‘eft II
zur Internationalen Zeitschrift tür Psychoanalyse, VI., 1920 § 584§ 585
IX. Der Herdentrieb 93
§ 586auf welche der Arzt bei der psychoanalytischen Be
handlung stößt. Die Sprache verdanke ihre Bedeu— tung ihrer Eignung zur gegenseitigen Verständi gung in der Herde, auf ihr beruhe zum großen Teil die Identifizierung der Einzelnen miteinander. § 587Wie L e B o 11 vorwiegend die charakteristischen
flüchtigen Massenbildungen und M C D o u g all die stabilen Vergesellschaitungen, so hat T r o t t e r die allgemeinsten Verbände, in denen der Mensch, dies 5öov arokwmöv lebt, in den Mittelpunkt seines Interesses gerückt und deren psychologische Be gründung angegeben. Für T r ot t e r bedarf es aber keiner Ableitung des Herdentriebes, da er ihn als primär und nicht weiter auflösbar bezeichnet. Seine Bemerkung, B ofis Sidis leite den Herdentrieb von derSuggestibilität ab, ist zum Glück für ihn über flüssig; es ist eine Erklärung nach bekanntem, un befriedigendem Muster, und die Umkehrung dieses Satzes, also daß die Suggestibilität ein Abkömmling des Herdeninstinkts sei, erschiene mir bei weitem einleuchtender. § 588Aber gegen T r o tt e r 5 Darstellung läßt sich
mit noch besserem Recht als gegen die anderen ein wenden, daß sie auf die Rolle des Führers in der § 589Masse zu wenig Rücksicht nimmt, während wir doch
7 § 590§ 591
94 Massenmycholngie und Ich-Analyse
§ 592eher zum gegenteiligen Urteil neigen, daß das Wesen
der Masse bei Vernachlässigung des Führers nicht zu begreifen sei. Der Herdeninstinktläßt überhaupt für den. Führer keinen Raum, er kommt nur so zu— fällig zur Herde hinzu, und im Zusammenhange damit steht, daß von diesem Trieb aus auch kein Weg zu einem Gottesbedürinis führt; es fehlt der Hirt zur Herde. Außerdem aber kann man "Fr 0 t te r s Darstellung psychologisch untergraben, d. h. man kann_es zum mindesten wahrscheinlich machen, daß der Herdentrieb nicht unzerlegbar, nicht in dem Sinne primär ist wie der Selbsterhaltungstrieb und der Geschlechtstrieb. § 593Es ist natürlich nicht leicht, die Ontogenese des
Herderitriebes zu verfolgen. Die Angst deskleinen Kindes, wenn es allein gelassen“ wird, die T r o t t e r bereits als Äußerung des Triebes in Anspruch neh men Will, legt doch eine andere Deutung näher. Sie, gilt der Mutter, später anderen vertrauten Personen und ist der Ausdruck einer uneriüllten Sehnsucht, mit der das Kind noch nichts anderes anzufangen weiß, als sie in Angst zu verwandeln“. Die Angst des einsamen kleinen Kindes wird auch nicht durch § 594' Siehe Vorlesungen zur Einführung _in die Psychoanalyse. über
die Angst. § 595§ 596
IX. Der Hendentrieb 95
§ 597den Anblick eines beliebigen anderen „aus der
Herde“ beschwichtigt, sondern im Gegenteil durch das Hinzukommen eines solchen „Fremden“ erst hervorgerufen. Dann merkt man beim Kinde lange nichts von einem Herdeninstinkt oder Massengeiühl. Ein solches bildet sich zuerst in der mehrzähligen Kinderstube aus dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern, und zwar als Reaktion auf den anfänglichen Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere aufnimmt. Das ältere Kind möchte gewiß das .nachkommende eiiersiichtig verdrängen, von den Eltern fernhalten und es aller Anrechte.berauben, aber angesichts der Tat sache, daß au'ch dieses Kind — wie alle späteren — in gleicher Weise von den Eltern geliebt wird, und infolge der Unmöglichkeit, seine feindselige Einstel lung ohne eigenen Schaden festzuhalten, wird es zur Identifizierung mit den anderen Kindern gezwungen, und es bildet sich in der Kinderschar ein Massen oder Gemeinschaftsgeiühl, welches dann in der Schule seine weitere Entwicklung erfährt. Die erste Forderung dieser Reaktionsbildung ist die nach .Gerechtigkeit, gleicher Behandlung für alle. Es ist bekannt, wie laut und unbestechlich sich dieser An spruch in der Schule äußert. Wenn man schon selbst § 598nicht der Bevorzugte sein kann, so soll doch wenig
7. § 599§ 600
96 Massenpsychologl-e nnd Ioh-Ana-ly'se
§ 601stens keiner von allen bevorzugt werden. Man
könnte diese Umwandlung und Ersetzung der Eifer sucht durch ein Massengefühl in Kinderstube und Schulzimmer für unwahrscheinlich halten, wenn man nicht den gleichen Vorgang später unter anderen Verhältnissen neuerlich beobachten würde. Man denke an die Schar von schwärmerisch verliebten Frauen und Mädchen, die den Sänger oder Pianisten , nach seiner Produktion umdrängen. Gewiß läge es jeder von ihnen nahe, auf die andere eifersüchtig zu sein, allein angesichts ihrer Anzahl und der damit verbundenen Unmöglichkeit, das Ziel ihrer Verliebt heit. zu erreichen, verzichten sie darauf, und anstatt sich gegenseitig die Haare auszuraut'en, handeln sie wie eine einheitliche Masse, huldigen dem Gäeierten in gemeinsamen Aktionen und wären etwa froh, sich in seinen Lockenschmuck zu teilen. Sie haben sich, ursprünglich Rivalinnen, durch die gleiche Liebe zu dem nämlichén Objekt miteinander identifizieren können. Wenn eine Triebsituation, wie ja gewöhn lich, verschiedener Ausgänge iähig ist, so werden wir uns nicht verwundern, daß jener Ausgang zu- ' .stande kommt, niit dem die Möglichkeit einer ge wissen Befriedigung verbunden ist, während ,ein anderer, selbst ein näher liegender, unterbleibt, § 602§ 603
IX. Der Hemdentrieb 97
§ 604weil die realen Verhältnisse ihm die Erreichung
dieses Zieles versagen. § 605Was man dann später in der Gesellschaft als
Gemeingeist, esprit de corps usw. wirksam findet, verleugnet nicht seine Abkunit vom ursprünglichen Neid. Keiner soll sich hervortun wollen, jeder das gleiche sein und haben. Soziale Gerechtigkeit will bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit - auch die anderen darauf-verzichten müssen, oder was dasselbe ist, es nicht fordern können. Diese Gleich heitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewis sens und des Pflichtgeiühls. In unerwarteter Weise enthüllt sie sich in der Iniektionsangst der Syphi litiker, die wir durch die Psychoanalyse verstehen gelernt haben. Die Angst dieser Armen entspricht ihrem -héftigen Sträuben gegen den unbewußten Wunsch, ihre Infektion auf die anderen auszubreiten, denn warum sollten sie allein infiziert und von so vielem ausgeschlossen sein und die anderen nicht? Auch die schöne Anekdote vom Urteil Salomonis hat denselben Kern. Wenn der einen Frau das Kind gestorben ist, soll auch die andere kein lebendes haben. An diesem Wunsch wird die Verlustträgerin erkannt. § 606§ 607
98 ’ Massenmyntmlozie und lnh-Analvse
§ 608Das soziale Gefühl ruht also auf der Umwen
dung eines erst feindseligen Gefühls in eine positiv betonte Bindung von der Natur einer Identifizierung. Soweit wir den Hergang bis jetzt durchschauen kön nen, scheint sich diese Umwendung unter dem Ein fluß einer gemeinsamen zärtlichen Bindung an eine außer der Masse stehende Person zu vollziehen. Unsere. Analyse der Identifizierung erscheint uns selbst nicht als erschöpfend, aber unserer gegen § 609wärtigen Absicht genügt es, wenn wir auf den
§ 610einen Zug, daß die konsequente Durchführung der
Gleichstellung gefordert wird, zurückkommen. Wir haben bereits bei der Erörterung der beiden künst § 611lichen Massen, Kirche und Armee, gehört, ihre Vor- _
§ 612aussetzun’g sei, daß alle von einem, dem Führer, in
gleicher Weise geliebt werden. Nun vergessen Wir aber nicht, daß die Gleichheitsiorderung'der- Masse nur für die Einzelnen derselben, nicht für den Führer gilt. Alle Einzelnen sollten einander gleich sein, aber alle wollen sie von einem beherrscht werden. Viele Gleiche, die sich miteinander identifizieren können, und ein einziger, ihnen allen Überlegener, das ist die Situation, die wir in der lebensfähigen Masse verwirklicht finden. Getrauen wir uns also, die Aus sage T r 0 tt e r’s, der Mensch sei ein H e r d e n § 613§ 614
IX. Der Herden-trieb . 99
§ 615tier,_ dahin zu korrigieren, er sei vielmehr ein
H o r d e n t i e r,. ein Einzelwesen einer von einem Oberhaupt angeführten Horde. § 616§ 617
X.
§ 618Die Masse und die Urhorde.
§ 619Im Jahre 1912 habe ich die Vermutung von
Ch. D a rw in aufgenommen, daß die Urtorm' der menschlichen Gesellschaft die von einem starken Männchen unumschränkt beherrschte Horde war. Ich habe darzulegen versucht, daß die Schicksale dieser Horde unzerstörbare Spuren in der mensch lichen Erbgeschichte hinterlassen haben, speziell, daß die Entwicklung des Totemismus, der die Anfänge von Religion, Sittlichkeit und sozialer Gliederung in sich laßt, mit der gewaltsamen Tötung des Ober hauptes und der Umwandlung der Vaterhorde in eine Brüdergemeinde zusammenhängt'. Es ist dies zwar nur eine Hypothese wie so viele andere, mit denen die Prähistoriker das Dunkel der Urzeit auf zuhellen versuchen — eine „just so story“ nannte sie § 620“‘ Totem und Tabu. 2. Autia:sze 1920.
§ 621t l
--.'..L1 § 622§ 623
X. Die Masse und die Urhorde 101
§ 624witzig-ein nicht unhebenswürdiger englischer Kri
tiker (K r o e g e r) — aber ich meine, es ist ehren voll für eine solche Hypothese, wenn sie sich ge eignet zeigt,lusammenhang und Verständnis auf immer neuen Gebieten zu schaffen. § 625Die menschlichen Massen zeigen uns wiederum
das vertraute Bild des überstarken Einzelnen in— mitten einer Schar von gleichen Genossen, das auch in unserer Vorstellung von der Urhorde enthalten ist. Die Psychologie dieser Masse, wie wir sie aus ' den oft erwähnten Beschreibungen kennen, — der Schwund der bewußten Einzelpersönlichkeit, die Orientierung Von Gedanken und Gefühlen nach glei chen Richtungen, die Vorherrschaft der Afiektivität und des unbewußten Seelischen, die Tendenz zur unverzüglichen Ausführung auftauchender Absich ten, +— das alles entspricht einem Zustand von Re gression zu einer primitiven Seelentätigkeit, wie "man sie gerade der Urliorde zuschreiben möchte. § 626Für die Urhorde muß insbesondere gelten, was wir
vorhin in der allgemeinen Charakteristik der Menschen beschrieben haben. Der Wille des Einzelnen war zu schwach, er getraute sich nicht der Tat. Es kamen gar keine anderen Impulse zustande als kollektive, es gab nur einen Gemeinwillen, keinen singulä'ren. Die Vorstel lung wagte es nicht, sich in Willen umzusetzen, wenn § 627§ 628
102 ' Massenpsyciholbgie und Ich-Anale
§ 629sie sich nicht durch die Wahrnehmung ihrer allgemeinen
Verbreitung gestärkt fand. Diese Schwäche der Vorstel lung findet ihre Erklärung in der Stärke der allen gemein samen Getühlsbindung, aber die Gleichartigkeit der Lebensumstände und das Fehlen eines privaten Eigen tums kommen hinzu, um die Gleichförmigkeit der seeli schen Akte bei den Einzelnen zu bestimmen; — Auch die exkreméntellen Bedürfnisse schließen, wie man an Kin dern und Soldaten merken kann, die Gemeinsamkeit nicht aus. Die einzige mächtige Ausnahme macht der sexuelle Akt, bei dem der Dritte zumindest überflüssig, im äußer sten Fall zu einem peinlichen Abwarten verurteilt ist. Über die Reaktion des Sexualbedürinisses (der Genital beiried-igung) gegen das Herdenhaite siehe unten. § 630Die Masse erscheint uns so als ein Wiederauf
leben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem Einzelnen virtuell erhalten ist, sokann sich aus einem beliebigen Menschenhaulen die Urhorde wieder her stellen; soweit die Massenbildung die Menschen habituell beherr3cht, erkennen wir den Fortbestand der Urhorde in ihr. Wir müssen schließen, die Psychologie der Masse sei die älteste Menschen psychologie; was wir unter Vernachlässigung aller Massenreste als Individualpsychologie isoliert haben, hat sich erst später, allmählich und sozusagen immer noch nur partiell aus der alten Massenpsychologie herausgehoben. Wir werden noch den Versuch § 631«‘n.
§ 632§ 633
X. Die Masse nur] die Urkunde 103
§ 634wagen, den Ausgangspunkt dieser Entwicklung
anzugeben. § 635Eine nächste Überlegung zeigt uns, in welchem
Punkt diese Behauptung einer Berichtigung bedarf. Die Individualpsychologie muß vielmehr ebenso alt sein wie dieMassenpsychologie, denn von Anfang “gab es zweierlei Psychologien, die der Massenindividuen und die des Vaters, Oberhauptes, Führers. Die Ein zelnen der Masse waren so gebunden, wie wir sie heute finden, aber der Vater der Urhorde war frei. Seine intellektuellen Akte waren auch in der Verein zelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte nicht der Bekräftigung durch den anderer. Wir neh men konsequenterweise an, “daß sein Ich wenig libidinös gebunden war, er liebte niemand außer sich, und die anderen nur insoweit sie seinen Bedürf nissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Objekte ab. § 636Zu Eingang der Menschheitsgeschichte war er
der Ubermensch, den Nietzsche erst von der Zukunft erwartete. Noch heute bedürfen die Massenindividuen der Vorspiegelung, daß sie in gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt werden, aber der Führer selbst braucht niemand anderen zu lieben, er darf von Herrennatur sein, § 637§ 638
104 Mass;enpsyohologie und Ich-Analyse
§ 639absolut narzißtisch, aber selbstsicher und selbstän
dig. Wir wissen, daß die Liebe den Narzißmus ein— dämmt und könnten nachweisen, wie sie durch diese Wirkung Kulturiaktor geworden ist. § 640Der Urvater der Horde war noch nicht un
sterblich, wie er es später durch Vergottung wurde. Wenn er starb, mußte er ersetzt werden; an seine Stelle trat wahrscheinlich ein jüngster Sohn, der bis dahin Massenindividuum gewesen war wie ein anderer. Es muß also eine Möglichkeit geben, die Psychologie der Masse in Individualpsychologie umzuwandeln, es muß eine Bedingung gefunden werden, unter der sich Solche Umwandlung leicht— vollzieht, ähnlich wie es den Bienen möglich ist, aus einer Larve im. Bedarfsfalle:eine Königin anstatt einer Arbeiterin zu ziehen. Man kann sich da nur dies eine vorstellen: Der Urvater hatte seine Söhne an der Befriedigung ihrer direkten sexuellen Stre bungen verhindert; er zwang sie zur Abstinenz und infolgedessen zu den Gefühlsbindungen an ihn und aneinander, die aus den Strebungen mit gehemmtem Sexualziel hervorgehen konnten. Er zwang sie sozu sagen in die Massenpsychologie. Seine sexuelle Eifer sucht und Intoleranz sind in letzter Linie die Ursache der Massenpsychologie geworden. § 641§ 642
X. Die Masse und die Urhorde ‘ 105
§ 643Es läßt sich etwa auch annehmen, daß die ver—V
triebenen Söhne, vom Vater getrennt, den Fortschritt von der Identifizierung miteinander zur homosexuellen Objekt— liebe machten und so die Freiheit gewannen, den Vater zu töten. § 644Für den, der sein Nachfolger wurde, war auch
die Möglichkeit der sexuellen Befriedigung gegeben und damit der Austritt aus den Bedingungen der Massenpsychologie eröffnet. Die Fixierung der § 645Libido an das Weib, die Möglichkeit der Befriedi
‘ gung ohne Aufschub und Aufspeicherung machte der Bedeutung zielgehemrnter Sexualstrebungen ein Ende und ließ den Narzißmus immer zur gleichen Höhe ansteigen. Auf diese Beziehung der Liebe zur Charakterbildung werden wir in einem Nachtrag zurückkommen. § 646Heben wir noch als besonders lehrreich hervor,
in welcher Beziehung zur Konstitution der Urhorde die veranstaltung steht, mittels deren eine künstliche Masse zusammengehalten wird. Bei,Heer ,und Kirche haben wir gesehen, es ist die Vorspiegelung, daß der Führer alle Einzelnen in gleicher und gerechter Weise liebt. Dies ist aber geradezu die idealistische Umarbeitung der Verhältnisse der Urhorde, in der sich alle Söhne in gleicher Weise vom Urvater' ver folgt wußten und ihn in gleicher Weise iürchteten. § 647§ 648
106 MassenmsYeholozle und Ich-Analyse
§ 649Schon die nächste Form der menschlichen Sozietät,
der _totemistische Clan, hat diese Umt'ormung, auf die alle sozialen Pflichten auigebaut sind, zur Vor aussetzung. Die unverwüstliche Stärke der Familie als einer natürlichen Massenbildung beruht darauf, daß diese notwendige Voraussetzung der gleichen Liebe des Vaters für sie wirklich zutreffen kann. § 650. Aber wir erwarten noch mehr von der Zurück
führ'ung der Masse auf die Urhorde. Sie soll uns auch das noch Unverstandene, Geheimnisvölle an der Massenbildung näher bringen, das sich hinter den Rätselworten Hypnose und Suggestion ver birgt. Und ich 'meine, sie kann es auch leisten. Er innern wir uns daran, daß die Hypnose etwas direkt Unheimliches an sich hat; der Charakter des Un ' hei'mlichen deüte’t aber auf etwas dei" Verdrängung veriallenes Altes und Wohlvertrautes hin ". Denken ,wir daran, wie die Hypnose eingeleitet wird. Der Hypnotiseur behauptet im Besitz einer geheimnis vollen Macht zu sein, die dem Subjekt den eigenen Willen raubt, oder, was dasselbe ist, das Subjekt glaubt es‘ von ihm. Diese geheimnisvolle Macht — populär? noch oft als tierischer Magnetismus bezeich , net ——__"i‘nuß dieselbe sein, welche den Primitiven als § 6514 Das Unheimliche. image. V. 1919.
§ 652§ 653
x. Die Masse und die Urhorde 107
§ 654Quelle des Tabu gilt, dieselbe, die von Königen und
Häufitlingen ausgeht und die es‘gefährlich macht, sich ihnen zu nähern (Mana). Im Besitz dieser Macht will nun der Hypnotiseur sein und wie bringt er sie zur Erscheinung? Indem er die Person auffordert, ihm in die Augen zu sehen; er hypnotisiert in typi scher Weise durch seinen Blick. Gerade der Anblick des Häuptlin‘gs ist aber für den Primitiven gefährlich und unerträglich, wie später der der Gottheit für den Sterblichen. Noch Moses muß den Mittelsmann zwischen seinem Volke und Jehova machen, da das Volk den Anblick Gottes nicht ertrüge, und wenn ei: von der Gegenwart Gottes zurückkehrt, strahlt sein ' Anflitz, ein Teil des „Mana“ hat sich wie beim Mittler * der Primitiven auf ihn übertragen. § 655Man kann die Hypnose allerdings auch auf
anderen Wegen hervorrufen, was irreführend ist und zu unzulänglichen physiologischen Theorien" Anlaß gegeben hat} z. B. durch das Fixieren eines glänzenden Gegenstandes oder durch das Horchen auf ein monotones Geräusch. In Wirklichkeit dienen diese Verfahren nur der Ablenkung und Fesselung der bewußten "Aufmerksamkeit. Die Situation ist die § 656nämliche, als ob der Hypnotiseur der Person gesagt
§ 657' S. Totem und Tabu. und die. dort zitierten Quellen.
§ 658§ 659
108 Massenpsyeholoßie und Ich-Analyse
§ 660hätte: Nun beschäftigen Sie sich ausschließlich mit
§ 661meiner Person, die übrige Welt ist ganz uninter
essant. Gewiß wäre es technisch unzweckmäßig, wenn der Hypnotiseur eine solche Rede hielte; das Subjekt würde durch sie aus seiner unbewußten Ein stellung gerissen und zum bewußten Widerspruch aufgereizt werden. Aber während der Hypnotiseur es vermeidet, das bewußte Denken des Subjekts auf seine Absichten zu richten, und die Versuchsperson sich in eine Tätigkeit versenkt, bei der ihr die Welt uninteressant vorkommen muß, geschieht es, daß sie unbewußt wirklich ihre ganze Aufmerksamkeit auf den. Hypnotiseur konzentriert, sich in die Ein stellung des Rapports, der Übertragung, zum Hyp notis‘e‘ur begibt. Die indirekten Methoden _.des Hyp notisierens haben -'äis°, Zähnticli Wie manche Techni ken des Witzes, den Erfolg, gewisse Verteilungen ' der seelischen Energie, welche den Ablauf des unbe wußten Vorgangs stören würden, hintanzuhalten, und sie führen schließlich zum gleichen Ziel wie die direkten Beeinflussungen durch Anstarren oder Streichen. ‘ § 662Die Situation, daß die Person unbewußt auf den
Hypnoti5eur eingestellt ist, während sie sich bewußt mit gleichbleibenden, uninteressanten Wahrnehmungen be— § 663§ 664
X. Die Masse und die Urhorde 109
§ 665sohättigt, findet ein Gegenstück in den Vorkommnissen
der psychoanals?tischen Behandlung,'das hier erwähnt zu werden verdient. In jeder Analyse ereignet es sich min destens einmal,. daß der Patient hartnäckig behauptet, jetzt fiele ihm aber ganz bestimmt nichts ein. Seine freien Assoziationen stocken und die gewöhnlichen Antriebe, sie in Gang zu bringen, schlagen fehl. Durch Drängen er reicht man endlich das Eingeständnis, der Patient denke an die Aussicht aus dem Fenster des Behandluhgsraumes, an die Tapete der Wand, die er vor sich steht, oder an die Oaslampe, die von der Zimmerdecke herabhängt. Man weiß dann 50f0rt, daß er sich in die Übertragung begeben hat, von noch unbewußten Gedanken in Anspruch genom men wird, die sich auf den Arzt beziehen, und sieht die Stockung in den Eintällen des Patienten schwinden, so bald man ihm diese Aufklärung gegeben hat. § 666P e r e n e z i hat richtig herausgefunden, daß
sich der Hypnotiseur mit dem Schlafgebot, welches oft zur Einleitung der Hypnose gegeben wird, an die Stellédäi-'.Eltern's'e'tz't', Er meinte zwei Arten der Hypnose unterscheiden zu sollen, eine schmeichle fisch begütigende, die er dem Muttervorhild, und eine drohende, die er dem Vater zuschrieb ". Nun bedeutet das Gebot zu schlafen in der Hypnose auch nif:hts anderes als die Aufforderung, alles Interesse von der Welt abzuziehen und auf die Person des Hypnotiséurs zu konzentrieren; es wird auch vom § 667' Ferenczi. Intmiektlon. u'nd Ubertrannns‘. Jahrbuch der
PSYchoanalee. I. 1909. § 668§ 669
110 Massenpsyoh-ologie und“ Ich—Analyse
§ 670Subjekt so verstanden, denn in dieser Abziehung des
Interesses von der Außenwelt liegt die psycholo gische Charakteristik des Schlafes und auf ihr beruht die Verwandtschaft des Schlafes mit dem hypnoti schen Zustand. § 671Durch seine Maßnahmen weckt also der Hyp
notiseur beim Subjekt ein Stück von dessen- archai scher Erbschaft, die auch den Eltern entgegenkam und im Verhältnis zum Vater eine individuelle Wie derbelebung erfuhr, die Vorstellung von einer über mächtigen und gefährlichen Persönlichkeit, gegen die man sich nur passiv-masochistisch einstellen konnte, an die man seinen Willen verlieren mußte, und mit der allein zu sein, „ihr unter die Augen zu treten“ ein bedenkliche; Wagnis schien. Nur so etwa können wir uns das Verhältnis eines Einzelnen der Urhorde zum Urvater vorstellen. Wie wir aus anderen Reaktionen wissen, hat der Einzelne ein variables Maß von persönlicher Eignung zur Wie derbelebung solch kalter Situationen bewahrt. Ein Wissen, daß die Hypnose doch nur ein Spiel, eine lügenhaite Erneuerung jener alten Eindrücke ist, kann aber erhalten bleiben und für den Widerstand gegen allzu ernsthafte Konsequenzen der hypnoti schen Willensauthebung sorgen. § 672§ 673
X. Die Masse und die Urhordß 111
§ 674Der unheimliche, zwanghaite Charakter der
Massenbildung, der sich in ihren Suggestionser scheinungen zeigt, kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunit von der Urhorde zurückgeführt wer den. Der Führer der Masse ist noch immer der ge iürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätssüchtig, hat nach Le B o n’s Ausdruck den Durst nach Unterwerfung. Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht._ Die Hypnose hat ein gutes Anrecht auf die Bezeichnung: eine Masse zu zweit; für die Suggestion erübrigt die Definition einer Überzeugung, die nicht auf Wahrnehmung und Denkarbeit, sondern auf erotische Bindung ge gründet ist. ' ‘ § 675Es erscheint mir der Hervorhebung wert, daß wir
durch die Erörterungen dieses Abschnittes veranlaßt werden, von der Bernheim’schen Auffassung der Hypnose auf die naive ältere derselben zurückzugreifen. Nach Bernheim sind alle hypnotischen Phänomene von dem weiter nicht aufzuklärenden Moment der Sugge stion abzuleiten. Wir schließen, daß die Suggestion eine Teilerscheinung des hypnotischen Zustandes ist, der in einer unbewußt erhaltenen Disposition aus der Urge § 676schichte der menschlichen Familie seine gute Begrün
dung hat. § 677Bu
§ 678§ 679
XI.
§ 680Eine Stufe im Ich.
§ 681Wenn man, eingedenk der einander ergänzen—
den Beschreibungen der Autoren über Massen- psythologie, das Leben der heutigen Einzelmenschen überblickt, mag man vor den Komplikationen, die sich hier zeigen', den Mut zu einer zusammenfassen» den Darstellung verlieren.“ Jeder Einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung vielseitig gebunden, und hat sein Ichideal nach den verschiedensten Vorbildern aufgebaut. Jeder Ein zelne hat so Anteil "an vielen Massenseelen, an der seiner Rasse‘, des Standes, der Glaubensgemein schaft, der Staatlichkeit usw. und kann sich darüber hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und Originalität erheben. Diese ständigen und dauer hätten Massenbildungen fallen in ihren gleichmäßig anhaltenden Wirkungen der Beobachtung weniger auf als die rasch gebildeten, vergänglichenMassen, § 682§ 683
XI. Eine Stufe im Ich 113
§ 684nach denen L e B o n die glänzende psychologische
Charakteristik der Massenseele entworfen hat, und in diesen lärmenden, ephemeren, den anderen gleich sam superponierten Massen begibt sich eben das Wunder, daß dasjenige, was wir eben als die indi viduelle Ausbildung anerkannt haben, spurlos, wenn auch nur zeitweilig untergeht. § 685Wir haben dies Wunder so verstanden, daß der
Einzelne sein Ichideal aufgibt und es gegen das im Führer verkörperte Massenideal ' vertauscht. Das Wunder, dürfen wir berichtigend hinzufügen, ist nicht in allen Fällen gleich groß. Die Sonderung von Ich und Ichideal ist bei vielen Individuen nicht weit vorgeschritten, die beiden fallen noch leicht zu sammen, das Ich hat sich oft die frühere narzißtische Selbstgeiälligkeit bewahrt. Die Wahl des Führers wird durch dies Verhältnis sehr erleichtert. Er braucht oft nur die typischen Eigenschaften dieser Individuen in besonders scharfer und reiner Aus prägung zu besitzen und den Eindruck größerer Kraft und libidinöser- Freiheit zu machen, so komint ihm das Bedürfnis nacheinem starkem Oberhaupt entgegen und bekleidet ihn mit der Übermacht, auf die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte. Die anderen, deren Ichideal sich in seiner Person sonst § 686§ 687
114 ' Massenpsyohologie und Ich-Analyse
§ 688nicht ohne Korrektur verkörpert hätte, werden dann
„suggestiv“, d. h. durch Identifizierung mitgerissen. § 689Wir erkennen, was wir zur Aufklärung der
libidinösen Struktur einer Masse beitragen konnten, führt sich auf die Unterscheidung des Ichs vom Ich ideal und auf die dadurch ermöglichte doppelte Art der Bindung —— Identifizierung und Einsetzung des Objekts an die Stelle des Ichideals 4—— zurück. Die Annahme einer solchen Stufe im Ich als erster Schritt einer Ichanalyse muß ihre Rechtfertigung allmählich auf den "verschiedensten Gebieten der Psychologie erweisen. In meiner Schrift „Zur Einführung des Narzißmus“ * habe ich zusainmengetragen, was sich zunächst von pathologischem Material zur Stütze dieser Sonderung verwerten ließ., Aber man darf erwarten, daß sich ihre Bedeutung bei weiterer Vertiefung in die Psychologie der Psychosen als eine viel größere enthüllen wird. Denken wir daran, daß das Ich nun in die Beziehung eines Objekts zu dem aus ihm entwickelten Ichideal tritt, und daß mög licherweise alle Wechselwirkungen, die wir zwischen äußerem Objekt und Gesamt-Ich in der Neurosen— lehre kennen gelernt haben, auf diesem neuen Schau § 690' Jahrbuch der Psychoanalyse. VI, 1914. —— Sammlung kleiner
Schriften zur Neurosenleh-re. 4. Folge. § 691N.'„-.L_t-g ,. „ 4
§ 692§ 693
XI. Eine Stufe im Ich 115
§ 694platz innerhalb des Ichs zur Wiederholung kommen.
§ 695Ich will hier nur einer der von diesem Stand
punkt aus möglichen Folgerungen nachgehen und damit die Erörterung eines Problems fortsetzen, das ich an anderer Stelle ungelöst verlassen mußte *. Jede der seelischen Dilierenzierungen, die uns be kannt geworden sind, stellt eine neue Erschwerung der seelischen Funktion dar, steigert deren Labilität und kann der Ausgangspunkt eines Versagens der Funktion, einer Erkrankung werden. So haben wir mit dem Geboren'werden den Schritt vom absolut selbstgenügsamen Narzißmus zur Wahrnehmung einer veränderlichen Außenwelt und zum Beginn der Objekfiindung gemacht, und damit ist verknüpft, . daß wir den neuen Zustand nicht dauernd ertragen, daß wir ihn periodisch rückgängig machen und im Schlaf zum früheren Zustand der Reizlosigkeit und Objektvermeidung zurückkehren. Wir folgen dabei allerdings einem Wink der Außenwelt, die uns durch den periodischen Wechsel von Tag und Nacht zeit weilig den größten Anteil der auf uns wirkenden Reize entzieht. Keiner ähnlichen Einschränkung ist das zweite, fiir die Pathologie bedeutsamere Beispiel § 696"‘ Trauer und Melancholie. lnternationeie Zeitschrift für Psycho—
analyse, IV, 1916/18. —- Samuiung kleiner Schriften zur Neurosen lehre, 4. Folge. § 697§ 698
116 Massmmvuhol°eie md Ich-Analyse
§ 699unterworfen. Im Laufe ufiserer Entwicklung haben
wir eine Sonderung unseres seelischen Bestandes in ein kohärentes Ich und in ein außerhalb dessen gelassenes, unbewußtes Verdrängtes vorgenommen und wir wissen, daß die Stabilität dieser Neuerwer bung beständigen Erschütterungen ausgesetzt ist. Im Traum und in der Neurose pocht dieses Ausge schlossene um Einlaß an den von Widerständen be wachten Pforten, und in wacher Gesundheit bedie nen wir uns besonderer Kunstgritfe, um das Ver drängte mit Umgehung der Widerstände' und unter Lustgewinn zeitweilig in unser Ich aufzunehmen. Witz und Humor, zum Teil auch das Komische über haupt, dürfen in diesem Licht betrachtet werden. Jedem. Kenner der Neurosenpsychologie werden . ähnliche Beispiele von geringerer Tragweite ein fallen, aber ich eile zu der beabsichtigten An— wendung. § 700Es wäre gut denkbar, daß auch die Scheidung
des Ichideals v‘om Ich nicht dauernd vertragen wird und sich zeitweilig zurückbilden muß. Bei allen Ver zichten und Einschränkungen, die dem Ich auferlegt werden, ist der periodische Durchbruch der Verbote Regel, wie ja die Institution der Feste zeigt, die ur sprünglich nichts anderes sind als vom Gesetz gebo § 701§ 702
XI. Eine Stufe im 1011 117
§ 703tene Exzesse und dieser Befreiung auch ihren heite
ren Charakter verdanken *. Die Saturnalien der Römer und unser heutiger Karneval treffen in die sem wesentlichen Zug rnit den Festen der Primitiven zusammen, die-in Ausschweifungen jeder Art mit _ , Ubertretung der sonst heiligsten Gebote auszugehen . pflegen. Das Ichideal umfaßt aber die Summe aller Einschränkungen, denen das Ich sich fügen soll, und darum müßte die Einziehung des Ideale ein groß artiges Fest für das Ich sein, das dann wieder einmal mit sich selbst zufrieden sein dürfte. § 704Es kommt immer zu einer Empfindung von Triumph,
wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusarnh1enfällt. Als Ausdruck der Spannung zwischen Ich und Ideal kann auch das Schuldgefühl (und Minderwertigkeitsgefühl) ‘ verstanden werden. § 705T r otte r läßt die Verdrängung vom Herdentrieb
ausgehen. Es “ist eher eine Übersetzung in eine andere Ausdrucksweise als ein Widerspruch, wenn ich in der „Einführung des Narzißmus“ gesagt habe: die Idealbildung , wäre iron seiten des Ichs die Bedingung der Verdrängung. § 706Es gibt bekanntlich Menschen, bei denen das
Allgemeingefühl der Stimmung in periodischer Weise schwankt, von einer übermäßigen Gedrückt heit durch einen gewissen Mittelzustand zu einem § 707" Totem und Tabu.
§ 708§ 709
118 Massmpsyuhplogie und Ich-Analyse
§ 710erhöhten Wohlbefinden, und zwar treten diese
Schwankungen in sehr verschieden großen Amplitu den auf, vom eben Merklichen bis zu jenen Extremen, die als.Melancholie und Manie höchst qualvoll oder störend in das Leben der Betroffenen eingreifen. In typischen Fällen dieser zyklischen Verstimmung scheinen äußere Veranlassungen keine entscheidende Rolle zu spielen; von inneren Motiven findet man bei diesen Kranken nicht mehr oder nichts anderes als bei allen anderen. Man hat sich deshalb gewöhnt, diese Fälle als nicht" psyéhogene zu beurteilen. Von anderen, ganz ähnlichen Fällen zyklischer Verstim mung, die sich aber leicht auf seelische Traumen * zurückiühren, soll später die Rede sein. § 711Die Begründung dieser spontanen Stimmungs
schwankungen ist also unbekannt; in den "Mecha nismus der Ablösung einer Melancholie durch eine Manie fehlt uns die Einsicht. Somit wären dies die Kranken, für welche unsere Vermutung Geltung haben könnte,\daß ihr Ichideal zeitweilig in’s Ich auf gelöst wird, nachdem es vorher besonders strenge regiert hat. § 712Halten wir zur Vermeidung von Unklarheiten
fest: Auf dem Boden un'serer Iehanalyse ist es nicht zweifelhaft, daß beim Manischen Ich und lchideal § 713\
§ 714§ 715
x1. Eine Stufe im Ich 119
§ 716zusammengeflosseu sind, so daß die Person sich
in einer durch keine Selbstkritik gestörten Stimmung von Triumph und Selbstbeglücktheit des Wegfalls von Hemmungen, Rücksichten und Selbstverwürfen erfreuen kann. Es ist minder evident, aber doch recht wahrscheinlich, daß das Elend des Melancholikers der Ausdruck eines scharfen Zwiespalts zwischen beiden Instanzen des Ichs ist, in, dem das übermäßig empfindliche Ideal seine Verurteilung des Ichs im Kleinheitswahn und in der Selbsterniedrigung scho nungslos zum Vorschein bringt. In Frage steht nur, ob man die Ursache dieser ,veränderten Beziehungen zwischen Ich und Ichideal in den oben postulierten periodischen Auflehnungen gegen die neue Institu tion suchen, oder andere Verhältnisse dafür verant wortlich machen soll. „ § 717Der Umschlag in Manie ist kein notwendiger
Zug im Krankheitsbild der melancholischen Depres sion. Es gibt einfache, einmalige und auch periodisch wiederholte Melancholien, welche niemals dieses Schicksal haben. Anderseits gibt es Melancholien, bei denen die VeranlasSung offenbar eine ätiolo gische Rolle spielt. Es sind die nach dem Verlust eines geliebten Objekts, sei es durch den Tod des selben oder infolge von Umständen, die zum Rück § 718§ 719
120 * Massen-nsvuholozle und Ich-Analyse
§ 720zug der Libido vom Objekt genötigt haben. Eine
solche psychogene Melancholie kann ebensowohl in Manie ausgehen und dieser Zyklus mehrmals wie derholt werden wie bei einer anscheinend spontanen. Die Verhältnisse sind also ziemlich undurchsichtig, zumal da bisher nur wenige Formen und Fälle von Melancholie der psychoanalytischen Untersuchung unterzogen werden sind ". Wir verstehen bis jetzt nur jene Fälle, in denen das Objekt aufgegeben wurde, weil res sich der Liebe unwürdig gezeigt hatte. Es wird dann durch Identifizierung im Ich wieder aufgerichtet und vom Ichideal streng gerich tet. Die Vorwürfe und Aggressionen gegen das Ob- jekt kommen als melancholische Selbstverwürfe zum Vorschein.. ' ' § 721Genauer gesagt: sie verbergen sich hinter den Vor
Würfen gegen das eigene Ich, verleihen ihnen die Festig keit, Zähigkeit und Unabweisbeukeit, durch welche sich die Selbstvorwiirfe der Melancholiker auszeichnen. § 722Auch an eine solche Melancholie kann sich der
Umschlag in Manie anschließen, so daß diese Mög § 723lichkeit einen von den übrigen Charakteren des
Krmkheitsbildes unabhängigen Zug darstellt. "' Vgl. Äbra-ham. Ansätze zur psychoan—aly'dschen Erfor § 724schung und Behandlung des menisch—denressiven Irreselns etc.. 1912,
in „Klinische Beiträge zur Psychoanalyse". 1921. § 725§ 726
XI. Eine Struie im Ich 121
§ 727Ich sehe indes keine Schwierigkeit, das Moment
der periodischen Auflehnung des Ichs _ gegen das Ichideal für . beide Arten der Melancholien, die psychogenen wie die spontanen, in Betracht kommen zu lassen. Bei den spontanen kann man annehmen, daß das Ichideal zur Entfaltung einer besonderen Strenge neigt, die dann automatisch seine zeitweilige Aufhebung zur Folge hat. Bei den psychogenen Würde das Ich zur Auflehnung gereizt durch die Mißhandlung von seiten seines Ideals, die es im Fall der Identifizierung mit einem verworfenen Objekt erfährt. § 728§ 729
XII.
§ 730Nachträge.
§ 731Im Laufe der Untersuchung, die jetzt zu einem
vorläufigen Abschluß gekommen ist, haben sich uns verschiedene Nebenwege eröffnet, die wir zuerst vermieden haben, auf denen uns aber manche nahe Einsicht winkte. Einiges von dem so zurückgestell ten wollen wir nun nachholen. § 732A. Die Unterscheidung von Ichidentifizierung
und Ichidealersetzung durch das Objekt findet eine interessante Erläuterung an den zwei großen künst lichen Massen, die wir eingangs studiert haben, dem Heer und der christlichen Kirche. § 733Es ist evident, daß der Soldat seinen Vorgesetz
ten, also eigentlich den Armeeführer, zum Ideal nimmt, während er sich mit seinesgleichen identifi ziert und aus dieser Ichgerneinsamkeit die Verpflich tungen der Kameradschaft zur gegenseitigen Hilfe leistung und Güterteilung ableitet. Aber er wird. § 734§ 735
XII. Nachträge 123
§ 736lächerlich, wenn er sich mit dem Feldherrn identifi
zieren will. Der Jäger in Wallensteins Lager ver spottet darob den Wachtmeister: § 737Wie er räuspert und wie er spuckt,
Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt! .. . § 738Anders in der katholischen Kirche. Jeder Christ
liebt Christus als sein Ideal und fühlt sich den ande ren Christén durch Identifizierung verbunden. Aber die Kirche fordert von ihm mehr. Er soll überdies sich mit Christus identifizieren und die anderen Christen lieben, wie Christus sie geliebt hat. Die Kirche fordert also an beiden Stellen die Ergänzung der durch die Massenbildung gegebenen Libido position. Die Identifizierung soll dort hinzukommen, wo die Objektwahl stattgefunden hat, und die Objektliebe dort, wo die Identifizierung besteht. Dieses Mehr geht offenbar über die Konstitution der Masse hinaus. Man kann ein guter Christ sein und doch könnte einem die Idee, sich an Christi Stelle zu setzen, wie er alle Menschen liebend zu umfassen, ferne liegen. Man braucht sich ja nicht als schwacher Mensch die Seelengröße und Liebesstärke des Hei lands zuzutrauen. Aber diese Weiterentwicklung der Libidoverteilung in der Masse ist wahrscheinlich § 739§ 740
124- Massempsyohologie und Ich-Analyse
§ 741das Moment, auf welches das Christentum den An
spruch gründet, eine höhere Sittlichkeit gewonnen zu haben. § 742B. Wir sagten, es wäre möglich, die Stelle in
der seelischen Entwicklung der Menschheit anzu geben, an der sich auch für den Einzelnen der Fort schritt von der Massen- zur Individualpsychologie vollzog. § 743Das hier folgende steht unter dem Einflusse eines
Gedankenaustausches mit Otto Rank. § 744Dazu müssen wir wieder kurz auf den wissen
schaftlichen Mythus vom Vater der Urhorde zurück greifen. Er wurde später zum Weltenschöpfer erhöht, mit Recht, denn er hatte alle die Söhne erzeugt, welche die erste Masse zusammensetzten. Er war das Ideal jedes einzelnen von ihnen, gleichzeitig ge iürchtet und verehrt, was für später den Begrifi des Tabu ergab. Diese Mehrheit faßte sich einmal zu sammen, tötete und zerstückelte ihn. Keiner der Massensieger konnte sich an seine Stelle setzen, oder wenn es einer tat, erneuerten sich die Kämpfe, bis sie einsahen, daß sie alle auf die Erbschaft des Vaters verzichten müßten. Sie bildeten dann die totemistische Brüdergemeinschait, alle mit gleichem Rechte und § 745§ 746
XII. Nachträge 125
§ 747durch die Toternverbote gebunden, die das Anden
ken der Mordtat erhalten und sühnen sollten. Aber die Unzufriedenheit mit dem Erreichten blieb und wurde die Quelle neuer Entwicklungen. Allmählich näherten sich die zur Brudermasse Verbundenen einer Herstellung des alten Zustandes auf neuem Niveau, der Mann wurde wiederum Oberhaupt einer Familie und brach die Vorrechte der Frauen herrschaft, die sich in der vaterlosen Zeit festgesetzt hatte. Zur Entschädigung mag er damals die Mutter . gottheiten anerkannt haben, deren Priester kastriert wurden zur Sicherung der Mutter nach dem Beispiel, das der Vater der Urhorde gegeben hatte; doch war die neue Familie nur ein Schatten der alten, der Väter waren viele und jeder durch die Rechte des anderen § 748beschränkt.
Damals mag die sehnsüchtige Entbehrung einen § 749Einzelnen bewogen haben, sich von der Masse los
zulösen und sich in die Rolle des Vaters zu versetzen. Wer dies tat, war der erste epische Dichter, der Fortschritt wurde in seiner Phantasie vollzogen. Dieser Dichter log die Wirklichkeit um im Sinne seiner Sehnsucht. Er erfand den heroischen Mythus. Heros war, wer allein den Vater erschlagen hatte, § 750der im Mythus noch als totemistisches Ungeheuer
9 § 751§ 752
126 ‘ Massenpsyohologie und [oh-Analyse
§ 753erschien. Wie der Vater das erste Ideal des Knaben
gewesen war, so schuf jetzt der Dichter im Heros, der den Vater ersetzen will, das erste Ichideal. Die Anknüpfung an den Heros bot wahrscheinlich der jüngste Sohn, der Liebling der Mutter, den sie vor der väterlichen Eifersucht beschützt hatte, und der in Urhordenzeiten der Nachfolger des Vaters ge worden war. In der lügenhaften Umdichtung der Urzeit wurde das Weib, das der Kampfpreis und die Verlockung des Mordes gewesen war, wahrschein lich zur Verführerin und Anstifterin der Untat. Der Heros will die Tat allein vollbracht haben, deren sich gewiß nur die Horde als Ganzes getraut hatte. Doch hat nach einer Bemerkung von Ra uk das Märchen deutliche Spuren des verleugneten Sachverhalts bewahrt. Denn dort kommt es häufig vor, daß der Held, der eine schwierige Aufgabe zu lösen hat — meist ein jüngster Sohn, nicht selten einer, der sich vor dem Vatersurrogat dumm, d. h. ungefährlich gestellt hat — diese Aufgabe doch nur mit Hilfe einer Schar von kleinen Tieren (Bienen, Ameisen) lösen kann. Dies wären die Brüder der Urhorde, wie ja auch in der Traumsymbolik Insek ten, Ungeziefer die Geschwister (verächtlich: als kleine Kinder) bedeuten. Jede der Aufgaben in § 754§ 755
XII. Nachträ‘ge 127
§ 756Mythus und Märchen ist überdies leicht als Ersatz
der heroischen Tat zu erkennen. § 757Der Mythus ist also der Schritt, mit dem der
Einzelne aus der Massenpsychologie austritt. Der erste Mythus war sicherlich der psychologische, der Heroenmythus; der erklärende Naturmythus muß weit später aufgekomrnen sein. Der Dichter, der diesen Schritt getan und sich so in der Phantasie von der Masse gelöst hatte, weiß nach einer weiteren Bemerkung von R a n k doch in der Wirklichkeit die Rückkehr zu ihr zu finden. Denn er geht hin und er zählt dieser Masse die Taten seines Helden, die er erfunden. Dieser Held ist im Grunde kein anderer als. er selbst. Er senkt sich somit zur Realität herab und hebt seine Hörer zur Phantasie empor. Die Hörer aber verstehen den Dichter, sie können sich auf Grund der nämlichen sehnsüchtigen Beziehung zum Urvater mit dem Heros identifizieren *. § 758Die Lüge des heroischen Mythus gipfelt in der
Vergottung des Heros. Vielleicht war der vergottete Heros früher als der Vatergott, der Vorläufer der Wiederkehr des Urvaters als Gottheit. Die Götter reihe liefe dann chronologisch so: Muttergöttin— § 759' Vgl. Hanns Sachs. Gemeinsame Tazträume. Autoreferat
eines Vortrags auf dem VI. psychoanalytischen Kongreß im Haag, 1920. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. VI, 1920. § 760„.
§ 761§ 762
128 Massenpsyohologie und Ich-Analyse
§ 763Heros—Vatergott. Aber erst mit der Erhöhung des
nie vergessenen Urvaters erhielt die Gottheit die Züge, die wir noch heute an ihr kennen. § 764In dieser abgekürzten Darstellung ist auf alles Ma
terial aus Sage, Mythus, Märchen, Sittengeschichte usw. zur Stütze der Konstruktion verzichtet werden. § 765C. Wir haben in dieser Abhandlung viel von
direkten und von zielgehemmten Sexualtrieben ge sprochen und dürfen hoffen, daß diese "Unterschei dung nicht auf großen Widerstand stoßen wird. Doch wird eine eingehende Erörterung darüber nicht unwillkommen sein, selbst wenn sie nur wiederholt, was zum großen Teil bereits an früheren Stellen gesagt worden ist. § 766Das erste, aber auch beste Beispiel zielgehernm
ter Sexualtriebe hat uns die Libidoentwicklung des Kindes kennen gelehrt. Alle die Gefühle, welche das Kind für seine Eltern und Pflegepersonen empfindet, setzen sich ohne Schranke in die Wünsche fort, welche dem Sexualstreben des Kindes Ausdruck geben. Das Kind verlangt von diesen geliebten Per sonen alle Zärtlichkeiten, die ihm bekannt sind, will sie küssen, berühren, beschauen, ist neugierig, ihre Genitalien zu sehen und bei ihren intimen Exkre tionsverrichtungen anwesend zu sein, es versmicht, § 767§ 768
XH. Nachträge 129
§ 769die Mutter oder Pflegerin zu heiraten, was immer es
sich darunter vorstellen mag, setzt sich vor, dem Vater ein Kind zu gebären usw. Direkte Beobach- _ tung sowie die nachträgliche analytische Durch leuchtung der Kindheitsreste lassen über das un— mittelbare Zusammenfließen zärtlicher und eifer süchtiger Gefühle und sexueller Absichten keinen Zweifel und legen uns dar, in wie gründlicher Weise das Kind die geliebte Person zum Objekt aller seiner noch nicht richtig zentrierten Sexualbestrebungen macht. (Vgl. Sexualtheorie.) § 770Diese erste Liebesgestaltung des Kindes, die
typisch dem Ödipuskömplex zugeordnet ist, erliegt dann, wie bekannt, vom Beginn der Latenzzeit an einem Verdrängungsschub. Was von ihr erübrigt, zeigt sich uns als rein zärtliche Gefühlsbindung, die denselben Personen gilt, aber nicht mehr als „sexuell“ bezeichnet werden solL Die Psychoanalyse, welche die Tiefen des Seelenlebens durchleuchtet, hat es nicht schwer aufzuweisen, daß auch die sexuellen Bindungen der ersten Kinderjahre noch fortbestehen, aber verdrängt und unbewußt. Sie gibt uns den Mut zu behaupten, daß überall, wo wir ein zärtliches Gefühl begegnen, dies der Nachfolger einer voll „sinnlichen“ Objektbindung an die betreffende Per § 771§ 772
130 Massenmyahologie und Ich$nalyse
§ 773son oder ihr Vorbild (ihre Image) ist. Sie kann uns
freilich nicht ohne besondere Untersuchung ver _ raten, ob diese vorgängige sexuelle Vollströmung in einem gegebenen Fall noch als verdrängt besteht oder ob sie bereits aufgezehrt ist. Um es noch schär fer zu fassen: es steht fest, daß sie als Form und Möglichkeit noch vorhanden ist und jederzeit wieder durch Regression besetzt, aktiviert werden kann; es fragt sich nur und ist nicht immer zu entscheiden, welche Besetzung und Wirksamkeit sie gegenwärtig noch hat. Man muß sich hierbei gleichmäßig vor zwei Fehlerquellen in Acht nehmen, vor der Scylla der Unterschätzung des verdrängten Unbewußten, wie vor der Charybdis der Neigung, das Normale durchaus mit dem Maß des Pathologischen zu messen. § 774Der Psychologie, welche die Tiefe desVerdräng
ten nicht durchdringen will oder kann, stellen sich die zärtlichen Gefühlsbindungen jedenfalls als Ausdruck von Strebungen dar, die nicht nach dem Sexuellen zielen, wenngleich sie aus solchen, die danach ge strebt haben, hervorgegangen sind. § 775Die feindseligen Gefühle, um ein Stück komplizierter
aufgebaut, machen hievon keine Ausnahme. § 776§ 777
XII. Nachträge 131
§ 778Wir sind berechtigt zu sagen, sie sind von die
sen sexuellen Zielen abgelenkt werden, wenngleich es seine Schwierigkeiten hat, in der Darstellung einer solchen Zielablenkung den Anforderungen der Metapsychologie zu entsprechen. Übrigens halten diese zielgehemmten Triebe immer noch einige der ursprünglichen Sexualziele fest; auch der zärtlich Anhängliche, auch der Freund, der Verehrer sucht die körperliche Nähe und den Anblick der nur mehr im „p a u 1 i n i s c h e n“ Sinne geliebten Person. Wenn wir es wollen, können wir in dieser Zielablen kung einen Beginn von Sublirnierung der Sexualtriebe anerkennen oder aber die Grenze für letztere noch ferner stecken. Die zielgehemmten Sexualtriebe haben vor den ungehemmten einen großen funktionellen Vorteil. Da sie einer eigentlich vollen Befriedigung nicht fähig sind, eignen sie sich besonders dazu, dauernde Bindungen zu schaffen, während die direkt sexuellen jedesmal durch die Be friedigung ihrer Energie verlustig werden und auf Erneuerung durch Wiederanhäufung der sexuellen Libido warten müssen, wobei inzwischen das Objekt gewechselt werden kann. Die gehemmten Triebe sind jedes Maßes von Vermengung mit den unge hemmten fähig, können sich in sie rückverwandeln, § 779§ 780
132 Ma.ssenpsyohologie und Ich-Analyse
§ 781wie sie aus ihnen hervorgegangen sind. Es ist be
kannt, wie leicht sich aus Gefühlsbeziehungen ireundschaitlicher Art, auf Anerkennung und Be wunderung gegründet, erotische Wünsche ent wickeln (das M 0 li é r e’sche: Embrassez—moi pour l’amour du Grec), zwischen Meister und Schülerin, Künstler und entzückter Zuhörerin, zumal bei Frauen. Ja die Entstehung solcher zuerst absichts loser Gefühlsbindungen gibt direkt einen viel began genen Weg zur sexuellen Objektwahl. In der „Fröm migkeit des Grafen von Zinzendorf“ hat Pfister ein überdeutliches, gewiß nicht vereinzeltes Beispiel da für aufgezeigt, wie nahe es liegt, daß auch intensive religiöse Bindung in brünstige sexuelle Erregung zurückschlägt. Anderseits ist auch die Umwand lung direkter, an sich kurzlebiger, sexueller Strebun gen in dauernde, bloß zärtliche Bindung etwas sehr gewöhnliches und die Konsolidierung einer aus ver liebter Leidenschaft geschlossenen Ehe beruht zu einem großen Teil auf diesem Vorgang. § 782Es wird uns natürlich nicht verwundern zu
hören, daß die zielgehemmten Sexualstrebungen sich aus den direkt sexuellen dann ergeben, wenn sich der Erreichung der Sexualziele innere oder äußere Hindernisse entgegenstellen. Die Verdrän § 783§ 784
XII. Nachträge 133
§ 785gung der Latenzzeit ist ein solches inneres — oder
besser innerlich gewordenes — Hindernis. Vom Vater der Urhorde haben wir angenommen, daß er durch seine sexuelle Intoleranz alle Söhne zur Absti nenz nötigt und sie so in zielgehemmte Bindungen drängt, während er selbst sich freien Sexualgenuß vorbehält und somit angebunden bleibt. Alle Bin— dungen, auf denen die Masse beruht, sind von der Art der zielgehemmten Triebe. Damit aber haben wir uns der Erörterung eines neuen Themas gemä hert, welches die Beziehung der direkten Sexual triebe zur Massenbildung behandelt. § 786Wir sind bereits durch die beiden letzten Be
merkungen darauf vorbereitet zu finden, daß die direkten Sexualstrebungen der Massenbildung un günstig sind. Es hat zwar auch in der Entwicklungs geschichte der Familie Massenbeziehungen der sexuellen Liebe gegeben (die Gruppenehe), aber je bedeutungsvoller die Geschlechtsliebe für das Ich wurde, je mehr Verliebtheit sie entwickelte, desto eindringlicher forderte sie die Einschränkung auf zwei Personen — una cum uno —, die durch die Natur des Genitalziels vorgezeichnet ist. Die polyga men Neigungen wurden darauf angewiesen, sich im Nacheinander des Objektwechsels zu befriedigen. § 787>.4M.Ls_,
§ 788§ 789
134 Maesenpsyoholvogie und Ich-Analyse
§ 790Die beiden zum Zweck der Sexualbefriedigung auf
einander angewiesenen Personen demonstrieren gegen den Herdentrieb, das Massengeiühl, indem sie die Einsam keit aufsuchen. Je ‘verliebter sie sind, desto vollkommener genügen sie einander. Die Ablehnung des Einflusses der Masse äußert sich als Schamgefühl. Die äußerst heftigen Gefühlsregungen der Eifersucht werden aufgeboten, um die sexuelle Objektwahl gegen die Beeinträchtigung durch eine Massenbindung zu schützen. Nur, wenn der zärtliche, also persönliche, Faktor der Liebesbeziehung völlig hinter dem sinnlichen zurücktritt, wird der Liebesverkehr eines Paares in Gegenwart anderer oder gleichzeitige Sexual akte innerhalb einer Gruppe wie bei der Orgie möglich. Damit ist aber eine Regression zu einem frühen Zustand der Geschlechtsbeziehungen gegeben, in dem die Ver— liebtheit noch keine Rolle spielte, die Sexualobjekte ein ander gleichwertig erachtet wurden, etwa im Sinne von dem bösen Wort B e r n a r d S h a W’s: Verliebtsein heiße, den Unterschied zwischen einem Weib und einem anderen ungebührlich überschätzen. § 791Es sind reichlich Anzeichen dafür vorhanden, daß
die Verliebtheit erst spät in die Sexualbeziehungen zwi schen Mann und Weib Eingang fand, so daß auch die Gegnerschait zwischen Geschlechtsliebe und Massen bindung eine spät entwickelte ist. Nun kann es den An séhein haben, als ob diese Annahme unverträglich mit unserem Mythus von der Urfamilie wäre. Die Brüder sclrar soll doch durch die Liebe zu den Müttern und Schwestern zum Vatermord getrieben werden sein, und es ist schwer, sich diese Liebe anders denn als eine un gebrochene, primitive, d. h. als innige Vereinigung von zärtlicher und sinnlicher vorzustellen. Allein bei weiterer Überlegung löst sich dieser Einwand in eine Bestätigung § 792§ 793
XII. Nachträge 135
§ 794auf. Eine der Reaktionen auf den Vatermorcl war doch
die Einrichtung der totemistischen Exogamie, das Verbot jeder sexuellen Beziehung mit den von Kindheit an zärt— lich geliebten Frauen der Familie. Damit war der Keil zwischen die zärtlichen und sinnlichen Regungen des Mannes eingetrieben, der heute noch in seinem Liebes leben festsitzt *. Infolge dieser Exogamie mußten sich die sinnlichen Bedürfnisse der Männer mit fremden und un geliebten Frauen begnügen. § 795In den großen künstlichen Massen, Kirche und
Heer, ist fiir das Weib als Sexualobjekt kein Platz. Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Weib bleibt außerhalb dieser Organisationen. Auch wo sich Massen bilden, die aus Männern und Weibern gemischt sind, spielt der Geschlechtsunterschied keine Rolle. Es hat kaum einen Sinn zu fragen, ob die Libido, welche die Massen zusammenhält, homo sexueller oder heterosexueller Natur ist, denn sie ist nicht nach den Geschlechtern differenziert und sieht insbesondere von den Zielen der Genitalorga nisation der Libido völlig ab. § 796Die direkten Sexualstrebungen erhalten auch
für das sonst in der Masseaufgehende Einzelwesen ein Stück individueller Betätigung. Wo sie überstark § 797' 3. Uber die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. 1912,
Sammlung kleiner Schritten zur Ne.urosenlehre. 4. Folge. § 798§ 799
136 Massenmyohologie und Ich<Analyse
§ 800werden, zersetzen sie jede Massenbildung. Die
katholische Kirche hatte die besten Motive, ihren Gläubigen die Ehelosigkeit zu empfehlen und ihren Priestern das Zölibat aufzuerlegen, aber die Ver liebtheit hat oft auch Geistliche zum Austritt aus der Kirche getrieben. In gleicher Weise durchbricht die Liebe zum Weihe die Massenbindungen der Rasse, der nationalen Absonderung und der sozialen Klas— senordnung und vollbringt damit kulturell wichtige Leistungen. Es scheint gesichert, daß sich die homo sexuelle Liebe mit den Massenbindungen weit besser verträgt, auch wo sie als ungehemmte Sexualstre bung auftritt; eine merkwürdige Tatsache, deren Aufklärung weit führen dürfte. § 801‘ Die psychoanalytische Untersuchung der
Psychoneurosen hat uns gelehrt, daß deren Sym ptome von verdrängten, aber aktiv gebliebenen direkten Sexualstrebungen abzuleiten sind. Man kann diese Formel vervollständigen, wenn man hin zufügt: oder von solchen zielgehemmten, bei denen die Hemmung nicht durchgehends gelungen ist oder einer Rückkehr zum verdrängten Sexualziel den Platz geräumt hat. Diesem Verhältnis entspricht, daß die Neurose asozial macht, den von ihr Betrof fenen aus den habituellen Massenbildungen heraus § 802§ 803
XII. Nachträge 137
§ 804hebt. Man kann sagen, die Neurose wirkt in ähn
licher Weise zersetzend auf die Masse wie die Ver liebtheit. Dafür kann man sehen, daß dort, wo ein kräitiger Anstoß zur Massenbildung erfolgt ist, die Neurosen zurücktreten und wenigstens für eine Zeit lang schwinden können. Man hat auch mit Recht versucht, diesen Widerstreit von Neurose und Massenbildung therapeutisch zu verwerten. Auch wer das Schwinden der religiösen Illusionen in der heutigen Kulturwelt nicht bedauert, wird zuge stehen, daß sie den durch sie Gebundenen den stärksten Schutz gegen die Gefahr der Neurose boten, so lange sie selbst noch in Kraft waren. Es ist auch nicht schwer, in all den Bindungen an mystisch - religiöse oder philosophisch - mystische Sekten und Gemeinschaften den Ausdruck von Schieiheilungen mannigialtiger Neurosen zu erken nen. Das alles hängt mit dem Gegensatz der direkten und der zielgehemmten Sexualstrebungen zusammen. § 805Sich selbst überlassen ist der Neurotiker ge—
nötigt, sich die großen Massenbildungen, von denen er ausgeschlossen ist, durch seine Symptombildun gen zu ersetzen. Er schafft sich seine eigene Phanta siewelt, seine Religion, sein Wahnsystem und wie derholt so die Institutionen der Menschheit in einer § 806§ 807
138 Massenpsyohologie und Ich-Analyse
§ 808Verzerrung, welche deutlich den übermächtigen
Beitrag der direkten Sexualstreb'ungen bezeugt *. § 809E. Fügen wir zum Schluß eine vergleichende
Würdigung der Zustände, die uns beschäftigt haben, vom Standpunkt der Libidotheorie an, der Verliebt heit, Hypnose, Massenbildung und der Neurose. § 810Die V e rl i e b t h e it beruht auf dem gleich
zeitigen Vorhandensein von direkten und von ziel gehemmten Sexualstrebungen, wobei das Objekt einen Teil der narzistischen Ichlibido auf sich zieht. Sie hat nur Raum für das Ich und das Objekt. § 811Die H y p n 0 se teilt mit der Verliebtheit die
Einschränkung auf diese beiden Personen, aber sie beruht durchaus auf zielgehemmten Sexualstrebun gen und setzt das Objekt an die Stelle des Ichideals. § 812Die M a ss e vervielfältigt diesen Vorgang, sie
stimmt mit der Hypnose in der Natur der sie zusam menhaltenden Triebe und in der Ersetzung des Ich ideals durch das Objekt überein, aber sie fügt die Identifizierung - mit anderen Individuen hinzu, die vielleicht ursprünglich durch die gleiche Beziehung zum Objekt ermöglicht wurde. § 813Beide Zustände, Hypnose wie Massenbildung,
§ 814' S. Totem und Tabu, zu Ende des Abschnitß ll: Das Tabu
und die Ambivalenz. § 815§ 816
XII. Nachträge 139
§ 817sind Erbniederschläge aus der Phylogenese der
menschlichen Libido, die Hypnose als Disposition, .die Masse überdies als direktes Überbleibsel. Die Ersetzung der direkten Sexualstrebungen durch die zielgehemrnten befördert bei beiden die Sonderung von Ich und Ichideal, zu der bei der Verliebtheit schon ein Anfang gemacht ist. § 818Die N e u r o s e tritt aus dieser Reihe heraus.
Auch sie beruht auf einer Eigentümlichke1t der menschlichen Libidoentwicklung, auf dem durch die Latenzzeit unterbrochenen, doppelten Ansatz der direkten Sexualfunktion. (S. Sexualtheorie, 4. Aufl., 1920, S. 96.) ' § 819Insoferne teilt sie mit Hypnose und Massen
bildung den Charakter einer Regression, welcher der Verliebtheit abgeht. Sie tritt überall dort auf, wo der Fortschritt von direkten zu zielgehemmten Sexual trieben nicht voll geglückt ist, und entspricht einem K 0 nflikt zwischen den ins Ich aufgenommenen Trieben, welche eine solche Entwicklung durch gemacht haben, und den Anteilen derselben Triebe, welche vom verdrängten Unbewußten her — eben so wie andere völlig verdrängte Triebregungen — nach ihrer direkten Befriedigung streben. Sie ist inhaltlich ungemein reichhaltig, da sie alle möglichen § 820§ 821
140 Massenpsyohologie und Ich-Analyse
§ 822Beziehungen zwischen Ich und Objekt umfaßt, so
wohl die, in denen das Objekt beibehalten als auch andere, in denen es aufgegeben oder im Ich selbst aufgerichtet ist, aber ebenso die Konfliktbeziehungen zwischen dem Ich und seinem Ichideal. § 823